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Immer mehr Menschen leiden unter Einsamkeit: ein Megathema unserer Gesellschaft, nicht erst seit Corona John hat den Tod seiner Eltern nie überwunden und stürzt in die Einsamkeit. Marta leidet unter der Gewalt ihres Mannes und zieht sich aus der Welt zurück. Dolores hat als Sängerin den Weg aus der Armut auf die Bühne gefunden, wird dabei aber ihrer Familie fremd. Einsamkeit kennt viele Ursachen und Ausprägungen. Nicht erst seit Corona leiden immer mehr Menschen darunter, allein zu sein. Vor kurzem hat die Bundesregierung eine Strategie gegen Einsamkeit auf den Weg gebracht. Was hat sich verändert in unserer Gesellschaft? Steigt mit der Freiheit, das Leben selbst zu bestimmen, das Risiko, zu vereinsamen? Janosch Schobin hat das Buch der Stunde geschrieben: für alle, die verstehen wollen, was es mit diesem schmerzlichen Gefühl auf sich hat.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Immer mehr Menschen leiden unter Einsamkeit: ein Megathema unserer Gesellschaft, nicht erst seit CoronaJohn hat den Tod seiner Eltern nie überwunden und stürzt in die Einsamkeit. Marta leidet unter der Gewalt ihres Mannes und zieht sich aus der Welt zurück. Dolores hat als Sängerin den Weg aus der Armut auf die Bühne gefunden, wird dabei aber ihrer Familie fremd. Einsamkeit kennt viele Ursachen und Ausprägungen. Nicht erst seit Corona leiden immer mehr Menschen darunter, allein zu sein. Vor kurzem hat die Bundesregierung eine Strategie gegen Einsamkeit auf den Weg gebracht. Was hat sich verändert in unserer Gesellschaft? Steigt mit der Freiheit, das Leben selbst zu bestimmen, das Risiko, zu vereinsamen? Janosch Schobin hat das Buch der Stunde geschrieben: für alle, die verstehen wollen, was es mit diesem schmerzlichen Gefühl auf sich hat.
Janosch Schobin
Zeiten der Einsamkeit
Erkundungen eines universellen Gefühls
Hanser
Für Cynthia, die sich mit mir zusammen die Zeit für dieses Buch abgespart hat
Der Mensch ist ein zur Einsamkeit fähiges Tier.1 Homo sapiens empfindet sie, sie schmerzt und lockt ihn, er sucht und meidet sie, kultiviert sie als Privileg und nutzt sie als Strafe. Als rohe Empfindung zählt das Gefühl des Mangels an und in Beziehungen zunächst zwar eher zu den bitteren Erfahrungen menschlicher Existenz. Aber kein Geschmack ist so facettenreich wie das Bittere. Die folgenden Kategorisierungen sind daher sicherlich zu grob. Sie sortieren frech einige Spielarten des Einsamseins und ordnen sie als dominante Formen in gesellschaftshistorische Zusammenhänge ein. Die darin implizierte These, eine bestimmte Art der Einsamkeit sei für eine bestimmte Zeit die übliche gewesen, bitten wir mit einer gewissen Großzügigkeit zu lesen: Im schlimmsten Fall ist die kurze Geschichte der Arten der modernen Einsamkeit, die hier folgt, ein Kuriositätenkabinett, im besten Fall versammelt sie einige wesentliche Variationen des Einsamseins in etwas zugespitzten Darstellungen.
Einsamkeit galt angeblich lange als etwas »Gutes«. Die Wissenschaft unterscheidet denn auch grob die »positive« von der »negativen« Einsamkeit.2 Viele Forscher und Forscherinnen halten den Begriff der »positiven« Einsamkeit allerdings für einen Kategorienfehler, der aus einem Teekesselchen resultiert: Gemeint sei in dieser Verwendung des Wortes die Freude am selbst gewählten Alleinsein.3 Mit dem schmerzhaften Gefühl des Mangels an und in Beziehungen habe die »positive« Einsamkeit daher nur die Bezeichnung gemeinsam, die beide Formen sich aus sprachgeschichtlichen Gründen teilen. Ein Blick in die Geschichte des Einsamseins zeigt jedoch, dass es nicht ganz so einfach ist. In der frühen Neuzeit ist das »Positive« an der Einsamkeit gar nicht so leicht zu finden. Francis Bacon zitierte schon Anfang des 17. Jahrhunderts das lateinische Sprichwort »magna civitas, magna solitudo« — »Große Stadt, große Einsamkeit«.4 Er beobachtete, wie in den Metropolen — Paris und London waren damals in etwa so groß wie heutige Mittelstädte — der organische Zusammenhalt der Gesellschaft schwindet. Die Freunde leben verstreut, die Nachbarschaften bieten keine Möglichkeiten der sozialen Verwurzelung mehr, und das durch Verwandtschaftspflichten zusammengehaltene gesellschaftliche Solidarsystem wird brüchig. Zugegeben: Bacon fand das nicht unbedingt schlecht. Es liegt an Autoren wie ihm, dass oft vermutet wird, in der Frühen Neuzeit habe eine »positive« Sicht auf die Einsamkeit vorgeherrscht. Für den Vater der wissenschaftlichen Methode war weniger das Leiden am Verlust von Gemeinschaftlichkeit ein Problem, sondern eine ambivalente, mitunter gefährliche Lust am Alleinsein. Das kann man vielleicht auf seine Person zurückführen. Er galt als eher schwieriger, enorm ehrgeiziger und kaltherziger Zeitgenosse, der sich nur dann um die Meinung seiner Mitmenschen scherte, wenn sie ihm nützlich sein konnten.5 Die große Stadt bot ihm größere Unabhängigkeit von der Antipathie seiner Zeitgenossen. So gesehen war die »magna solitudo« in der Metropole für ihn tatsächlich ein Vorteil. Auch war Francis Bacon kein echter Ausnahmefall. Für die sozialen Eliten des 17. Jahrhunderts war die Vorstellung einer einsamen Existenz nicht zuletzt deshalb so attraktiv, weil man sich mit dem selbst gewählten Rückzug aus sozialen Zusammenhängen der niederen Pflichten und weltlichen Dinge entledigen konnte, die einen nur von dem erhabenen Zustand einer virtuosen Lebensführung abhielten.
Dahinter steht ein Trend zur Verweltlichung einer christlichen Theorie der Einsamkeit, den man mindestens bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen kann.6 Für die christliche Tradition ist die Erfahrung der Einsamkeit — etwas vereinfacht ausgedrückt — ein Prozess mit drei Stufen: Reinigung, Erleuchtung und Gnadenbeweis Gottes. Mustergültig kann dies an der »Vita Antonii«7, der Erzählung vom Leben des heiligen Antonius, abgelesen werden: Der Heilige zieht aus in die Wüste, bezwingt die Dämonen, wirkt Wunder und erfährt durch die Vorsehung den Zeitpunkt seines Todes. Das stille Motiv hinter der christlichen »Drei-Stufen-Theorie« der Einsamkeit ist die Nachahmung des Lebens Christi.8 Christus geht in die Wüste, um dort den Anfechtungen des Teufels zu widerstehen und die Nähe Gottes zu suchen, dann kehrt er zurück in die Gemeinschaft und offenbart das Wort und Wirken des lebendigen Gottes. Am Ende seiner irdischen Existenz leidet er im Garten Gethsemane für die Sünden der Menschen und erfährt, dass die Zeit gekommen sei, für diese zu sterben. Strukturell liegt dieses Motiv auch den verweltlichten Varianten der christlichen Einsamkeit zugrunde. Oft beginnt das Missverständnis von der »positiven« Einsamkeit schon hier.
An dieser Stelle muss zwischen der gesellschaftlichen Würdigung und dem psychischen Gehalt einer Erfahrung unterschieden werden. Was sich gut anfühlt, ist unter dem Gesichtspunkt seiner gesellschaftlichen Akzeptanz nicht unbedingt gut. Sicher löst ein Druck Heroin ein tolles Gefühl aus, trotzdem werden Eltern ihren Kindern nicht dazu raten. Genauso wäre es ein großes Missverständnis, religiöse und spirituelle Arten der gesuchten Einsamkeit als »positiv« zu bezeichnen. Passender wäre es, von »gewürdigter Einsamkeit« zu sprechen. Weder die Anfechtungen des Teufels noch die Gnade, den Zeitpunkt des eigenen Todes zu erfahren, sind in einem hedonischen Sinn »angenehm«. Die christliche Einsamkeit ist eine fürchterliche Erfahrung von heiligem Ernst. Daraus resultieren die »positiven« Deutungen. Durch die säkuläre Aneignung und Übersetzung des christlichen Formats in die Form der Gelehrteneinsamkeit entstand irgendwann der Eindruck, die gesuchte und gewürdigte sei auch eine positiv erfahrene Art der Einsamkeit gewesen.9 Wie dieses Missverständnis in die Welt gekommen ist, lässt sich gut an der Figur Michel de Montaignes ablesen. Zu seiner Zeit ein Mitglied der aufsteigenden Klasse des Verwaltungsadels, galt er anders als Bacon als eher gut gelaunter und fröhlicher Zeitgenosse. In seinem einflussreichen Versuch über die Einsamkeit (»De la solitude«) klingt die Erfahrung des Einsamseins daher auch in Dur an: Rückzug ins Gelehrtenzimmer, Gespräch mit den Toten, glückselige Ruhe im Selbst.10 Montaigne hatte einen großen Teil seines Lebens als politischer Beamter in den Dienst anderer gestellt. Am Ende seines Lebens blieb nun ein kleiner Rest — ein Endstück (»ce bout de vie«), das nur ihm gehörte.11 Die Einsamkeit versteht er als Privileg, das er sich durch die vielen weltlichen Dienste verdient hat. Das ist der Sound des standesgemäßen Vorrechts auf sozialen Rückzug und Unterbrechung sozialer Verpflichtungen — also jenes Ausdrucks der Steigerung persönlicher Autonomie, der bis heute in bildungsbürgerlichen Schichten in der Betonung der »positiven« Einsamkeit nachhallt. Durch die Deutung der Einsamkeit als Privileg bringt Montaigne das Selbstbewusstsein einer Klasse von professionellen Gelehrten zum Ausdruck, deren Wissen und Sachverstand für die sich allmählich bürokratisch rationalisierenden Staaten der Frühen Neuzeit zugleich gefährlich und unerlässlich war. Die »positive« Einsamkeit bestand also zunächst einmal in der Verweltlichung einer Praxis autonomer Vereinzelung, die in bestimmten Hinsichten der religiösen Muße ähnelte und deren Freuden durch den heiligen Ernst der Einsamkeit gerechtfertigt wurden. Eine »positive« Erfahrung in einem lustvollen Sinn wurde die Einsamkeit dadurch aber nicht. Ganz im Gegenteil: Die Gegenstände der Meditationen, die Montaigne für seinen Rückzug ins Gelehrtenzimmer wählt, machen überdeutlich, dass es sich auch hier — wie bei der christlichen Einsamkeit — nicht um ein Vergnügen, sondern um eine äußerst ernste Angelegenheit handelte. Der Rückzug ins Gelehrtenzimmer erlaubt es dem Gelehrten, sich auf die letzten Fragen zu besinnen und der Flüchtigkeit des Lebens der Menschen ins Auge zu blicken. Montaigne geht es um die eher ungemütliche Vorbereitung auf die Trennung von geliebten Menschen und den eigenen Tod, indem er im Rahmen ausgedehnter Lektüren mit den Geistern der Antike das Gespräch über die letzten Dinge sucht. Von diesem heiligen Ernst ist der »positiven« Einsamkeit der Gegenwart vor allem geblieben, dass sie als eine Erfahrung gilt, die weniger passiv erfahren als aktiv gemacht wird. Sie wird unter dem Aspekt der Autonomie häufig von der »negativen« Einsamkeit unterschieden und gilt als »positiv«, weil sie von der Person selbst gesucht wird und von dieser selbsttätig unterbrochen werden kann.12 Sie gilt daher als etwas, das die Person erhöht, da sie ja überhaupt zu den Bedingungen der Möglichkeit gehört, durch die sie so etwas wie »reflexive Freiheit«13 in modernen Gesellschaften erleben kann. Daher rührt das Missverständnis, sie sei mit angenehmen Zuständen verbunden — und daher nicht oder kaum belastend, ja sogar etwas ganz anderes als die »negative« Einsamkeit. Das war sie nie.
Je stärker in der Frühen Neuzeit der christliche Deutungskontext der Einsamkeit als Nachahmung Christi aufsplitterte, umso stärker differenzierte sich die Erfahrung der Einsamkeit aus. Schon im 17. Jahrhundert gewinnt nach und nach neben dem »positiven« Einsamkeitsverständnis ein »negatives« Pendant an Bedeutung. Neben den gewürdigten Formen entsteht ein Vokabular für die entwürdigenden Formen des Einsamseins. Besonders gut lässt sich das an der englischen Sprache erkennen, die, anders als die deutsche oder auch die spanische und französische Sprache, über positive und negative Begriffe der Einsamkeit verfügt. Shakespeare ist einer der Ersten, der »lonely«, das negative englische Einsamkeitswort schlechthin, verwendet. Bei ihm hat es noch keinen eindeutig negativen, sondern einen eher ambivalenten Sinn. Im Coriolanus, uraufgeführt im Dezember 1609, charakterisiert »lonely« einen Drachen, der besonders gefürchtet wird, weil er sich nicht zeigt.14 »Loneliness« ist im kultivierten Englisch des 17. Jahrhunderts vor allem das Attribut einer mächtigen Kreatur, die autark lebt und sich absondert, weil sie mit den gewöhnlichen Menschen nichts gemein hat; die bewundert und gefürchtet wird, die aber die Menschen verachtet. Im Hintergrund dieses Bildes erkennt man den alten Aristoteles, dem Shakespeare antwortet: Der Mensch außerhalb der menschlichen Gemeinschaft ist weder Gott noch Tier, aber auch kein Mensch: Er ist etwas anderes, ein fabelwesenartiges Dazwischen. Shakespeare steht am Anfang der sprachlichen Artikulation eines »negativen« Einsamkeitsverständnisses: Die oft ambivalenten und in der Tendenz eher positiv konnotierten Begriffe der Einsamkeit beginnen sich in der englischen Sprache in zwei klar unterschiedene Lager zu sortieren. Es entsteht ein eigenes Begriffsfeld, das ausschließlich der Beschreibung »negativer« Einsamkeitserfahrungen vorbehalten ist. Zu nennen ist hier an erster Stelle das zum Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend dunkler besetzte Wort »loneliness« und seine Varianten wie »lonesomeness«. In der einflussreichen sechsten Auflage von Samuel Johnsons A Dictionary of the English Language wird Einsamkeit (»loneliness«) an erster Stelle als »want of company« — also als Mangel an geselliger Begleitung — definiert.15 Der halb blinde, halb taube, große und grobknochige Johnson lebte vor, was er schrieb. Seine Zeitgenossen (Sir Joshua Reynolds und James Boswell) beschreiben den Vater des modernen englischen Wörterbuchs als einen Menschen, dem das Alleinsein ein Horror war, weil er sich — aus welchen Gründen auch immer — selbst zu viele Vorwürfe über seine Vergangenheit machte. Um sich selbst aus dem Weg zu gehen, vermied es Johnson, unbegleitet oder unbeschäftigt zu sein: »The great business of his life (he said) was to escape from himself; this disposition he considered as the disease of his mind, which nothing cured but company.«16 Einsamkeit war das Grauen, das sich einstellte, wenn niemand da war, mit dem er sprechen konnte. Deshalb begleiteten ihn seine Freunde manchmal spätnachts noch nach Hause, so groß war die Angst vor der Einsamkeit. Die »solitude« ist für den einflussreichen Gelehrten eine solch fürchterliche Erfahrung der »loneliness«, dass er stets Vorkehrungen trifft, um sie zu vermeiden. Das Gegengift nannte Johnson »company«. Das Wort selbst hat dabei seinerzeit neben einer militärischen vor allem eine gesellige Bedeutung: »Company« sind Menschen, mit denen man sich unterhält und mit denen man sich vergnügt.17 »Loneliness« meint hier vor allem jene Art der Einsamkeit, die der Soziologe Robert S. Weiss später als soziale Einsamkeit bezeichnet hat: das Gefühl des Mangels an guten und erfreulichen Beziehungen, die für Anregung und Ablenkung sorgen.18 Weiss unterscheidet die soziale Einsamkeit von der emotionalen Einsamkeit, die vor allem aus dem Mangel an affektiv aufgeladenen Beziehungen zu Partnern, Familienangehörigen und engen Freunden entsteht. Bei Johnson spielt diese Bedeutung des Wortes allerdings noch keine Rolle. Trotzdem setzte sich Johnsons »negative« Interpretation des Wortes »loneliness« als Mangel an Geselligkeit bereits stark von der Bedeutung ab, in der Shakespeare das Wort verwendete. Mitte des 19. Jahrhunderts nimmt der Gebrauch positiv besetzter Einsamkeitsbegriffe wie »solitude« ab, und auch das ambivalente Wort »loneliness« wird immer häufiger verwendet, um eine Erfahrung der Verlassenheit und der Abwesenheit von Liebe und Zuneigung zu bezeichnen: Einsam bedeutet nun unter anderem, mutterseelenallein zu sein — noch ein Einsamkeitswort, das im 19. Jahrhundert beliebt wird.19 Die deutsche Sprache ist hier plastischer als die englische: Das Wort ruft das Bild eines intensiv erfahrenen Mangels in und an Primärbeziehungen wie Partnern, Familie und engen Freunden wach. Aus der sozialen ist hier bereits die emotionale Einsamkeit geworden.
Dass sich im 19. Jahrhundert ein negatives Einsamkeitsverständnis durchsetzt, ist in der Retrospektive nicht unbedingt überraschend: Das Jahrhundert der industriellen Revolution hatte in einem nie zuvor dagewesenen Umfang junge Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im sozialen Gefüge hervorgebracht. Zugleich fraß die demografische Expansion im 19. Jahrhundert fast überall die Produktivitäts- und Wohlstandsgewinne, die durch die Industrialisierung erzielt werden konnten.20 Ein Aufwachsen in Armut war im 19. Jahrhundert nicht untypisch, sondern sogar eher die Regel. Außerdem stieg die Lebenserwartung in Europa flächendeckend erst etwa ab dem Jahr 1870.21 Im Rahmen einer historisch vollkommen präzedenzlosen Bevölkerungsexplosion verwaiste ein bedeutsamer Anteil der Menschen im Kindesalter, hatte also früh im Leben den Verlust primärer Bindungen zu verarbeiten. Von der Einsamkeit der vielen Findelkinder, die in den emotional kargen Waisenhäusern und Pflegefamilien des 19. Jahrhunderts aufwuchsen, heißt es in einem Bericht des Katecheten eines Hamburger Waisenhauses: »Ohne Eltern und Freunde, einsam und allein, nicht geliebt, sondern höchstens geduldet, oft verstoßen von einer Ecke zur andern, gleichen die Schuldlosen oft schon bei ihrer Geburt den Schiffbrüchigen, die ein Sturmwind, nackt und bloß, auf fremde, dürre Erde verschlagen.«22 Historische Studien zur Kindestötung liefern Hinweise, dass der soziale Stress in den Familien im 19. Jahrhundert eher zu- als abnahm.23 Die Tötung von Kindern ist — nicht nur bei Menschen — ein guter Indikator für starken psychosozialen Stress, der wiederum ursächlich für Einsamkeitsempfindungen ist. Dazu kommen die Wanderungsbewegungen in die Städte. Die jungen Menschen im Europa des 19. Jahrhunderts waren auf der Suche nach einem Ort in der Welt. Der bürgerliche Roman, nicht zuletzt in der Form des Bildungsromans, spricht davon Bände: Da finden sich die vielen Heinriche und Luciens, die es aus der Provinz in Metropolen wie Paris, London oder auch nach München zieht, um ihr Glück zu suchen, die ganzen Denisen und Emmas, die als angestellte Verkäuferinnen oder kleine Lehrerinnen allein auf sich gestellt versuchen, eine Nische in den harten Klassengesellschaften zu finden, ohne ihre Ehre zu verlieren. Die Romane von Honoré de Balzac, Émile Zola, Charles Dickens, Benito Pérez Galdós und vieler anderer leuchten überall in Europa literarisch den soziologischen Befund genau aus, dass sich das Anwachsen der großen Metropolen im 19. Jahrhundert nicht allein durch das endogene Bevölkerungswachstum der Städte erklärt. Ein bedeutender Teil der Verstädterung resultierte aus der Landflucht.24 Die Migration vom Land in die Stadt bedeutete für große Gruppen die Erfahrung eines harten, vom Herkunftsmilieu und von der Herkunftsfamilie abgetrennten Aufstiegs- und Überlebenskampfes, der sich in fürchterlichen Einsamkeitserfahrungen artikulierte, für die es kein würdevolles Format gab. Mit David Riesman kann dies als die Einsamkeit des innengeleiteten Sozialcharakters bezeichnet werden.25 Er ging davon aus, dass in der Phase der rapiden Bevölkerungsexpansion ein Sozialcharakter dominant wurde, der sich durch einen starken inneren Kompass auszeichnete, der den Menschen jener Zeit half, sich in einer rapide verändernden Gesellschaft ihre soziale Nische zu suchen. Dass der moralische Kompass die Einzelnen zwar auch in der Fremde bei geringer sozialer Unterstützung handlungsfähig hielt, aber nicht unbedingt weniger einsam machte, zeigen Alltagszeugnisse wie Tagebücher und die Briefe, die aus- und abgewanderte Menschen an ihre Angehörigen in der Heimat schrieben.26 »Negative« Einsamkeitserfahrungen gingen auch mit den großen Migrationsbewegungen in die Kolonien einher, die die europäische Armut des 19. Jahrhunderts mit ihren wiederkehrenden Hungersnöten und Wirtschaftskrisen auslöste. Trotz aller Beschleunigung durch Dampfschiffe und ähnliche Errungenschaften bedeutete die Emigration in die Kolonien im 19. Jahrhundert für die meisten Menschen, ihre Herkunftsfamilie nie wieder oder, im besten Falle, nur noch ein- oder zweimal im Leben wiederzusehen. Die nichteuropäische Seite der Einsamkeit der Kolonialgeschichte ist bis heute nur in Ansätzen erzählt. Es ist aber kaum zu vermuten, dass die brutale Kolonialherrschaft bei den ansässigen Bevölkerungen die Einsamkeit milderte. Von den fürchterlichen Einsamkeiten, die der Sklavenhandel und die Sklaverei mit sich brachten, zeugen Bücher wie Solomon Northups Twelve Years a Slave (orig. 1853)27 und abolitionistische Erzählungen wie Fermín Toros La Sibila de los Andes (orig. 1840).28 Und dann ist da noch die Musik, die wie der Blues aus den Plantagengesängen hervorgegangen ist: Die entsetzliche Einsamkeit des kolonialen Plantagen- und Zwangsarbeitssystems hallt bis heute durch die Jahrhunderte nach. Daher überrascht es nicht, dass im 19. Jahrhundert die Deutungen der Einsamkeit zusehends negativer wurden und die Sprache immer deutlicher Raum für die Artikulation der Einsamkeit als einer schweren, unangenehmen, mitunter fürchterlichen und entwürdigenden Erfahrung machte.
Das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der »invention of loneliness«29 (Erfindung der »negativen« Einsamkeit) zu bezeichnen trifft im Prinzip zu. Aber natürlich ist es auch eine übermäßige Zuspitzung. Bei allem Überfluss an »negativen« Einsamkeitserfahrungen bleiben beide Grundformen, jene der gesuchten und gewürdigten und jene der verschmähten und erlittenen Einsamkeit, in gesellschaftlichen Deutungen präsent. Philip Slater hat — in Anlehnung an Ernst Bloch — die Einsamkeit der modernen Gesellschaft mit einer Stadt verglichen, in der die Ruinen der alten Welt zeitgleich in der neuen Welt fortbestehen; in der die Hochhäuser am gleichen Platz mit den Tempeln von einst stehen. Das ist für die Einsamkeit ein sehr passendes Bild: Während im 19. Jahrhundert überall die Erfahrungen entwürdigter Formen der Einsamkeit artikuliert werden, blühen gleichzeitig die Erzählungen einer virtuosen Form der Einsamkeit auf, die Richard Sennett treffend die »Einsamkeit der Differenz«30 genannt hat: Um das Einsamsein spinnt sich ein Komplex aus kollektiven Deutungen, sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Institutionen, aus denen die Einzelnen eine subjektive Erfahrung ihrer eigenen Singularität gewinnen konnten. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen in der Spätaufklärung und Frühromantik. In dieser Zeit verändert sich der Sinn der »positiven« Formen der Einsamkeit noch einmal tiefgreifend. Der intellektuelle Ernst der Vorbereitung auf den eigenen Tod, der noch bei Montaigne deutlich macht, wie schwer zu ertragen selbst die säkularen Formen des selbst gewählten Einsamseins sind, verwandelte sich mehr und mehr in die seltsam ambivalente Erfahrung, ganz anders zu sein als alle anderen Menschen. Die Einsamkeit der Differenz teilt mit der heiligen Einsamkeit die Figur des Erwählten. Das hat mit Anleihen aus einem Geniekult zu tun, der sich als Überblendung gut mit dem christologischen Ursprungsmotiv verträgt: Da steht er, der Held vor der Nebelwüste, und fühlt in sich die Kraft eines Originalgenies. Die Bezugnahme auf die Nachahmung des lebendigen Gottes wird ersetzt durch den Glauben an die eigene Schöpfungskraft, die allerdings erkennbar eine Art gottgegebene Gnade und nicht gut aristotelisch das Ergebnis langwieriger praktischer Übung ist. Hinter dieser Überhöhung des Selbst verbirgt sich immer auch eine Erfahrung der Minderwertigkeit, die dem Irresein ähnlich ist, wie Johann Wolfgang von Goethe in seinem Torquato Tasso (orig. 1790)31 nachzeichnet, weil es den Einzelnen zum einen an unerreichbaren Idealen misst und zum anderen an einer Verbindung auf Augenhöhe zu anderen Menschen hindert: Die »Einsamkeit der Differenz« ist nicht ganz ungefährlich. Das Genie droht immer verkannt zu werden und zu entgleisen. Auch diesen Aspekt teilt diese Art der »positiven« Einsamkeit mit ihrer christologischen Urform: Die Suche heiliger Einsamkeit galt schon früh als riskant, weil ihr ganz eigene Potenziale der seelischen Verirrung unterstellt wurden. Schon bei Johannes Cassianus, einem christlichen Vordenker des monastischen Lebens aus dem 4. Jahrhundert, ist die Warnung zu finden, dass der Rückzug in die Wüste hochmütig machen könne.32 Er preist dagegen das Leben in der Gemeinschaft, weil hier die Kontrolle der anderen den Hochmut des Einzelnen im Zaum hält.
Die Einsamkeit der Differenz passt als positiver Entwurf insgesamt gut zu einer Gesellschaft innengeleiteter Menschen, die ihren Weg in der Fremde gehen wollen und dort eine feste soziale Position erkämpfen müssen: Sie verleiht den seelischen Schmerzen, die ihr Kampf um Lebenschancen mit sich bringt, einen würdigen Sinn. Diese Art der Einsamkeit ist im 19. Jahrhundert daher ein stiller Begleiter der entwürdigenden Einsamkeiten all jener Menschen, die »mutterseelenallein« ihr Dasein fristen müssen. Die Einsamkeit der Differenz entwickelte sich außerdem zu einer Schablone, durch die sich diskreditierte Lebensformen Achtung verschaffen konnten. Homosexualität etwa stand im 19. Jahrhundert fast überall in Europa unter strafrechtlicher Verfolgung und wurde als eine Krankheit verstanden, der mit Isolation in Kliniken und Gefängnissen beigekommen werden musste.33 Die Lebensformen homosexueller Menschen hatten im sozialen Gefüge keinen legitimen Ort. Sie konnten jedoch in der Sprache der Einsamkeit (und der Freundschaft) als »offene[s] Geheimnis«34 thematisiert werden. An Oscar Wildes Briefen De Profundis (orig. 1905)35, die er aus dem Gefängnis an seinen Geliebten Lord Alfred Bruce Douglas als Anklage, aber auch als Rechtfertigung seiner Lage schreibt, lässt sich gut ablesen, wie die christologische Figur des extravaganten, aber einsamen literarischen Genies genutzt werden kann, um eine missachtete Lebensform in eine verkannte, aber heilige umzudeuten. Die »Einsamkeit der Differenz«, die als Chiffre die Erfahrungen homosexueller Menschen in einer Sprache der Würde artikuliert, bringt jedoch jene brutale Ambivalenz mit sich, die Radclyffe Hall in The Well of Loneliness (orig. 1928)36 plastisch beschrieben hat und die die vielen Oscars und Marguerites des 19. Jahrhunderts am eigenen Körper erfahren mussten: Wer die Wahrheit jener Differenz, die so einsam macht, offenbart, riskiert die Ablehnung jener Menschen, die er oder sie liebt und achtet. Das ist auch heute noch mit der Grund, warum Menschen mit anderen sexuellen Identitäten und Orientierungen einsamer sind als heterosexuelle Männer und Frauen.37 Die Einsamkeit der Differenz ist eine einsame Art der Würde, die sich im 19. Jahrhundert vor allem literarisch durch eine anonyme Leserschaft in soziale Achtung verwandeln lässt. Sie fühlen das Gleiche und müssen ebenso schweigen, sie kennen das verzweifelte Gefühl unter Menschen, denen man am nächsten ist und trotzdem nicht sagen kann, wer man ist. Konzeptuell ist das eine folgenschwere Umdeutung. Diese »neue« Form der »positiven« Einsamkeit artikuliert eine Erfahrung, die in der Wissenschaft Karriere gemacht hat und nun die aktuelle Einsamkeitsdebatte stark bestimmt: Lange unterschieden die europäischen Sprachen nicht genau zwischen der Einsamkeit als einer psychischen Erfahrung und dem menschenleeren oder menschenbefreiten Raum, in dem diese Erfahrung gemacht wird. Das ändert sich dort, wo die Einsamkeit als Einsamkeit der Differenz eigentlich erst in Gesellschaft anderer erfahren werden kann. Man braucht die anderen, denen man die Wahrheit nicht zumuten kann oder will oder die irgendwie zu sehr »sans génie et sans esprit«38 (Nietzsche, noch so ein einsamer Vogel) sind, um sie zu empfinden. Die Einsamkeit wird in diesem Zusammenhang zu einem rein inneren Zustand, der besonders intensiv in Gesellschaft erfahren wird. Besonders eng verknüpft mit dieser Umdeutung ist das Bild des Menschen, der in der bürgerlichen Öffentlichkeit, bei einem Gastmahl oder beim Flanieren, einsam ist. Es wird in Europa erstmals Ende des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt durch Johann Georg Zimmermanns Abhandlung Über die Einsamkeit beliebt.39 Zimmermann definierte Einsamkeit ganz explizit nicht mehr als ein Zugleich von räumlicher Abgeschiedenheit, praktischer Tätigkeit und subjektivem Zustand, sondern nur noch als »Lage der Seele«40, die sich einstellt, wenn sich eine Person gedanklich von ihrer Umwelt absondert. Dass Einsamkeit vor allem ein subjektiver Zustand der mentalen Abgeschnittenheit ist und von der räumlichen Absonderung — also dem Alleinsein — unterschieden werden muss, wurde im 19. Jahrhundert common sense. Heute kommt kein Abendvortrag über Einsamkeit mehr ohne diese Feststellung aus — und wenn man sie nicht macht, weil die Sache eigentlich komplizierter ist, trägt sie jemand aus dem Publikum nach. Etwas überspitzt formuliert: Jede Art der Einsamkeit ist heute zu einer Einsamkeit der Differenz geworden.
Dass Kriege fürchterlich einsame Menschen produzieren, ist eine einfache Einsicht. Dafür braucht es keine Wissenschaft — auch wenn sich diese mehr und mehr für die spezifischen Arten der Einsamkeit zu interessieren beginnt, die aus den Traumata von Kriegserfahrungen resultieren. Die wenigen eindeutig negativen Verwendungen des Einsamkeitsbegriffs in der deutschen Sprache der Frühen Neuzeit findet man in der Barockdichtung, etwa bei Simon Dach (1605—1659).41 Wo in der damaligen Literatur die Einsamkeit nicht im ambivalenten Gewand der christlichen Solitude auftritt, spielt im Hintergrund der Dreißigjährige Krieg. Der Zusammenhang von Einsamkeit und Krieg dürfte eines der wenigen historischen Universalgesetze sein, weil kein Krieg ohne die Dehumanisierung der anderen auskommt. Wenn die Menschen in Magdeburg brennen, dann wird daraus die Magdeburger Hochzeit und aus jedem Mann ein Spießbraten, den man killen, aus jeder Frau ein Stück Vieh, das man vergewaltigen, und aus jedem Kind ein Sklave, den man für sich schuften lassen kann. Krieg führt immer zum Verlust naher Menschen, aber auch zum Verlust der eigenen Menschlichkeit. Selbst wer zu den »Glücklichen« gehört, die nur töten, vergewaltigen oder morden, ist am Ende oft ein kaputtes Elend, das in sich selbst immer wieder die Gewalt durchlebt, die es anderen zugefügt hat. Weil die Dehumanisierung der Kriege Täter wie Opfer einsam macht und kein Jahrhundert größere Kriege gesehen hat als das 20. Jahrhundert, dürfte klar sein, dass zumindest die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dem 19. Jahrhundert in Sachen Einsamkeit überhaupt nicht nachstand. Nicht einmal die langen negativen Trends des 19. Jahrhunderts dürften derart intensive und weitverbreitete Vereinsamungserfahrungen hervorgebracht haben wie der Erste und der Zweite Weltkrieg, wie Flucht und Vertreibung. Sie führten zu ganz eigenen Arten der kollektiven Vereinsamung. Zunächst kam es durch die Abermillionen von gefallenen, ermordeten und an kriegsbedingten Übeln wie Krankheit und Hunger verstorbenen Menschen zu einer Vielzahl traumatischer Verluste enger Bindungen von Großeltern, Eltern, Kindern, Enkeln, Geschwistern und Freunden: Das war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nahezu globale Kollektiverfahrung weit über Westeuropa hinaus. Aber auch die Spätfolgen der großen Kriege, so ist zu vermuten, ließen die Überlebenden der Gewalthandlungen häufig einsam zurück. Aus dem Ersten Weltkrieg etwa kehrte eine ganze Generation traumatisierter Männer zurück, die ihre chronische Einsamkeit nicht mehr abschütteln konnte. Man denke an die vielen »Kriegszitterer«, die, folgt man Erich Maria Remarque, lebenden Toten glichen,42 und an die vielen »Gueules cassées«, denen das Elementarste fehlte, um am sozialen Leben teilhaben zu können: ein Gesicht, in das man ohne Schrecken blicken kann. Der Antisemit Louis-Ferdinand Céline hat die Einsamkeit, die die Fronterfahrung in die Männer einbrannte, in seinem Episodenroman Voyage au bout de la nuit lakonisch als eine Art krankhafte soziale Anhedonie beschrieben: »Et puis quand on commence à se cacher des autres, c’est signe qu’on a peur de s’amuser avec eux. C’est une maladie en soi. Il faudrait savoir pourquoi on s’entête à ne pas guérir de la solitude.«43 Aktuelle Studien zu Posttraumatischen Belastungsstörungen stellen einen sehr ähnlichen Zusammenhang zwischen den intensiven Gewalterfahrungen und Vereinsamung her: Traumatische Belastungen sind statistisch stark mit Einsamkeitsgefühlen assoziiert.44 Sie ziehen unter anderem sozialen Rückzug, affektive Dysregulation, ein negatives Selbstbild und die Störung von Nahbeziehungen nach sich.45 Das kann als eine Einsamkeit des Selbstverlusts verstanden werden, wie sie auch Menschen erleiden, die im Verlauf einer schweren psychischen Erkrankung das Gefühl dafür verlieren, überhaupt ein lebendiges Wesen zu sein. Klar dürfte auch sein, dass die »lebenden Toten« aus den Schützengräben, die sich nach Hannah Arendt vor allem durch ihre »isolation and lack of normal social relationships«46 auszeichneten, in ihren Herkunftsgemeinschaften kaum zu einer guten Qualität sozialer Beziehungen beigetragen haben dürften. Sie haben ganzen Generationen die Ehe und die Kindheit vermiest. Dies sind die Symptome jener »Sekundäreinsamkeit«, die entsteht, weil wichtige Menschen im nahen Umfeld nicht mehr dazu in der Lage sind, ihre eigene Einsamkeit abzuschütteln, und so die Beziehungen ihrer Mitmenschen belasten. Viel weniger einsam als die Generation der Schützengräben dürfte auch die »Greatest Generation«47, also die Generation der Männer, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, nicht gewesen sein. Mit Blick auf die Nachkriegsjahrzehnte ist daher aufgrund der Sekundäreinsamkeiten ebenfalls von einer hohen Prävalenz von Einsamkeitserfahrungen in den Nachkriegsgesellschaften auszugehen. Genau genommen dürfte es kaum ein einsameres Jahrzehnt im 20. Jahrhundert gegeben haben als das lange Jahrzehnt der kollektiven Kriegsfolgenbetroffenheit.48 Gerade in Deutschland lässt sich die kollektive Vereinsamung als Nachwirkung des Zivilisationsverlusts gut an Textdaten nachzeichnen. Die relativen Wortfrequenzen der ungefähr acht Millionen Bücher, die Google digitalisiert und ausgezählt hat, zeigen Folgendes: Nie wurden in diesem Korpus, der ungefähr sechs Prozent aller je veröffentlichten Bücher erfasst, die deutschen Wörter Vereinsamung und Einsamkeit häufiger verwendet als am Ende der 1940er und am Anfang der 1950er Jahre.49 Dieser quantitative Befund deckt sich mit der qualitativen Grundstimmung der Musik und der Literatur der Zeit nach Weltkrieg und Völkermord. Man denke nur an die Einsamkeit der Überlebensschuld von Jüdinnen und Juden,50 die als Familien von Displaced Persons oder »aus der Hölle zurück«51 in der Bundesrepublik und in der DDR ihr Leben zu machen versuchten. Aber auch Bezeichnungen und Titel wie »innere Emigration«, »kommunikatives Beschweigen«52 (Hermann Lübbe, 2007), Warten auf Godot (Samuel Beckett, orig. 1952)53 oder Das steinerne Herz (Arno Schmidt, orig. 1954)54 bilden einen Bedeutungshof von erlittener oder hergestellter Einsamkeit. Ein Sittenbild der Nachkriegseinsamkeiten enthält Heinrich Bölls Eheroman Und sagte kein einziges Wort (orig. 1953) mit seinen saufenden Vätern, weinenden Müttern und geprügelten Kindern.55 Der Roman beschreibt, was in der aktuellen psychologischen Literatur als Konsens gilt: Für Vereinsamung sind neben dem Mangel an Beziehungen durch Bindungsverluste vor allem negative Beziehungsqualitäten zu Nahpersonen ausschlaggebend.56 Die Nachkriegsfamilien mit ihren verkapselten Vätern und Müttern und ihrer Unfähigkeit, über den Verlust des geliebten Führers zu trauern,57 und den verstörten Kriegskindern, die sich auf alles keinen Reim machen können (das von Rolf Dieter Brinkmann für die »Gerümpelgeneration« des Nachkriegs erfasste Gefühl, sich »in der Grube« zu befinden), waren im System von Eltern, Kind und Neurose (Eberhard Richter, orig. 1962)58 ideale Orte, um intensive Einsamkeitserfahrungen zu machen.
Die große Nachkriegseinsamkeit des Zivilisationsverlusts mit ihren vielen Sekundäreinsamkeiten war jedoch kein rein deutsches Phänomen. Zwar variierte die Kriegsfolgenbetroffenheit stark: England und die USA waren sicher nicht so stark betroffen wie die »Bloodlands«59 (Zentralpolen bis Westrussland, die Ukraine, Weißrussland und die baltischen Staaten), China, Deutschland oder Japan — das lässt sich allein schon an den anteiligen Todesraten ablesen.60 Auch gibt es für die Nachkriegsjahre keine Vergleichsstatistiken für den Grad der Verbreitung von intensiven Einsamkeitsgefühlen — die moderne Sozialforschung etablierte sich gerade erst. Trotzdem zeigen einzelne sozialwissenschaftliche Studien der Zeit selbst für die weniger von den Kriegsfolgen betroffenen Länder wie das Vereinigte Königreich oder die USA ein schwerwiegendes Problem: Etwa untersuchte Anfang der 1950er Jahre die britische Women’s Group on Public Welfare (WGPW) die Verbreitung von Vereinsamung in England.61 Die besonders von Einsamkeit betroffenen Gruppen stellten sich dabei relativ amorph dar und umfassten neben älteren Menschen, Haftentlassenen und Obdachlosen vor allem die jüngeren Kohorten der aufsteigenden Mittelklassen der Nachkriegsjahre.62 Gerade junge, unverheiratete Frauen im heiratsfähigen Alter, die berufstätig waren und allein lebten, klagten dem Bericht zufolge besonders häufig über Einsamkeit.63 Von den Kriegsveteranen spricht der Bericht seltsamerweise wenig. Vielleicht äußerten sie sich nicht gerne über ihre Einsamkeit, vielleicht empfand man das auch als Affront gegenüber der »Greatest Generation« — im Englischen war der Begriff der Einsamkeit semantisch in die Nähe des Angstbegriffs gerückt.64 Der englische Befund lässt sich sicher nicht eins zu eins auf die USA übertragen. Dennoch dürften die Dinge hier in vielerlei Hinsicht ähnlich gelegen haben, auch wenn die Kriegsfolgenbetroffenheit insgesamt noch geringer ausfiel: Der meistverkaufte sozialwissenschaftliche Bestseller aller Zeiten ist bis heute David Riesmans The Lonely Crowd von 1950.65 Riesman vermutete, dass die amerikanische Gesellschaft im Zuge der Entwicklung einer neuen, konsumorientierten, »außengeleiteten« Mittelklasse auf eine zunehmende Vereinzelung zusteuerte — eine These, die in seiner Zeit großen Anklang fand. Dahinter kann man den Versuch des großen Verdrängens des Zivilisationsverlusts sehen. Die amerikanische Literatur der 1950er Jahre ist zudem voller intensiver Einsamkeitsbeschreibungen.66 Aus dem Zweiten Weltkrieg waren viele GIs zurückgekehrt, die sich nun wie viele Afroamerikaner als Invisible Man (Ralph Ellison, orig. 1954)67 fühlten und den langsamen sozialen Death of a Salesman (Arthur Miller, orig. 1949)68 starben: Die Scheidungsraten stiegen,69 und die psychische Gesundheit war bei vielen beschädigt, ohne dass darüber öffentlich gesprochen werden sollte: Die Opfer der »Greatest Generation« wurden in den USA wie im Vereinigten Königreich vor allem in Begriffen der Stärke erfasst. Richard Yates hat den zerstörten Psychen dieser Männer in seinen Eleven Kinds of Loneliness (orig. 1961)70 ein feinfühliges literarisches Denkmal hinterlassen. 1966 fragten die Beatles dann schon aus so ziemlich jedem Radio der westlichen Welt: »All the lonely people, where do they all come from?« Die Antwort fällt in der Retrospektive eigentlich nicht schwer: Sie kamen aus Auschwitz und aus Dachau, aus Nanjing und aus Warschau, vom Omaha Beach und aus Stalingrad, aus der Bombennacht von Hamburg und aus Hiroshima und von dort in so gut wie jede Familie und jedes Heim. Die kollektive Einsamkeit des Zivilisationsverlusts hatte sich in den 1950er und 1960er Jahren nahezu weltweit ausgebreitet, einige Länder Afrikas und Lateinamerikas vielleicht ausgenommen. In Argentinien oder Chile etwa hatte man von den Gräueltaten vor allem aus dem Radio, den Zeitungen und in seltenen Fällen von exilierten Juden und Dissidenten gehört. Die Einsamkeit des Zivilisationsverlusts bleibt hier daher größtenteils ein Abstraktum, das erst durch die Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre ins Bewusstsein rückte. Sozialwissenschaftliche Studien sind hier leider komplett Fehlanzeige. Aber auch hier kann man sich mit einem Blick in die Literatur behelfen: Die Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral etwa, die mit den Zweigs eng befreundet war, die sich 1942 in Brasilien im Exil das Leben nahmen, hatte einen lebendigen Eindruck von der Brutalität der Nazis.71 Aber ihre 1950 erschienenen Poemas de las madres (Gedichte der Mütter),72 in denen sie unter anderem den Freitod ihres Sohnes verarbeitet, sprechen die alte Sprache des Katholizismus und nicht die des Zivilisationsverlusts. Sie sind hier zumindest deshalb interessant, weil sie zeigen, wie die Nachahmung Christi als Format der Einsamkeit in Lateinamerika durch die Figur der Mariennachahmung ergänzt wird: Im Motiv der mütterlichen Sorge um das Kind, das noch nicht geboren wurde und das vielleicht bald ein Engelchen werden wird oder das allein, ohne den Schutz der großen Mutter seinen Weg nehmen muss, weil es die Rettung der ganzen Welt sein soll, liegt ein eigenes Würdemotiv, das tief im lateinamerikanischen Einsamkeitsverständnis verankert ist. Ende der 1970er Jahre bringt es sogar harte Diktaturen in Bedrängnis:73 Es ist nicht nur der verlorene Krieg um die Falklandinseln, sondern gerade auch die öffentlich zur Schau gestellte Einsamkeit der Mütter der Plaza de Mayo — die in ihren stummen Protesten für alle Welt hörbar fragten: »Wo sind unsere Kinder, wo sind sie?« (Leonardo Favio) —, die die brutale Militärdiktatur Jorge Rafael Videlas in Argentinien um ihre Legitimität und Unterstützung in der Bevölkerung bringt.74 Vielleicht ist das zivilisierende Einsamkeitsmotiv der Heiligen Mutter, das sich immer wieder an die Erinnerung der Apokalypse der Conquista bindet, auch einer der Gründe, warum die lateinamerikanischen Diktaturen im 20. Jahrhundert bei aller Brutalität nie so recht zum industriellen Völkermord gefunden haben. Es könnte jedenfalls erklären, warum die Einsamkeitsthematisierung in Lateinamerika in den Nachkriegsjahren seltsam zeitlos wirkt.