Zierfische in Händen von Idioten - Manuel Butt - E-Book
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Zierfische in Händen von Idioten E-Book

Manuel Butt

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Beschreibung

Ein wilder Ritt durch den Sommer von 1996

Sommer ’96: Take That haben sich getrennt, die Welt tanzt Macarena, und Bundestrainer Berti Vogts kämpft bei der EM ums berufliche Überleben. Und auch in der schleswig-holsteinischen Provinz gibt es Probleme: Tobis Eltern verabschieden sich in einen zweiwöchigen Urlaub. Vierzehn Tage, in denen Tobi zum ersten Mal mit Lisa schlafen möchte, die Führerscheinprüfung ansteht und er sich um Papas Seepferdchen kümmern soll. Nichts davon wird klappen. Überhaupt läuft wenig so, wie er es will: Lisa macht Schluss, ihr bester Freund Georg nervt, und Tobis unkontrollierbarer Freund Scholzen zieht bei ihm ein. Als Georg eine Nachricht von seiner tot geglaubten Mutter aus London erhält, kapern die vier kurz entschlossen ihr Fahrschulauto, um von der Ostsee über die Niederlande nach England zu reisen. Ohne Geld, ohne Plan, aber dafür mit den Seepferdchen im Kofferraum.

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Seitenzahl: 437

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INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

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» Impressum

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Manuel Butt schreibt seit über zwanzig Jahren Comedy fürs Fernsehen. Er verfasste Drehbücher für die Serie Pastewka, ist seit zehn Jahren Autor der heute show und gewann 2018 als Headwriter der Satire-Show Mann, Sieber! den Deutschen Comedypreis. Zuletzt schrieb er für LOL – Last One Laughing. Manuel Butt lebt in Berlin.

ÜBER DAS BUCH

Sommer 96: Tobis Eltern verabschieden sich in den Urlaub. Vierzehn Tage, in denen Tobi zum ersten Mal mit Lisa schlafen möchte, die Führerscheinprüfung ansteht und er sich um Papas Seepferdchen kümmern soll. Nichts davon wird klappen. Lisa macht Schluss, ihr bester Freund Georg nervt, und Tobis unkontrollierbarer Kumpel Scholzen zieht bei ihm ein. Als Georg eine Nachricht von seiner tot geglaubten Mutter aus London erhält, kapern die vier kurz entschlossen das Fahrschulauto. Ohne Geld, ohne Plan, aber dafür mit den Seepferdchen im Kofferraum.

 

 

 

Für Charly

PROLOG

donnerstag, 27. juni 1996

18:03 uhr

Tobi war kein Idiot. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass es auf ihrem Weg Probleme geben würde. Er war nicht mal davon ausgegangen, es auch nur in die Nähe ihres Ziels zu schaffen. Als die Polizei im Rückspiegel auftauchte, war er trotzdem baff. Denn sie waren noch gar nicht losgefahren. Der Golf III, Sonderedition Bon Jovi, stand unverändert an der Zapfsäule der alten Nordoel-Tankstelle.

Hatten die anderen etwas mitbekommen? Lisa vielleicht. Schließlich saß sie am Steuer und konnte ebenfalls in einen der Spiegel schauen. Georg dagegen wohl eher nicht. Zum Glück, denn wenn er eine Sache gerade nicht gebrauchen konnte, war das zusätzliche Aufregung. Er lag auf der Rückbank, die Augen bedeckt mit seiner Armbeuge. Er sah beinahe lässig aus, wären da nicht der bebende Brustkorb und das unüberhörbare Schleifen gewesen. Sein Luftholen klang, als zöge jemand in der Ferne Kartons über schmutzigen Betonboden.

Auch Tobi hätte ein wenig Entspannung gutgetan. Niemand kontrolliert ein Fahrschulauto, sagte er sich. Logisch. War schließlich klar, dass die Insassen keinen Führerschein hatten. Niemand kontrolliert ein Fahrschulauto, wiederholte er lautlos. Und dieser Satz hätte ihn tatsächlich fast beruhigt, hätte nicht die Stimme im Kopf hinterhergemurmelt: Es sei denn, das Auto ist bereits als gestohlen gemeldet.

Tobis Herz pumpte. Es rauschte in den Ohren. Er blickte in den Rückspiegel. Der Streifenwagen stand nun an der Zapfsäule hinter ihnen. Am Steuer saß ein Polizist in kurzärmeligem Hemd, der Beifahrersitz war frei. Warum tankte der Typ nicht einfach? Worauf wartete er? Auf Verstärkung? Um sich abzulenken, kramte Tobi im Handschuhfach. Alles war jetzt besser als die eigenen Gedanken. Er zog eine CD heraus: Bon Jovi, These Days. Das Album war Teil der Sonderausstattung dieses merkwürdigen Autos. Tobi tastete das Handschuhfach bis in die Ecken ab. Er hoffte auf eine zweite CD. Vergeblich. Also schob er seufzend These Days in den Schlitz des Players, bis die CD eingezogen wurde. Musik. Endlich war das Rauschen nicht mehr das Lauteste.

Jon Bon Jovi sang ernst und beschwörend. Er gab den Anwalt der Gottverlassenen. Seine Sammelklage mündete im patzig vorgetragenen Chorus: »Hey God, tell me, what the hell is going on?« Gute Frage, dachte Tobi. Auch bei ihnen war einiges schiefgelaufen. Seit der Party am Samstag eigentlich alles.

»Wo bleibt denn Scholzen?«, hustete Georg in seinen Ärmel.

Und auch wenn Tobi sich seit Minuten die gleiche Frage stellte, antwortete er so selbstverständlich wie möglich: »Er sollte ja auch noch Wasser mitbringen.«

»Ja und?«, raunte Georg.

»Da muss man sich ja erst mal entscheiden. Es gibt verschiedene Sorten. Mit oder ohne Kohlensäure. Und Medium, das gibts auch.«

»Wenn der in zwei Minuten nicht da ist, fahren wir«, sagte Lisa, ohne Tobi anzusehen.

»Wir müssen auf Scholzen warten«, gab Tobi dennoch zu bedenken. »Er hat das Asthmaspray.«

Georg richtete sich ächzend auf. »Ich geh ihn holen.«

Keine gute Idee, dachte Tobi. Draußen würde Georg den Polizisten sehen. Und der Polizist ihn. Und dann würde Georg endgültig kollabieren vor Aufregung. Georg musste im Wagen bleiben. Tobi drehte sich zu ihm, aber eigentlich nur, um im Auge zu behalten, was hinter ihnen passierte. Der Polizist stand jetzt neben seinem Wagen. Er kratzte sich da, wo das Hemd am meisten spannte, und starrte auf die Anzeige der Zapfsäule. Tobi wollte das Gespräch am Laufen halten. Aber wie? Er und Georg hatten noch nie über das Notwendige hinaus miteinander geredet.

»Vielleicht bringt Scholzen ja Fachingen mit. Könnte dir guttun. Ist eine staatlich anerkannte Heilquelle.« Tobi versuchte Begeisterung mitklingen zu lassen.

Zumindest Lisa erreichte er damit nicht. Sie sah ihn nun doch an, vielleicht zum ersten Mal an diesem Tag. »Wie lange willst du noch über Wasser reden?«, fragte sie genervt. »Ich würde dann währenddessen Musik hören.«

Georg griff an den Türöffner.

»Warte doch mal«, sagte Tobi hastig. »Wusstest du, dass Fachingen weder normaler Sprudel ist noch Medium? Das ist dazwischen, also was den Perlfaktor angeht.«

Während Tobi darüber nachdachte, ob es den Begriff Perlfaktor überhaupt gab, öffnete Georg die Tür.

»Moment noch. Was ist denn dein Lieblingswasser?«

Tobi fand einfach kein besseres Thema. Lisa stieß Luft aus, lauter, als Georg einatmete. Sie hielt ihren Finger auf die Lautstärkeleiste des CD-Players. Volume-Stufe 10 … 11 … 12.

»Nicht so laut«, schimpfte Georg gegen die Musik an.

Der Polizist schaute rüber. Tobi drehte sich nach vorne, zog Lisas Finger weg und tippte hektisch auf Minus. Dabei schaute er über die Schulter zu Georg. Blickkontakt halten. Solange Georg ihn ansah, konnte er nicht den Polizeiwagen sehen.

»Wir müssen ja auch nicht über Wasser reden«, gab sich Tobi einsichtig. »Was trinkst du denn sonst so?«

Noch bevor Georg antwortete, stellte Lisa die Musik wieder lauter. Tobi hielt dagegen. Lisa drückte auf Plus, er auf Minus, Volume-Patt. Die Musik dröhnte bei 13.

»Eistee«, rief Georg.

»Cool«, log Tobi. »Zitrone oder Pfirsich?«

Lisa zog Tobis Finger von der Leiste. Sie hämmerte immer weiter auf Plus. »BUT HEY HEY HEY HEY GOD? DO YOU EVER THINK ABOUT ME?«

Es klopfte. Ans rechte Seitenfenster. Tobi schaute nicht hin. Er wusste ja, wer da stand. Niemand kontrollierte ein Fahrschulauto, es sei denn, man stellte sich außergewöhnlich dämlich an. Tobi drückte die Musik leise. Es klopfte noch mal. Jetzt hatten es auch die anderen gehört.

Der Polizist stand so nah, dass das Seitenfenster von seinem Bauch ausgefüllt wurde. Georg sank wortlos in sich zusammen. Als ließe jemand die Luft raus. Passend dazu entwich seinen Bronchien ein leises Pfeifen.

Lisa dagegen hatte das Atmen eingestellt. Ihr Blick streifte Tobi und den Polizistenbauch und flatterte weiter. »Was sollen wir machen?«, flüsterte sie.

Der Polizist schaute durchs Fenster und klopfte energischer. Lisa reagierte nicht, Georg auch nicht, also handelte Tobi. Er ließ die Scheibe herunter.

»Guten Tag.« Aus Tobis Mund klang es wie eine Frage, mit deren Bestätigung nicht zu rechnen war.

Auch der Polizist grüßte und genoss die anschließende Pause. Dann legte er nach: »Leute, ich war auch mal jung. Aber im Straßenverkehr die Musik immer nur so laut, dass sie die anderen nicht stört und einen selbst nicht ablenkt.«

»Wir dachten, weil wir ja gerade stehen und –«

»Wo ist er denn, euer Fahrlehrer?«, wurde Tobi unterbrochen. Er schwieg.

Lisa sprang ein: »Bezahlen.«

»Ach so, ja klar.« Der Polizist nickte zufrieden. Tobi blickte zum Tankstellenhäuschen. Sosehr er sich fragte, was zur Hölle Scholzen eigentlich da drinnen machte, so sehr hoffte er, dass es noch ein wenig dauern würde. Scholzen hätte an keinem Tag einen glaubwürdigen Fahrlehrer abgegeben, aber an diesem Donnerstagabend erst recht nicht. Vor einer halben Stunde hatte er sich zwei Pillen eingeworfen. Und niemand, nicht mal er, wusste, wie die Dinger wirken würden.

»Moment mal«, sagte der Polizist. Er ging einen Schritt zurück und musterte den Wagen. Dann trat er wieder ans Seitenfenster und ließ seinen Blick das Armaturenbrett entlangwandern. Seine Augen weiteten sich. »Handelt es sich bei diesem Wagen etwa um …«, er stockte, beugte den Oberkörper nach hinten und schaute noch mal prüfend auf den Kotflügel, »… den Golf Bon Jovi?«

Tobi nickte mit zusammengepressten Lippen, die alles Nötige ausdrücken sollten: eine Mischung aus Spott und Bedauern für jeden, der mit so einem Modell gesehen wurde.

Der Polizist strahlte. »Schönes Teil. Hat der Wirbelkammereinspritzung?«

Tobi schaute fragend hinter sich. Wenn irgendjemand mit technischen Details vertraut war, dann Georg. Aber der schwieg.

»Woher sollt ihr so etwas auch wissen? Ihr seid ja nur die Fahrschüler«, dachte der Polizist laut. Er lächelte ins Wageninnere. Kollektives Nicken. »Ich warte einfach kurz auf euren Fahrlehrer. Der wirds mir sagen können.«

Tobi nickte immer noch, während er mit einem Auge zum Tankstellenshop lugte. Er versuchte, Scholzen hinter den großen Fenstern auszumachen. Aber alles, was er auf den dunklen Scheiben sah, war die Reflexion eines vermeintlich schönen Sommertages: Landstraße, dahinter Felder. Davor ein Golf mit Bügel auf dem Dach und einem Polizisten an der Seite, der offenkundig alle Zeit der Welt hatte.

Sie warteten auf einen Lehrer, den es nicht gab, jedenfalls nicht an der Nordoel-Tanke. Tobis Hoffnung schwand. Auch Jon Bon Jovi hatte mittlerweile jede Zuversicht verloren. »This ain’t a love song«, lamentierte er, wenigstens so leise, dass es fast nicht nervte.

Im Streifenwagen knackte und rauschte es. In das Rauschen kratzte eine Stimme kurze, energische Sätze. Der Polizist, selbst überrascht, versuchte mit zusammengekniffenen Augen die Funksalven aus der Ferne zu entschlüsseln. Es gelang ihm nicht. »Der Dienst ruft. Dann noch viel Spaß, ne?« Er klopfte aufs Dach und ging zurück zu seinem Wagen, wo er sich auf den Fahrersitz plumpsen ließ und mit dem Funkgerät hantierte.

»Fahr«, zischte Georg. Er hatte seinen Kopf zwischen die Lehnen der Vordersitze gesteckt.

Lisa sortierte ihre Füße an den Pedalen. Als sie die Hand am Zündschlüssel hatte, öffnete sich die Tür des Tankstellenhäuschens. Eigentlich wurde sie aufgestoßen.

»Der Spinner hat ja meine …« Georg stutzte. »Wieso hat der meine Pistole?«

Alle drei starrten auf Scholzen. Der rannte in großen Schritten auf sie zu, in der linken Hand eine volle Plastiktüte, in der rechten Georgs Waffe. Er blieb kurz stehen, drehte sich um und schoss auf die Tür, durch die er einen Moment vorher gestolpert war.

Im Auto rührte sich niemand. Jeder versuchte das Bild zu verstehen. Dem Polizisten ging es da nicht anders. Er war aufgestanden. Die Ellenbogen aufgestützt zwischen Fahrertür und Autodach, sah er mit offenem Mund, wie Scholzen den Golf erreichte. Der riss die hintere Tür auf und warf sich auf die Rückbank, beziehungsweise auf Georg. Die Tür stand noch immer auf, Scholzens Beine hingen raus, als Lisa den Zündschlüssel drehte und aufs Gas trat. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, schüttelte sich und verstummte. Immerhin war die hintere Tür dabei zugeschlagen. Lisa machte alles noch mal. Der Motor keuchte kurz. Wieder Ruhe. Der Polizist setzte sich schwerfällig in Bewegung.

Georg rief Kommandos, langsam kommen lassen, Standgas, dies und das, es half nichts. Im Gegenteil. In immer kürzeren Abständen zerrte Lisa am Zündschlüssel. Hinter ihnen stampfte der Polizist auf sie zu. Dann lief der Motor. Lisa gab viel zu viel Gas, und der Golf hoppelte in Richtung Straße. Der Polizist rannte zurück zu seinem Wagen, während Lisa auf die Landstraße steuerte und dabei fast einen Leitpfosten rasierte. Auf der Rückbank brüllte Georg. Lisa übertönte ihn: »Scholzen!«

»Ja?« Scholzen strahlte. Und damit war auch klar, wie die beiden geschluckten Pillen wirkten. Triumphierend schwenkte er die Tüte. »Leute, ich hab Aquarius. Das ist isotonisch.«

»Alter, du hast die Nordoel überfallen«, rief Georg.

»Aber ihr habt mich da doch reingeschickt. Ihr wisst ja, dass ich keine Kohle habe. Außerdem hab ich noch ne Überraschung!«

Blaulicht zuckte in den Rückspiegeln. Der Streifenwagen zog links neben den Golf. Über die Außensprechanlage tönte: »Fahrt rechts ran, sofort!«

Lisa schaute stur nach vorne. Auch die anderen reagierten nicht.

Wegen eines entgegenkommenden Autos ordnete sich der Polizist hinter dem Golf ein, blieb aber dran. Er berührte fast die Stoßstange.

Tobi fand als Letzter seine Sprache wieder, viel zu laut. »Schneller!«, rief er. »Der hat uns doch gleich!«

Lisa geriet fast auf die Gegenspur. Ein hupendes Auto zischte vorbei. Sie brüllte zurück: »Du gibst mir keine Kommandos! Oder bist du hier der Fahrlehrer?«

Nein, war er nicht. Tobi war genau genommen gar nichts. Nicht in diesem Auto und nicht in Lisas Welt. Aber er saß auf dem Platz des Fahrlehrers. Ihm fielen die Pedale ein, die es in diesem Wagen auch auf seiner Seite gab. Also trat er aufs Gas. Sofort zog der Golf an. Lisa wurde überrascht und versuchte zu bremsen. Sie nahm die rechte Hand vom Steuer und zerrte an Tobis Bein, gleichzeitig zog sie den Wagen nach rechts. Tobi griff ins Steuer.

»Guck nach vorne!«, schrillte Georg.

Lisa, Tobi und Georg konzentrierten sich auf die Straße. Niemand kümmerte sich um Scholzen. Ein Fehler. Der ließ sein Fenster herunter, steckte den Kopf raus, verschluckte sich am Fahrtwind und rief: »I’m a motherfucking cop killer!«

Nachdem alle Adrenalinschleusen geöffnet waren, zirkulierte in Scholzen ein Gemisch, das selbst ihn zu neuen Ufern führte. Er zückte Georgs Pistole und schoss auf den Streifenwagen, der dank Tobis Tempo-Offensive nun etwa zehn Meter hinter ihnen lag.

Georg zerrte Scholzen wieder rein. Seine Stimme überschlug sich: »Bist du bescheuert?«

Er versuchte, Scholzens Hand vom Pistolengriff zu lösen, Finger für Finger. Ohne Erfolg. Scholzen hatte den Griff fest umklammert. Auf der Rückbank kam es zur Rangelei. Lisa und Tobi schauten nach vorne und hielten den Golf per Arbeitsteilung in der Spur. Hinter ihnen Gebrüll.

Dann löste sich der Schuss. Etwas spritzte an Tobis Hinterkopf. Sein Nacken war feucht, seine Haare auch. Er fasste hin und sah auf die Innenfläche seiner Hand: tiefes Rot. Das Rauschen in Tobis Ohren dröhnte jetzt. Irgendwo hinter dem Dröhnen nölte Jon Bon Jovi: »These days are fast, nothing lasts in this graceless age. There ain’t nobody left but us. These days.«

EINS

freitag, 21. juni 1996

12:05 uhr

Sechs Tage zuvor wurde die Welt auf Anfang gestellt. Sommeranfang.

Tobi starrte mit seinem Vater auf den Wandkalender im Arbeitszimmer. Die großen Ferien hatten gerade begonnen, und der Urlaub seiner Eltern stand unmittelbar bevor. In vierzehn Tagen kämen sie wieder. Sein Vater kreiste zur Sicherheit den 5. Juli mit rotem Filzstift ein. Dann widmete er sich dem aktuellen Datum. »Sonnenwende«, murmelte er. »Ab jetzt werden die Tage wieder kürzer.«

Tobi sah seinen Vater von der Seite an. Er kannte ihn nun schon siebzehn Jahre. Lang genug, um zu wissen, dass das sein Ernst war. Während der Rest der nördlichen Halbkugel den ersten Tag des Sommers feierte, erkannte sein Vater darin nur den Vorboten des Winters.

Draußen zaghaftes Hupen, so kurz, dass es fast wie ein Versehen wirkte. Tobis Mutter. Sie hatte ihre Sommerjacke bereits vor einer Dreiviertelstunde angezogen und war damit ruhelos durchs Haus gestreift. Bis sie sich ins Auto gesetzt hatte, das schon am Vorabend aus der Garage geholt worden war.

»Ich glaub, ihr müsst«, drängte Tobi.

Sein Vater bewegte sich, allerdings nur auf der Stelle. Er drehte sich zur gegenüberliegenden Wand, an der ein großes und ein kleines Aquarium auf einer Kommode standen.

»Weißt du, worauf du bei den Seepferdchen achten musst?«

»Ja. Du hast es mir heute Morgen gesagt. Und gestern Abend.«

»Jeden Tag mit dem Köcher ein paar Flusskrebse abschöpfen und dann rüber zu den Seepferdchen.« Tobis Vater deutete zuerst auf das kleine Aquarium, dann auf das größere, als wären die Tiere ohne diesen Hinweis nicht zu unterscheiden. »Und abends noch einen Löffel vom Trockenfutter.« Er zeigte auf die einzige Dose im Raum.

Auch Tobi zeigte jetzt auf sie, genau genommen auf ihre Beschriftung. »Warum kriegen die eigentlich Zierfischfutter?«, fragte er und bereute es sofort.

»Tobias, weil Seepferdchen Zierfische sind. Was dachtest du denn? Kleine Pferde?«

Eigentlich hatte Tobi nur ein wenig Interesse imitieren wollen, stattdessen blickte er nun in das verunsicherte Gesicht seines Vaters. Tobi konnte sich nur wundern. Über die eigene Dummheit. Und über Seepferdchen. Das waren Fische? Er hörte das zum ersten Mal, entschied sich aber, die Lage zu beruhigen. »Das weiß ich doch«, sagte er. »Ich dachte nur, dass es da Spezialfutter gibt, weil Seepferdchen ja schon irgendwie, na ja, Spezialzierfische sind.«

»Dafür haben wir die Flusskrebse. Im kleinen Aquarium.«

Ursprünglich war das Kurzschnäuzige Seepferdchen oder, wie Tobis Vater gern dozierte, das Hippocampus hippocampus, in der Nordsee zu Hause gewesen, aber dort waren schon seit Jahrzehnten keine mehr gesichtet worden. Diese in irgendeinem Becken gezüchteten Zierfische, die niemals ein Meer gesehen hatten, reichten Tobis Vater dennoch als Sehnsuchtssymbol. Oft hatte er seinem Sohn den Unterschied der beiden Meere erklärt. Nordsee: das Tor zur Welt, größer, stürmischer, besser. Die Ostsee dagegen war klein, ruhig, langweilig. Kurz: Die Ostsee war ihr Meer. Tobis Familie lebte in Holmstedt an der Ostküste Schleswig-Holsteins. Hätten sie an der Westküste gewohnt, wären seinem Vater mit Sicherheit genügend Gründe eingefallen, warum er nur an der Ostsee glücklich werden könnte.

Hupen, drei Mal kurz hintereinander. Die ganze Woche schon hatten die Eltern davon gesprochen, wie wichtig es wäre, pünktlich am Hamburger Flughafen zu sein. Die Vorstellung, dass ihr Name ausgerufen wurde, an einem so großen Ort, mit so vielen Lautsprechern und noch mehr Menschen, hatte sie in der vergangenen Nacht kaum schlafen lassen. Noch mehr Unruhe löste nur der Gedanke aus, das Flugzeug zu erreichen und zweitausend Kilometer weit zu fliegen. Aber Tobis Eltern hatten keine Wahl. Seit Jahren hatten sie donnerstagabends mit den Nachbarn Canasta gespielt, um kleine Beträge für die Urlaubskasse. Und dann passierte eines Tages, was passieren musste: Die Reisefinanzierung stand. Nachdem zwei Wochen betreuter Urlaub in einer türkischen Ferienanlage gebucht worden waren, hatten sie die Donnerstagsrunde mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Urlaub in einem fremden Land würde ihnen kein zweites Mal passieren.

Hupen, diesmal länger. Tobis Vater seufzte. Er umarmte seinen Sohn, blickte ihn ernst an und sagte: »Hoffentlich war die Sache mit Niels kein Fehler.« Dann ging er.

Tobi stellte sich ans Küchenfenster und winkte dem Wagen hinterher. Danach war es still. Er atmete durch und schaute sich an, was seine Mutter am Vormittag in mühevoller Kleinarbeit auf dem Tisch aufgebaut hatte. Ein Lebensmittelparcours, der in genau dieser Reihenfolge abgearbeitet werden sollte. Zu Beginn gab es noch ein paar frische Zutaten: Kartoffeln, Tomaten und Brokkoli, der, wie Tobi Mutter betont hatte, noch am selben Tag wegmüsse. Weiter hinten standen nur noch Dosen, überwiegend von Erasco. Ein Zettel erinnerte daran, dass der Bofrost-Mann am Vortag noch mal da gewesen war, um die Tiefkühltruhe mit Mikrowellengerichten zu füllen. Tobis Vater hatte außerdem noch hundert Mark für Notfälle auf den Tisch gelegt, beschwert mit einer Ersatzdose Zierfischfutter.

Die Brokkolispitzen hatten bereits ein helles Grün angenommen, das noch im Laufe des Tages ein klares Gelb werden würde. Höchste Zeit zu handeln. Tobi nahm die hundert Mark und ging.

13:03 uhr

Tobi versuchte herauszufinden, welcher der beiden Eisbecher schneller schmolz. Letztlich war es egal, beide schmolzen zu schnell. Er stellte sie in den Schatten der Parkbank, auf der er wartete, und ärgerte sich. Über den Eisverkäufer, der sofort erraten hatte, für wen die zweite Portion war. Und über seine Reaktion. Er hatte zu schnell geantwortet und dem Zurückweichen des Verkäufers zufolge auch zu laut. Beide Becher seien für ihn, einer für jetzt, einer für später. Im Affekt hatte er zehn Mark bezahlt, inklusive üppigem Trinkgeld, oder, wie man es in diesem Fall wohl nennen musste, Schweigegeld.

Alles war komplizierter geworden, seitdem Lisa ihn nicht mehr sehen durfte. Warum musste Niels ausgerechnet ihr Bruder sein? Die Sache mit Niels war definitiv ein Fehler gewesen, dachte Tobi.

Als Lisa auftauchte, verflog sein Missmut. Sie war wie immer fünf Minuten zu spät und somit auf ihre Art wieder pünktlich. Er erkannte sie bereits, als sie noch am anderen Ende des Parks war, denn nur Lisa ging wie Lisa. Sie war das einzige Mädchen, das beim Gehen die Hände in den Hosentaschen hatte. Sie trug ihre Lieblingsjeans. Eine 501, die sie so oft anhatte, dass sie mittlerweile aussah wie eine von diesen abgewetzten Levi’s, die die anderen tütenweise aus Hamburgs Secondhandläden mitbrachten. Tobi überlegte, ob es wohl einen Punkt gäbe, an dem gebrauchte Jeans so angesagt wären, dass Lisa ihre nicht mehr tragen würde. Denn sie hatte ein Faible für alles Uncoole. Das zumindest war Tobis Erklärung, weshalb sie mit ihm zusammen war.

Sie hatte ihn vor ein paar Monaten in der Schule angesprochen. Gefragt, ob er ihr Whatever von Oasis aufnehmen könne, die einzige Single, die auf keinem der beiden Alben war. Als Dankeschön würde sie ihn dann mal ins Kino einladen. Er hatte daraufhin vorgerechnet, dass es sie deutlich billiger käme, die Maxi bei WOM für 6 Mark 99 selbst zu kaufen, sogar wenn sie nur deswegen mit dem Bus nach Kiel fahren würde. An ihrem Gesicht hatte er aber dann erkannt, dass er bei dieser Rechnung etwas übersehen haben musste. Als Tobi die Maxi zu Hause gesucht hatte, war ihm wieder eingefallen, sie Scholzen geliehen zu haben. Weil Scholzens Zimmer aber ein alles verschluckendes Schwarzes Loch war, war Tobi am nächsten langen Donnerstag zu WOM gefahren und hatte sie ein zweites Mal gekauft. Und wenige Tage später hatten Tobi und Lisa sich im Kino geküsst. Genau genommen hatte sie ihn geküsst.

Lisa war jetzt so nah, dass Tobi ihre Sommersprossen sehen konnte. Ein paar auf ihrer Nase, ein paar drumherum. Rechts weniger, als hätte man ihr von links eine Handvoll ins Gesicht geworfen, von denen es nur wenige über die Nase geschafft hatten.

Als Lisa das Eis sah, nahm sie die Hände aus den Taschen und applaudierte. Sie lachte dabei. Ihr Lachen klingt, als würde sie Honig gurgeln, hatte Tobi mal gedacht. Er wusste, dass das Quatsch war. Dass man Honig nicht gurgeln konnte und wenn doch, es wohl eher merkwürdig als schön klingen würde. Trotzdem gefiel ihm der Vergleich, weil irgendetwas daran eben stimmte.

Tobi drückte ihr den Pappbecher in die Hand. Sie ließ sich auf die Parkbank fallen und küsste ihn.

»Meine Alten sind endlich weg«, hörte Tobi sich sagen und stutzte. Meine Alten? Er hatte seine Eltern noch nie so genannt, aber nach dem zähen Vormittag fühlte er genau diesen Wortlaut.

»Damit mein Vater mal in Urlaub fährt, würde ich ihm glatt den Flug bezahlen.« Honiggurgeln.

Lisa löffelte ihr Eis. Sie schaute nicht hoch und klang fast so, als würde sie mit sich selbst reden. »Ich habe ihn gefragt, ob ich morgen bei Georg schlafen kann, wegen der Party und Aufräumen am nächsten Morgen und so.«

Auch Tobi starrte nun auf seinen Becher. Lisa hatte ihm früh erklärt, dass Georg ein wichtiger Mensch für sie war, ihr bester Freund, dass da aber nie etwas gelaufen war. Dass es sie verbinden würde, ohne Mutter aufzuwachsen. Vermutlich war vor Tobi noch nie jemand auf Georg eifersüchtig gewesen. Denn Georg war der uncoolste Mensch der Welt. Aber gerade das machte ihn in Tobis Augen so gefährlich. Lisas Faible entsprechend wäre Georg damit für sie noch attraktiver als er. Denn Tobi schaffte es auf der Liste der uncoolen Leute nur auf den zweiten Platz. Ihn störte die Vorstellung, dass Georg Lisa länger kannte, vielleicht sogar besser. Wie bitte sollte es funktionieren, Lisa so gut und lange zu kennen, ohne in sie verliebt zu sein? Und jetzt wollte sie auch noch bei Georg pennen? Warum?

Tobi hatte noch immer nichts gesagt. Auch Lisa schwieg, sah ihn jetzt aber an. Also suchte Tobi die richtigen Worte, fand aber nur: »Wie du meinst.«

»Ich dachte, weil deine Eltern ja im Urlaub sind.«

Was genau hatte das denn bitte mit seinen Eltern zu tun? Tobi stocherte im zähflüssigen Rest seines Bechers.

Lisa wartete, aber als klar war, dass da nichts mehr kommen würde, sprach sie weiter. »Ich kann ja wohl kaum fragen, ob ich bei dir übernachten darf.«

»Aber das ist doch kein Grund, bei Georg zu pennen«, antwortete Tobi und zerknüllte den leeren Pappbecher.

Lisa nahm ihm den Becher aus der Hand und legte ihn neben sich. Sie griff seine Hände und schaute ihn an wie eine Ärztin einen rätselhaften Patienten. Dann lächelte sie. »Tobs«, so nannte sie ihn neuerdings, »ich will eigentlich nur offiziell bei Georg schlafen.«

Das war tatsächlich eine Wendung, die Tobi nicht hatte kommen sehen. Eine ganze Nacht mit Lisa, eine super Idee! Eigentlich.

»Ähhh, Scholzen pennt morgen schon bei mir.«

»Wie? Warum das denn?«

»Na ja, er muss mal bei sich zu Hause raus und zieht bei mir ein. Solange meine Eltern weg sind.«

»Dann zieht er halt erst übermorgen ein.«

Lisa lächelte zufrieden, weil nun alles geklärt war: das Missverständnis, die Übernachtung und Scholzens Umzugspläne.

Scheiße, dachte Tobi, es würde nicht einfach werden, Scholzen wieder auszuladen. Aber er hatte keine Kapazitäten, um da länger drüber nachzudenken. Denn Lisa fragte beiläufig: »Und hast du eigentlich Kondome?«

samstag, 22. juni 1996

13:15 uhr

»Wie bitte?« Scholzen schaute von den Panini-Stickern hoch, die er auf dem Tisch im Dubrovnik verteilt hatte. Tobi saß ihm gegenüber und versuchte die Nachfrage einzuordnen. War Scholzen empört, oder hatte er ihn akustisch nicht verstanden? Kurz zuvor war es laut geworden im Schnellrestaurant. Ivo hatte Scholzens Bestellung auf die Bratfläche gelegt, wo sie vor sich hin spratzte, und darüber grollte die Dunstabzugshaube im aussichtslosen Kampf gegen die fettige Luft.

»Aber es war abgemacht, dass ich bei dir penne. Ich muss zu Hause echt mal raus. Mit meinem Vater und mir, das eskaliert sonst«, maulte Scholzen.

Tobis Problem war also nicht die Akustik. »Du kannst ja auch zu mir«, versuchte er zu besänftigen. »Halt nur einen Tag später.«

»Und wenn Lisa dann wieder bei dir pennen will?«

»Nicht so laut!« Tobi traute dem Schutz der Geräuschkulisse nicht, und Ivo durfte auf keinen Fall hören, dass Lisa bei ihm schlafen würde. Bei Klatsch, der sich im Ort grundsätzlich wie eine Epidemie verbreitete, war Ivo in aller Regel Patient null. Gern hätte Tobi das Thema gewechselt, aber Scholzen gab sich noch nicht geschlagen. An seinen flackernden Augen sah man, dass er Argumente suchte, am zuckenden Mund, dass er schon erste Halbsätze gefunden hatte.

»Ich lieg ja nicht bei euch im Bett, sondern im Schlafzimmer deiner Eltern.«

»Das ist direkt nebenan.«

»Dann penn ich im Arbeitszimmer von deinem Vater. Da steht ne Schlafcouch drin. Und das ist unten, im Erdgeschoss.«

»Tut mir leid. Du kannst erst ab morgen zu mir.«

Scholzen schmollte. Er entzog seinem Freund die Aufmerksamkeit und riss ein neues Panini-Tütchen auf. Daraus fingerte er fünf EM-Spieler. Nach sorgfältiger Prüfung sortierte er die Sticker auf die Haufen vor ihm. Tobi erkannte kein System.

Ivo kam zum Tisch der beiden, in den Händen zwei Schalen mit lieblos geviertelten Tomaten und ein paar zu dicken Gurkenscheiben. »Schon gehört? Deborah hat mit Niels Schluss gemacht. Traurig, oder?«

»Nicht für Deborah«, kommentierte Tobi die Neuigkeit.

»Der war gut, den merk ich mir.« Ivo lachte, als er die Schalen auf den Tisch stellte.

»Aber merk dir bitte nicht, dass ich das gesagt habe. Keinen Bock auf noch mehr Ärger.«

»Ja, klar. Schlimm, die Sache mit Niels.«

Ivo machte eine Schnute, die Mitgefühl ausdrücken sollte, aber lediglich seinen Schnäuzer noch imposanter wirken ließ. Ein Zischen hinter der Theke erinnerte daran, dass der Rest der Bestellung noch auf der Bratfläche brutzelte. Ivo ging zurück.

»Scholzen, noch was«, nahm Tobi ihr Gespräch wieder auf. »Du musst für mich in die Apotheke gehen. Kondome besorgen.«

Scholzen riss ein weiteres Tütchen auf. Er zog die Sticker raus und schaute sie durch. Seine Augen weiteten sich, Ehrfurcht stand in seinem Gesicht, als wäre er gerade Zeuge eines Wunders geworden. Sein Wunder trug ein Trikot mit der Nummer achtzehn.

»Der Klinsi. Der ist viel wert«, raunte Scholzen.

»Hast du gehört? Ich brauche Kondome.«

Ohne hochzuschauen, sagte Scholzen: »Wer poppen will, kann auch Gummis kaufen.«

Scholzen wusste, dass das nicht ging. Die einzige Apotheke im Ort gehörte Lambrecht, Lisas Vater.

Tobi rückte näher. »Aber der Lambrecht ist doch kein Idiot. Der weiß sofort, was los ist, wenn Lisa nicht zu Hause pennt und ich am gleichen Tag Kondome besorge.«

Unbeeindruckt hielt Scholzen fünf neue Sticker in der Hand und fächerte sie auf wie ein Kartenblatt. Dazu setzte er die Miene eines Pokerspielers auf.

»Okay. Ich besorg uns ein Fünferpäckchen, drei für dich, zwei für mich – als Provision.«

»Aber was ist, wenn ich heute Nacht fünf brauche?«

»Ja, genau.« Scholzen schüttelte lachend den Kopf, während er die Fußballer den verschiedenen Stapeln zuordnete. Ivo brachte den Rest der Bestellung: Cevapcici für Scholzen und für Tobi eine Reispfanne. Beim Abstellen der Teller begutachtete er die ausgebreiteten Sammelbilder. Sein Blick blieb an Klinsmann hängen.

»Oh, der Klinsi. Tauschst du denn?«

»Auf keinen Fall. Der fehlt mir noch. So jemanden hättet ihr am Mittwoch auch gut gebrauchen können. Was war da los?«

Scholzen deutete auf den EM-Plan, der mit Reißnägeln an die Wand gepinnt worden war. Ivo hatte darin mit Edding die bisherigen Ergebnisse notiert. Am letzten Spieltag der Gruppenphase hatte Kroatien 3:0 gegen Portugal verloren.

»Ach, keine Ahnung, wir haben unsere Kräfte gespart für morgen. Hauptsache, wir gewinnen da.« Ivo hatte das anstehende Viertelfinale schon eingetragen: Kroatien gegen Deutschland.

Tobi wusste nicht viel über Fußball. Er hielt sich raus. Außerdem galt seine Aufmerksamkeit der Uhr, die neben dem Turnierplan hing: Es war halb zwei. Samstags schlossen die Geschäfte um vierzehn Uhr. In spätestens zehn Minuten müssten sie los, damit Scholzen es noch in die Apotheke schaffen würde.

Die Glocke an der Tür bimmelte. Wie immer ein wenig zu aufgeregt dafür, dass lediglich jemand eintrat. Eine Frau. Tobi erkannte sie: die Prüferin vom TÜV. Sein Fahrlehrer Pohlmann hatte sie ihm mal gezeigt. Tobi würde sie am Dienstag bei seiner Führerscheinprüfung wiedersehen. Aber das war heute unendlich weit weg. Wie sollte er sich eine Autofahrt mit dieser Frau in drei Tagen ausmalen, wenn er sich nicht mal vorstellen konnte, die anstehende Nacht mit Lisa zu erleben?

Ivo registrierte die neue Kundschaft. Auf dem Weg hinter die Theke rief er noch ein kampflustiges »Komm morgen vorbei, gucken wir zusammen!«.

Scholzen nahm die Einladung an, auch für seinen Freund: »Wir kommen!«

»Wir müssen in fünf Minuten los«, drängte Tobi. Sein Teller war bereits leer, während Scholzens noch halb voll war.

Scholzen nickte und schob sich ein Cevapcici in den Mund und gleich noch drei Pommes hinterher. Er wischte die fettigen Finger an seiner Jeans ab, nahm die Panini-Bilder vom Tisch und steckte sie ein. Tobi schaffte währenddessen Tatsachen. Er griff sich beide Teller und trug sie zur Theke. Scholzen folgte ihm. Ivo, eigentlich von robuster Gleichgültigkeit, war in einem Punkt empfindlich. »Scholzen, warum isst du nicht auf?«

Tobi antwortete für seinen Freund: »Ivo, war lecker wie immer, aber wir müssen noch zur Apotheke.«

»Die hat doch schon zu.«

»Geschäfte machen samstags um zwei zu.«

»Die Geschäfte um zwei, die Apotheke um eins.«

»Eine Apotheke ist doch auch ein Geschäft«, konterte Tobi.

Ivo rief durch den Raum, zu der Frau, die sich mittlerweile an einen Tisch gesetzt hatte: »Wie lange hat samstags die Apotheke auf?«

»Bis eins.«

Tobi gab sich geschlagen. Jemand vom TÜV würde es schon wissen. Und irgendwas klingelte da auch bei ihm. Die Apotheke war ein Sonderfall, warum auch immer. Die hatte auch mittwochnachmittags zu. Lambrecht, die faule Sau, dachte Tobi.

»Braucht ihr ein wichtiges Medikament?«, fragte Ivo. Wie immer hüllte er seine Tratschsucht in den Mantel der Sorge.

»Nee, Gummis«, antwortete Scholzen, worauf Tobi sofort ergänzte: »Also, der Scholzen braucht die.«

Ivo kratzte sich an seinem spärlichen Resthaar: »Ich hab welche zu Hause. Muss ich eh gleich mal hin. Dann könntest du dir die Kondome hier heute Nachmittag abholen.«

Tobi übernahm die Verhandlungen. »Ja, das wäre doch super, oder, Scholzen? Was kostet denn so ein Päckchen?«

»Ich will doch kein Geld.« Ivo winkte ab und lächelte gütig.

Scholzen und Tobi lächelten nun auch. Ivo beugte sich über die Theke und sah Scholzen direkt in die Augen. »Ich will den Klinsi.«

Scholzen erschrak. »Für ein paar Gummis?«

Tobi verstand nicht, was das Problem war. Aber er ahnte, dass es seines werden würde. »Jetzt gib ihm doch den Klinsmann.«

Scholzen drehte sich zu Tobi. »Hier können nicht alle immer nur fordern: Penn nicht bei mir, besorg Gummis, gib den Klinsi.«

Den gehobenen Augenbrauen nach hatte Ivo bereits Witterung aufgenommen. Tobi zog Scholzen von der Theke weg. »Bitte«, flüsterte er, »ich brauch die.«

»Das ist aber Abzocke! Und was krieg ich eigentlich dafür?« Scholzen verschränkte seine Arme.

»Ich zahl für dich mit«, bot Tobi an.

»Aber das ist ja eh klar. Du weißt doch, dass ich keine Kohle habe.«

Tobi holte tief Luft: »Okay. Wenn du den Klinsi tauschst, kannst du schon heute bei mir pennen. Im Arbeitszimmer.«

14:58 uhr

Es roch nach Bratkartoffeln. Allerdings nicht nach frischen, es war eher so, als wäre alles in diesem Haus mit einer feinen Bratfettpatina überzogen. Tobi stand im Wohnzimmer der Pohlmanns. Er war Georg nach der wortkargen Begrüßung einfach hinterhergegangen. Der sank nun in einen grünen Sessel mit dunklen Holzlehnen. Sein Vater saß auf einer dazu passenden Zweiercouch. Und als Tobi Vater und Sohn Pohlmann da so sitzen sah, konnte er plötzlich den Satz rekonstruieren, den Georg an der Haustür, schon in halber Drehung, genuschelt hatte: Lisa ist noch nicht da.

Tobi atmete durch, etwas schwerer als beabsichtigt. Pohlmann brummte davon unbeirrt ein »Na, Tobias, alles klar?«. Dann war wieder Ruhe. Weil niemand einen Platz anbot, blieb Tobi stehen. Er fühlte sich, als wäre er in ein Puppenhaus geraten. Alles war aufgeräumt, eng und ein bisschen zu klein. Zumindest in Relation zu Pohlmann. Der war groß und massig und wusste nicht so recht, wohin mit seinen Beinen, weil der Couchtisch viel zu nah stand.

Tobi war gekommen, um bei den Partyvorbereitungen zu helfen. Natürlich hatte er nicht wirklich Lust darauf. Und Georg wusste das. Tobi hatte sich hier mit Lisa verabredet. Sie wollte Georg helfen, Salat machen, Bowle ansetzen, dekorieren, so was halt. Tobi dagegen wollte einfach nur bei Lisa sein. Dafür würde er sogar ein paar Stunden mit Georg verbringen. Selbst Pohlmann würde er schon irgendwie aushalten. Sein Fahrlehrer und er lagen – vorsichtig formuliert – nicht auf einer Wellenlänge.

Tobi ärgerte sich still. Scheiß Vorbereitung. Was sollte das überhaupt für eine Party sein? Gefeiert wurde nicht etwa Georgs achtzehnter Geburtstag, der erst in ein paar Wochen sein würde, sondern der bestandene Führerschein. Wie Tobi von Lisa wusste, aber nicht wissen durfte, hatte Pohlmann zu dieser Feier gedrängt. Als Werbemaßnahme. Pohlmann hatte ein neues Fahrschulauto bestellt, einen Golf Bon Jovi, oder, wie Pohlmann es seit Tag eins der Bestellung nannte: das John-Mobil. Um aber die Raten zahlen zu können, brauchte Pohlmann dringend mehr Schüler. Sein Kalkül: Dank dieser Feier würden sich noch ein paar Unentschlossene in den Sommerferien anmelden. Vermutlich würde an diesem Abend die erste Party der Welt stattfinden, zu der ein Jugendlicher von einem Elternteil gedrängt worden war.

Weil schon lange niemand mehr etwas gesagt hatte, suchte Tobi nach einem Thema. Wetter, Schule, Ferien, alles nicht ergiebig. Aber dann fiel es ihm ein, na klar, die Fahrprüfung vom Vormittag. Georg könnte von einem Erfolgserlebnis berichten, Pohlmann wäre eh in seinem Element. Ein ergiebiges Thema, ein Gesprächsgarant. Tobi würde die Pohlmanns bremsen müssen, spätestens wenn Lisa kam.

»Georg, ganz vergessen: Glückwunsch zum Führerschein. Wie lief es denn?«

»Gut.«

Georg schaute zu seinem Vater, auch Tobi sah nun Pohlmann an.

»Ja.« Pohlmann nickte. Stille.

Weil Tobi beim besten Willen kein zweites Thema einfiel, versuchte er das erste am Köcheln zu halten, oder besser gesagt erst einmal etwas anzuwärmen. »Und, Georg, hast du noch ein paar Tipps für meine Prüfung? Ich bin ja am Dienstag dran.«

»Keine Fehler machen.«

Pohlmann bestätigte stumm. Dann ergänzte er: »Setz dich doch«, und haute zwei Mal mit der flachen Hand neben sich auf das grüne Polster.

Tobi zwängte sich zwischen Couch und Tisch und sank auf die freie Hälfte des Zweisitzers. Damit waren alle Plätze belegt. Wenn Lisa käme, müssten sie aufstehen. Gott sei Dank. Die vier würden sich aufteilen. Den Partykeller herrichten, in der Küche was zubereiten. Vielleicht ein paar Lampions im Garten aufhängen. Auf jeden Fall wäre etwas zu tun, und man müsste nicht mehr reden. Vielleicht liefe ja sogar schon Musik. In Tobi keimte Hoffnung. Aber Lisa kam nicht.

Tobi wunderte sich. Er wusste ja, dass Pohlmann mürrisch war, und auch Georg war sonst keine Quasselstrippe. Dieses Schweigen aber war anders, es war raumfüllend.

»Wann wollte Lisa denn kommen?« Tobi wandte sich direkt an Georg.

Der sah ihn nicht an. »Gleich«, gab er zurück.

Pohlmann erhob sich mit einer Mischung aus Seufzen und Stöhnen und verließ das Wohnzimmer. Tobi hörte Schritte auf der Holztreppe im Flur, konnte aber nicht sagen, ob Pohlmann in den ersten Stock oder in den Keller ging. War auch egal. Zu zweit würde die Situation bestimmt angenehmer. Tobi und Georg waren schließlich Klassenkameraden, oder zumindest in einer Klasse.

»Möchtest du vielleicht was trinken?«, fragte Georg in den Raum. Weil ja sonst niemand da war, nickte Tobi. Er wartete darauf, dass das Angebot in irgendeiner Form konkretisiert wurde. Aber Georg stand auf und schlappte in seinen Adiletten in den Flur, um von dort in die Küche zu verschwinden.

Tobi sah sich um, auf der Suche nach einer Gemeinsamkeit zwischen ihm und den Pohlmanns. Gegenüber der Sitzgruppe war eine Regalwand, aus dem gleichen dunklen Braun wie die Armlehnen, auf denen Tobis Hände einen feuchten Abdruck hinterlassen hatten. In dem Regal standen Bücher, nach Größe sortiert. Von den Titeln, die Tobi lesen konnte, kannte er keinen. Den Umschlägen nach zu urteilen waren sie alt und mussten aus einer Zeit stammen, als Georg und sein Vater noch in der DDR lebten. 1991 waren sie in die schleswig-holsteinische Provinz gezogen und hatten die Fahrschule des Ortes übernommen. Fünf Jahre war das her. Trotzdem wusste man im Ort kaum etwas über diese Familie, obwohl Pohlmann sofort in die Freiwillige Feuerwehr eingetreten war. Jeder Neue im Ort tat das, um Kontakte zu knüpfen, Sozialkompetenz zu beweisen und vor allem, um begründet Bier zu trinken. Pohlmann aber hatte meist nur an den Übungen teilgenommen.

Tobi ließ seinen Blick weiterwandern. Neben dem Regal hingen ein paar Bilder, die Pohlmann in Uniform zeigten, aufgehoben im Kreis anderer Uniformierter. In der DDR hatte er Soldaten das Panzerfahren beigebracht, das war noch heute in den Fahrstunden spürbar. Ebenfalls an der Wand: ein paar Urkunden, die Georg als Sportschützen auszeichneten. Und Fotos von ihm auf Siegertreppchen. Bei keiner der Aufnahmen schaute Georg in die Kamera. Immer galt sein Blick den anderen. Stand er links oder rechts, schaute er mit schmalen Lippen in die Mitte zum Erstplatzierten. Stand er in der Mitte, schaute er mit großen Augen zum Zweiten.

Nur von Georgs Mutter fehlte in diesem Raum jede Spur. Keine Urkunde, kein Bild, nicht mal ein Möbelstück, das so aussah, als sei es von einer Frau ausgesucht worden. Zu ihr waberten verschiedene Gerüchte durch den Ort. Einigkeit bestand nur darin, dass sie gestorben war, lange bevor Georg und sein Vater in den Westen gezogen waren. Ivo hatte mal erzählt, es werde gemunkelt, Pohlmann hätte sie bei morgendlichen Schießübungen aus Versehen getroffen, drei Mal. Seine Ausführungen hatte Ivo wie üblich mit sorgenvollem Blick und der Frage abgerundet, was das bloß für Menschen seien, die solche Gerüchte streuten.

Als Georg mit einem Glas Sprudel wiederkam, merkte Tobi erst, dass er sich auch ohne einen der Pohlmanns in diesem Zimmer unwohl gefühlt hatte.

Es klingelte. Georg drehte sich um und wollte mit dem Wasser in der Hand zurücklaufen. Aber auch Pohlmann stand im Flur und öffnete die Haustür. Tobi hörte Lisas Stimme. Endlich. Kurzes Geplänkel im Flur, mit dem Lisa sich nicht lange aufhielt. Einen Augenblick später stand sie im Wohnzimmer und schloss Georg in die Arme. Tobi war überrascht von dieser körperlichen Begrüßung, verstand aber im nächsten Moment, dass eine Umarmung bei den beiden kein Regelfall war. Denn auch Georg wirkte verwundert.

Lisa sah ihn nun an. »Tut mir total leid«, sagte sie. »Wie konnte das passieren?«

Pohlmann stockte. Georg auch. Lisa redete weiter: »Ich mein, du kannst doch eigentlich fahren. Was war los?«

Tobi verstand mehr, als er wollte. Und auch mehr, als er sollte.

»Darüber wird nicht gesprochen«, rief Pohlmann in die Mitte des Wohnzimmers und wandte sich dann direkt an seinen Sohn: »Zu keinem ein Wort!« Noch lauter: »Was war daran unklar? Hatte ich nicht erklärt, wie wichtig das ist?«

Georg sah zu Boden. »Ich habs nur Lisa gesagt.«

»Und jetzt weiß es der da auch schon.« Pohlmanns Hand zuckte kurz in Tobis Richtung, als ginge es darum, ihn zu verscheuchen. »Ich mach mich ja lächerlich, wenn ich nicht mal den eigenen Sohn durch die Prüfung kriege!« Spuckefunken flogen. »Dann können wir es auch lassen. Dann können wir gleich alles lassen.«

Tobi wünschte sich die Zeit zurück, als hier geschwiegen worden war. Lisas Blick sprang zwischen ihm und dem tobenden Pohlmann hin und her. Georg sah weiterhin niemanden an. Wenn die Party abgesagt werden würde, könnte Tobi die Nacht mit Lisa vergessen. Jemand musste handeln. Und jemand, das wurde Tobi immer klarer, konnte nur er sein.

»Herr Pohlmann. Wir werden nichts sagen. Lisa ist doch Georgs beste Freundin. Und ich, ich bin … also ich werde auf jeden Fall den Mund halten.«

»Und darauf soll ich mich jetzt verlassen?« Pohlmann stellte die Frage seinem Sohn. Der schwieg.

Tobi improvisierte. »Wenn Sie die Party jetzt noch absagen, wird über den Grund doch spekuliert und viel mehr getratscht. Und dann meldet sich erst recht niemand bei Ihnen an. Lisa und ich sind ja auch Ihre Fahrschüler, und wir machen den ganzen Abend Werbung für Sie. Drei Leute kriegen wir so auf jeden Fall, ich weiß auch schon, wen.«

Pohlmann brüllte: »Und das weiß er auch?« Er stampfte zwei Schritte auf Georg zu. Der schaute Lisa an. Und da fiel es Tobi wieder ein. Von der Schieflage der Schule durfte er ja gar nicht wissen. Aus der Not heraus erhöhte er.

»Wir schaffen auch vier neue Schüler!«

Pohlmann holte tief Luft und machte etwas, das nur er konnte: Reden und gleichzeitig mit den Zähnen knirschen. »Ich gehe jetzt in die Fahrschule und werde dort übernachten. Und wenn ich morgen wiederkomme, siehts hier so aus, als hätte keine Party stattgefunden.« Erschöpft schritt er aus dem Wohnzimmer. An der Schwelle zum Flur drehte er sich noch mal um. »Und am Montag erwarte ich fünf Anmeldungen.«

Als er weg war, sprach Lisa als Erste. »Von mir weiß niemand, dass du durchgefallen bist.«

»Und ich habs ja gerade erst erfahren«, versicherte Tobi. »Es kann sich also überhaupt nicht herumgesprochen haben, dass du die Prüfung nicht geschafft hast.« Und Tobi glaubte das wirklich. Bis ihm die TÜV-Prüferin in der Tratschzentrale Dubrovnik wieder einfiel.

21:10 uhr

Ein paar Jungs tanzten ironisch zu den Backstreet Boys. Und Tobi stand im Weg. Wie immer auf Partys. Egal wo er sich platzierte, da wollten die anderen durch. Und so wurde er nach und nach an den Rand des Partykellers gedrängt, bis ihm das aufgebaute Büfett den Weg versperrte.

Weil er schon mal da war, brach er etwas von einem Baguette ab. Krümel fielen in die darunter stehende Bowle und waren Sekunden später nicht mehr vom Fruchtfleisch zu unterscheiden. Sofern es sich überhaupt um Fruchtfleisch handelte. Während er kaute, riss er ein weiteres Stück Brot ab. Eine vernünftige Grundlage musste her. Er hielt bereits die zweite Flasche Bier in der Hand. Die erste hatte er viel zu zügig getrunken, halb aus Langeweile, halb aus Verlegenheit. Er fand einfach keinen Anschluss. Scholzen war noch nicht da. Und Lisa hielt Abstand, damit sie nicht zusammen gesehen wurden. Aber wohl auch, weil beide schon den ganzen Tag nicht wussten, was sie miteinander reden sollten. Fürs Erste war alles gesagt. Und ein neues Thema zu beginnen wäre merkwürdig gewesen, solange das große noch im Raum stand. Auch die anderen mieden ihn. Grüppchen, zu denen Tobi sich gestellt hatte, hatten sich bald aufgelöst. Kein Wunder. Niels hatte sich für die Party angekündigt. Und jeder wusste von der Sache mit Niels. Wer wollte da schon zwischen die Fronten geraten?

Tobi ließ den Blick über das Büfett schweifen. Zum Brot gab es Fleischwurstringe, in großzügige Stücke geschnitten, Frikadellen und einen mit gehackten Zwiebeln bedeckten Mettberg. Für Tobi alles keine Option. Lisa aß kein Fleisch, und wenn er wollte, dass sie ihn später küsste, aß er besser auch keins. Er blickte auf die Wanduhr, die über den beiden Tischen mit schwitzenden Fleischwaren angebracht war. Eine Gravur ließ wissen: »Alkohol tötet langsam. Wir haben Zeit.« Viertel nach neun. Scholzen schaute noch das Spiel Frankreich gegen die Niederlande, aber danach wollte er sofort kommen und die Kondome bringen, die er am Nachmittag bei Ivo abgeholt hatte.

Als Tobi am frühen Abend nochmals zu Hause gewesen war, um die Seepferdchen zu füttern, hatte er bei Scholzen angerufen. Sein Freund hatte da bereits leichte Konzentrationsschwierigkeiten gehabt. Scholzen hatte zu Beginn der EM erklärt, er müsse für jedes gefallene Tor einen Ouzo trinken, denn so, und nur so, würde Deutschland Europameister. Entsprechend wenig hatte Tobi sich während des Telefonats gewundert. Kurz zuvor hatten sich müde Engländer gegen noch müdere Spanier ins erste Elfmeterschießen des Turniers geschleppt. Das Spiel endete 4:2 für England. Oder in Schnäpsen gerechnet 6:0 für Scholzen. Dabei hätte er das scheiß Spiel doch auch hier gucken können, ärgerte sich Tobi. Auf der anderen Seite des Raums hatte Georg einen Fernseher auf die Theke gestellt, auf dem nun eine wachsende Gästetraube Frankreich gegen die Niederlande verfolgte.

Tobi mümmelte gerade am dritten Stück Brot, als die reguläre Spielzeit vorbei war. Das bedeutete Verlängerung. Für das Spiel und für Tobis Abend.

22:02 uhr

Tobi atmete flach und lautlos im dunklen Wohnzimmer der Pohlmanns. Er wagte weder einen Schritt vor noch einen zurück. Eigentlich hatte er nur Scholzen entgegengehen wollen, raus aus dem vollen Keller, in dem es zum Elfmeterschießen noch lauter geworden war. Selbst hier oben hörte man, wie sich der mitfiebernde Chor im Minutentakt entlud. Wann immer ein Elfer geschossen wurde, raunte ein Lager und das andere jubelte. Jemand brüllte »verdammte Käsköppe«. Klar, eigentlich mussten damit die Holländer gemeint sein. Andererseits, überlegte Tobi, war Frankreich ebenfalls so etwas wie eine Käsenation. Worüber dachte er hier eigentlich nach? Er hatte weiß Gott andere Probleme.

Draußen vor der geöffneten Terrassentür saß Deborah auf einem weißen Plastikstuhl, besser gesagt: Sie thronte. Vor ihr hockte Niels und redete mit sanfter Stimme auf sie ein. Sie blickte in die Ferne, während sie mit spitzen Fingern rauchte. Tobi verstand nicht, warum sich alle Jungs für Deborah interessierten. Natürlich sah sie gut aus, aber in dieser schönen Hülle war nichts, kein Interesse, keine Überzeugung. Und schon jetzt konnte man sehen, dass sie ihre Schönheit nicht ins Alter würde retten können. Das, was sie ausmachte, würde schon bald unter den Höhensonnen dieser Welt verglühen.

Niels mühte sich sichtlich um das Wohlwollen seiner Ex-Freundin, mindestens aber um ihre Aufmerksamkeit. Mal klang seine Stimme charmant, mal wie die eines kleinen Kindes. Aber Deborah sah unverändert über ihn hinweg und blieb frei von jeder Mimik. Niels versuchte es weiter: »Und weißt du, was gleich passiert? Das Geilste überhaupt.« Er lachte. Deborah nicht, also fuhr er fort. »Georg kriegt das Geschenk seines Lebens. Ein T-Shirt!«

Deborah schnippte ihre Kippe in die Dunkelheit und sah Niels verständnislos an. »Ja, und?«

»Georg hat doch ne Tierhaarallergie. Und deswegen haben wir«, Niels lachte wieder, »das T-Shirt mit Katzenhaaren eingerieben. Der ziehts an und kriegt, bumm, voll den Anfall.« Niels prustete, während Deborah über das gerade Gehörte nachdachte.

Tobi wäre auch gern so begriffsstutzig gewesen. War er aber nicht. Er würde einfach zurückgehen, langsamer und leiser, als er ins Wohnzimmer gegangen war, da hatte ihn ja auch niemand gehört. Und dann würde er Georg warnen. Tobi drehte sich um, weil die zwei Flaschen Bier aber schon erste Wirkung zeigten, stieß er prompt gegen die Holzlehne der Couch.

»Was willst du?« Das war Niels’ Stimme, wie Tobi sie kannte. Alles Sanfte darin war verschwunden. Und damit war auch klar, dass diese Frage nicht mehr Deborah galt. Weil Weglaufen keine Lösung war, weder auf dieser Party noch in diesem Ort, drehte Tobi sich um, ging direkt zur Terrassentür und blieb auf der Schwelle stehen.

Was willst du – das konnte bei Niels sowohl der Auftakt für Ärger sein oder auch echtes kaufmännisches Interesse, denn auf Partys vertickte er neuerdings Pillen, die er aus den Vorräten der väterlichen Apotheke herstellte. Und wie Tobi von Scholzen wusste, verstand Niels sein Handwerk. Niels wiederholte seine Frage.

Weil Tobi ahnte, dass es bei ihm nicht ums Geschäft ging, antwortete er gewohnt defensiv: »Nichts. Ich such nur Scholzen.«

Niels stand auf und kam Tobi entgegen, bis er ihm an der Schwelle der Terrassentür gegenüberstand. Er war vermutlich das Schlimmste, was Testosteron aus Menschen machen konnte. Niels war groß, breit und aggressiv. Sein Gesicht war immer ein wenig zu rotwangig, erst recht, wenn er getrunken hatte. Die kurzen blonden Haare, die mit Gel gestylt waren, schienen im Kampfmodus noch ein wenig strammer zu stehen.

Tobi und Niels sahen sich zum ersten Mal wieder seit der Sache. Es ist definitiv ein Fehler gewesen, dachte Tobi und hätte gar nicht sagen können, was er alles damit meinte: die letzte Begegnung mit Niels, die Reaktion seines Vaters, dieser Abend und vermutlich auch, dass er eben nicht doch einfach weggelaufen war.

Ihre letzte Begegnung war vier Wochen her und hatte begonnen wie so viele davor. Niels hatte irgendeinen Grund gesucht, um seinen Frust an Tobi auszulassen, und mühelos gefunden. Es hatte einen Zeugen gegeben, der gesehen hatte, wie Niels Tobi den Weg versperrt hatte. Wie er aufgestampft und dabei die Hand gehoben hatte, um einen Schlag anzudeuten. Und wie Tobi erschrocken einen Schritt zurückgestolpert und hingefallen war. Auf den Hinterkopf. Schädelhirntrauma ersten Grades. Kurze Bewusstlosigkeit, Erinnerungslücke, danach Kopfschmerzen und Übelkeit. Man hatte Tobi zwei Tage im Krankenhaus behalten, zur Beobachtung, wie es hieß.

Im Ort wusste man, dass Niels von seinem Vater geschlagen wurde, schon immer. Und dass Niels eigentlich nur versuchte, diese Demütigung weiterzureichen. Tobis Vater hatte es diesmal trotzdem gereicht. Er hatte Anzeige erstattet wegen Körperverletzung. Der alte Lambrecht war außer sich darüber, dass sein Stammhalter von der Polizei befragt worden war. Und auch, wenn die Konsequenzen für Niels noch offen waren, stand das Urteil für Tobi bereits fest: Höchststrafe. Lambrecht verhängte Kontaktverbot. Er verbat seiner Tochter Lisa, Tobi zu sehen.

Niels kam noch ein Stück näher. So nah, dass Tobi seinen Bieratem riechen konnte. Er flüsterte fast: »Schön, dass wir uns mal wieder sehen.«

»Ja, weiß nicht. Blöd, das alles. Das mit der Anzeige, also das war die Idee meines Vaters.« Tobi merkte, wie ihm die Silben verklebten, weil sein Mund trocken wurde. Er versuchte, Niels’ Blick standzuhalten, fühlte sich aber so unwohl, dass er einen Schritt zurücktrat.

Niels gab sich versöhnlich. »Ach, die Anzeige ist schon okay. Wir sind doch alle für Gerechtigkeit.«

Tobi hatte keine Ahnung, worauf das hinauslaufen sollte, nickte aber zaghaft.

Niels lächelte jetzt. »Du bist doch auch für Gerechtigkeit, oder?«, fragte er.

Wieder stummes Minimalnicken.

»Prima. Denn ich bin da für was angezeigt worden, das ich nicht gemacht habe. Ich habe dich nicht mal berührt, du Hampelmann.«

»Na ja«, fing Tobi an, »ich habe ja auch keine Erinnerung, und –«

»Und das bedeutet, ich hab einen gut«, unterbrach ihn Niels. »Ich kann dir ein Mal eine ballern. So, dass du umfällst und liegen bleibst.«

Niels stampfte auf. Tobi zuckte zurück. Immerhin stolperte er diesmal nicht. Niels’ Wangen wurden noch fleckiger. Gepresstes Lachen.

»Keine Angst, das ist mein Joker, den heb ich mir auf, soll ein ganz besonderer Tag werden.«

Tobi blickte Hilfe suchend auf die Terrasse, Mädchen waren immer gut, wenn es darum ging, zu schlichten. Aber Deborah war mit Rauchen beschäftigt.

»Und jetzt verpiss dich«, raunte Niels.

Das ließ sich Tobi nicht zwei Mal sagen. Die weichen Knie trugen ihn vorbei an der grünen Couch, doch kurz bevor er den Flur erreichte, hörte er Niels: »Warte mal. Hast du uns eben eigentlich belauscht? Was haste denn gehört?«

Wieder entschied Tobi sich gegen Wegrennen, wieder ärgerte er sich darüber.

»Nichts.«

»Sicher? Auch nicht das mit dem T-Shirt für Georg?«

»Nein.« Tobi war ein lausiger Lügner.

»Wenn du ein Wort zu Georg sagst, gibts richtig Ärger.«

Tobi nickte und schwieg. Im Keller brandete Jubel auf, das Spiel war anscheinend vorbei.

Niels drehte sich zur Terrassentür. »Deborah, komm, wir gehen runter. Gibt gleich das Geschenk für Georg. Und bis dahin passen wir besser mal auf Tobi auf. Nicht, dass der heute schon wieder hinfällt.«

23:15 uhr

Georg stand in der Mitte des Partykellers. Umringt von Leuten, die er nicht mochte, die ihn nicht mochten und die überhaupt nur gekommen waren, weil es an einem Samstagabend in Holmstedt nichts Besseres zu tun gab. Jemand hatte die Musik ausgemacht. Ein anderer, Tobi kannte ihn vom Sehen, sprach ein paar Worte und überreichte Georg schließlich ein Geschenk zur bestandenen Führerscheinprüfung. Die Gäste schauten erwartungsvoll, während Georg das Paket, etwas kleiner als ein Schuhkarton, an sein Ohr hielt und schüttelte. Auch ohne ihm sonderlich nahezustehen, konnte man erkennen, wie unwohl er sich fühlte.