Zeitreisende - Deutsche Literatur für Entdecker - Eva Mühlbacher - E-Book

Zeitreisende - Deutsche Literatur für Entdecker E-Book

Eva Mühlbacher

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Beschreibung

Mit diesem Literaturführer eröffnet uns die Autorin einen neuen, zeitgemäßen Zugang zu "vergessenen" Klassikern à la Arthur Schnitzler, Novalis und Joseph von Eichendorff. Sie macht deutlich, dass Weltliteratur weder trocken noch verstaubt ist – im Gegenteil, viele Motive finden sich in der Popkultur von heute wieder, sei es in "Fifty Shades of Grey", "Game of Thrones" oder den Serien-Hits auf Netflix. Vergänglichkeit, Tod, Sexualität und andere zeitlose Stoffe werden in raffinierter Heiterkeit beleuchtet, wobei die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit häufig verschwimmen. Der erste Band dieser neuen Reihe setzt in der Romantik ein und endet mit der Literatur des Ersten Weltkriegs. Die poetische Verarbeitung von Sagen, Träumen oder Kriegen wird durch ausgesuchte Texte (u.a. Tieck, Zweig, Freud und Mann) veranschaulicht. Mit diesem Streifzug durch die unterschiedlichen Epochen demonstriert die Autorin die bunte Vielfalt der deutschsprachigen Literatur.

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EVA MÜHLBACHER

ZEITREISENDE

Deutsche Literatur für Entdecker

Teil 1 - von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg

Dachbuch Verlag

1. Auflage: Oktober 2020

Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN 978-3-903263-19-2

EPUB ISBN 978-3-903263-20-8

Copyright © 2020 Dachbuch Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Eva Mühlbacher

Lektorat: Teresa Emich

Korrektorat: Nikolai Uzelac

Satz & Umschlaggestaltung: Daniel Uzelac

Umschlagmotiv: bpk / Hamburger Kunsthalle / Elke Walford

Besuchen Sie uns im Internet

www.dachbuch.at

Für Elisabeth, Sophie und Clemens.

»Glück des Schriftstellers ist der Gedanke, der ganz Gefühl, ist das Gefühl, das ganz Gedanke zu werden vermag.«

– Thomas Mann: Der Tod in Venedig, S.86

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

KAPITEL 1: SEHNSUCHT ALS LEBENSSINN

1.1 VOM TAG

1.2 VON DER NACHT

KAPITEL 2: DAS WESEN DER NATUR

2.1 VON DER MAGIE DES WASSERS

2.2 VOM ZAUBER DER BERGE

KAPITEL 3: WIDER DIE NATUR

3.1 ZOMBIES! – VON AUTOMATEN UND SPIEGELBILDERN

3.2 VAMPIRE 1.0 – VON SEXY UNTOTEN

KAPITEL 4: KÜNSTLER ALS GRENZGÄNGER

4.1 VON PIONIEREN DES UNBEWUSSTEN

4.2 VON ENTDECKERN DES VERBOTENEN

KAPITEL 5: DIE SPIELARTEN DER SCHÖNHEIT

5.1 VON MARMORKÖRPERN UND DEM TOD

5.2 VON REINER SCHÖNHEIT

KAPITEL 6: BEZIEHUNGSGEFLECHTE

6.1 VON MUSTERBEZIEHUNGEN

6.2 VON BEZIEHUNGSMUSTERN

KAPITEL 7: EUROPA ALS SCHLACHTHOF

7.1 VON DUNKLEN VORAHNUNGEN

7.2 VOM KRIEG

KAPITEL 8: DIE WELT VON GESTERN

8.1 VON DER HEIMKEHR

8.2 VON DER ALTEN WELT

KAPITEL 9: ZEITREISE INS 21. JAHRHUNDERT

9.1 BEZIEHUNGSGEFLECHTE DES 21. JAHRHUNDERTS: RIVERDALE UND ÉLITE

9.2 VENUS IM PELZ RETURNS: FIFTY SHADES OF GREY

9.3 VAMPIRE 2.0: SHADOWHUNTERS

9.4 RÜCKKEHR IN DIE ALTE WELT: FREUD

9.5 UNTERBEWUSSTSEIN RELOADED: THE ALIENIST

9.6 DAS WESEN DER NATUR MEETS MODERNE: DARK

9.7 MOTIV-MIX DELUXE: GAME OF THRONES

DANKSAGUNG

ZUM WEITERENTDECKEN

BIBLIOGRAFIE

VORWORT

Ich wurde oft gefragt, warum ich Literaturwissenschaften studiere. Interessanterweise wird man das öfter gefragt, als wenn man Wirtschaft studiert. Ja, stimmt, weshalb eigentlich? Diesen Gedankengang, alle die Gefühle, die damit einhergehen, große Literatur zu lesen, in einige wenige Sätze zu packen, ist keine einfache Aufgabe.

Ich werde also damit antworten, indem ich selbst eine Geschichte erzähle.

In meinem Auslandsjahr, das ich in Cambridge verbrachte, beschloss ich mit zwei Bekannten, die heute zu meinen besten Freundinnen zählen, in den Osterferien in den Süden Englands aufzubrechen. Wir schulterten die Rucksäcke und fuhren los. Für die erste Nacht hatten wir uns kein Hostel gebucht. Wir waren überzeugt davon, dass es in dem kleinen Fischerstädtchen Penzance irgendeine Bar geben würde, in der wir die Nacht durchmachen konnten, bevor wir am nächsten Tag in unser Hostel einchecken konnten. Bei dieser Überlegung übersahen wir jedoch leider, dass Penzance weniger ein Städtchen als ein Dorf am Ende der Welt war. Nichts hatte geöffnet und als wir aus dem Bus taumelten, in dem wir die letzten zwei Stunden der Fahrt gefroren hatten, weil der Busfahrer alles, was die mickrige Heizung hergeben konnte, für seine Fahrerkabine beanspruchte, verließ uns etwas der Mut. Der Mond schien hell in der Nacht. Wir wanderten durch die kleinen Gassen bis wir bei einem anderen Hostel ankamen. Der Nachtportier musterte uns skeptisch und wies uns dann einen Platz in einem kleinen Verschlag vor dem Eingang des Hostels zu (wir mussten brandgefährlich ausgesehen haben!). Dennoch – wir hatten einen Unterschlupf. Da ich vorsorglich mein Goethe- und Shakespeare-Quiz eingepackt hatte, das ich zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte (das ist ein großartiges Literaturnerdgeschenk übrigens!), lösten wir knifflige Rätsel bis wir die Karten auswendig kannten. Als die Sonne sich als Silberstreifen am Horizont abzeichnete, brachen wir auf. Wir wussten, dass das erste Lokal, das öffnen würde, der McDonald’s am anderen Ende der Stadt in einem Einkaufszentrum war. Übermüdet und hungrig stapften wir am Meer entlang.

Das Wasser hatte die Farbe von Blei, aber je höher die Sonne stieg, desto mehr dünne goldene Streifen tanzten auf den Wellen. Dieser Zauber vollführte sich so lange, bis es glitzernd vor uns lag. Die Gischt fischte nach uns, brach an den schwarzen Felsen entzwei und begleitete uns den ganzen Weg. Irgendwann schien die Erschöpfung kurz zu überwiegen, da begann eine von uns, Goethes Zauberlehrling aufzusagen. Die nächste fiel ein. Verszeile für Verszeile setzten wir Goethes Ballade vom Wasser zusammen, ließen Walle, walle über unsere Lippen strömen und hörten das rhythmische Klatschen des salzigen Wassers neben uns. Eine Ballade, die ich irgendwann in der Unterstufe auswendig lernen musste, wurde für mich an diesem Tag zu einem Symbol des Durchhaltevermögens und zum Beginn einer Freundschaft, die bis zum heutigen Tag andauert.

Dieses Gefühl, dass ein Text mich begleitete, traf mich noch oft in den kommenden Jahren. Als mich eine Navajo-Ureinwohnerin in Amerika mit dem Auto mitnahm, erzählte sie mir von der Erdmutter, von der Verbundenheit der Menschen untereinander, die alle in einem großen Kreislauf lebten. Aufmerksam lauschte ich ihren Gedanken zur Unendlichkeit der Erde, aus deren Staub wir waren und dorthin auch alle eines Tages zurückkehren würden. Ich fragte mich, ob dieses Urvertrauen in die Natur das war, was Adalbert Stifters Kindern auf dem Berg in seiner Novelle das Leben gerettet hatte. Es spielte keine Rolle, dass zweihundert Jahre und ein Kontinent zwischen den Erzählungen lag. Es war derselbe Gedankengang, dasselbe Urvertrauen in die Welt, die Natur, eine göttliche Macht, wie immer sie auch aussehen mochte.

Als mir ein Freund von seinen Gefühlen erzählte, die er nicht haben zu dürfen dachte, irgendwo in einer Bar, nach mehreren Gläsern Rotwein und sich auf seinen Ellenbogen stützte, die Lippen schon etwas schwer von der Erzählung, begriff ich, dass ich diese Emotionen zuordnen konnte. Nicht, weil ich es selbst damals so empfunden gehabt hätte. Ich habe es gelesen. Viele Male. Es passiert in Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz und in Thomas Manns Der Tod in Venedig, nur auf zwei völlig unterschiedliche Arten. Diese Schriftstücke und uns in der winzigen Bar trennen zwei Weltkriege, der Fall von Monarchien, die Hippiebewegung, die Erfindung des Staubsaugers. Und doch: Es war dasselbe Gefühl.

Als ich die Rolle der Schauspielerin in Arthur Schnitzlers Stück Reigen übernahm, wurde der Zusammenfall dieser Gedankenwelten sogar körperlich eins. Denn ich musste sie sein. Unser Regisseur sah mich mit seinen großen Augen an und schärfte mir ein, ich müsste denken wie sie, um sein zu können wie sie. Ich musste wissen, was sie zum Frühstück aß, obwohl sie im Stück nie frühstückt. Ich musste wissen, an welchem Ort sie aufgewachsen war und wie sich dort der Sommer angefühlt hat. Ich musste wissen, was für sie Liebe war, Zorn, Hass, Angst, Überheblichkeit, Friede. Wie hätte ich das wissen sollen? Was verband mich mit dieser Frauengestalt Ende des 19. Jahrhunderts? Die Antwort war: unsere Gefühle.

Immer, wenn ich Zeitung lese, wenn ich von der Ohnmacht lese, die uns manchmal mit der Welt, auch der Weltpolitik verbindet, denke ich an Franz Kafka, der dieses Gefühl beschrieben hat wie kein anderer. Wenn ich meinen Großeltern zuhöre, denke ich an Stefan Zweigs Die Welt von Gestern, weil es meine beste Quelle dafür ist, wie es sich wohl anfühlen mag, die eigene Lebenswelt verloren zu glauben. Als Menschen stehen wir in der Wechselwirkung zwischen uns und der Umgebung, Natur, Staats- und Familiensystemen. Wir sind in Kommunikation mit anderen Menschen und mit den Tiefen in uns selbst.

Das alles hat sich nicht verändert. Das, was diesen Begegnungen zugrunde liegt, ist heute noch derselbe Gedankengang wie vor hunderten Jahren. Wir wissen häufig, wo Anknüpfungspunkte unseres Denkens sind. Aber wir haben vergessen, wo jene des Gefühls liegen. Sich diesen zu nähern, ist die Idee hinter diesem Buch und seinen Folgeteilen.1

1Allen, die hier eine strenge Einteilung nach literarischen Strömungen wie Romantik, Naturalismus und Fin de Siécle suchen, seien die Literaturlexika der Bibliografie ans Herz gelegt. Ziel dieser Reihe ist es, Gedanken- und Gefühlsaspekte sichtbar zu machen und einen roten Faden durch die Literatur- und Geistesgeschichte zu legen. Dabei gelten zwei Prämissen: Erstens kann kein Anspruch auf Vollständigkeit gestellt werden, weil sonst zu wenig Raum für einzelne Werke und die Gedankengänge darin bleibt. Zweitens: Einzelne besprochene Schriftsteller können mehreren literarischen Strömungen zugeordnet werden und einzelne Werke ebenso. Ziel ist es, fachlich richtige Information zu geben und trotzdem den Spaß am Aufspüren von Gedankenhorizonten fremder Zeiten nicht zu verlieren. Franz Kafka oder Georg Büchner etwa werden nicht deshalb ausgelassen, weil sie unwichtig sind, sondern weil sie als literarische Ausnahmeerscheinungen den Rahmen schlicht sprengen würden. Ich habe die Auslassungen bekannter Autoren und die Hinzunahme unbekannterer Werke und Autoren und Autorinnen im vollen Bewusstsein getroffen.

EINLEITUNG

Was ist Literatur?

Wie ist Literatur?

Die häufigsten Antworten, die ich auf diese Fragen gehört habe, waren langweilig, mühsam, trocken. Dieses Buch habe ich geschrieben, um das Gegenteil zu beweisen. Ich beweise, dass die Literatur voller großer Emotionen und reicher Momente ist. Ich beweise dir hiermit, dass du in der Literatur Gedanken finden kannst, die dich erstaunen und begeistern und die dir Angst machen werden.

Wenn wir heute über den neutralen Begriff »Literatur« sprechen, meinen wir Worte, Bücher und vielleicht den einen oder anderen toten Autor, dessen Namen wir tausendfach gehört haben.

Johann Wolfgang von Goethe zum Beispiel, dieses vertrocknete Relikt alter Tage. In meiner Schulzeit stellte ich ihn mir als alten Mann im Lehnsessel vor, der trüb in die Ecke starrte und seine Finger arthritisch um die Sessellehne geschlossen hielt. Was, dachte ich, kann mir dieses Fossil über die Welt sagen? Während meines Studiums aber begann ich, diese Figur von ihrem Schleier zu erlösen. Ich griff an sein Ohr und zog ihm von dort den dunklen Schimmer ab. Zum Vorschein kam ein junger Mann, der in seiner Unsicherheit die ersten Gedichte über den Sommer schrieb. Jemand erschien mir, der in einer Nacht- und- Nebel-Aktion in die Ewige Stadt Rom aufbrach im damals fortgeschrittenen Alter von 38 Jahren, weil er mehr fühlen wollte als das strenge Leben bei Hofe des Erzherzogs für ihn bereithielt. Und genau das ist es: Literatur sind Texte, die von Menschen geschrieben wurden.

Ihre Herzen haben geschlagen wie die unseren; sie haben Fehler gemacht, gelitten und gehofft – und sind manchmal gescheitert. Die Gedankengänge, die wir heute in den allgemeinen Begriff Literatur fassen, sind Gedanken und Gefühle realer Menschen, die gelebt haben. Sie waren wie wir. Sie fühlten wie wir. Nur haben sie es anders ausgedrückt.

Schritt für Schritt entferne ich in diesem Buch den Nebel von den alten Männern und Frauen. Ich schreibe euch eine Literaturgeschichte der Gefühle; eine Einladung, die Tiefe und die Vielfalt der Emotionen vergangener Jahrhunderte zu begreifen.

Künstler sind in unterschiedlichen Zeiten vor allem eines, und das verbindet sie über die Jahrhunderte hinweg: Revolutionäre. Sie sind akribische Beobachter, wilde Fordernde und leise Verführer, die wie stete Tropfen die Felsen alteingesessenen Gedankenguts aushöhlen oder auf höchster Flamme brennen, bis sie selbst daran vergehen.

Diese Literaturgeschichte ist zugleich mein klitzekleiner Beitrag zur Aufforderung, fremde Zeiten und Gedankengänge zu verstehen und der Arroganz unserer Gegenwart entgegen zu wirken, die sich nicht selten einbildet, die beste aller Welten zu sein.

Die Biografien der Schriftsteller könnt ihr nachlesen – in Büchern, im Internet; ich werde sie euch nicht herunterbeten. Aber ich werde euch Fenster in die Vergangenheit öffnen; euch E.T.A Hoffmann begleiten lassen, der nachts betrunken durch dunkle Gasse streift und euch zeigen, wie sich Goethe von der schönen Mailänderin verabschiedet hat. Ich werde euch mitnehmen in die Hintergassen von Moskau, wo ein eigenwilliger Dichter einen einsamen Tod findet2 ebenso wie in ein kleines Haus in Petropolis, wo sich einer der größten Schriftsteller seiner Zeit, gemeinsam mit seiner Frau, das Leben nahm.

Aus allen diesen Eindrücken entsteht Literatur – es entstehen Romane, Kurzgeschichten, Tagebücher, Gedichte, kleine Fragmente auf Postkarten und beschriebene Servietten. Ihr werdet vielleicht lernen, dass es Erfahrungen gibt, die erst gemacht werden müssen, bevor man bereit für das große Hauptwerk ist. Ihr werdet erfahren, dass der Tod manchmal eine Landschaft und manchmal eine Farbe sein kann. Ihr werdet die tiefe Verzweiflung erleben können, wenn jemand über einen Heimkehrer schreibt, der kein Zuhause mehr findet. Diese Geschichten sprechen von der Liebe, vom Aufbruch, von der Ankunft, von Verzweiflung und noch vielem mehr.

Wenn ihr euch verliebt habt und eure Zuneigung nicht erwidert wird, seid ihr ein Stück weit Werther, der Charlotte begehrt.3 Wenn ihr vielleicht heute und in fernen Zukunftstagen der Vergangenheit nachtrauert, seid ihr ein bisschen der Ich-Erzähler von Zweig und vielleicht ein bisschen Hans Castorp, der in einem Sanatorium die Zeit anders erlebt als in der Wirklichkeit.4 Wenn ihr euch auf unbekannte Reisen macht, seid ihr ein Stück weit der Partonopier5 des Mittelalters und manchmal Wilhelm Meister, der in der Tradition des Spätmittelalters genauso sein Auslandsjahr beginnt, um Neues zu lernen wie ihr.

Manchmal, wenn ihr in schummrigen Discos tanzt, seid ihr ein Stück weit Salomé, die Johannes den Täufer verführt. Wenn euch Gefühle überkommen, die ihr nicht haben solltet, befindet ihr euch vielleicht genau in Werde, die du bist, obwohl dieser Titel so seltsam kitschigabgehoben klingt. Und das Gefühl der Freiheit und der Freundschaft transportiert euch inmitten des Humanismus, wo ihr gedanklich neben Petrarca den Mount Ventoux6 besteigt.

Am Ende werdet ihr vielleicht eine andere Antwort darauf finden, wie Literatur ist. Oder ihr werdet euch die Frage anders stellen:

Wer ist Literatur?

2findet sich in Band 2

3findet sich in Band 2

4siehe Tipps zum Weiterentdecken: Thomas Mann, Der Zauberberg.

5findet sich in Band 2

6findet sich in Band 2

KAPITEL 1: SEHNSUCHT ALS LEBENSSINN

Er schreibt mit zitternden Händen. Die Kerze neben ihm ist fast heruntergebrannt. Der Mann hat stapelweise tausende Blätter neben sich gehäuft, hat Nächte des Schreibens hinter sich – und betet. Er betet, dass seine Augen ihn nicht betrügen, dass er nun endlich die Antwort findet. Neben ihm liegt eine junge Frau auf dem Bett, die, wenn sie die Augen weit geöffnet hat und zur Zimmerdecke emporstarrt, von Dingen spricht, die ihn ins Mark erschüttern.

Die Wunden an ihren Handgelenken bluten. Der Mund, der sich fiebernd um die Worte legt, ist ausgetrocknet vor Erschöpfung. Sie spricht von Jesus Christus. Von seinem Leben und seinem Sterben. Der Mann sieht, wie es sie schüttelt, wenn Visionen sie ergreifen. Die Feder hält er verkrampft in der Hand, weil er nicht glauben kann und doch so sehr glauben will, was er da hört. Sie spricht davon, dass der Glaube wahr ist. Und ihre blutenden Wunden sind der Beweis dafür. Er wagt es nicht, sie anzufassen – selbst, wenn sie von den Visionen körperlich gepeinigt wird, denn er könnte ihre besondere Verbindung zerstören. Und er weiß: Sie ist eine Nonne.

In den Jahren 1818 bis 1824 sitzt der Dichter Clemens Brentano am Bett der Nonne Anna Katharina Emmerick in einem Kloster im westfälischen Dülmen und schreibt auf, wovon sie berichtet. Die Nonne ist stigmatisiert; sie trägt also die Wundmale Jesu Christi – und hat Visionen. Für den gläubigen Clemens Brentano bedeutet das, dass er möglicherweise endlich den Beweis dafür findet, dass es Gott gibt. Er wünscht sich, dass es da draußen mehr gibt als das, was messbar ist. Er erhofft sich, dass Gott für ihn sichtbar wird. Diese Faszination für den Glauben, aber auch für das Unerklärliche, hat Brentano mit seinen Zeitgenossen gemeinsam.

Die Zeit, von der die Rede ist, ist der Beginn des 19. Jahrhunderts. Wir schreiben das Zeitalter, das mit der Französischen Revolution beginnt und von dort aus eine Reihe gesellschaftlicher und politischer Umbrüche in Gang setzt, die innerhalb eines Jahrhunderts die Landkarte Europas für immer völlig verändern werden. Es ist der Beginn einer Zeit des Nationalismus, der politischen und technischen Revolutionen. Am Anfang dieser Entwicklung stand die Aufklärung, die den Blick auf das Diesseits richtete und sich philosophisch mit Recht, Bildung und der Menschenwürde auseinandersetzte. Aber zu sagen, sie wäre »ganzheitlich« gemeint gewesen, würde diese Bewegung verklären. Denn die Männer und Frauen der Aufklärung hatten etwas Wichtiges, ja sogar Entscheidendes, übersehen: Das Innere. Sie sprachen von Menschenwürde. Aber ein kleiner Kreis von Freunden7, die sich erstmals in Jena trafen, um sich auf gedanklich neue Wege zu begeben, fragt sich: Und die Menschlichkeit? Wo ruht sie? Was ist ihr Wesen? Die Aufklärer sprachen von dem Geist. Die Freunde fragen: Und das Gefühl? Die Aufklärer sprachen von den hellen Tagen. Die Freunde fragen: Und die Nächte?

Der Kreis dieser Freunde, von dem die Rede ist, wird als Romantiker bezeichnet und sie verschreiben sich dem Gefühl, der Nacht- und Schattenseite, der Mystik, dem Unterbewussten, lange bevor es ein gewisser Dr. Freud im Wien der nächsten Jahrhundertwende studiert. Sie wollen aus mehr bestehen als aus Rationalität. Die Motive, die sie sich erwählen, die sie tief in sich tragen und in Sinneseindrücke gießen, die dem heutigen Leser überirdisch grell und gleichzeitig unkenntlich dunkel in den Augen brennen, sind nicht das, was wir heute landläufig unter romantisch verbuchen würden. Denn ihre Texte haben nichts mit dem Märchenprinzen auf dem weißen Pferd zu tun. Den einzigen Mann auf einem Pferd treffen wir in Gottfried August Bürgers »Lenore« und dieser entpuppt sich als Untoter, der auf seinem verstorbenen Ross reitet, dessen Knochen schaurig in der Nachtluft klappern, um seine Brautnacht einzufordern.

Die Romantik hat auch nichts mit einer wunderschönen, lebensfrohen Frau mit blumenbekränztem Haar zu tun. In Gemälden der Zeit schwimmt die Namensschwester von Hamlets Geliebter, Ophelia, zwischen Blüten – blass und ertrunken starren ihre hellen Augen ins Leere.8

Für die Romantiker gibt es treue Begleiter in ihrer Literatur: die Natur, die Sehnsucht, die Nacht, den Tod und das Unbewusste – und die blaue Blume. Sie ist ein Symbol, das der Dichter Friedrich von Hardenberg, der unter dem Pseudonym Novalis schreibt, gleich zu Beginn in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen einführt. Ein Symbol für die Nacht, für die Transzendenz9, für den Tod, der das letzte Geheimnis des Lebens darstellt. Das hektische Zeitalter, das nun anbricht, verdeckt für ihn nämlich die Geheimnisse der Natur. Es ist die vielleicht größte Stärke der Romantiker, Geheimnisse zuzulassen in einer Welt, die verrückt nach Vermessung ist. Aber die Suche nach dem Ursprung der Geheimnisse, nach Wahrheit, nach dem Selbst, nach dem Wesen, das alles zusammenhält, führt Clemens Brentano an das Bett einer Nonne, E.T.A. Hoffmann in die nächtlichen Kneipen, wo er versucht, seine Dämonen mit Alkohol zu betäuben und Novalis selbst immer wieder zurück zu der Angst, für immer von der Welt getrennt zu sein, von seiner jungen Geliebten Sophie von Kühn, die in der Blüte ihrer Jugend starb. Dieses Streben nach den letzten Geheimnissen der Welt, das oftmals im vollen Bewusstsein geschieht, sie nie vollständig erkunden zu können, hat einen Namen: Sehnsucht.

Für uns ist das ein Begriff, der schwierig zu fassen ist. Sehnsucht ist ein großes Wort, angesiedelt zwischen Begierde und Wunschtraum, Vorstellung und Hoffnung, Hinwendung und Unerreichbarkeit. Für die Romantiker ist es ihr Lebensgefühl. Die Sehnsucht ist ein Zustand, der nicht zu erreichen ist. Aus diesem Gefühl, etwas unbedingt zu wollen und doch nicht haben zu können, speisen sie ihre Kreativität. Dadurch bleibt das, was sie begehren, immer ein Traumbild, das sie aber auch nie gegen die Realität einzutauschen gezwungen sind. Damit werden sie zwar nie erfüllt sein, aber auch niemals enttäuscht.

Dieser Gedankengang liegt uns heute nicht fern. Wir sind umgeben von Trugbildern – perfekten Urlaubszielen, perfekten Partnern, perfekten Wohnungen, perfekten Lebenssituationen. Alles das existiert nicht und hat auch schon früher nicht existiert, in keiner Zeit. Indem wir immer mehr wollen – noch bessere Urlaubsziele, Partner, Wohnungen, Lebenssituationen – sind wir nie gezwungen, stehenzubleiben und unser Leben konkret neu zu ordnen. Wir werden zwar niemals erfüllt sein, aber auch niemals enttäuscht. Das Problem ist nur: Bei allem, wovon die Romantiker erzählen, nehmen sie die Schlussfolgerung für uns vorweg. Denn es gibt hunderte Dinge, die sie fühlen können: Leichtigkeit und Schwere, Hingabe und Abscheu, Lust und Ekel. Nur das reine Glück – davon sprechen sie nie.

1.1 VOM TAG

Betrachten wir ein Gemälde von Caspar David Friedrich.10 Wir sehen Menschen am Rand des Bildes sitzen, deren Blick in die Ferne gerichtet ist. Sie sitzen bei Sonnenuntergang am Meer und sehen Schiffen nach, die sich in Richtung Horizont auf den Weg machen. Ihre zusammengekauerten Gestalten sind nicht der Mittelpunkt des Bildes. Sie verschmelzen mit dem Gestein im Vordergrund. Der Mittelpunkt ist der Horizont. Beim Betrachten des Bildes fragen wir uns: Wohin wird das Schiff segeln? Was wäre, wenn wir mitfahren würden? Diese Sehnsucht, die durch das tiefe Orange der Sonne in uns ausgelöst wird, ist das Lebensgefühl der Romantiker.

Ähnlich in den Gemälden William Turners: Hier ist der Horizont nicht so klar konturiert wie bei Friedrich. Die Sehnsucht nach der Weite ist hier in verwaschenen, hellen Farbtönen gehalten; eine Sehnsucht wird sichtbar, die auf die Frage verweist, was wohl hinter dem diesigen Gelb liegen mag.11

Die Symbolgestalt für diese Sehnsucht ist – wie könnte es anders sein – der Wandersmann. Er ist alleine auf dem Weg, geht eine Straße entlang, bis diese irgendwo in einen kleinen Wanderweg mündet oder durchquert den Wald – nur begleitet vom Rauschen der Blätter über ihm und vom Gurgeln der Bäche zu seinen Füßen. In Joseph von Eichendorffs Gedicht bricht daher auch diese Figur auf, um ein unbekanntes Ziel anzusteuern. Folgen wir ihm.

Der frohe Wandersmann

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,

Den schickt er in die weite Welt;

Dem will er seine Wunder weisen

In Berg und Wald und Strom und Feld.12

Der Wandersmann macht sich nicht alleine auf den Weg, denn er hat göttliche Unterstützung. Die weite Welt, in die der Mann aufbricht, ist voller Wunder, die es zu entdecken gilt. Dabei ist aber nichts Exotisches am Ende der Welt gemeint, sondern die Natur, die ihn umgibt. Die Berge, Wälder, Ströme (gemeint sind: Flüsse) und Felder. Beschwingt und, wie es uns scheint, bei gleißendem Sonnenlicht, machen wir uns auf den Weg.

Frische Fahrt

(….)

Und ich mag mich nicht bewahren!

Weit von euch treibt mich der Wind,

Auf dem Strome will ich fahren,

Von dem Glanze selig blind!

Tausend Stimmen lockend schlagen,

Hoch Aurora flammend weht,

Fahre zu! Ich mag nicht fragen,

Wo die Fahrt zu Ende geht!13

Auch in diesem Gedicht von Joseph von Eichendorff geht es um eine Reise. Wir meinen, der Wandersmann des ersten Gedichts habe auf dem Schiff auf Caspar David Friedrichs Gemälde angeheuert, um dem Horizont entgegen zu fahren. Der Ausdruck sich bewahren bedeutet hier: bleiben. Derjenige, der sich hier auf die Fahrt begibt, will nicht bleiben, sondern weit weg fahren, wohin ihn der Wind treibt. Er will auf einem Strome fahren, also auf einem Fluss und freut sich auf den Glanze, den er erblicken wird. Die Stimmen, die ihn hier locken könnten, sind weibliche Wassergeister – auf eine von ihnen treffen auch wir noch auf unserer Wanderung. Aurora ist die Göttin der Morgenröte. Das Wort bedeutet im Italienischen und auf Latein Sonnenaufgang. Er kann es nicht erwarten, fortzufahren und es ist ihm gleich, wo er hinkommt. Hauptsache, dem Horizont entgegen. Diese Ziellosigkeit, verbunden mit der tief im Religiösen verwurzelten Überzeugung, dass wir alle in einen göttlichen Heilsplan eingebunden sind, ist es, was die Literatur der Romantik ausmacht.

Die Natur, die der frohe Wandersmann entdecken soll, ist aber nicht einfach schön oder grün, sondern intensiv und überwältigend, wie Ludwig Tieck uns in einem Gedicht, das er dem Freund Novalis widmet, vor Augen führt:

An Novalis

(….)

Doch weilt mein Aug, wenn heitre Lüfte spielen

Am liebsten auf der bunten Welt im Mayen,

Ausblumend, duftend und in Farben brennend.

So, liebster Freund, das Höchste sanft erkennend

Will ich mich dein und der Magie erfreuen,

Den Wundergeist in süßen Bildern fühlen.14

Wir lesen diese Zeilen und denken als erstes vermutlich »Uff«. Es ist viel, kaum zu bändigen, wie viele Emotionen hier verpackt sind. Die Lüfte, also der Wind, pfeift nicht einfach oder bläst, sondern er spielt wie ein Kind; er ist personifiziert in seiner Tätigkeit. Im Mayen, also im Mai, ist die Welt ein bisschen bunter. Ja, das stimmt wohl, denn wir werfen endgültig die Jacken von uns und baden im Sonnenlicht, wenn wir in den Gärten des Volksgartens einen kühlen Radler mit Freunden trinken. Das Wort ausblumend als solches gibt es nicht (gemeint ist: knospen oder erblühen), aber Ludwig Tieck kann nur so genau ausdrücken, was er meint. Er will sich nicht sagen lassen, welche Worte es gibt und welche nicht. Er findet, dass nur dieses Wort hier stehen sollte, weil es genau die Intensität wiedergibt, die er uns zeigen will. Wir sehen die Blüte ausblumen und gleichzeitig meinen wir, sie riechen zu können. Duftend, es werden also alle Sinne angesprochen. Dann der Höhepunkt, das große Feuerwerk: in Farben brennend. In einem Comic würde jetzt eine große Sprechblase mit »Bäng« über diesem Ausdruck stehen. Die Farben sind nicht einfach nur sichtbar: sie brennen. Sie sind so intensiv, dass man fast nicht hinsehen kann. Und gleichzeitig, ausgedrückt durch das Partizip I (brennend), passiert es jetzt, sofort; wir können nicht einmal Luft holen, so schnell ist dieser unvergleichliche Augenblick gekommen.

In der nächsten Zeile dann sofort wieder die Reduktion: vom Üppigen, Schrillen hin zum ganz Leisen, das auch den Geist miteinschließt – sanft erkennend. Wir sehen es nicht nur, wir erkennen. Und das ganz leise, leicht, wie schwerelos. Unser Gefühl will aber noch an dem Feuerwerk festhalten, will die brennenden Farben noch nicht hinter sich lassen und doch werden wir gezwungen, wieder still zu werden, obwohl unser Herz noch klopft. Und dann? Dann sind wir in der Magie und das ist vielleicht genau die Intention: Zwischen der höchsten Intensität und der leisesten Empfindung ist die Magie, die wir suchen sollen, an der wir uns erfreuen und sie fühlen, also mit Gefühlen verbinden.

Dieser Magie wohnt nicht nur ein Geist inne, sondern ein Wundergeist, also etwas, das in der Realität nichts verloren hat. Es soll unser Geheimnis bleiben, der Schlüssel zu unserer Sehnsucht.

Ein bisschen benommen sind wir nun, an der Seite des Wandersmanns, aber noch haben wir lange nicht genug von der Natur. Wir wollen ihr noch ein Stückchen näherkommen, sodass uns nichts mehr ablenkt und wo wir mit ihr eins werden können. Wir sind ganz eingenommen von der Natur, gehen gleichsam in ihr auf. Ludwig Tieck hat einen Begriff dafür erfunden und viele andere Dichter haben ihn übernommen: die Waldeinsamkeit.

In dem Gedicht, das mit diesem Wort beginnt, stellt Tieck fest:

»Waldeinsamkeit,

Die mich erfreut,

So morgen wie heut

In ewger Zeit,

O wie mich freut

Waldeinsamkeit.«

Zugegeben, so richtig wissen wir nach dem Lesen dieser Zeilen nicht, was er damit meint. Lesen wir noch einen Versblock weiter:

Waldeinsamkeit

Wie liegst du weit!

O Dir gereut

Einst mit der Zeit.

Ach einzge Freud

Waldeinsamkeit!15

Er fühlt sich also wohl in der Einsamkeit. Das wissen wir nun. Diese Waldeinsamkeit, die hier so glühend besungen wird, steht für die Rückkehr zum Ursprung und für eine geschützte Zone, in der das reine Gute noch existiert. Der Begriff der Waldeinsamkeit, den Ludwig Tieck hier in die Literatur einführt, wird noch lange nachhallen. Auch Heinrich Heine, das Chamäleon der deutschsprachigen Literatur der Zeit, der uns immer mal wieder begegnen wird, schreibt ein Gedicht über dieses Gefühl:

Waldeinsamkeit

Ich hab in meinen Jugendtagen

Wohl auf dem Haupt einen Kranz getragen;

Die Blumen glänzten wunderbar,

Ein Zauber in dem Kranze war.

Der schöne Kranz gefiel wohl allen,

Doch der ihn trug hat manchem mißfallen;

Ich floh den gelben Menschenneid,

Ich floh in die grüne Waldeinsamkeit.

Im Wald, im Wald! Da konnt ich führen

Ein freies Leben mit Geistern und Tieren;

Feen und Hochwild von stolzem Geweih

Sie nahten sich mir ganz ohne Scheu.16

Der Dichter transponiert sich hier nicht nur in die Natur hinaus, sondern gleichzeitig auch zurück in seine Jugendzeit. Die Blumen im Kranz seiner Jugend glänzten wunderbar und immer noch, wenn er davon schreibt, dass ein Zauber im Kranz war, ist nicht einfach nur der Zauber der Natur gemeint, sondern auch die Leichtigkeit des Jung-Seins. Im nächsten Versblock wird der gelbe Menschenneid der grünen Waldeinsamkeit gegenübergestellt. Die Farbkodierung ist hier wichtig: Gelb steht für den Neid, Grün für die Hoffnung, in diesem Fall für die Natur selbst. Noch eine Farbe wird Heine später im Gedicht gebrauchen: das Blaue. Er kombiniert es mit einem Kirchhof, also einem Friedhof, was naheliegend ist, war diese Farbe doch eine entscheidende für den jungen Dichter Novalis, der als Angesprochener am Anfang dieses Kapitels steht und uns im Folgenden als Mitternachtsfürst, als Quelle des Gedankens von Nacht und Tod als untrennbare Einheiten, begegnen wird. Der blaue Kirchhof in Heines Gedicht verweist darauf: Der Tod und das Blau der Nacht sind eins.

Im Wald ist alles paradiesisch. Das lyrische Ich17 des Gedichts kann dort sein, sich entfalten, leben, atmen und alle sind friedlich beieinander. Natürlich aber wird der Wald nicht nur von Tieren bevölkert, sondern auch von Fabelwesen. Der junge Mann, der sich in die Waldeinsamkeit geflüchtet hat, tanzt mit den Feen und Elfen, trifft auf den lustig aussehenden Wichtelmännchen und hört erstaunt die Geschichten über die scheuen Salamander des Waldes, denen er jedoch nie begegnet. Es ist die Welt eines Kindes, das von Geschichten umgeben ist (darauf deutet auch der Ausdruck märchentrunkenes Herz in Verszeile 120 hin). Eines Tages aber ist seine Jugend vorüber. Er kehrt noch einmal zurück an den Ort seiner unbeschwerten Jugendtage. Die Natur ist dann ebenso alt geworden wie er selbst:

Wo ist die Fee mit dem langen Goldhaar,

die erste Schönheit, die mir hold war?

Der Eichenbaum, worin sie gehaust,

Steht traurig entlaubt, vom Winde zerzaust.

Der Bach rauscht trostlos gleich dem Styxe;

Am einsamen Ufer sitzt eine Nixe,

Totblaß und stumm, wie `n Bild von Stein,

Scheint tief in Kummer versunken zu sein.

Mitleidig tret ich zu ihr heran –

Da fährt sie auf und schaut mich an,

Und sie entflieht mit entsetzten Mienen,

Als sei ihr ein Gespenst erschienen.18

Die Fee mit dem langen Goldhaar lässt sich nicht zurückholen, ebenso wenig wie die Jugend. Das Ich will den Eichenbaum wiedersehen, in dem er mit ihr gefeiert hat, aber die Zeichen der Zeit haben auch vor ihm nicht Halt gemacht. Der Bach rauscht gleich dem Styxe, also wie der Styx, der Fluss der griechischen Unterwelt. Der Dichter findet eine Nixe, die am Wasser sitzt und will sie aufmuntern, tritt an sie heran, sie flieht jedoch vor ihm. Was Heine hier so meisterhaft zum Abschluss bringt, ist ein Augenzwinkern in Richtung der Frage, was Realität ist. Wir sprechen von den Fabelwesen als Geister. Die Fee aber sieht das Gespenst in ihm. Vielleicht sagt er damit auch, dass die Welt der Feen, also die Natur in ihrer Stille und Friedlichkeit, die wahre Realität ist.

An einem paradiesischen Ort, wie dem Schauplatz der Jugendtage, können sich zum Beispiel zwei Liebende treffen, wie bei Clemens Brentano:

Liebesnacht im Haine19

Um uns her der Waldnacht heilig Rauschen

Und der Büsche abendlich Gebet,

Seh ich dich so lieblich bange lauschen

Wenn der West20durch dürre Blätter weht.

Und ich bitte: Jinni holde, milde

Sieh ich dürste, sehne mich nach dir

Sinnend blickst du durch der Nacht Gefilde

Wende deinen süßen Blick nach mir.

(…..)

Nur von unsrer Herzen lautem Pochen

Von der heil’gen Küsse leisem Tausch

Von der Seufzer Lispel unterbrochen

Ist der Geisterfeier Wechselrausch.

Auf des Äthers liebestillen Wogen

Kömmt Diane dann so sanft und mild

Auf dem lichten Wagen hergezogen

Bis ihn eine Wolke schlau verhüllt.

Und sie trinket dann an Latmus’ Gipfel

Ihrer Liebe süßen Minnelohn21

Ihre Küsse flüstern durch die Wipfel,

Küssend, nennst du mich Endymion.22

Es begegnen sich zwei Liebende in einem Hain, also einem Waldstück. Die Büsche rauschen um sie herum und es ist, als würden sie beten. Die Büsche umfangen also die Liebenden, die diese Nacht miteinander verbringen können, bevor sie wieder zurück in die Realität müssen. Die Natur gewährt dem reinen, ursprünglichen Gefühl der Liebe ihren Schutz, sodass nichts geschehen kann. Die Bäume bekommen die menschliche Eigenschaft des Betens zugesprochen. Die Geliebte fürchtet sich, aber er ist ganz sicher, dass alles gut gehen wird. Und dann, als die heiligen Küsse getauscht werden, als eine religiöse Komponente die Ehrlichkeit des Gefühls besiegelt, treten sie mitten in eine Zauberwelt ein, in der eine Geisterfeier stattfindet. Die Natur wird nun endgültig personifiziert. Schließlich tritt noch Diana auf, die in der römischen Mythologie die Göttin der Nacht und der Jagd ist und überdies als Beschützerin von Mädchen und Frauen verehrt wird. Sie beschützt das Liebespaar, aber nicht etwa als Kriegerin mit den Attributen Pfeil und Bogen, die sie trägt, sondern wird als sanft und mild für die Romantik adaptiert.

Von dem Liebespaar wird nun die Perspektive auf Diana geschwenkt, die an Latmus’ Gipfel ihren Minnelohn trinkt. Latmus ist ein Berg in Karien, in der heutigen Türkei. Diese Region war im Altertum ein selbstständiges Königreich. Dorthin ließ die Mondgöttin Selene, die später mit Diana gleichgesetzt wurde, den Jüngling Endymion bringen. Sie versetzte ihn in ewigen Schlaf, um ihm damit die ewige Jugend zu schenken. Nacht für Nacht besuchte sie ihn und zeugte mit ihm fünfzig Töchter. Und tatsächlich – am Ende des Gedichts von Heinrich Heine kommt der Name Endymion vor. Dazwischen jedoch passiert etwas Erstaunliches: Sobald der Dichter von Diana zu sprechen beginnt, wechselt er in ihre Perspektive und lässt sie ihren Minnelohn haben. Minne ist das mittelhochdeutsche Wort für Liebe. Der Dichter lässt also Diana mit ihrem Endymion die Liebesnacht am Gipfel des Latmus erleben. Diese Liebe hallt wie ein Echo durch die Natur, gibt damit die Wipfel der Bäume wieder. Unten nennt die Geliebte entzückt den falschen Namen, nämlich den jenes Endymions, der dort oben auf dem Gipfel friedlich schläft.

Das Liebespaar ist demnach durch die betenden Bäume christlich gesegnet und gleichzeitig tief im Ursprung der Natur verhaftet, denn sogar ihr Liebesspiel passiert gleichzeitig wie das der Göttin der Nacht.

Mythologie und Natur gehen demzufolge Hand in Hand und helfen den Dichtern zudem, erotische Themen zu verhüllen, um trotzdem darüber schreiben zu können. Ein schönes Beispiel dafür, Erotik in Natur zu kleiden, um sie weniger auffällig zu machen, ist auch ein zweites Gedicht von Clemens Brentano:

Die Rose blüht, ich bin die fromme Biene.…

Die Rose blüht, ich bin die fromme Biene,

Die in der Blätter keuschen Busen sinkt,

Und milden Tau und süßen Honig trinkt,

Doch lebt ihr Glanz und bleibet ewig grüne.

So singt mein tiefstes Freudenlied.

Ach meine Rose blüht!23

Nun denken wir schon aufgrund des Titels an die Redewendung mit der Biene und der Blume, die wir ganz eindeutig in der Biologie verhaften. Und genau so ist es auch gemeint. Wenn eine Rose blüht, wie im ersten Vers, ist sie reif. Und die Biene sinkt in den Busen. Wenn man nun auch noch zu Tau und Honig Bildmetaphern finden kann, ist die Sache sehr eindeutig. Im zweiten Absatz kommt dann die süße Lust dazu und ganz am Schluss versichert er: Mit andern Blumen nie mehr liebzukosen. Damit es aber keinesfalls zu direkt ist, hat der Dichter schnell die Biene fromm und den Busen keusch gemacht.

So gefühlvoll und leichtfüßig Brentano diese Zeilen ausschmückt, so sehr betrachtet er aber auch das fröhliche Ereignis der Hochzeit für eine Braut der damaligen Zeit aus einem realistischen Blickwinkel und zeigt somit, dass er die Gefühlswelten hinter den gesellschaftlichen Zwängen sehr wohl greifbar machen kann:

Brautgesang

1. Komm heraus, komm heraus, o du schöne, schöne

Braut,

Deine guten Tage sind nun alle, alle aus.

Dein Schleierlein weht so feucht und tränenschwer,

Oh, wie weinet die schöne Braut so sehr!

Mußt die Mägdlein lassen stehn,

Mußt nun zu den Frauen gehn.

(….)

3. Lache nicht, lache nicht, deine Gold- und Perlenschuh

Werden dich schön drücken, sind eng genug dazu.

Dein Schleierlein weht so feucht und tränenschwer,

Oh, wie weinet die schöne Braut so sehr!

Wenn die andern tanzen gehen,

Musst du bei der Wiege stehn.24

Es beginnt relativ harmlos. Der Leser erwartet eine wunderschöne Braut, die an einem wunderschönen Tag in ihr wunderschönes neues Leben aufbricht. Aber bereits die zweite Zeile zeigt, dass Brentano die Schwierigkeiten, die eine Ehe (die selten aus freien Stücken geschlossen wurde) für ein junges Mädchen bereithält, sieht. Sie lässt ihre Mädchenjahre hinter sich und damit auch die verbundene Leichtigkeit (im ersten Absatz muss sie die anderen Mädchen stehen lassen, im zweiten darf sie auch nicht mehr tanzen). Die zwei Zeilen, die mit Dein Schleierlein beginnen, ziehen sich wie der Refrain eines Liedes durch das Gedicht, das insgesamt fünf Versblöcke lang ist.

Die Musik ist ein wesentlicher Teil des romantischen Dichtens. Sowohl der Tanz als auch der Refrain in der Struktur sind eng mit der Dichtung verbunden. Joseph von Eichendorff, ein weiterer Schriftsteller dieser Zeit, gehört zu den meistvertonten deutschsprachigen Literaten der Geschichte. Bei ihm stimmt einfach alles, um es gut zu vertonen:25 die Thematik, der Rhythmus.

Würden wir auf unserer Wanderschaft ein Fest feiern wollen, wir müssten die Vertonung eines Gedichts von Eichendorff anstimmen. Jauchzend mischen wir uns mit dem Wandersmann unter die Feiernden. Immer schneller tragen uns unsere Füße – bis wir plötzlich stehen bleiben. Gebannt auf die Tanzfläche blicken:

An eine Tänzerin

Kastagnetten lustig schwingen

Seh ich dich, du zierlich Kind!

Mit der Locken schwarzen Ringen

Spielt der sommerlaue Wind.

Künstlich regst du schöne Glieder,

Glühend-wild

Zärtlich-mild.

Tauchest in Musik du nieder

Und die Woge hebt dich wieder.

Warum sind so blaß die Wangen,

Dunkelfeucht der Augen Glanz,

Und ein heimliches Verlangen

Schimmert glühend durch den Tanz?

Schalkhaft26lockend schaust du nieder,

Liebesnacht

Süß erwacht,

Wollüstig27erklingen Lieder –

Schlag nicht so die Augen nieder!

Wecke nicht die Zauberlieder

In der dunklen Tiefe Schoß,

Selbst verzaubert sinkst du nieder,

Und sie lassen dich nicht los.

Tödlich schlingt sich um die Glieder

Sündlich Glühn,

Und verblühn

Müssen Schönheit, Tanz und Lieder,

Ach, ich kenne dich nicht wieder!28

Das lyrische Ich sieht einer Frau beim Tanzen zu. Und zunächst ist da wieder der sommerlaue Wind als Begleiter. Glühend-wild und Zärtlich-mild sind wieder ein Gegensatzpaar, das wir schon bei Ludwig Tieck kennengelernt haben. Die Eindrücke, die er von ihr aufnimmt, sind beides Extreme – dazwischen scheint er förmlich zu zerreißen. Dann jedoch wendet sich das Blatt und sie wird ihm unheimlich. Ihre Attribute werden dunkelfeucht und schalkhaft, glühend und lockend, was einen frommen Dichter direkt ins Verderben führen kann. Er ruft ihr zu: Schlag nicht so die Augen nieder! Und fast ist uns, als würden wir den Dichter seinen Rosenkranz umfassen sehen – in der Hoffnung, nicht vom Teufel mitgenommen zu werden. Am Beginn der letzten Strophe wird aber etwas Entscheidendes deutlich: Es sind Zauberlieder, das heißt, er wird von einer fremden Macht verführt, gegen die er nicht ankommt. Wer an diesem Zauber stirbt, ist allerdings am Ende die Tänzerin selbst, die der dunklen Macht in ihr selbst, vielleicht ihrer Erotik, nicht entkommen kann. Wenn wir dieses durchstrukturierte Meisterwerk ansehen, das in der sechsten und siebenten Verszeile jedes Blocks immer durch ein langes Wort oder zwei kurze Wörter gleichsam wie Blitze durchbrochen wird, die in ihrer Intensität die gesamte restliche Strophe auf den Punkt bringen, sehen wir die frühe Darstellung einer Femme fatale, die erst hundert Jahre später als Charakter die wilden Fantasien der Dichter einnehmen wird.

Die Sehnsüchtigen und die, die mit Gott und in die Natur gehen, müssen nichts fürchten. Das Liebespaar fürchtet nichts bei seinem Stelldichein, das bis zum Tagesanbruch andauert und auch der Wanderer ist guter Dinge. So ist es gedacht. Aber es ziehen Wolken auf über diesem Paradies. Denn die Natur hat auch ihre Schattenseite.

Denn im Zwielicht, an der Schwelle zur Nacht, warnt Joseph von Eichendorff, könnte sich das Blatt schnell wenden:

Zwielicht

Dämmrung will die Flügel spreiten,

Schaurig rühren sich die Bäume,

Wolken ziehn wie schwere Träume –

Was will dieses Graun bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,

Laß es nicht alleine grasen,

Jäger ziehn im Wald und blasen,

Stimmen hin und wieder wandern.

Hast du einen Freund hienieden,29

Trau ihm nicht zu dieser Stunde,

Freundlich wohl mit Aug und Munde,

Sinnt er Krieg im tückschen30Frieden.

Was heut müde gehet unter,

Hebt sich morgen neugeboren.

Manches bleibt in Nacht verloren –

Hüte dich, bleib wach und munter!31

Es bricht die Dämmerung an und breitet ihre Flügel über die Welt. Damit denkt man zunächst an etwas Schützendes. Gleich im zweiten Vers aber erscheint das Wort schaurig, dann schwer und auch die Träume sind ein Zustand, in dem ich nichts entscheiden kann. Das Graun kann zweierlei bedeuten und ist deshalb hier so genial gesetzt: Es kann sich um das Grauen, also die Furcht handeln, oder um das Morgengrauen, das bald wieder den neuen Tag anbrechen lässt. Noch ist also nicht sicher, ob wir in Gefahr sind. Wagen wir uns einen Schritt in den Wald: Rehe, so beginnt der zweite Versblock, könnten in Gefahr sein, wenn sie alleine im Wald sind. Nun denken wir: Lass doch die Jäger; sie betreffen uns nicht. Wenn wir weiter in den Wald gehen, sollten wir aber sehr vorsichtig sein, wen wir bei uns haben: Selbst die, die außerhalb des Waldes im Sonnenschein Freunde sind, könnten uns bei Einbruch der Nacht hintergehen. Die Dämmerung macht aus den Menschen gefährliche Nachtschwärmer, bei denen man nie sicher sein kann.

Man darf nicht müde werden – bist du noch wach? Wir irren durch den Wald, auf der Suche nach dem frohen Wandersmann. Wo ist er? Ein bisschen wird uns kalt, so ganz ohne Reiseführer. Sind wir schon mittendrin? In unseren tiefsten Wünschen, Träumen, Sehnsüchten? Wenn es Nacht wird, weiß man nie…

1.2 VON DER NACHT

Man weiß nie, wenn es Nacht wird.

Und es gibt einen Fürsten der Nacht, um dessen Leben sich bereits kurz nach seinem Tod die wildesten Legenden ranken. Dieser Mitternachtsfürst heißt Novalis, was ein Pseudonym für den unspektakulären Namen Friedrich Freiherr von Hardenberg ist. Man schrieb ihm seherische Fähigkeiten zu, mehr noch: Man flüsterte ehrfürchtig, dass er ein Botschafter der Fantasie sei.

In seinen jungen Jahren geht Novalis sehr weltlichen Beschäftigungen nach – darunter auch ausgedehnte Kneipentouren. Erst der Tod seiner jungen Braut Sophie bewirkt ein Umdenken in ihm. Noch vor ihrer Hochzeit muss er sie beerdigen. Dann aber berichtet er davon, dass sie ihm an ihrem Grab an einem Maitag erschienen sei und glaubt fortan nicht nur daran, dass sie ihn ständig begleitet, sondern ist sicher, dass die Barriere zwischen Leben und Tod nicht existiert. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits sei schlicht Betrug an unserer inneren Wahrnehmung; eine Art mentale Täuschung. Auf dieser Annahme beruht seine Dichtung. Novalis will einen Weg finden, das Unterbewusste greifbar zu machen. Die Überwindung dieser Schranken findet er in der Nacht.

Auch zwei weitere Schriftsteller, die der Nacht schwarze Magie zuwiesen, befinden sich konstant am psychischen und physischen Abgrund: Der Erste, Conrad Ferdinand Meyer, fürchtet nach dem Selbstmord seiner Mutter, den diese in geistiger Umnachtung verübte, nichts mehr, als selbst geisteskrank32 zu werden. Dieses Schicksal bleibt ihm nicht erspart. Bereits vor seinem 20. Geburtstag wird er das erste Mal in eine Nervenheilanstalt eingewiesen; nachdem er sein letztes Werk Angela Borgia mit Mühe fertiggestellt hat, verbringt er seine letzten Lebensjahre im psychischen Dämmerzustand.

Der Zweite, E.T.A. Hoffmann, lässt die Grenzen der Nacht nicht nur in seinen Werken verschwimmen, sondern auch in seinem Leben. Ist er tagsüber ein gewissenhafter Beamter und ausgezeichneter Jurist, so verwandelt er sich bei Nacht in eine suchende Gestalt, die zwischen Traum und Wirklichkeit schwebt und die Visionen, die durch den Alkoholkonsum entstehen, in seinen Geschichten aufschreibt.

Wir lernen: Die Nacht beschützt dich nicht. Am allerwenigsten vor dir selbst.

1.2.1 DER TOD UND DIE NACHT

Lassen wir zunächst den Mitternachtsfürsten sprechen, den jungen Novalis:

Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht. Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Sayten der Brust weht tiefe Wehmuth. In Thautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen. – Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach der Sonne Untergang. In andern Räumen schlug die lustigen Gezelte das Licht auf.33

Die Nacht trägt für Novalis die Attribute heilig, womit sie der Religiosität der Romantik nahe rückt, unaussprechlich, wodurch sie etwas beinhaltet, das fern der Sprache liegt, also im Unterbewusstsein, und geheimnisvoll, womit er sich festlegt, dass Geheimnisse in der Welt existieren. Wenn wir seine Worte lesen, befällt uns eine unausweichliche Schwermut und wir fühlen, dass der Gedanke an den Tod sehr nahe liegt. Alle Erinnerungen, Wünsche und Träume kommen in diesen Stunden nach der Abenddämmerung zum Vorschein und nehmen den Dichter ganz gefangen. Dieser Zustand des Gefangen-Seins in sich selbst und doch tief in sich ruhend, ist mit einer Person verbunden, der Geliebten:

– sie sendet mir dich – zarte Geliebte – liebliche Sonne der Nacht – nun wach ich – denn ich bin Dein und Mein – du hast die Nacht mir zum Leben verkündet – mich zum Menschen gemacht – zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnacht währt.34

Die Geliebte ist für Novalis ein Teil der Nachterfahrung, mehr noch – sie ist das Zentrum als Sonne der Nacht. Und er ist in diesem Zustand hellwach, ist zugleich bei ihr und ganz bei sich. Sie ist die Botin einer verborgenen Welt, in der er dieses Glücks- und Vollkommenheitsgefühl erleben kann. Der Ausdruck zehre mit Geisterglut meinen Leib spricht davon, dass ein intensiver Gefühlsausdruck, die Glut, sich mit dem Verb zehren verbindet, also ein ekstatischer35 Dauerzustand ist, der in der Realität nicht zu ertragen wäre. Dieser Zustand, der an seinem Leib geschehen soll, meint die sexuelle Vereinigung mit der Geliebten. Denn er mischt sich mit ihr und genießt die Brautnacht, die für immer andauert. Darin zeigen sich zwei wesentliche Punkte in Novalis’ Weltanschauung: Erstens existiert für ihn die Trennung zwischen Leben und Tod nicht; er hält sie schlicht für eine Konstruktion. Der Übertritt vom Leben zum Tod kann daher geschehen und kann auch in die andere Richtung funktionieren. Der Tod symbolisiert bei Novalis die Nacht, der er sich so stark verbunden fühlt. Zweitens kann die endgültige sexuelle Erfüllung nur mit der gedanklichen Vereinigung der Geliebten einhergehen – eine geistige Ebene, die in der Realität (in seiner Welt also: am Tag) nicht stattfinden kann. Diese besondere Verbindung bleibt der Nacht vorbehalten.

Seine zweite Hymne an die Nacht beginnt dann auch nach einem bekannten Muster:

Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen?36

Die Nacht soll nicht vorübergehen. Die Klage darüber, dass der Morgen wiederkommt, kennen wir aus dem wahrscheinlich berühmtesten Drama William Shakespeares: Romeo und Julia. Auch da wird der Anbruch des Morgens von den Liebenden bedauert. Das Motiv der Klage über den Morgen aber ist viel älter. Es taucht schon in der mittelhochdeutschen Minnelyrik37 auf, nämlich bei Walther von der Vogelweide38, als die Liebenden ihr Stelldichein unter dem Baum in freier Natur beenden müssen, um zu ihren ehelichen Haushalten zurückzukehren. Die Nacht ist sowohl bei Walther von der Vogelweide als auch bei Shakespeare der Schutz der Liebschaft, ihr Ende bedeutet die Rückkehr in die Realität. Bei Novalis ist dieser Gedanke tausendfach potenziert. Er sagt aus, dass die Nacht um ihretwillen besser ist als der Tag und, dass die Liebesvereinigung, die die Nacht mit sich bringt, nicht nur körperlicher Natur ist, sondern darin körperliche und geistige zusammenfällt. Es ist sein Lebensgefühl, das mit der Nacht verbunden ist. Erlischt sie, erlischt sein Leben auch. Deshalb soll niemals der Morgen kommen.

Diesen Gedanken bringt Novalis in vier Verszeilen gleichsam wie die Essenz seiner Lebensphilosophie in der 4. Hymne zu Papier:

Ich lebe bey Tage

Voll Glauben und Muth

Und sterbe die Nächte

In heiliger Glut.39

Die Tage sind für ihn also nur dazu da, die Zeit zwischen den Nächten zu überbrücken. Am Leben erhält ihn der Glaube daran, dass wieder eine neue Nacht kommen wird. Besonders interessant ist, dass das Verb sterben im Präsens steht und mit dem Akkusativ die Nächte zusammengespannt ist. Wir würden vielleicht in der Nacht oder nächtens sagen. Aber nein, Novalis will uns damit auf etwas hinweisen: indem er die Nächte in den Akkusativ setzt, drückt er aus, dass der Zustand länger andauert. Er stirbt also nicht einfach irgendwann in der Nacht, sondern er stirbt die ganze Nacht hindurch. Das Sterben ist also ein Prozess, beinahe schon eine Tätigkeit, die lange andauert. Er verbringt sie in der Glut, die uns schon bekannt ist. Es ist diese heiße, kompromisslose Hingabe an die Vorstellung der höchsten Glut im heiligsten Gefühl, die die Schriftstücke des Mitternachtsfürsten so außergewöhnlich machen. Das sterben der Nächte verweist bei Novalis auch wieder auf die Vereinigung der Geliebten mit der Nacht. Sterben meint hier also ein Zusammenfließen des Sterbens und der sexuellen Vereinigung. Beides ist hier als Prozess gedacht, auf den sich der Dichter bewusst einlassen will.

Seine 5. Hymne erzählt davon, wie die Götter die Welt verließen und daraufhin die Natur die Regie übernahm. Dann kam die Nacht, um das Menschengeschlecht zu erlösen. Es ist ein wilder Ritt durch Mythen, den der junge ungestüme Dichter da antritt, eine unstillbare Sehnsucht, die ihn antreibt, dass etwas Bedeutung behält, das zwar lange nicht mehr existiert, aber immer noch eine Bedeutung hat, obwohl er es nicht sehen kann. Aufgelöst wird diese Welt in der christlichen Heilslehre, ein Gedankengang, den er mit Eichendorff teilt.

Was ihm bleibt, ist die Sehnsucht, die alle Romantiker antreibt. Er aber treibt es auf die Spitze, denn seine Sehnsucht richtet sich nur auf eines: den Tod. Man sagt, dieser Gedanke habe von ihm am 13. Mai 1797 Besitz ergriffen, als er an ihrem Grab dem Geist seiner toten Verlobten Sophie von Kühn begegnet. Vielleicht hebt er die Hand, um sie zu grüßen, vielleicht versucht er, ihren Körper zu fassen, um sie in die Arme zu schließen. Vielleicht weint Novalis bittere Tränen um sein verlorenes Glück, vielleicht macht er einen Schritt auf sie zu, um ihr zu folgen, um die Grenze zwischen Leben und Tod zu überschreiten.

Der letzte Versblock seiner 6. Hymne lautet:

Hinunter zu der süßen Braut,

Zu Jesus, dem Geliebten –

Getrost, die Abenddämmrung graut

Den Liebenden, Betrübten.

Ein Traum bricht unsre Bande los

Und senkt uns in des Vaters Schooß.40

Er möchte seiner Braut nachfolgen und ist überzeugt, dass er dort auch Jesus begegnen wird. Die Abenddämmerung kommt für die Liebenden zur richtigen Zeit, sie müssen also keine Angst mehr haben. Der Traum nimmt sie beide hinfort in den Tod.

Fast kann man sich vorstellen wie Novalis nach der Vision am Grab nach Hause kommt, die Geschichte vielleicht einem Freund erzählt; erschöpft, gepeinigt von Wünschen und Erinnerungen und mit der Feststellung aus seiner 4. Hymne schließt: Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?41

1.2.2 DAS UNBEWUSSTE UND DIE NACHT

Sein natürlicher Lebensraum ist die Nacht, denn dann erschafft er die Gestalten, die seinen Nachruhm begründen werden. Sein Leben brennt in der Glut, die Novalis hofft, in seiner Nacht, im Tod zu finden. Er durchlebt alles: Liebschaften, Armut, Trunksucht, die Nähe zum Erfolg. Aber das Brennen auf höchster Flamme hat seinen Preis: ein kurzes Leben. Dennoch wird der Mann, der auf den seriösen Namen Ernst Theodor Amadeus Hoffmann hört, Nachtwelten entwerfen, die in die Tiefe der menschlichen Seele hineinreichen. Er ist der Kartograph unserer innersten Gefühle, lange bevor das Unterbewusstsein, das an die Oberfläche drängt, zum Gegenstand der Untersuchungen der Ärzte um die Jahrhundertwende wird.

Im richtigen Leben, bei Tageslicht, ist Hoffmann Richter. Er hat die juristische Laufbahn eingeschlagen, es sich jedoch durch seine pointierten Karikaturen mit seinen Vorgesetzen verscherzt und kann daher seine Karriere nicht so verfolgen wie sie wohl vor ihm gelegen wäre, wenn er einfacher Beamter gewesen wäre. Doch damit kann sich Hoffmann nicht anfreunden. Er will mehr, denn er zeichnet, schreibt und komponiert. Seine Musik wird Hoffmann zeitlebens als sein größtes Kunstwerk ansehen, aber seine Literatur wird ihm den Nachruhm bescheren. Diese aber schreibt er, um sich zu unterhalten – und sein Publikum, das immer größer wird, obwohl er sich viel mehr auf seine Kompositionen konzentriert. Die Gestalten, die seine Novellen bevölkern, stammen aus den Abgründen der menschlichen Existenz. Sie sind sehnsüchtig, betrügerisch, undurchsichtig, alkoholkrank – wie er selbst. Mehr und mehr spricht er am Ende seines Lebens dem Alkohol zu, wankt durch die Straßen der schlafenden Stadt, die Augen trüb vom vielen Wein. In den nebligen, dunstigen Straßen des Berlin der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheinen sie ihm alle begegnet zu sein: Der junge Elis Fröbom, den Hoffmann in seiner Novelle Die Bergwerke zu Falun42 in die Tiefen des Bergwerkes hinabsteigen lässt, um dort seinem Schicksal ins Auge zu sehen, der Hofrat Maximilian Reutlinger, den er durch ein Kostümfest in seine Jugend zurückführt, um sein steinernes Herz in der gleichnamigen Erzählung43 zu erweichen und auch René Cardillac, den Dieb aus Das Fräulein von Scuderi.

Die Hauptfigur der Novelle Das Fräulein von Scuderi ist das Fräulein von Scuderi selbst, eine Art Miss Marple des 17. Jahrhunderts, die im Frankreich von Ludwig XIV. in einen Mordfall verwickelt wird. Die Erzählung beginnt bereits in der Nacht und wie wir sehen werden, passieren alle entscheidenden Dinge in den Stunden nach Sonnenuntergang. Zu später Stunde klopft ein aufgeregter junger Mann an das Tor der Scuderi. Ihre Haushälterin will zunächst nicht öffnen. Merkwürdige Gestalten treiben sich dieser Tage in Paris herum, von Giftmorden tuschelt die Stadt gar. Aber irgendwann öffnet sie dem Fremden doch, der sich sofort in die Wohnung drängt:

Sowie sie die Türe kaum geöffnet, drängte sich ungestüm die im Mantel gehüllte Gestalt hinein und rief, der Martiniere vorbeischreitend in den Flur, mit wilder Stimme: »Führt mich zu Eurem Fräulein!« Erschrocken hob die Martiniere den Leuchter in die Höhe, und der Kerzenschimmer fiel in ein todbleiches, furchtbar entstelltes Jünglingsantlitz. Vor Schrecken hätte die Martiniere zu Boden sinken mögen, als nun der Mensch den Mantel auseinanderschlug, und der blanke Griff eines Stiletts aus dem Brustlatz hervorragte. Es blitzte der Mensch sie an mit funkelnden Augen und rief noch wilder als zuvor: »Führt mich zu Eurem Fräulein, sage ich Euch!«44

Wir werden Zeugen einer bedrohlichen Situation, die gleich auf der dritten Seite der Erzählung passiert. Atemlos wird die Ankunft des jungen Mannes geschildert, der noch dazu nicht gerade vertrauenserweckend aussieht. Weil die Haushälterin ihn nicht zum Fräulein lassen will, lässt er ein kleines Kästchen bei ihr, das sie ihr übergeben soll und verschwindet wieder. Wenig später geschieht ein Mord in den Straßen von Paris und der Mann, der den Mörder verfolgte, schwört, dass dieser einfach so durch die Wand verschwunden sei. Das Fräulein von Scuderi wird um Hilfe bei der Aufklärung des Falls gebeten, aber ganz unbeteiligt ist sie auch nicht daran, denn es stellt sich heraus, dass der junge Mann, der so sehr darauf drängte, zu ihr vorgelassen zu werden, der Sohn einer Jugendfreundin ist. Ihm wird zur Last gelegt, seinen zukünftigen Schwiegervater und Lehrmeister, René Cardillac, ermordet zu haben. Cardillac ist der berühmteste Goldschmied der Stadt. Er stellt Geschmeide von außerordentlicher Schönheit her, doch immer, wenn er eines an den Kunden aushändigen muss, spiegelt sich Widerwille in seinem Blick. Es stellt sich heraus, dass Cardillac nachts durch Paris gestreift ist, um seine wertvollen Schmuckstücke wieder zurückzuerhalten. Dafür nimmt er auch Morde in Kauf. Unfreiwillig wird der junge Mann, Olivier, Zeuge davon, wie Cardillac einen Mord begeht und sein Schmuckstück zurückstiehlt. Er stellt ihn zur Rede, wird dann aber für eine Weile Mitwissender der Taten seines Meisters. Als er dem Fräulein die Umstände beschreibt, hört sich das so an:

Arbeitete ich mit dem Alten in der Werkstatt, nicht ins Antlitz vermochte ich ihm zu schauen, kaum ein Wort zu reden vor dem Grausen, das mich durchbebte in der Nähe des entsetzlichen Menschen, der alle Tugenden des treuen, zärtlichen Vaters, des guten Bürgers erfüllte, während die Nacht seine Untaten verschleierte.45

Es ist also die Nacht, in deren Schutz sich der brave Goldschmied in einen Dieb und Mörder verwandelt. Nie begeht er tagsüber einen Mord. Es scheint beinahe, als würde der Mond wie bei einem Werwolf seine tiefste Dunkelheit wecken, sodass er zu solchen Taten fähig wird. Die Nacht ist der Auslöser, der diese Seite seines Wesens in ihm triggert, aber die Erklärung liegt woanders und damit wagt sich Hoffmann weit in die Tiefen des Unterbewusstseins vor, die schon beinahe an das Feld der Psychoanalyse drängt, die erst hundert Jahre später den Geist einer neuen Jahrhundertwende beherrschen wird. Denn Cardillac berichtet Olivier:

Von meiner Mutter erzählte man mir eine wunderliche Geschichte. Als die mit mir im ersten Monat schwanger ging, schaute sie mit andern Weibern einem glänzenden Hoffest zu, das in Trianon gegeben wurde. Da fiel ihr Blick auf einen Kavalier in spanischer Kleidung mit einer blitzenden Juwelenkette um den Hals, von der sie die Augen gar nicht mehr abwenden konnte. Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den funkelnden Steinen, die ihr ein überirdisches Gut dünkten. Derselbe Kavalier hatte vor mehreren Jahren, als meine Mutter noch nicht verheiratet, ihrer Tugend nachgestellt, war aber mit Abscheu zurückgewiesen worden. Meine Mutter erkannte ihn wieder, aber jetzt war es ihr, als sei er im Glanz der strahlenden Diamanten ein Wesen höherer Art, der Inbegriff aller Schönheit. Der Kavalier bemerkte die sehnsuchtsvollen, feurigen Blicke meiner Mutter. Er glaubte jetzt glücklicher zu sein als vormals. Er wusste sich ihr zu nähern, noch mehr, sie von ihren Bekannten fort an einen einsamen Ort zu locken. Dort schloss er sie brünstig in seine Arme, meine Mutter fasste nach der schönen Kette, aber in demselben Augenblick sank er nieder und riss meine Mutter mit sich zu Boden. Sei es, dass ihn der Schlag plötzlich getroffen, oder aus einer andern Ursache; genug, er war tot. Vergebens war das Mühen meiner Mutter, sich den im Todeskrampf erstarrten Armen des Leichmans zu entwinden. Die hohlen Augen, deren Sehkraft erloschen, auf sie gerichtet, wälzte der Tote sich mit ihr auf dem Boden. Ihr gellendes Hülfsgeschrei drang endlich bis zu in der Ferne Vorübergehenden, die herbeieilten, und sie retteten aus den Armen des grausigen Liebhabers.46

Die Gier Cardillacs wird also durch ein Trauma seiner Mutter erklärt, das sich auf das ungeborene Kind übertragen hat. Wir werden Zeugen der Habgier der Mutter, die sie in die Arme eines Mannes treibt, den sie eigentlich schon abgewiesen hatte. Er begehrt sie sofort körperlich und sie nutzt die Nähe (und die Tatsache, dass der Fokus seiner Aufmerksamkeit woanders liegt), um ihm den Schmuck wegzunehmen. Dann jedoch passiert das Unglück: Er stirbt in ihren Armen. In dieser Szene verschmelzen die Habgier nach Schmuck, Sexualität und Tod in einzigartiger Form, die eine solche Ausprägung erst wieder in der Literatur des Ästhetizismus um 1900 finden wird. Das Trauma wird also in diesem Zusammenfall auf das ungeborene Kind, eben jenen René Cardillac, übertragen. Um diese Sehnsucht nach Diamanten aber an die Oberfläche zu befördern, braucht es einen Auslöser: die Nacht. Sobald also der Mond am Himmel steht, wandert auch Cardillac durch Paris, um seinen Schmuck zurückzuholen. Er ist damit die Figur eines Getriebenen, der nicht von seinen Sehnsüchten lassen kann – auch, wenn sie ihm schlussendlich den Tod bringen.

Auch der Autor E.T.A. Hoffmann zieht durch die Straßen der schlafenden Stadt. Immer wieder muss er sich an den Backsteinen abstützen, denn er hat viel getrunken und kann nicht mehr klar sehen, was alles vor ihm liegt. Ob er auch manchmal das Gefühl hatte, einen Mann vor sich in der Mauer verschwinden zu sehen? Wie ein Getriebener schreibt er am Ende seines kurzen Lebens jedenfalls noch die letzten Zeilen seiner Erzählung Des Vetters Eckfenster47 und er schreibt gegen die Zeit an, denn wie der Protagonist wird auch er langsam ans Bett gefesselt, weil sich ein undefinierbares Nervenleiden von den Beinen aufwärts durch seinen Körper frisst – so lange bis er nur noch den Kopf bewegen kann. Als seine Hände absterben, diktiert er alles, was er noch sagen wollte – und stirbt bei Tageslicht.

1.2.3 DIE WAHRHEIT UND DIE NACHT

Die Nacht ist uns nun schon als Trigger begegnet für etwas, das tief in uns verborgen liegt. So ist es auch in der Ballade Die Füße im Feuer von Conrad Ferdinand Meyer, einem Schweizer Schriftsteller, dessen Schicksal – wie das so vieler Schriftsteller dieser Zeit – in der Nervenheilanstalt und in geistige Umnachtung mündet. Um die Untiefen der Erinnerung geht es in seiner Ballade:

Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm. Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß, Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust

Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest. Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann.