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Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.
Heft 32 widmet sich der Paranoia, dass Medientechnologien ganze Bevölkerungen zu Marionetten böswilliger Akteur*innen machen. Unter dem Begriff »Mind Control« werden unterschiedliche Versuche der (verdeckten) Einflussnahme auf Denken, Fühlen und Verhalten zusammengefasst, die von Suggestion über Manipulation bis hin zu Indoktrination reichen. Die Beiträger*innen arbeiten das Thema angesichts rezenter Verschwörungserzählungen zu staatlich »gesteuerten« Medien medienwissenschaftlich auf.
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Seitenzahl: 366
Veröffentlichungsjahr: 2025
1/2025GESELLSCHAFT FÜR MEDIENWISSENSCHAFT (HG.)
Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.
Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler*innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibstile und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.
Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion konzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT.
Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, Blog-Beiträge sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.
HENRIETTE GUNKEL, MAREN HAFFKE, KATRIN KÖPPERT, FLORIAN KRAUTKRÄMER, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, GLORIA MEYNEN, MAJA-LISA MÜLLER, ANNA POLZE, BIRGIT SCHNEIDER, MARY SHNAYIEN
Editorial
MIND CONTROL
BERND BÖSEL / JAMES KENNAWAY
Mind Control Einleitung in den Schwerpunkt
MARTIN BECK
Living rent-free in your head Affektive Kopplungen, Verhaltensdesign und das Nichtbewusste in der Plattformökonomie
PATRIQUE DEGEN
Mind Control ohne Controller Eine medientheoretische Interpretation von Fetisch und Kapital bei Karl Marx
BENEDIKT MERKLE
Kontrollierbare Kognition Stochastische Elemente in symbolischen und subsymbolischen Systemen
STEPHAN SCHLEIM
Hirnforschung und Mind Control José M. R. Delgados «stimoceiver» im Vergleich zu Elon Musks Neuralink
NITA FARAHANY im Gespräch mit JAMES KENNAWAY und BERND BÖSEL
«Die wirkliche Gefahr liegt in der Erosion der Autonomie» Ein E-Mail-Interview über kognitive Freiheit und die problematische Nutzung neuronaler Daten
REBECCA LEMOV im Gespräch mit JAMES KENNAWAY und BERND BÖSEL
Von ‹harter› zu ‹sanfter› Gehirnwäsche Rebecca Lemov erforscht die Realitäten und Imaginationen von Mind Control
BILDSTRECKE
RIKE SCHEFFLER vorgestellt von ELISA LINSEISEN
Lava.Rituale
LABORGESPRÄCH
MAGDALENA HESS und LEO FISCHER im Gespräch mit ANNA POLZE, KÜBRA SARIYAR und BIRGIT SCHNEIDER
#reclaimTikTok? Plattformlogiken und die Verbreitung rechtsextremer Haltungen
EXTRA
MARIE-LUISE ANGERER
‹Self›-Containment on messy grounds ‹Selbst›-Begrenzung auf instabilem Terrain
ELISABETH HEYNE
Der Nebel in der Wunderkammer Zur Natur der Dinge im Anthropozän
DEBATTE
Medienwissenschaft und Bildung (Teil IV)
ÖMER ALKIN «Wenn ich nach unten spucke ‹Bart›, wenn ich nach oben spucke ‹Schnäuzer›». Postmigrantische Thesen zu Medienwissenschaft und Medienbildung
Medienpraxis und Lehre (Teil III)
JAN DISTELMEYER / WINFRIED GERLING / ANNE QUIRYNEN und BIRGIT SCHNEIDER Über und mit Medien. Potsdamer Perspektiven auf Theorie-Praxis-Verhältnisse
MARTINA LEEKER Für eine kritische Medienpraxislehre, mit künstlerischer Forschung und performter Diskursanalyse
WERKZEUGE
VANESSA OBERIN Wie viele Pomodoro hat eine Dissertation? Über Produktivitätsversprechen der Mikrodosierung
BESPRECHUNGEN
MAJA-LISA MÜLLER Unboxing. Container, Taschen und andere Infrastrukturen
ELISA LINSEISEN Umsichtiger Vampirismus. Umgang mit unfertigen Filmen
AUTOR*INNEN
BILDNACHWEISE
IMPRESSUM
«Mindcontrol Butterflies»-Graffiti (Foto: Flickr-Nutzer*in bixentro, 25.3.2009, Orig. in Farbe)
«Whoever controls the media, controls the mind» – dieses berühmte Zitat stammt ursprünglich nicht von Jim Morrison, wie gerne kolportiert wird, sondern lässt sich bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen,1 auch wenn der Ursprung letztlich obskur bleibt. Zu den etablierten Massenmedien Zeitung, Radio und Kino kam zu dieser Zeit das Fernsehen hinzu – und damit eine neue Möglichkeit, die Bevölkerung auch im Privaten zu beeinflussen oder gar zu steuern.2 Im Kalten Krieg wurde die Sorge um unerlaubte, ja feindliche Einflussnahme zunächst vom US-amerikanischen Militär und dem CIA geschürt. Der Gründer von Scientology, L. Ron Hubbard, fungierte sogar als Ghostwriter für das Buch Brain-Washing aus dem Jahr 1955 (vgl. Abb. 1), das behauptete, ein von Lawrenti Beria, dem Chef der sowjetischen Geheimpolizei, verfasstes Handbuch zu sein. Doch eignete sich auch die künstlerische und intellektuelle Counterculture das Konzept bald an, um es gegen die eigene Regierung zu wenden. Von nun an wurde die Paranoia, dass Medientechnologien ganze Bevölkerungsgruppen zu Marionetten böswilliger Akteur*innen machen könnten, zu einem intrinsischen Bestandteil des Alltagslebens und zu einem wiederkehrenden Thema in der Populärkultur, im Journalismus und auch in der Wissenschaft.
Obwohl die Beschäftigung mit Themen wie Gehirnwäsche, Mentizid, thought reform, Bewusstseinskontrolle und psychological operations in der Geschichts-, Literatur- und Religionswissenschaft sowie der Psychologie seit Langem etabliert ist, hat sich die Medienwissenschaft überraschenderweise bisher kaum damit befasst.3 Mit dem vorliegenden Schwerpunkt wollen wir bezüglich dieses Versäumnisses Abhilfe schaffen. Wir gebrauchen den Begriff ‹Mind Control› als umbrella term für strategische Versuche unzulässiger und verdeckter Einflussnahme auf Denken, Fühlen und Verhalten von Individuen, Gruppen und ganzen Bevölkerungen. Dabei gehen wir von einem Spektrum der affektiven und kognitiven Einflussnahme aus, das von Suggestion über Manipulation bis zur Indoktrination reicht und zudem das Angstbild einer völligen Willens- oder Verhaltenssteuerung umfasst. Diese Sorge bezüglich unerlaubter Einflussnahme durch undurchschaubare Apparaturen lässt sich bis in die frühe Industrialisierung zurückverfolgen. Quer durch die Mediengeschichte bis hin zu den digitalen Umgebungen des frühen 21. Jahrhunderts fällt auf, dass jedem Medium spezifische Affordanzen bezüglich intentionaler Einflussnahmen zugeschrieben werden. Das Wort ‹Einflussnahme› enthüllt damit seinen tieferen Sinn, denn wer Einfluss ‹nimmt›, bedarf dazu einer Instanz, die ihn ermöglicht oder ‹gibt›. Diese lässt sich in den Medien selbst verorten. Anders gesagt: Die intentionale Einflussnahme beruht auf einer vorgängigen medientechnischen Einflussgabe. Zwar ist es seit Marshall McLuhans Understanding Media ein konstitutives medientheoretisches Argument, dass Medien immer schon psychische und soziale Effekte zeitigen. Doch sollte uns dieser Umstand der nicht intendierten Beeinflussung durch den Mediengebrauch nicht davon ablenken, dass über diesen Mediengebrauch sehr ungleichmäßig verfügt wird. Diejenigen, die etwa über die Produktion und Distribution von Medien entscheiden, bekommen damit ganz andere Einflussmittel in die Hand gegeben als diejenigen, denen solche Entscheidungsmacht verwehrt ist. Das in den Mediengebrauch eingeschriebene Machtgefälle verführt die einen zu dessen Missbrauch, während es die anderen zu oftmals überzogenen Fantasien bezüglich des tatsächlichen Umfangs und der Reichweite solcher Einflussnahme verleitet.
Abb. 1 L. Ron Hubbard: Brain-Washing, 1955(Foto: James Kennaway, Orig. in Farbe)
Angesichts dieses Machtaspekts greifen auch die Kategorien von race, class und gender. So hat die postkoloniale Bibelkritik die Rolle der sogenannten Heiligen Schrift in vielen Prozessen der Kolonialisierung hervorgehoben – eine Rolle, die der Bibel wohlgemerkt auch heute noch unter neokolonialem Vorzeichen zukommt.4 Die Bibel ist aus dieser Sicht möglicherweise die erfolgreichste Einflussgeberin der Geschichte und zusammen mit anderen Erzeugnissen des europäischen Buchdrucks ein langlebiges Medium der Bewusstseinskontrolle.
Was die Genderthematik betrifft, so erweist sich der Mind-Control-Diskurs als tief von patriarchalen Mustern durchzogen. Von den männlichen Magnetiseuren der Aufklärungszeit zu den Hypnotiseur-Figuren des frühen 20. Jahrhunderts zieht sich eine sexistische Linie, die Suggestionskraft stets der männlichen und Suggestibilität zumeist der weiblichen Seite zuweist. Aber auch die Phantasien des Widerstands gegen manipulative Beeinflussung favorisierten lange Zeit die männliche Subjektposition (wie etwa im Film The Manchurian Candidate, Regie: John Frankenheimer, US1962). Ein genderspezifisches Beispiel der Einflussnahme hat überraschenderweise in den letzten Jahren eine diskursive Renaissance erfahren: das auf Patrick Hamiltons Theaterstück Gas Light zurückgehende ‹Gaslighting› (dazu unten mehr).
Auch die Klassenfrage ist tief in die Geschichte und die Diskurse von Manipulation und Kontrolle eingeschrieben: Denn wer die Medien kontrolliert, kontrolliert damit in vielen klassischen Zuschreibungen auch die Massen der Nicht-Privilegierten, der Arbeiter*innenschaft, der Ungebildeten etc. Inwieweit die orthodoxe marxistische Klassenperspektive bezüglich der quer durch die sozialen Schichten genutzten webbasierten Medien heute noch triftig ist, wird allerdings zunehmend fraglich. Zugleich wird in vielen Verschwörungserzählungen und auch in anderen Manipulationsthesen erneut das Bild einer passivierten ‹Masse› beschworen (vgl. den despektierlichen Ausdruck sheeple).
Die rezente Verbreitung von Verschwörungserzählungen zur angeblich ubiquitären Bewusstseinskontrolle von Nutzer*innen staatlich ‹gesteuerter› Medien macht die medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex notwendig. Zugleich ist zu fragen, inwiefern die Rede von Verschwörungserzählungen die Aufmerksamkeit von tatsächlich stattfindender (mindestens: versuchter) Einflussnahme ablenkt – man denke nur an die Sättigung der Medienlandschaft mit Public-Relations-Kampagnen und Propaganda aus dem gesamten politischen Spektrum sowie den in den letzten Jahren überhandnehmenden Desinformationskampagnen rund um den Klimawandel, das Coronavirus sowie die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen.
Bezüglich der digitalen Desinformation hat sich inzwischen eine Terminologie etabliert, die von Trollfarmen und cyber troops bis zu computational propaganda und networked disinformation reicht und dabei immer neue Ausdrücke für die dynamischen Verhältnisse digitaler Einflusskampagnen hervorbringt. Spätestens der Begriff «media mirage», mit dem immersive Einfluss-Ökosysteme bezeichnet werden, konvergiert mit dem von Robert Jay Lifton bereits in den 1960er Jahren eingeführten «milieu control», der schnell zu einem Schlüsselbegriff in der Mind-Control- und Brainwashing-Literatur wurde und der sich mühelos bezüglich der digitalen Milieus der Gegenwart fortschreiben lässt.5
Die Angst davor, durch fremde Mächte kontrolliert zu werden, ist freilich kein Spezifikum der Gegenwart. Was heute in erster Linie den modernen Medientechnologien zugeschrieben wird – Verhaltensmodifikation, Aufmerksamkeitslenkung, Begehrenserzeugung, Gefühlssteuerung, Gedankenkontrolle –, lässt sich motivisch bereits in der Antike finden. In religiösen Kontexten schrieb man die Fremdkontrolle oftmals übermenschlichen oder dämonischen Kräften zu, die von menschlichen Subjekten willkürlich Besitz ergreifen. Im christlichen Mittelalter wurden die (nunmehr rein negativ bewerteten) Dämonen in Verbindung mit der schwarzen Magie gesehen, die in der Hexenverfolgung brutal geahndet wurde – was als ein erster deutlicher Fingerzeig auf das sexistische Gendering im Mind-Control-Diskurs zu interpretieren ist. Metaphorisch lebte die Besessenheitsvorstellung auch in säkularen Zeiten fort, etwa wenn die «Dämonie der Technik» beklagt wurde.6 Doch kamen im 19. Jahrhundert neue Motive hinzu. Zunächst entstand eine Kritik an der mit der Verbreitung des Mesmerismus bekannt gewordenen Hypnose, der man nicht mehr nur Heilkräfte zuschrieb, sondern die vor allem aufgrund der völligen «Passivität des Willens» aufseiten der hypnotisierten Person sowie ihrer «absoluten Unterwerfung unter den Willen eines Dritten» kritisiert wurde – und zwar unter anderem von Friedrich Engels.7 Um die Jahrhundertwende wurde Hypnotismus zu einem fixen Bestandteil der Schauerliteratur. Figuren wie Svengali (aus George du Mauriers Trilby von 1894) oder Dr. Mabuse, der durch die Verfilmungen von Fritz Lang weltweit bekannt wurde, verfestigten das Bild eines Zusammenhangs zwischen Hypnotismus und Kriminalität – oftmals mit antisemitischen oder orientalistischen Untertönen und mit einer schon damals erkannten protofaschistischen Tendenz. Auch die seriöse Literatur, allen voran Thomas Manns Mario und der Zauberer sowie Hermann Brochs Die Verzauberung, beschäftigte sich in der Zeit des aufkommenden Faschismus mit der Angst vor hypnotischer Fremdkontrolle.
Dass hypnotische Effekte auch mithilfe künstlerischer Verfahren erzeugt werden können, hatte bereits Friedrich Nietzsche festgestellt. In Der Fall Wagner monierte er, dass die Musik des Komponisten ihre Hörer*innen lediglich «hypnotisirt» und «nicht weiter geht als die Nerven zu überreden».8 Argumente gegen die Hypnotik in der Kunst und Kultur finden sich auch in der sozialistischen Tradition des 20. Jahrhunderts. So lehnte Bertolt Brecht in seiner Kritik des (Wagner’schen) Gesamtkunstwerks alle «Hypnotisierversuche» ab.9 Auch Theodor W. Adorno thematisierte in seiner Theorie der Kulturindustrie die Vorstellung von Massen, die durch Kulturerzeugnisse manipuliert und hypnotisiert würden: In seinem Versuch über Wagner beschrieb er den trügerischen «technologische[n] Rausch», der das Gesamtkunstwerk und die Kulturindustrie verbindet.10 In diesem Sinne könnte man die Kulturindustrie-Diagnose als einen Vorschein der Mind-Control-Ängste in der Zeit des Kalten Kriegs betrachten. Der größte Einflussgeber ist in dieser Weltsicht das Kapital selbst. Im vorliegenden Heft liest PATRIQUE DEGEN den von Marx analysierten Warenfetischismus deshalb auch konsequenterweise als Form von «Mind Control ohne Controller».
In der Geschichtsschreibung der Gehirnwäsche als einer der extremsten Methoden der Mind Control herrscht Einigkeit darüber, dass es sich dabei um ein Produkt des Kalten Kriegs handelt. Diese Geschichte hält aufgrund des komplexen Ineinanders von realen Kulturtechniken der Manipulation und Indoktrination (die oft auch Foltermethoden umfassen), von Medientechnologien, irrationalen Phantasmen und scheinbar rationaler Wissenschaft immer noch Überraschungen bereit.11 Interessant ist, dass schon in den 1950er Jahren die Gehirnwäsche-Metaphorik angesichts der Public Relations sowie der Werbekampagnen, für deren psychologische Raffinesse die Madison Avenue heute noch bewundert wird,12 auf die zeitgenössische Medienrealität ausgeweitet wurde.
Die Geschichte der Gehirnwäsche nahm aber zugleich eine deutlich brutalere Wende. Welche moralische und juridische Schuld sich die USA in ihrem Versuch zur Überwindung des angeblichen «mind control gap» gegenüber China und der Sowjetunion aufgehalst haben, ist seit den Freigaben von Geheimdokumenten aus dem von der CIA geleiteten MK-ULTRA-Programm einer breiten Öffentlichkeit bekannt.13 Die Skrupellosigkeit, mit der die US-amerikanischen Regierungen ihre Wissenschaftler*innen sowohl an Soldaten wie Zivilist*innen experimentieren ließ, trug neben dem katastrophalen Vietnamkrieg sicherlich viel zur allgemeinen Paranoia bei, die sich in den 1970er Jahren auch popkulturell niederschlug.
Hinzu kam zu dieser Zeit noch eine zweite Entwicklung, die zur erneuten Hochkonjunktur der Mind-Control-Thematik beitrug: die Anziehungskraft religiöser Kulte, die zu einigen der spektakulärsten Fälle von Massenwahn und im Fall von Jonestown sogar zu einem orchestrierten Massensuizid führte.14 Die sozialpsychologische Forschung schärfte an diesen aufsehenerregenden Fällen nach und nach ihr Verständnis der Mechanismen von Unterwerfung und Kontrolle. Nicht absehbar war damals, dass die politische Rechte viele dieser Mechanismen für sich nutzen würde. Die Trump-Bewegung wird inzwischen als ein politischer Kult beschrieben, der nicht nur auf das Charisma und die Rhetorik ihrer Zentralfigur setzt, sondern zudem die neuen Medientechnologien zu nutzen weiß.15
Unter den Phänomenen, die zum Mind-Control-Spektrum gezählt werden, erfährt das Gaslighting derzeit eine aufschlussreiche Hochkonjunktur. Es lohnt sich, ein wenig bei diesem vergleichsweise neuen Begriff zu verweilen und danach zu fragen, wie er eingesetzt wird. Wie erwähnt geht er auf das Theaterstück Gas Light (1938) des englischen Schriftstellers Patrick Hamilton zurück, worin ein Mann seine Ehefrau durch psychologische Manipulation in den Wahnsinn zu treiben versucht – unter anderem indem er wiederholt in Abrede stellt, das Gaslicht gedimmt zu haben, und seiner Frau einredet, sie würde dergleichen nur fantasieren. So arbiträr das gewählte Mittel in der Verunsicherungstaktik hier auch erscheinen mag, so sehr erweist es sich als durch moderne Technologien ersetzbar. Das Hoch- oder Niederdrehen des künstlichen Lichts steht somit metonymisch für alle einflussgebenden Medien, mit deren Hilfe der Wirklichkeitssinn einer Zielperson durch einen bösartigen – und nicht zufällig männlichen – Akteur außer Kraft gesetzt werden kann.
Abb. 2 Screenshot aus Gaslight (Regie: George Cukor, US1944)
Eine britische und eine US-amerikanische Verfilmung (beide hießen Gaslight; für ihre Rolle in der Letzteren erhielt Ingrid Bergman ihren ersten Oscar) verankerten die Geschichte und die darin dargestellten Mechanismen im kollektiven Gedächtnis. Nachweislich ab den 1950er Jahren wurde der Ausdruck ‹gaslight› in TV-Sendungen für diese Art der extremen Manipulation gebraucht, spätestens in den 1960er Jahren wurde er ins psychotherapeutische Vokabular aufgenommen (und dort schließlich auch gegen Therapeut*innen in Anschlag gebracht).16 Dennoch wurde er auf viele Jahre hin nur spärlich verwendet. Selbst als eine Kolumne der New York Times1995 zum mutmaßlich ersten Mal das Gerundiv ‹gaslighting› verwendete, führte dies keineswegs zu einer größeren Verbreitung.17 Erst in den 2010er Jahren begann die erstaunliche Konjunktur dieser Metapher, mitausgelöst durch die Diffundierung psychologischer Diskurse in die Alltagssprache. 2016 wurde ‹to gaslight› von der American Dialect Society zum «most useful word of the year» ernannt, während in anderen Kategorien die damals tatsächlich neuen Ausdrücke ‹post-truth› und ‹woke› gewannen.18 Das deutet bereits darauf hin, dass die plötzliche Hochkonjunktur mit politischen Entwicklungen zu tun hatte: Trumps erster Wahlkampf und sein Wahlsieg im Jahr 2016 wurden zu einem wesentlichen Faktor für die Beliebtheit der Gaslighting-Trope erklärt. Passend dazu veröffentlichte die konservative Journalistin Amanda B. Carpenter das Buch Gaslighting America: Why We Love It When Trump Lies to Us (2018), das sich zwar keine Mühe macht, die Begriffsgeschichte zu beleuchten, dafür aber auf der ersten Seite einen Vergleich mit George Orwells Nineteen Eighty-Four anstrengt – also dem Roman, der seit den 1950er Jahren immer wieder als Paradebeispiel für die Idee wie (paradoxerweise) auch die Wirklichkeit von Brainwashing-Praktiken herangezogen wird. 2022 war dann mit der Ernennung zum Wort des Jahres durch die Redaktion des Merriam-Webster-Dictionary der bisherige Höhepunkt des Gaslighting-Aufstiegs erreicht. «In recent years, with the vast increase in channels and technologies used to mislead, gaslighting has become the favored word for the perception of deception».19 Das Wort wurde zudem in einem Atemzug mit fake news, deep-fake und artificial intelligence genannt – und zwar im Hinblick auf Täuschung und Manipulation.
Tatsächlich scheint Gaslighting immer mehr die Rolle einzunehmen, die dem ‹Brainwashing› seit den 1960er Jahren zugekommen war, nämlich von beiden Seiten des politischen Spektrums als politischer Kampfbegriff eingesetzt bzw. missbraucht zu werden. Dabei werden nicht nur die semantischen Konturen verwischt. Insbesondere der inflationäre Gebrauch macht eine detaillierte Analyse von Gaslighting-Vorwürfen sowie eine Beurteilung, ob eine solche Zuschreibung berechtigt ist, schwierig. Umso komplexer wird es, wenn die Rolle von Medientechniken in den Blick genommen wird. Schon in Gas Light spielen ja Gegenstände und Techniken wie künstliches Licht eine konstitutive Rolle. Medientheoretisch ist besonders aufschlussreich, dass diese Manipulationsform ihren Namen von dem Umstand bezieht, dass der Täter die Umweltbedingungen seiner Zielperson verändert und eben diese Veränderung verleugnet. Gaslighting ist von Anfang an mit der Manipulation eines Milieus verbunden gewesen. Von daher ist es sachlich naheliegend, Medientechnologien in Gaslighting-Diagnosen miteinzubeziehen. Zwar gibt es in der philosophischen Literatur zum Gaslighting den Standpunkt, dass es immer Personen sind, die Gaslighting betreiben, und nicht etwa soziale Strukturen,20 doch lassen sich gleich zwei medienwissenschaftliche Einwände gegen eine solche Einschränkung formulieren: Erstens sind menschliche Akteur*innen immer auf Medien angewiesen, mit denen sie in ihrem Tun ein Gefüge bilden – und dabei können die Eigenschaften dieser Medien taktisch eingesetzt werden. Das Medium ist in dieser Hinsicht wie erwähnt einflussgebend für die Einflussnahme. Und zweitens haben wir es heute mit Medienverhältnissen zu tun, in denen Interaktionen nicht mehr notwendig zwischen menschlichen Akteur*innen ablaufen müssen. Vielmehr ist die Interaktion mit responsiven Medientechnologien ein alltäglicher Vorgang – und neuerdings ist auch gegenüber bestimmten Medien, nämlich sogenannten Künstlichen Intelligenzen, der Gaslighting-Verdacht ausgesprochen worden. So tweetete der Silicon-Valley-Kritiker Gary Marcus am 23. April 2023: «Five months ago I had never heard of an AI gaslighting a user. Now it’s like … routine?»21 Hintergrund waren Screenshots von Chats mit dem Snapchat-Bot, der Nutzer*in rewolfe27 erst weismachen wollte, er wisse nicht, wo diese*r sich befand, dann aber problemlos die nächstgelegene McDonalds-Filiale nennen konnte (vgl. Abb. 3 und 4).
Während derlei manipulative Interaktionen vonseiten einer KI ein neues Phänomen darstellen, sind wir seit den 2010er Jahren daran gewöhnt, dass der Plattformkapitalismus die Möglichkeiten des Algorithmus-Finetunings dazu verwendet, Manipulationen en masse zu testen. Die User*innen-Experimente von Facebook sind diesbezüglich schon oft besprochen worden, und nicht selten werden sie als Indizien für einen großangelegten Versuch kollektiver Verhaltensmanipulation gelesen. Die große Wirkung von Shoshana Zuboffs Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (2018) beruhte wohl auch darauf, dass Zuboff die Verhaltensmodifikationen durch die fünf großen Internetkonzerne in den Kontext von Mind-Control-Ansätzen seit dem Kalten Krieg stellte. Während allerdings die Experimente der CIA nach ihrem Bekanntwerden zu Recht geächtet und offiziell verboten wurden, war der öffentliche Widerstand gegen die Kontrollversuche vonseiten der IT-Konzerne vergleichsweise gering. Ihre Thesen fasste Zuboff unter anderem in der New York Times unter dem suggestiven Titel «You Are Now Remotely Controlled» zusammen.22 Damit war der Generalverdacht einer systematischen Kontrolle der Massen durch einige wenige kapitalistische Akteur*innen ausgesprochen. Der Umstand, dass Zuboffs nicht unwidersprochen gebliebener Begriff ‹Überwachungskapitalismus› seither von so vielen Wissenschaftler*innen übernommen worden ist, zeigt aus unserer Sicht auch die Aktualität des Mind-Control-Diskurses an. Zwar mag Big Tech nicht direkt das Bewusstsein oder die Psyche (‹mind›) von User*innen adressieren, sondern eben deren Verhalten. Doch ist seit Blaise Pascal bekannt, dass die Veränderung des Verhaltens sich auch in den Bewusstseinsstrukturen niederschlägt,23 und eben dieses Wissen wurde nicht zufällig zu einem fixen Bestandteil der Ideologietheorie seit Louis Althusser und damit der Kritik an Formen der Unterwerfung und der Fremdkontrolle.
Abb. 3 / 4KI-Konversation, Tweets von Nutzer*in Bob @rewolfe27, 19.4.2023, Orig. in Farbe
Die Medienkulturgeschichte der Mind Control beginnt spätestens um 1800, als der im Bethlem Royal Hospital untergebrachte Patient James Tilly Matthews das Phantasma eines «Air Loom» entwirft, einer Maschine, die von Spionen eingesetzt worden sei, um ihn selbst wie auch führende Politiker zu beeinflussen (vgl. Abb. 5). Mike Jay sieht in diesem Air Loom, den Matthews in detailgetreuen Skizzen veranschaulichte, den Prototypen einer ganzen Reihe von «Beeinflussungsapparaten», wie wiederum Viktor Tausk diese paranoiden Phantasmen in seinem bekannten Aufsatz von 1919 bezeichnete. «When Matthews conceived of the Air Loom, the notion of a machine that controlled human minds was, as far as we know, unprecedented; as the 19th century progressed, doctors and psychiatrists began to see patterns in the way that some mental patients co-opted new technologies into their paranoid imaginings.»24 Zwar wird bei Matthews die Maschine noch von menschlichen Akteur*innen bedient, doch verdankt sich deren Einflussnahme bereits einer spezifischen Einflussgabe vonseiten der Apparatur. Die magische Fernwirkung verblieb zwar damals noch im Phantasmatischen, doch hat die medientechnologische Entwicklung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als das Fernsehen aufkam, vieles von dem verwirklicht, was sich den Paranoiker*innen zuvor visionär gezeigt hat. Die neuen und durchaus realen Möglichkeiten zum Fernsprechen, Fernsenden und Fernsehen erschließen nicht nur ansonsten unzugängliche Stimmen, Bilder und Welten, sondern ermöglichen auch neue Formen instantaner Einflussnahme in die Ferne hinein. Was ist schließlich die Kulturindustrie anderes als ein global agierender Beeinflussungsapparat – und zwar schon aufgrund seiner Struktur und nicht erst aufgrund der durch ihn vermittelten Inhalte? Die theoretische Reflexion dieser medientechnischen Möglichkeiten konvergiert interessanterweise vielfach mit den teils wesentlich älteren paranoiden Fantasien. Schon beim Aufkommen des Kinos entsteht eine Welle der Besorgnis über seine angeblich hypnotische Wirkung.25 Theodor Mayer warnte 1928 explizit davor, dass ein Demagoge mithilfe einer Radiostation Hunderttausenden seinen Willen aufzwingen könnte.26 Und in den 1950er Jahren reihte der aus den Niederlanden in die USA emigrierte Psychiater Joost Meerloo das Fernsehen explizit in seine Theorie des «Mentizids» ein.27 Diese negative Einschätzung erinnert in vieler Hinsicht an Günther Anders’ Abrechnung mit dem neuen Medium und dem Technologieoptimismus insgesamt.28
Abb. 5 «Air-loom Machine», aus John Haslam: Illustrations of Madness (1810)
Auch wenn die frühen Medientheoretiker wie Anders, McLuhan, Paul Virilio oder Jean Baudrillard den US-amerikanisch geprägten Mind-Control-Diskurs meiden, konvergieren ihre Diagnosen vielfach mit seiner Motivik. Allerdings nimmt die klassische Medientheorie eine für sie konstitutive Verschiebung des Schwerpunkts vor: Sie sieht von menschlichen Akteur*innen ab. Es ist nun das mediale oder technische Apriori selbst, das über die Wirkung und Einflussnahme entscheidet. Dass Medien nicht nur strukturell beeinflussen, sondern privilegierten Akteur*innen spezifische Einflussmöglichkeiten geben, gerät der Medientheorie damit aus dem Blick. Die Kittler’sche Schule zementiert diese Unwilligkeit, sich mit Akteur-Medien-Netzwerken auseinanderzusetzen, für eine Generation ein. Demgegenüber ist gerade in den letzten Jahren einmal mehr deutlich geworden: Wer über Medien verfügt, verfügt eben damit auch über andere Einflussmöglichkeiten als diejenigen, über die medial verfügt wird.
An den Sozialen Medien wird die regelmäßig wiederkehrende Debatte um Einflussgabe und -nahme angesichts der Emergenz neuer Medientechnologien erneut durchgespielt. Darin nur ein weiteres Beispiel für eine moralische Panik zu sehen, wäre dennoch verfehlt. Man verkennt dann, dass das Design von Sozialen Medien und digitalen Interfaces vielfach darauf abgestellt ist, Suchtverhalten zu erzeugen.29 Die Mechanismen, die an glücksspielsüchtigen Gruppen erprobt wurden, werden seit einem guten Jahrzehnt auf alle Nutzer*innen Sozialer Medien losgelassen. Von daher ist die Aufnahme der gaming disorder im ICD-11 als eine Art Geschichtszeichen lesbar. Medien werden nun mit Rückendeckung der WHO offiziell als potenzielle Krankheitsauslöser oder zumindest -verstärker aufgefasst. Von den digitalen Spielautomaten in Las Vegas führt eine direkte Linie zu den habit-forming devices aus Silicon Valley, wie MARTIN BECK in seinem Beitrag ausführt.
Wenn man dann noch die Verhaltenskontrolle vonseiten des Überwachungskapitalismus sowie die Propaganda-, Desinformations- und Psyops-Flut hinzurechnet, kann die Frage nicht mehr lauten, ob medientechnologische Mind Control ausgeübt wird, sondern nur: in welchem Ausmaß, von welchen Akteur*innen, in welcher Absicht und mit welcher tatsächlichen Wirkung? Die Harvard-Historikerin REBECCA LEMOV, die sich bereits lange mit der Geschichte der Sozial- und Psychotechnologien beschäftigt, skizziert diesbezüglich in ihrem neuen Buch The Instability of Truth. Brainwashing, Mind Control, and Hyper-Persuasion eine Entwicklung von der klassischen durch die Rundfunkmedien ermöglichten «mass persuasion» zur digitalen «hyper-persuasion».30 Wir haben mit ihr über dieses Buch ein ausführliches Interview geführt.
In ihrer Einleitung zum Brainwashing-Schwerpunkt der Zeitschrift Grey Room von 2011 invertierten Andreas Killen und Stefan Andriopoulos das bekannte Diktum McLuhans: Im Gehirnwäsche-Diskurs werde das menschliche Gehirn als Extension der technischen Medien konzipiert und hemmungslos instrumentalisiert.31 Vorbereitet wurde diese neurotechnische Mind-Control-Epoche durch die neuzeitliche Konzeption des menschlichen Körpers als einer funktionalen Maschine, die 1748 durch Julien Offray de la Mettrie in L’Homme-Machine erstmals auf strikt materialistischer Grundlage verfochten wurde. In Bezug auf die Verhaltenssteuerung erreichte diese Auffassung durch Jean-Martin Charcots neurologische Theorien und Iwan Pawlows Experimente zu den konditionierten Reflexen ihren Durchbruch.32 Pawlows Ideen, die in der Sowjetunion großes Interesse fanden und in Werken wie Wsewolod Pudowkins Film Die Mechanik des Gehirns (UdSSR 1926) verbreitet wurden, sollten für den Gehirnwäsche-Diskurs eine Schlüsselrolle spielen (vgl. Abb. 6). Im Zuge der Moskauer Schauprozesse mit ihren teils spektakulären und für einige Beobachter*innen unerklärlichen, weil vollkommen übertriebenen Schuldeingeständnissen kam der Verdacht auf, Pawlows Erkenntnisse seien zur Willensbrechung der Angeklagten eingesetzt worden.33 Sein experimenteller Behaviorismus wurde in den USA von John Watson und B. F. Skinner fortgesetzt – und Letzterer entwarf groß angelegte gesellschaftspolitische Visionen auf der Grundlage der operanten Konditionierung. «Man is a machine in the sense that he is a complex system behaving in lawful ways», schrieb er in Beyond Freedom and Dignity.34 Skinner leugnete darin die Entscheidungsfreiheit und fasste den Menschen als programmierbar auf, was durchaus auch für die CIA von Interesse war, die Skinner finanziell unterstützte.35
Abb. 6 Screenshot aus Die Mechanik des Gehirns(Regie: Vsevolod Pudovkin, UdSSR 1926)
Während der Behaviorismus aber vor allem über die Manipulation der Umwelt und des Verhaltens die erwünschte Kontrolle erreichen will, greift die Neurowissenschaft direkt auf das materielle Substrat zu. Die Entstehung dieser neuen Disziplin war von Anfang an nicht nur von medizinischen, sondern auch von geheimdienstlichen und geopolitischen Interessen motiviert, wie Andreas Killen jüngst dargelegt hat.36 Hirnforschung und Mind-Control-Forschung laufen bereits in den 1950er Jahren parallel. Gleichzeitig dazu setzt die Kybernetik an neuronalen Netzwerken an, von denen man sich nicht zuletzt einen Durchbruch zum technisch implementierten «Mind Reading» verspricht, wie BENEDIKT MERKLE in seinem Beitrag unter anderem anhand der Relektüre eines Textes von Claude Shannon ausführt.
In den 1960er Jahren kamen konkrete Experimente zu neurotechnischen Implantaten hinzu. Der Neurophysiologe José Delgado knüpfte an seinen stimoceiver weitreichende, um nicht zu sagen totalitäre Vorstellungen einer flächendeckenden neuronalen Mind Control, wie STEPHAN SCHLEIM in seinem Beitrag ausführt. Heute trägt die Technisierung des Gehirns mehr als je zuvor zu gesellschaftspolitischen Debatten bei, wobei Neuralink nur eines von vielen Unternehmen ist, deren Forschung Anlass zur Sorge gibt. Wir haben der US-amerikanischen Juristin NITA FARAHANY einige Fragen zu ihrem 2023 erschienenen Buch The Battle for Your Brain gestellt – der titelgebende Kampf ist in erster Linie einer um den Fortbestand der «kognitiven Freiheit».37 So jedenfalls nennt Farahany das schützenswerte Gut, das durch die Generierung von «brain data» sowohl durch Implantate als auch Wearables kommodifiziert zu werden droht und das durch seine intime Natur neue Möglichkeiten zu jener direkten neuronalen Beeinflussung gibt, von der Delgado und andere Mind-Control-Befürworter*innen vor Jahrzehnten geträumt haben.
Gerade die Neurowissenschaft leistet allerdings auch vielen Mythenbildungen Vorschub und ist Kristallisationspunkt einer ganzen Reihe von Verschwörungserzählungen. Das US-amerikanische High Frequency Active Auroral Research Program (HAARP), das in Gakona, Alaska, seit den 1990er Jahren die Thermosphäre und Ionosphäre erforscht, ist ein Fixpunkt der Mind-Control-Fantasien einer weitverbreiteten Szene, die Fernkontrolle durch Strahlen oder Wellen befürchtet, wie in Büchern wie Angels Don’t Play This HAARP (1995) von Nick Begich Jr. zu lesen ist. Die FAQ-Rubrik der Institutswebsite schließt die folgende Frage und Antwort ein: «Can HAARP Exert Mind Control Over People? – No. Neuroscience is a complex field of study carried out by medical professionals, not scientists and researchers at HAARP».38 Noch größer ist die Welt der «Targeted Individuals» (TIs), die meinen, dass unsichtbare Kräfte im Deep State Technologien nutzen, um sie geheim zu lenken oder Stimmen in ihre Köpfe zu senden.39 Tausende Menschen glauben, sie würden von «psychotronischen Waffen» beeinflusst, die angeblich vom US-amerikanischen DARPA-Programm entwickelt worden seien.40
Auch die wissenschaftlich respektablere Mind-Control-Literatur ist voll von übertriebenen Mutmaßungen über die strategische Einsetzbarkeit jeweils neuer Technologien (der Diskurs um Cambridge Analytica nach 2016 ist hierfür ein gutes aktuelles Beispiel). Zu fragen ist dabei, ob der prekäre Stellenwert von Begriffen wie Wahrheit, Faktizität und Authentizität nur ein notwendiger, aber vorübergehender Nebeneffekt des Umgangs mit neuen Medientechniken ist oder ob er nicht auch zugleich der geschickten Nutzbarmachung dieser Medien durch Akteure der psychologischen Kriegführung in Zeiten der Informationskriege geschuldet ist.41
Nun hat gerade der traditionelle medienwissenschaftliche Blick auf die Agentialität der Medien den Vorzug, allzu intentionalistische und instrumentalistische Auffassungen bezüglich der Realitäten medialer und mediengestützter Einflussnahme in die Schranken zu weisen. Bestimmte Medien mögen zwar bestimmte Formen der Persuasion, Kontrolle und Steuerung ermöglichen, aber sie tun dies jeweils auch eigenwillig und wirken störend und störrisch auf die Akteur*innen zurück. So ist die Geschichte der Mind Control reich an Enttäuschungen, Ernüchterungen und Entwarnungen. Nicht jede Paranoia erweist sich im historischen Rückblick als begründet – und daraus lässt sich vielleicht ein wenig Hoffnung, mindestens aber eine gewisse Beruhigung ziehen, die angesichts der heutigen Realitäten der Einflussnahme auch dringend nötig ist. Die Medienwissenschaft kann hier etwas Wesentliches beitragen, wenn sie das Zusammenspiel von medialen Einflussgaben und intentionalen Einflussnahmen im Einzelnen untersucht und aufzeigt, wie sich Fakt von Fiktion trennen lässt und auf welchen Ebenen Beeinflussung tatsächlich stattfindet. Voraussetzung dafür ist, dass sie die Ausblendung von Akteur*innen und Intentionen ebenso hinter sich lässt wie die nicht immer hilfreiche Trennung von Form und Inhalt. Gelingt ihr dies, dann wird sie gewiss auch in der Öffentlichkeit selbstbewusster als bisher als relevante Wissenschaft überzeugen können.
Wir möchten der Redaktion der ZfM für den inspirierenden Austausch über das Schwerpunkt-Thema und die engmaschige organisatorische Unterstützung herzlich danken. Besondere Anerkennung gebührt den anonymen Gutachter*innen, ohne die das Peer-Review-Verfahren nicht funktionieren würde. Auch wenn ihre Arbeit strukturell unsichtbar bleibt, ist sie in vielfältiger Weise in die finalen Versionen der Beiträge eingeflossen. Und nicht zuletzt herzlichen Dank den Beitragenden selbst, ohne die dieser Schwerpunkt nicht zustande gekommen wäre.
BERND BÖSEL, JAMES KENNAWAY
1Dass Jim Morrison diesen Satz angeblich 1969 geäußert habe, findet sich u. a. hier: Andrew Doe, John Tobler: The Doors in Their Own Words, London, New York 1988, 85. Diverse Zitatbelege aus den 1950er Jahren sind in zeitgenössischen Zeitungen zu finden (abrufbar über Newspapers.com), z. B. in einer Rede vom US-Kongressabgeordneten Francis E. Walter im Juni 1956: «Control of the media of communication and information means the control of the mind» (zit. n. The Tablet: A Catholic Weekly, 21.7.1956, 3, Spalte 3), oder auch in einer Rede des römisch-katholischen Erzbischofs Philip F. Pockock: «One may say that he who controls the media of mass communication, controls the minds of men» (zit. n. The Ottawa Journal, 18.11.1957, 5, Spalte 2).
2Im Englischen meint ‹control› weit mehr als ‹Kontrolle› und umfasst neben dem Aspekt der Überwachung auch Steuerung, Einfluss und Beherrschung.
3Eine immer noch lesenswerte Ausnahme bildet das Themenheft On Brainwashing: Mind Control, Media, and Warfare der Zeitschrift Grey Room (Nr. 45, Herbst 2011, direct.mit.edu/grey/issue/number/45 [15.12.2024]), dessen Beiträge sich aber fast ausschließlich mit Beispielen aus dem Kalten Krieg auseinandersetzen.
4Vgl. Fernando F. Segovia: Introduction – Colonialism and the Bible: A Critical Stock-taking from the Global South, in: Tat-siong Benny Liew, Fernando F. Segovia (Hg.): Colonialism and the Bible: Contemporary Reflections from the Global South, Lanham u. a. 2018, ix–xxxii.
5Zu «media mirage» vgl. Renée DiResta u. a.: The Tactics and Tropes of the Internet Research Agency [Social-Media-Analyse im Auftrag des SSCI (= United States Senate Select Committee on Intelligence)], United States Senate Documents, Oktober 2019, 8, digitalcommons.unl.edu/senatedocs/2/ (20.12.2024); zu «milieu control» vgl. Robert Jay Lifton: Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of ‹Brainwashing› in China, Mansfield Centre 2022 [1961], 178; zur weiteren Begriffsverwendung vgl. Kathleen Eleanor Taylor: Brainwashing: The Science of Thought Control, Oxford 2017; ebenso wie Bernd Bösel: Technologien der Milieukontrolle, in: Rebekka Ladewig, Angelika Seppi (Hg.): Milieu Fragmente. Technologische und ästhetische Perspektiven, Leipzig 2020, 323 – 328.
6Prominent in der konservativen Technikkritik der 1940er Jahre, explizit bei Friedrich Georg Jünger: Die Perfektion der Technik, Frankfurt / M. 2010 [1946].
7Friedrich Engels: Die Naturforschung in der Geisterwelt, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 20, Berlin 1975, 337 – 347, hier 339.
8Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, Leipzig 1888, Abschnitt 7, 24.
9Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» (März 1930), in: ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 6: Schriften 1920 – 1956, Frankfurt / M. 1997, 102 – 112, hier 107 f.
10Theodor Adorno: Versuch über Wagner, Berlin, Frankfurt 1952, 136.
11Wie etwa in Daniel Pick: Brainwashed: A New History of Thought Control, London 2022.
12Vance Packards The Hidden Persuaders (New York 1957) ist das bis heute wichtig gebliebene Dokument sowohl für die Realität wie auch die Phantasmen der Einflussnahme. Packards Titel wurde auch für ein vom Wellcome Trust finanziertes Forschungsprojekt übernommen, vgl. dazu die Projektwebsite www7.bbk.ac.uk/hiddenpersuaders/about (20.12.2024).
13Zum Begriff «mind control gap» vgl. Timothy Melley: Brain Warfare: The Covert Sphere, Terrorism, and the Legacy of the Cold War, in: Grey Room, Nr. 45: On Brainwashing: Mind Control, Media, and Warfare, Herbst 2011, 18 – 41, hier 29, doi.org/10.1162/GREY_a_00048; zur weiteren Entwicklung vgl. Stephen Kinzer: Poisoner in Chief: Sidney Gottlieb and the CIA Search for Mind Control, New York 2019.
14Vgl. dazu sowie zum Heaven’s-Gate-Massensuizid von 1997 Joel Dimsdale: Dark Persuasion: A History of Brainwashing from Pavlov to Social Media, New Haven, London 2021.
15Als Erster legte der Kultausstiegsberater Steven Hassan, der in den 1970er Jahren aktives Mitglied der Moon-Sekte war, eine solche ausführliche Beschreibung vor, vgl. Steven Hassan: The Cult of Trump: A Leading Cult Expert Explains How the President Uses Mind Control, New York 2019.
16Vgl. Ben Yagoda: How Old Is ‹Gaslighting›?, Chronicle, 12.1.2017, chronicle.com/blogs/linguafranca/how-old-is-gaslight (20.12.2024). Zur Kritik am therapeutischen Gaslighting vgl. Theo L. Dorpat: Gaslighting, the Double Whammy, Interrogation and Other Methods of Covert Control in Psychotherapy and Analysis, Northvale, London 1996.
17Vgl. Maureen Dowd: Liberties; the Gaslight Strategy, New York Times, 26.11.1995, nytimes.com/1995/11/26/opinion/l-liberties-the-gaslight-strategy-066192.html (15.1.2025).
18O. A.: «Dumpster fire» is 2016 American Dialect Society Word of the Year [Pressemeldung], American Dialect Society, 6.1.2017, americandialect.org/dumpster-fire-is-2016-american-dialect-society-word-of-the-year (20.12.2024).
19O. A.: Word of the Year 2022: ‹Gaslighting› plus ‹sentient›, ‹omicron›, ‹queen consort›, and other top lookups of 2022, Merriam-Webster, 28.11.2022, merriam-webster.com/wordplay/word-of-the-year-2022 (20.12.2024).
20Explizit so formuliert bei Kate Abramson: On Gaslighting, Princeton, Oxford 2024, 5.
21Gary Marcus @GaryMarcus: Five Months Ago …, Twitter/X, 23.4.2023, x.com/GaryMarcus/status/1650141271464505344 (20.12.2024).
22Shoshana Zuboff: You Are Now Remotely Controlled: Surveillance Capitalists Control the Science and the Scientists, the Secrets and the Truth, New York Times, 24.1.2020, nytimes.com/2020/01/24/opinion/sunday/surveillance-capitalism.html (20.12.2024).
23Das Fragment 252 aus seinen Pensées ist in den letzten 50 Jahren zu einem Leitsatz der Ideologietheorie geworden; zentral ist die Aussage: «die Gewohnheit […] stimmt den Automaten, der den Geist, ohne daß er es merkt, mit sich zieht» (Blaise Pascal: Pensées. Über die Religion und über einige andere Gegenstände, Wiesbaden 2001 [1670], 134).
24Mike Jay: Shadow of the Air Loom, Fortean Times: The World of Strange Phenomena, Mai 2007, online nur noch über die WaybackMachine verfügbar: web.archive.org/web/20110606062701/http://www.forteantimes.com/features/articles/450/shadow_of_the_air_loom.html (20.12.2024).
25Vgl. Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000.
26Theodor Heinrich Mayer: Der Rundfunk – vom andern Ufer betrachtet, in: Funk: Die Wochenschrift des Funkwesens, 5. Jg., Nr. 16, 13.4.1928, 121 – 122, hier 121, acoustics.mpiwg-berlin.mpg.de/node/1689 (20.12.2024).
27Zu Meerloo und seinem einschlägigen Buch The Rape of the Mind vgl. Maarten Derksen: Manipulation Out of Control: J. A. M. Meerloo’s ‹Menticide› [Blogartikel], Hidden Persuaders-Projektwebsite, 26.1.2018, www7.bbk.ac.uk/hiddenpersuaders/blog/manipulation-out-of-control (20.12.2024).
28Vgl. Günther Anders: Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, in: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 2018, 115 – 237.
29Vgl. die instruktive Designgeschichte von Cliff Kuang, Robert Fabricant: User Friendly: How the Hidden Rules of Design are Changing the Way We Live, Work & Play, New York 2019.
30Rebecca Lemov: The Instability of Truth: Brainwashing, Mind Control, and Hyper-Persuasion, New York 2025; dies: World as Laboratory: Experiments with Mice, Mazes, and Men, New York 2005.
31Andreas Killen, Stefan Andriopoulos: Editors’ Introduction, in: Grey Room, Nr. 45: On Brainwashing: Mind Control, Media, and Warfare, Herbst 2011, 7 – 17, hier 11, doi.org/10.1162/GREY_e_00047.
32Vgl. Daniel P. Todes: Pavlov’s Physiology Factory: Experiment, Interpretation, Laboratory Enterprise, Baltimore, London 2002; Christopher G. Goetz, Michel Bonduelle, Toby Gelfand (Hg.): Charcot: Constructing Neurology, New York, Oxford 1995.
33Dazu ausführlich Dimsdale: Dark Persuasion, 15 – 32.
34B. F. Skinner: Beyond Freedom and Dignity, Harmondsworth 1971, 202.
35Dimsdale: Dark Persuasion, 84.
36Vgl. Andreas Killen: Nervous Systems: Brain Science in the Early Cold War, New York 2023.
37Nita Farahany: The Battle for Your Brain: Defending the Right to Think Freely in the Age of Neurotechnology, New York 2023.
38HAARP (High Frequency Active Auroral Research Program), University of Alaska Fairbanks, FAQ-Bereich der Website, haarp.gi.alaska.edu/faq (7.12.2024).
39Vgl. Farahany: The Battle for Your Brain, 170 – 174.
40Armin Krishnan: Military Neuroscience and the Coming Age of Neurowarfare, London, New York 2017, 12.
41Vgl. Peter Pomerantsev: This Is Not Propaganda: Adventures in the War Against Reality, London 2019.
«Brainwashed»-Graffiti (Foto: Flickr-Nutzer*in Paul Sableman, 4.8.2018, Orig. in Farbe)
«Hanging onto resentment is letting someone you despise live rent-free in your head» – diesen Rat erhält 1990 eine Leserin der Ratgeberkolumne Ask Ann Landers, die sich unter dem Pseudonym ‹Angry› wegen eines Erbstreits gemeldet hatte.1 Dem Wunsch nach materieller Gerechtigkeit stellt Ann Landers die Warnung vor dem Ressentiment als psychischem Verlustgeschäft entgegen. Die Rede von Mitbewohner*innen im Kopf, die keine Miete zahlen, wird in der Ratgeberliteratur seitdem zitiert und abgewandelt, so etwa in dem Buch Secrets of the Millionaire Mind: «‹No thought lives in your head rent-free.› Each thought you have will either be an investment or a cost».2 Im Verlauf der 2010er Jahre findet sich der Ausdruck living rent-free in your head auch in der meme culture, im Slang der Generation Z und im politischen Diskurs auf den Sozialen Medien wieder. Eine der ersten nachweisbaren Verwendungen im Netz illustriert das parasitäre Einnisten mit einer Miniaturperson, die im Kopf sitzt und nach Bier verlangt (vgl. Abb. 1).3 Spätere Visualisierungen kombinieren die Idee der*des Mitbewohner*in im Kopf mit der Figur des Crying Wojak, eines stilisierten weinenden Gesichts, das in der Meme-Kultur häufig dazu genutzt wird, sich über Personen lustig zu machen, die sich angeblich auf übertrieben dramatische Weise über politische Themen, Fandoms oder das Leben im Allgemeinen aufregen (vgl. Abb. 2).4
Abb. 1 «Living Rent Free»-Meme, eingestellt von Steve Robinson auf seinen Blog Pithlessthoughts, 19.5.2010
Abb. 2 «Rent-free»-Gif, eingestellt von Nutzer*in @Cockroach auf KnowYourMeme, 2.1.2021, Orig. in Farbe
Im Slang der Generation Z bezeichnet living rent-free in your head eine affektiv grundierte Fixierung der Aufmerksamkeit mit Blick auf Celebrity-Drama, Songs oder einen crush, der nichts davon ahnt.5 Letzteres involviert eine nichtreziproke Beziehung, denn «they don’t have to ‹pay› attention to you, yet they still stay inside your mind».6 Der Gedanke der Nichtreziprozität prägt auch die ab 2018 zu beobachtende Verwendung in der politischen Debatte, insbesondere auf Twitter / X. Hier besagt der Ausdruck, dass sich ein gegnerisches Lager in einer reflexhaften Erregung verliere, ohne dass das eigene Lager ähnlich viel Aufmerksamkeit und Energie investieren müsse.7 Das Meme, das ein Bild der demokratischen Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez mit der Unterschrift «living rent-free in trumptards heads» zeigt (vgl. Abb. 3), kann als Ausdruck der Irritation über die Menge an erhaltener Aufmerksamkeit gelesen werden. Regelmäßig ist die Behauptung einer solchen disaffectedness aber auch mit Selbstzuschreibungen von Souveränität und Überlegenheit verbunden. Wie weit dies zusammen mit einer Logik des Trollings und Triggerns in die Institutionen der US-Politik vorgedrungen ist, zeigt die Aussage der republikanischen Abgeordneten Lisa McClain bei einer Anhörung im Kongress: «I love the fact that Trump lives rent-free in the Democrats’ heads every day».8
Die Rede vom mietfreien Wohnen im Kopf verbindet die Frage, wer in wen wie viel Aufmerksamkeit und Affekte investiert und wer umgekehrt desinteressiert und unaffektiert bleiben kann, mit politischen, ökonomischen und libidinösen Machverhältnissen. Sie verweist neben alltäglichen Obsessionen auf eine agonale Logik, in der headspace zur umkämpften Ressource wird und die Frage, wer an wen denken muss, mit der Zuschreibung von Souveränität oder Fremdbestimmtheit verbunden ist. Wenn der Diskurs über die Kontrolle von headspace im Folgenden als ein Diskurs über Mind Control gedeutet wird, erfährt der Begriff der Mind Control unvermeidlich eine Umdeutung. Er verlässt den Assoziationsraum, den Kathleen Taylor exemplarisch in einer Studie zu den Begriffen Gehirnwäsche und Gedankenkontrolle umreißt. Themen sind dort die geschlossenen Milieus und Weltbilder von Sekten und totalitären Staaten, das Umprogrammieren von ethischen oder politischen Grundüberzeugungen und extremes Verhalten wie Massenselbstmord oder Terrorismus.9 Die Rede vom mietfreien Wohnen im Kopf zielt dagegen auf ein Spektrum zumeist alltäglicher Phänomene der Fixierung von Aufmerksamkeit und von Verhaltensweisen, die als unökonomisch und fremdbestimmt wahrgenommen werden und zugleich entgegen den eigenen bewussten Entscheidungen weiterbestehen können. Der Beitrag, den die Betrachtung der Rede vom mietfreien Wohnen im Kopf zum Themenbereich Mind Control leisten kann, beruht darauf, dass diese, insbesondere im Kontext digitaler Medienökologien, aufmerksamkeitsökonomische Überlegungen mit der Frage nach der Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln von Personen verbindet.
Abb. 3 Alexandria-Ocasio-Cortez-Meme, eingestellt von Nutzer*in @BedfordGuy auf ImgFlip, 2022, Orig. in Farbe
Auf die aufmerksamkeitsökonomische Dimension verweist Joseph Bernstein, der auf BuzzFeed kommentierend feststellt: «Paying attention online without getting anything in return […] is giving away a resource for free».10 Für Theoretiker*innen der Aufmerksamkeitsökonomie ist die Ökonomie des Internets nicht mehr durch die allgemeine Verfügbarkeit von Informationen bestimmt, sondern durch die begrenzte Menge menschlicher Aufmerksamkeit. Als knappe, abstrakte und messbare Ressource werde diese zu einer Form des Kapitals, die bewirtschaftet und extrahiert werde und somit Reichtum und Armut hervorbringe.11 Finde die extrahierte Aufmerksamkeit ihr Maß in der Anzahl von Klicks und Betrachtungen, manifestiere sich die durch das Geben von Aufmerksamkeit verursachte Verarmung vor allem in einem Einfluss auf die Physiologie des menschlichen Gehirns und sein neuroplastisches Potenzial, insbesondere in einer zunehmenden Schwächung der Fähigkeit, aufmerksam zu sein.12 Auch die Rede vom mietfreien Wohnen im Kopf evoziert eine Extraktion der endlichen Ressource headspace, der im Kontext der so bezeichneten Phänomene ebenfalls Verarmungseffekte entsprechen können. Das Ressentiment lässt sich mit Cynthia Fleury als ein Gerechtigkeitsphantasma verstehen, das um eine reale oder imaginierte Verletzung kreist. Zu einer Verarmung führt es nicht nur, weil es kognitive und affektive Ressourcen bindet, sondern auch, weil ein Subjekt sich im Ressentiment von anderen abhängig macht und die eigenen Potenziale nicht entfalten kann.13 Das gelungene Trolling oder Triggern politischer Gegner*innen gibt Akteur*innen kostenlose Publicity etwa durch Klicks und Likes. Das Opfer des Trollings bezahlt dies mit Erschöpfung und der verpassten Chance, eigene Themen zu platzieren.14