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Die 17-jährige Leora Stevens hat es nicht leicht. Von außen hat es den Anschein, als lebe sie in einer perfekten Familie, doch hinter der Fassade sieht es ganz anders aus. Nur wenn sie mit ihrem Freund Adrian Scott zusammen ist, kann sie für einen Moment ihre Familienprobleme vergessen. Aber nach und nach zieht sich Leora auch von Adrian zurück. Hilflos muss er mit ansehen, wie seine große Liebe immer mehr den Lebensmut verliert. Was ist es, was dem jungen Mädchen so zusetzt? Und was hat ihr Zwillingsbruder Skyler mit der ganzen Sache zu tun? Familiendrama/Thriller! Altersempfehlung Erwachsene 18+!
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Seitenzahl: 220
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Zerstörung meiner Seele
Alle Rechte bei Verlag/Verleger
Copyright ©2021
Anja Leiste
15562 Rüdersdorf
Zum Buch
Die 17-jährige Leora Stevens hat es nicht leicht. Von außen hat es den Anschein, als lebe sie in einer perfekten Familie, doch hinter der Fassade, sieht es ganz anders aus. Nur wenn sie mit ihrem Freund Adrian Scott zusammen ist, kann sie für einen Moment ihre Familienprobleme vergessen. Aber nach und nach zieht sich Leora auch von Adrian zurück. Hilflos muss er mit ansehen, wie seine große Liebe immer mehr den Lebensmut verliert. Was ist es, was dem jungen Mädchen so zusetzt? Schafft es Adrian, sie wieder zurück ins Leben zu holen?
Und was hat Leoras Zwillingsbruder Skyler mit der ganzen Sache zu tun?
Thriller / Leseempfehlung ab 18 Jahren!
Kapitelübersicht
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
EPILOG
DANKSAGUNG
AUTORENBESCHREIBUNG
Ich liege auf einer grünen Wiese. Auf meinem Bauch sitzt ein Kaninchen. Ich streichle sein weiches, graues Fell. Der Himmel über mir ist babyblau. Weiße, flauschige Schäfchenwolken ziehen an mir vorbei. Ich höre den Wind, der durch die Baumkronen weht und die Blätter zum Rascheln bringt. Vögel zwitschern. Bienen summen. Irgendwo fließt ein Bach. Überall fliegen Schmetterlinge durch die Luft. Der Schwalbenschwanz, der Distelfalter, der Zitronenfalter, der Aurorafalter. Einer von ihnen setzt sich auf meine Nase. Es kitzelt. Ich schaue mich noch einmal um. Alles ist bunt, fröhlich und friedlich.
Ich schloss die Augen und begann zu zählen.
FAMILIENVERHÄLTNISSE
»LEORA! Hatte ich dir nicht gesagt, du solltest die Briefe, die ich gestern Abend noch fertig geschrieben hatte, gleich heute Morgen zur Post bringen? Du weißt genau, dass das nicht warten kann!«, donnerte die Stimme meines Vaters zu mir nach oben. Ich riss die Augen auf. Mist, das hatte ich ganz vergessen! Am Wochenende war seine persönliche Assistentin nicht verfügbar, also durfte ich stattdessen ihre Aufgaben erledigen. So auch heute.
Mit meinen 17 Jahren war ich eigentlich noch recht jung, doch oft fühlte ich mich schon viel älter.
Ich stolperte aus dem Bett, riss die Zimmertür auf und streckte meinen Kopf raus.
»Ich komme gleich!«, schrie ich nach unten, drehte mich wieder um und eilte zu meinem weißen Kleiderschrank. Ich öffnete ihn und griff mir eine weiße Bluse, die über und über mit schwarzen, kleinen Punkten bedruckt war. Am Kragen befand sich ein breites schwarzes Band, welches man zu einer Schleife zusammenbinden konnte. Ich liebte diese Art von Blusen und besaß sie in allen möglichen Farben und Variationen. Dazu trug ich meistens eine Skinnyjeans, die meine schlanke Figur bestens hervorhob, bevorzugt in den Farben schwarz und dunkelblau. Heute entschied ich mich für eine schwarze Hose.
Ich nahm mir noch Unterwäsche aus dem Schubfach und rannte über den Flur ins Bad. Nachdem ich mich im Eiltempo geduscht und mir die Zähne geputzt hatte, zog ich mich schnell an, schnappte mir eine Haarbürste aus dem Korb, der neben dem Waschtisch auf einem kleinen Regal stand, kämmte mir meine vom Schlaf verknoteten langen, glatten, hellbraunen Haare ordentlich durch und band sie zu einem Zopf zusammen. Anschließend cremte ich mir das Gesicht ein, nahm mir meinen Mascara zur Hand und trug ein wenig von der Wimperntusche auf, um meinen schokoladenbraunen Augen noch etwas Betonung zu verleihen. Jetzt noch ein bisschen rosafarbenen Lippenstift und ich war mit meinem Aussehen zufrieden. Ich holte noch einmal tief Luft, schloss die Badtür auf und ging nach unten zu meinem Vater Richard ins Esszimmer.
Wie immer steckte er in einem tadellos gebügelten weißen Hemd und einer dunkelblauen Anzughose. Das passende Jackett hing über seinem Stuhl. Selbst am Wochenende trug er seine Anzüge. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn jemals in anderen Klamotten gesehen zu haben. Seine kurzen, grau-schwarz melierten Haare ließ er sich einmal die Woche von seinem Friseur schneiden. Alle zwei bis drei Wochen hätten es wahrscheinlich auch getan, aber so war er eben. Alles musste stets perfekt sein.
»Guten Morgen«, sagte ich zur Begrüßung.
»Morgen«, murmelte er. Mein Vater saß wie immer an einem Samstagmorgen mit einer Tasse Kaffee in der Hand, und über einen Stapel Akten gebeugt, am Frühstückstisch. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, zu mir aufzusehen. Schon immer widmete er sich lieber den Dingen, die ihm wirklich lieb waren, nämlich seinem Job als erfolgreicher und angesehener Strafverteidiger in Los Angeles, den Sportnews, dem spekulieren an der Börse und seiner Assistentin. Hatte ich noch etwas vergessen? Ach ja und natürlich meinem Zwillingsbruder Skyler.
Skyler war schon immer Richards Lieblingskind gewesen und er bekam von unserem Vater wirklich alles, was er wollte.
Mein Bruder war genau fünf Minuten älter als ich und bereits seit seiner Geburt stand fest, dass er einmal die erfolgreiche und angesehene Anwaltskanzlei unseres Vaters übernehmen sollte. Richard schleppte ihn auf jede Feier seiner Geschäftspartner mit und selbst auf seinen Reisen durfte Skyler ihn begleiten. Mich dagegen ließ er immer zu Hause.
Ich war nicht sauer deswegen. Ich wollte mit dem ganzen Anwalts- und Aktienkram sowieso nichts zu tun haben, sondern lieber Tierärztin werden. Die Voraussetzungen dazu erfüllte ich jedenfalls.
In der Schule war ich Jahrgangsbeste und Tiere liebte ich über alles. Mein Vater war alles recht, was nach außen hin vorzeigbar war, und Tierärztin gehörte wohl auch dazu, weshalb er auch keine Einwände dagegen erhob. Aus mir als Person machte er sich wenig bis gar nichts. Nur in der Öffentlichkeit spielte er die Rolle des stolzenundliebevollen Vaters. Auf Elternabende unserer Schule erwähnte er gegenüber meiner Klassenlehrerin immer wieder, was für ein tolles und fleißiges Mädchen ich doch wäre und er sich keine bessere Tochter wünschen könnte. Doch kaum waren wir zur Tür raus, war ich ihm wieder schlichtweg egal.
Anders war das bei meinem Bruder. Richard und Skyler waren schon, seit ich denken konnte, ein Herz und eine Seele gewesen und immer einer Meinung.
Doch seit ein paar Wochen hatte sich ihr Verhältnis ein klein wenig verändert. In letzter Zeit gab es immer wieder heftige Streitereien zwischen den beiden. Einer der Gründe dafür waren die miserablen Noten meines Bruders und das er, laut Aussage meines Vaters, zu viel Zeit mit dem Footballteam verbrachte, anstatt lieber für die Schule zu lernen.
Skyler war der Footballstar unserer Privatschule und ein absolutes Ausnahmetalent. Er arbeitete hart dafür und wollte auch in Zukunft nichts an seinen Trainingszeiten verändern. Und für die Schule lernenschon gar nicht. Natürlich war unser Vater stolz auf Skylers sportliche Leistungen, schließlich brachte es ihm von allen Seiten hohes Ansehen ein, doch um ein Jurastudium zu beginnen, brauchte Skyler eben einen hervorragenden Notendurchschnitt.
Im Gegensatz zu mir war mein Bruder noch nie ein Einser-Schüler gewesen, doch in den letzten Wochen hatten sich seine Noten noch einmal drastisch verschlechtert und Richard machte die exzessiven Trainingszeiten dafür verantwortlich.
Und was noch erschwerend hinzukam, war, dass mein Zwillingsbruder mit seinen 17 Jahren gerade voll in der Spätpubertät steckte und zunehmend aggressiver auf seine Ansprachen reagierte, als noch vor ein paar Monaten. Richard passte der Widerstand meines Bruders so gar nicht. Er hasste es, wenn man ihm widersprach. Und genau das tat Skyler. Er forderte Richard immer wieder heraus, was zu stundenlangen Diskussionen führte. Keiner der beiden wollte als Erster nachgeben. Sie waren sich in vielerlei Dingen so ähnlich. Wahrscheinlich würde mein Zwillingsbruder mal ein eben so guter Anwalt werden, wie unser Vater es war. Vorausgesetzt, er arbeitete an seinem Notendurchschnitt.
»Schön, dass du auch schon aufgestanden bist. Aber besser spät als nie. Nehm die Briefe und bring sie zur Post!«, befahl mir Richard. Ich holte mein iPhone aus der Hosentasche und schaute auf die Uhr. Es war 9 Uhr. Ich fand das für einen Samstag alles andereals spät, aber mein Vater sah, im Gegensatz zu mir, so vieles im Leben eben anders.
Ich nahm die Briefe vom Tisch und steckte sie ordentlich in meine schwarze Umhängetasche. Dann zog ich mir im Flur meine leichten, weißen Stoffschuhe an und ging vor die Haustür.
Die Sonne schien hell am Himmel über San José. Für einen kalifornischen Dezembertag war es erstaunlich mild heute. Ich schätzte so um die 15 Grad. Genau richtig, um mit dem Fahrrad in die Stadt zu fahren. Ich schaute zur Garage und stellte fest, dass sie bereits offen war. Das Auto meines Bruders fehlte, was bedeutete, dass er nicht zu Hause war. Ich holte mein Rad aus der Garage und schob es die Einfahrt entlang runter zum Gehweg. Dann stieg ich auf und trat kräftig in die Pedale. Eine leichte, frische Brise blies mir ins Gesicht. Ich lächelte. Es war so ein wunderschöner Morgen.
Bei der Post gab ich die Briefe ab und machte mich direkt wieder auf den Heimweg.
Ich fuhr die von Palmen besäumte Hauptstraße entlang, vorbei an zahlreichen Geschäften und Imbissläden. Hier in der Innenstadt waren Massen von Menschen unterwegs und erledigten ihren Wochenendeinkauf.
Umso weiter ich aus der Stadt rausfuhr, desto grüner und ruhiger wurde es. Und auch die Wohnhäuser wurden immer schicker und größer. Irgendwann erreichte ich die Kreuzung, die zu unserem kleinen Villenviertel führte. Hier konnten sich wirklich nur die wohlhabendsten Familien die gigantisch hohen Verkaufspreise der Häuser leisten. Das günstigste lag derzeit bei 1,5 Millionen Dollar.
Ich bog ab und fuhr in ruhigem Tempo mit meinem Fahrrad die Straße entlang. Es waren nur noch knapp zwei Minuten bis zu unserem Haus.
Ein Auto mit lauter Hip-Hop Musik näherte sich mir von hinten und fuhr, für meinen Geschmack, viel zu dicht auf. Ich schloss kurz die Augen und gab ein genervtes Stöhnen von mir. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, um wen es sich dabei handelte. Anhand des Motorengeräusches und der Art der Musik konnte es sich nur um das Auto meines Bruders handeln. Er scherte hinter mir aus und fuhr seitlich neben mir her. Ich beachtete ihn gar nicht, sondern schaute weiter geradeaus. Skyler hupte drei Mal, jagte den Motor seines weißen Mercedes Benz AMG SLS so weit nach oben, dass die Räder durchdrehten, und fuhr mit quietschenden Reifen und ohrenbetäubender Lautstärke an mir vorbei. Das machte er immer so, obwohl das hier eine Dreißiger-Zone war. Mich wunderte es, dass sich keiner der Nachbarn bisher darüber beschwert hatte.
Zu Hause angekommen, steuerte ich direkt die Garage an, um mein Rad abzustellen, als ich ein lautes Kichern vernahm. Ich blieb stehen.
»Hey, Skyler, lass das, das kitzelt und außerdem was ist, wenn uns hier drinnen jemand entdeckt?!«, erklang eine hohe Frauenstimme, die mir nur allzu bekannt vorkam. Sie gehörte Skylers Freundin Cassandra Willson. Eine viel zu stark geschminkte, blonde Babypuppe, die in ihrem Leben, genau wie mein Bruder, bisher nicht einen Finger krumm machen musste, und von ihrem Daddy immer alles in den Arsch gesteckt bekommen hatte. Sie war die Tochter eines mit meinem Vater gut befreundeten Staatsanwaltes. Die Familie Willson besaß ebenfalls eine Villa hier im Viertel. Natürlich war Cassandra in unserem Haus immer gerne gesehen. Nach Richards Vorstellung wäre sie die perfekte Schwiegertochter. Cassandra ging ebenfalls auf unsere Schule und ganz Klischee, war sie die Präsidentin des Cheerleaderteams. Mein Bruder war jetzt schon drei Jahre mit ihr zusammen und für alle waren die beiden das Traumpaar schlechthin.
Ich schob mein Fahrrad durch das offene Garagentor und entdeckte die beiden. Ich stellte das Rad lautstark gegen ein Metallregal ab. Cassandra, die mit dem Rücken an der Wand lehnte, und Skyler, der dicht vor ihr stand und seine Hand unter ihrem Seidenpullover hatte, zuckten heftig zusammen. Mein Bruder drehte sich um und als er mich sah, stöhnte er genervt auf.
»Mann, was willst du hier, Leora?Siehst du nicht, dass du gerade störst?Hau ab!«, brummte er verärgert. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cassandra grob Skylers Hand wegschlug und sich schnell ihren feinen Pulli wieder ordentlich zurechtrückte. Es war ihr sichtlich unangenehm, dass ich sie beim Fummeln erwischt hatte. Meinen Bruder hingegen juckte das reichlich wenig.
»Und hast du kein Zimmer, wo du sie vögeln kannst? Muss das hier in aller Öffentlichkeit sein?«, fragte ich angepisst und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein fieses Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
»Neidisch?«
»Was, auf euch? Niemals!«
»Wo ist denn dein Freund heute, Leora? Ach ja, warte, stimmt ja!« Skyler schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Er hilft ja gerade seiner Mutter beim Blümchenpflücken. Wie süß von ihm«, machte er sich über Adrian lustig.
»Du bist so ein Arschloch, Skyler«, murmelte ich, drehte mich um, und lief los. Mein Bruder hinter mir fing laut an zu lachen. Ohne mich umzudrehen, zeigte ich ihm den Mittelfinger, was zur Folge hatte, dass er nur noch lauter lachte.
Die meisten die uns kannten, dachten, dass wir beide uns hassten, aber das stimmte so nicht. Mein Zwillingsbruder und ich lebten einfach nur einen völlig unterschiedlichen Lifestyle und hatten noch dazu keine einzige Gemeinsamkeit. Obwohl doch,einegab es schon. Jedes Jahr am Weihnachtsmorgen machten wir uns über die einfallslosen Geschenke unseres Vaters lustig. Skyler bekam jedes Jahr eine Rolex Armbanduhr geschenkt und ich ein teures Schreibset mit seinem Firmenlogo drauf. Es war das Gleiche, welches auch seine Angestellten zu Weihnachten von ihm bekamen. In ein paar Tagen war es wieder so weit und ich freute mich schon darauf, wenn Skyler seine 17. Rolex und ich mein 17. Schreibset von Richard bekam.
Ganz sicher würden wir uns dann wieder stundenlang darüber kaputtlachen.
*
Ich ging den schmalen Weg neben unserer Garage entlang. Über den gelangte man direkt in unseren wunderschönen Garten. Unser hauseigener Gärtner hatte wirklich einen grünen Daumen. Die bunten Blumenbeete waren eine wahre Pracht und ein echter Eyecatcher. Aber nicht nur die Pflanzen, sondern auch der Rest des Gartens war echt beeindruckend.
Über die gesamte Länge unseres riesigen, 3-stöckigen, weißen Hauses erstreckte sich eine große Terrasse aus dunklem Holz, über die man Zugang zur Küche sowie zum Wohnzimmer erhielt. Es war genau die Sonnenseite. Die bodenlangen Panoramafenster sorgten dafür, dass in den beiden Zimmern immer genügend Tageslicht einfallen konnte.
Außer der großzügigen Terrasse gehörte noch ein riesiger ovaler Pool zu unserem Garten, der von 4 Palmen umsäumt war. Da das Becken eine integrierte Heizung besaß, konnte man es zu jeder Jahreszeit benutzen. Ich war eine echte Wasserratte und liebte es, im Pool meine Bahnen zu ziehen und anschließend auf der Luftmatratze zu chillen.
Doch das hatte ich jetzt nicht vor. Mich zog es woanders hin, nämlich zu meinem eigenhändig gebauten Kaninchenstall, der ganz weit hinten am Rand des Gartenzaunes unter zwei hohen Bäumen, umringt von jeder Menge Rosenbüschen, stand. Hier im hinteren Teil des Gartens verbrachte ich viel Zeit mit meinen geliebten Tieren.
Den ersten Hasen bekam ich damals von meiner Mutter zum 8. Geburtstag geschenkt. Es war ein Männchen. Ich hatte ihn ganz einfach Flocke genannt, da sein Fell so weiß wie eine Schneeflocke war. Leider starb Flocke ein halbes Jahr später viel zu früh, an der von vielen Hasenbesitzern gefürchteten Chinaseuche. Als Trost bekam ich gleich einen Neuen. Diesmal war es ein Weibchen, das ich Maggie taufte. Doch es sollte nicht bei dem einen Kaninchen bleiben. Was wir nämlich nicht wussten, dass Maggie mit kleinen Babys trächtig war. Also wurden bald aus einem Kaninchen acht. Ich mochte jedes Einzelne von ihnen und konnte einfach keines davon hergeben. Ich behielt sie einfach alle.
Im Laufe der Jahre hatte ich nun schon so viele Kaninchen kommen und gehen sehen, dass ich sie nicht mehr alle zählen konnte. Sie waren ein fester Bestandteil in meinem Leben und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, jemals ohne sie zu sein.
Bis vor wenigen Monaten lebten die Hasen noch in einem gekauften Käfig, doch mittlerweile hatte sich das geändert. Ich hatte eigens für sie ein sechs Meter großes Gehege gebaut, das mit einem Auslauf verbunden war. Es hatte zwei Etagen und besaß sogar ein richtiges kleines Dach. An der Vorderseite hatte es zwei Türen, durch die ich die Zwerge herausholen konnte. Im Inneren gab es zahlreiche Versteck- und Buddelmöglichkeiten.
Ich verbrachte viel Zeit mit den Tieren. Ihnen konnte ich immer alles erzählen. Das Positive und auch das Negative.
Ich hatte in der Schulenur wenig Freunde. Und auch außerhalb der Schule hielten sich meine sozialen Kontakte in Grenzen. Das unterschied mich ebenfalls von meinem Bruder. Er hatte einen so großen Bekanntenkreis, dass er wahrscheinlich selbst schon lange den Überblick darüber verloren hatte, wereigentlich alles genau dazugehörte.
Neben meinen geliebten Hasen gab es aber noch jemanden, der nun schon seit fast 9 Monaten zu meinem absoluten Lebensmittelpunkt gehörte. Mein Freund Adrian Scott. Es war Liebe auf den ersten Blick bei uns beiden gewesen. Wir saßen uns am Tisch der öffentlichen Bibliothek gegenüber und schielten während des Lesens immer wieder zu dem jeweils anderen rüber. Nach einer Stunde fragte mich Adrian dann, ob er mich auf einen Kaffee einladen dürfe, und ich hatte Ja gesagt. Adrian war ein Jahr älter als ich und sah verdammt süß aus.
Das Erste was mir damals an ihm auffiel, waren seine strahlend grünen Augen. Er hatte hellbraune Haare, die er an den Seiten und am Hinterkopf sehr kurz trug. Oben dagegen waren sie ziemlich lang und nach hinten frisiert. Seine Haut war blass, was seine roten, vollen Lippen regelrecht aufleuchten ließ. Sie waren wie fürs Küssen geschaffen.
Aber nicht nur sein Aussehen sprach mich an, sondern auch sein Charakter, den ich nach und nach immer besser kennenlernen durfte. Adrian besaß alle Eigenschaften, die sich ein Mädchen bei einem Jungen nur wünschen konnte.
Mein Freund kam nicht, wie ich aus einem reichen Elternhaus, sondern aus der Mittelschicht. Sein Vater Andrew war Zahnarzt und seine Mutter Meredith besaß einen kleinen Blumenladen in der Stadt. Oft half Adrian nach der Schule oder am Wochenende bei ihr aus, wenn sie mal wieder Hilfe bei einem etwas größeren Auftrag brauchte, wie zum Beispiel einer Hochzeit oder einer Beerdigung. Der kleine Blumenladen warf nicht viel Gewinn ab, sodass sich Meredith auf Dauer keine Aushilfskraft oder gar einen Festangestellten leisten konnte. Adrian half seiner Mutter aber sehr gerne und gleichzeitig stockte er sich damit noch ein wenig sein Taschengeld auf. So hatten beide etwas davon. Ich mochte Adrians Eltern. Sie freuten sich immer sehr darüber, wenn ich bei ihnen zu Besuch war.
Meine Eltern wussten zwar auch von meinem Freund, doch kennengelernt hatten sie ihn noch nicht. Ich hatte es bis heute immer vermieden, Adrian mit zu mir nach Hause zu nehmen. Um ehrlich zu sein, ich hatte Angst vor der Reaktion meines Vaters. Bei meiner Mutter machte ich mir da weniger Gedanken. Dauernd fragte sie mich, wann sie Adrian denn endlich mal persönlich kennenlernen dürfte. Ich wusste jetzt schon, dass die beiden sich mögen würden. Bei meinem Vater war ich mir da nicht so sicher. Ihm wäre wahrscheinlich ein Schwiegersohn aus einem seiner Kreise lieber gewesen. Doch so war es nun einmal bei Adrian und mir nicht.
Und dann war da ja auch noch mein Bruder Skyler. Er wusste genau, wer mein Freund war. Erst neulich hatte er Adrian in der Stadt gesehen, als er seiner Mutter mal wieder im Blumenladen ausgeholfen hatte, und seitdem machte sich Skyler andauernd über Adrian lustig. Mir tat das jedes Mal im Herzen weh.
Erschwerend kam noch hinzu, dass Adrian nicht auf eine Privatschule ging, so wie wir, sondern auf eine staatliche. Und mit solchen Leuten wollten weder Richard noch mein Bruder etwas zu tun haben. Solange es also möglich war, wollte ich ein Treffen zwischen meiner Familie und Adrian noch etwas hinauszögern.
Mein Telefon klingelte. Ich zog es aus meiner Hosentasche und schaute auf das Display. Sofort erhellte sich mein Gesicht und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen.
»Hey, Mom! Wie ist es in Florida? Hat alles geklappt mit dem Auftrag?«
Meine Mutter Caroline war Verkaufsleiterin bei einer großen Firma, die Luxusyachten herstellte. Da sie im unmittelbaren Kontakt zu den Kunden stand und die Firma in allen Bundesstaaten vertreten war, verbrachte sie mehr Zeit auf Reisen, als zu Hause. Leider! Nur an den Wochenenden kam sie heim. Nicht selten auch nur alle 14 Tage. Es kam immer auf die Auftragslage an. Ich vermisste sie schrecklich!
»Die Verträge wurden gestern unterzeichnet. Alles lief reibungslos, ganz so, wie ich es mir erhofft hatte«, sagte meine Mutter und ich hörte, wie sehr sie sich darüber freute.
»Ich bin auf dem Weg zu einem Geschäftsessen und habe gerade noch ein wenig Zeit, da dachte ich, ich rufe mal kurz durch, und frage, wie es bei euch so läuft. Ist alles in Ordnung zu Hause?«
»Ja alles bestens, wie immer. Weißt du schon, wann du nächste Woche hier sein wirst?«
»Mein Flug am Samstag wird sich leider etwas verspäten. Ich schätze so gegen 13 Uhr. Auf jeden Fall werde ich pünktlich zu Skylers Footballspiel am Nachmittag da sein. Ich freue mich schon auf euch. Und sonst, wie läuft es in der Schule?«
»Da läuft es gut. Ich hatte dir doch von meiner Biologieklausur berichtet, für die ich mit Adrian so unglaublich viel gelernt hatte, weißt du noch?«
»Natürlich, daran kann ich mich noch erinnern. Hast du sie schon wiederbekommen?«
»Ja.« Ich machte eine kleine Pause, um sie etwas zu ärgern.
»Komm schon, Leora, mach es doch nicht so spannend, ich platze gleich vor Neugier.« Ich lachte.
»Eine Eins.«
»Das ist ja großartig! Glückwunsch! Ich bin wirklich sehr stolz auf dich, das weißt du hoffentlich, oder?«
»Ja, ich weiß, Mom. Ich vermisse dich«, sagte ich und hörte, wie sie wehmütig seufzte.
»Ich vermisse dich auch, Süße. Nur noch eine Woche, dann bin ich wieder da.« Jemand am anderen Ende der Leitung rief ihren Namen.
»Ich muss leider Schluss machen, Liebes, wir sind gleich da. Drück mal die Daumen. Wir treffen uns jetzt mit einem potenziell neuen Kunden und hoffen natürlich, ein Geschäft mit ihm abschließen zu können.«
»Du machst das schon, Mom, wie immer. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Liebes. Bis nächste Woche. Ich freue mich auf euch. Grüß deinen Bruder und richte deinem Vater bitte aus, dass ich angerufen habe und am Samstag etwas später da sein werde.« Ich nickte, obwohl sie das gar nicht sehen konnte.
»Ok, mach ich. Ich liebe dich, Mom, bye.«
»Ich dich auch, Kleines, bye«, sagte sie und legte auf. Nur mit großer Mühe schaffte ich es, die Tränen zurückzuhalten. Ich vermisste sie wirklich sehr. Ich steckte das Telefon wieder in meine Hosentasche und betrat die Umzäunung des Auslaufes. Ich öffnete die Tür des Geheges und schaute mich kurz um. Mein Lieblingskaninchen Charlie saß in der Heuraufe und war über und über mit Heu bedeckt. Man konnte ihn kaum erkennen. Charlie lag mir besonders am Herzen. Ich hatte ihn mit der Flasche großgezogen. Ohne meine Hilfe wäre er verhungert. Charlie war aus dem letzten Wurf der Schwächste von allen. Seine Geschwister waren gierige kleine Monster, die ihm immer gnadenlos alles wegtranken. Nichts hatten sie dem Kleinen übrig gelassen. Das Bild meines Bruders kam plötzlich vor meinem inneren Auge zum Vorschein. Ja, gewisse Parallelen konnte ich schon erkennen. Ich musste schmunzeln. Was für ein verdrehter Vergleich, aber im Grunde stimmte es doch.
Ich fasste mit der Hand in den Stall und befreite Charlie von dem ganzen Heu.
»Na, Kleiner, konntest du wieder nicht genug bekommen?« Kaum zu glauben, was nach den wenigen Monaten aus dem so schwachen und halb verhungerten Kaninchen geworden war. Er stand mittlerweile den anderen in Sachen Figur in nichts nach. Charlie hatte ordentlich aufgeholt. Er war kugelrund und kerngesund.
Ich schnappte mir den Kleinen und setzte ihn in den Auslauf. Dank des Zaunes konnte er nicht weglaufen. Sofort stürzte er sich auf das frische, saftige Grün. Ich schaute ihm beim Fressen zu und streichelte ihm zärtlich über das weiche Fell. Seine Fellfarbe machte ihn für mich gleich doppelt besonders. Er hatte als Einziger aus dem Wurf die außergewöhnliche Farbkombination aus braun-weiß-schwarz. Man sagte Tieren mit diesem Fellfarbenmix nach, dass sie Glück bringen würden. Charlie war also nicht nur mein kleines Sorgenkind, sondern auch mein persönlicher Glücksbringer. Charlie hatte ich übrigens auch meinen Wunsch, Tierärztin zu werden, zu verdanken. Es war ein tolles Gefühl, dem kleinen hilflosen Hasen das Leben gerettet zu haben. Das wollte ich nun auch zu meinem Beruf machen, um so zukünftig noch mehr Tieren in Not helfen zu können. Ich freute mich jetzt schon darauf, mich bald auf einen Studienplatz für Tiermedizin zu bewerben.
*
Am nächsten Tag war ich mit Adrian verabredet. Wie immer freute ich mich auf ihn. Wir sahen uns nur selten unter der Woche, da jeder für sich mit dem Lernen für die Schule beschäftigt war. Also blieb uns meistens nur das Wochenende, um etwas gemeinsam zu unternehmen. Ich stand schon fertig gestylt draußen vor dem Haus und wartete auf Adrian. Ich machte das immer so, dann konnte ich schnell zu ihm ins Auto springen, sobald er da war.
Ein Schwall Wasser spritzte plötzlich zu mir rüber. Es war eiskalt und ließ mich heftig zusammenzucken. Gleichzeitig hielt ich mir sofort die Hände vors Gesicht, um mein frisch aufgelegtes Make-up zu schützen. Hoffentlich war meine Wimperntusche nicht verlaufen. Ich merkte, wie Wut in mir aufloderte. Ich drehte mich zu meinem Bruder um, der vor der Garage damit beschäftigt war, sein Auto zu putzen. Skyler schaute ebenfalls zu mir rüber und grinste frech.
»Sag mal, hast du nichts Besseres zu tun? Und wie alt bist du eigentlich, acht?«, schrie ich zu ihm die Einfahrt nach oben und funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen böse an. Als Antwort bekam ich gleich die nächste Dusche verpasst. Nur gut, dass ich meine Haare heute doch nicht offengelassen hatte, wie ich es eigentlich zuerst vorgehabt hatte. So brauchte ich mir jetzt wenigstens keine Gedanken, um meine Frisur zu machen. Ich schaute an mir hinunter. Um meine Sachen aber schon! Meine roséfarbene, langärmlige Bluse und meine hellblaue Jeanshose waren von oben bis unten mit nassen Flecken übersät. Na super! Ich stemmte meine Hände in die Hüften.
»Was stimmt denn nicht mit dir. Anscheinend bist du bei der Verteilung unserer Gehirnmassen wohl leer ausgegangen.« Er lachte laut auf.
»Mach nicht so ein Theater, Leora! War doch nur ein kleiner Spaß. Die Sachen trocknen schon wieder«, sagte er locker und zuckte mit den Schultern. Theater? Ich zeigte ihm gleich mal, was Theater