»… zitternd vor bunter Seligkeit« - Renate Müller-Buck - E-Book

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Renate Müller-Buck

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Beschreibung

Der Philosoph und die Lagunenstadt - die Nietzsche-Kennerin Renate Müller-Buck hat sich auf Spurensuche begeben Zwischen 1880 und 1887 verbrachte Friedrich Nietzsche insgesamt fünfmal eine längere Zeit in Venedig. Es war die einzige Stadt, die er liebte, ein »geweihter Ort« für sein Gefühl und als Ort der "100 tiefen Einsamkeiten" ein "Bild für die Menschen der Zukunft". Empfangen und umsorgt wurde er dabei von dem Musiker Heinrich Köselitz, dessen Lehrer er an der Universität Basel war. Ausgehend von Nietzsches Briefen sowie von Berichten und Erinnerungen seiner Freunde und Weggefährten vermittelt Renate Müller-Buck ein Bild vom Alltag des Philosophen in Venedig und von der vielfältigen Bedeutung, die die Lagunenstadt in seinem Denken einnimmt. Wir begleiten ihn durch die schattigen Gässchen mit ihrem "regelmäßigen Trachytsteinpflaster", das er als "Dreiviertelblinder" besonders liebt und folgen ihm in die Calle nova, wo Köselitz in seinem Zimmer ganze Vormittage für ihn musiziert. Und wir blättern mit ihm in seinen Venedig-Lektüren: Lord Byron, George Sand, Stendhal. Die ausgewiesene Nietzsche-Kennerin Renate Müller-Buck wirft einen ebenso kenntnisreichen wie intimen Blick auf den Menschen Nietzsche und bietet gleichzeitig ein besonderes Bild Venedigs im ausgehenden 19. Jahrhundert.

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Renate Müller-Buck

»... zitternd vor bunter Seligkeit«Nietzsche in Venedig

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der

Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2024

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,

© SG-Image unter Verwendung einer von Hand kolorierten

zeitgenössischen Postkarte des Canal Grande, Riva del Ferro

ISBN (Print) 978-3-8353-5559-0

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8650-1

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8651-8

INHALT

Venedig, »ein geweihter Ort für mein Gefühl«Einleitung

ERSTES KAPITEL»Ich möchte Venedig daraufhin ansehn, ob ich dort längere Zeit leben könnte«Präludium

ZWEITES KAPITELVenedig, die »Stadt des Regen’s, der Winde und der dunkeln Gässchen«Erster Aufenthalt: 13. März – 29. Juni 1880

DRITTES KAPITEL»Venedig hat den Fehler, keine Stadt für einen Spaziergänger zu sein«Intermezzo 1881 – 1883

VIERTES KAPITELPeter Gasts Musik, »eine Art idealisirtes Venedig«Zweiter Aufenthalt: 21. April – 12. Juni 1884

FÜNFTES KAPITEL»Zur Feier von Zarathustra’s Fertigwerden bei einer putana veneziana«Dritter Aufenthalt: 10. April – 6. Juni 1885

SECHSTES SAPITEL»Es scheint mir, daß im Winter sich gut hier wohnen ließe«Vierter Aufenthalt: 30. April – 10. Mai 1886

SIEBTES KAPITEL»Der einzige Ort auf Erden, den ich liebe«Fünfter Aufenthalt: 21. September – 21. Oktober 1887

ACHTES KAPITEL»Wenn ich ein andres Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig«Finale

Anhang

Zitierte Werke und Siglen

Bildnachweis

Dank

Karte mit Nietzsches Unterkünften in Venedig

Anmerkungen

Venedig, »ein geweihter Ort für mein Gefühl«

Einleitung

Claude Monet, Gondel in Venedig

An der Brücke stand

jüngst ich in brauner Nacht.

Fernher kam Gesang:

goldener Tropfen quoll’s

über die zitternde Fläche weg.

Gondeln, Lichter, Musik –

trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus …

Meine Seele, ein Saitenspiel,

sang sich, unsichtbar berührt,

heimlich ein Gondellied dazu,

zitternd vor bunter Seligkeit.

– Hörte Jemand ihr zu?…[1]

Mit diesem Lied fuhr Nietzsche am 9. Januar 1889 ein letztes Mal über die Alpen, die er so oft auf seinem Weg in den Süden durchquert hatte. Diesmal geht es nach Norden und er befindet sich in der Obhut seines Freundes Franz Overbeck. Alleine reisen kann er nicht mehr, sein Geist ist gebrochen, schon seit Tagen schickt er seine Wahnsinnszettel aus Turin in die Welt – auch nach Basel, an Jacob Burckhardt. Zum Glück, denn Burckhardt versteht sofort. Er alarmiert Overbeck, der sich umgehend auf den Weg macht, den kranken Freund zurückzuholen.

Als Overbeck Nietzsches Zimmer in Turin betrat, fand er ihn »in einer Sophaecke kauernd«. Beim Anblick seines Basler Freundes brach Nietzsche in Tränen aus. Wenig später tobte er »in lauten Gesängen und Rasereien am Klavier«, durch »skurriles Tanzen und Springen« unterbrochen, in seinem Zimmer umher, um gleich danach »mit einem unglaublich gedämpften Tone … sublime, wunderbar hellsichtige und unsäglich schauerliche Dinge über sich als den Nachfolger des toten Gottes« von sich zu geben.[2] Während der nächtlichen Fahrt heimwärts über den Gotthard singt Nietzsche ein »venezianisches Gondellied«. Zu diesem Zeitpunkt weiß Overbeck noch nicht, dass es Nietzsches eigenes Lied ist, das erst später veröffentlicht werden sollte. Er wunderte sich nur über die Luzidität, mit der der kranke Freund den herrlichen Text artikulierte. Es war ihm »völlig rätselhaft, wie der Sänger einen solchen Text noch zu Stande brachte bei übrigens völlig ungethümlicher Melodie.«[3]

Auf dem Weg in seine braune Nacht sang Nietzsche in dem Zugabteil, nun nicht mehr heimlich und unsichtbar berührt, sondern frei heraus, sein Gondellied. Die braune Nacht ist seit der Barockdichtung ein beliebter Topos in der Literatur. Vielleicht dachte Nietzsche an die »aer bruno« in Dantes göttlicher Komödie oder die »vista or chiara or bruna« aus den Sonetten Petrarcas. Seine braune Nacht gehört zu Venedig, der Stadt des Wassers und der Musik. Die Lagunenstadt begleitete ihn in die geistige Umnachtung. »Venedig: ein geweihter Ort für mein Gefühl«,[4] schrieb Nietzsche zuletzt noch aus Turin, und immer wieder betonte er, dass er »nur einen einzigen Ort auf der Erde liebe, nämlich Venedig.«[5]

Venedig ist für Nietzsche auch ein anderes Wort für Glückseligkeit. Schon sein Zarathustra riet den höheren Menschen, »welche im Gedränge und mitten im Gesindel« leben, »sich auf eine einsame glückselige Insel zu flüchten – oder nach Venedig.«[6] An diesem Eiland hielt er noch im Untergang fest. Tränen und Musik, der Süden und das Glück werden in Venedig eins: »Ich sage noch ein Wort für die ausgesuchtesten Ohren: was ich eigentlich von der Musik will. Dass sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober. Dass sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süsses Weib von Niedertracht und Anmuth ist … Ich würde Rossini nicht zu missen wissen, noch weniger meinen Süden in der Musik, die Musik meines Venediger maëstro Pietro Gasti. Und wenn ich jenseits der Alpen sage, sage ich eigentlich nur Venedig. Wenn ich ein andres Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig. Ich weiss keinen Unterschied zwischen Thränen und Musik zu machen, ich weiss das Glück, den Süden nicht ohne Schauder von Furchtsamkeit zu denken.«[7]

Venedig ist für Nietzsche nicht ohne Wagner zu denken. In Venedig ist der zweite Akt des Tristan entstanden. Im Sommer 1858 floh Wagner vor den Spannungen im Hause seines Gönners Wesendonk in Zürich in die Lagunenstadt. Es war zu Eifersuchtsszenen zwischen seiner Frau Minna und der Geliebten Mathilde Wesendonk gekommen. In Venedig, in dem herrschaftlichen Palazzo Giustinian am Canal Grande, ist er allein mit seinen Gedanken an die ferne Geliebte. Venedig, die gewaltige Kulisse aus Nacht und Wasser, Größe, Schönheit und Verfall bildet den Hintergrund für die große Szenerie der Liebesverklärung von Tristan und Isolde. »Aber was wird das für Musik, ich könnte mein ganzes Leben nur noch an dieser Musik arbeiten. […] So etwas habe ich denn doch noch nicht gemacht: aber ich gehe auch ganz in dieser Musik auf«,[8] schreibt Wagner an die Geliebte in Zürich. Dieser zweite Akt sei der Gipfel all seiner »bisherigen Kunst«,[9] damit »sollte das wunderbare Venedig musikalisch in Angriff genommen werden.«[10]

Dieses zwielichtig dämmernde, zutiefst venezianische Werk hat auch Nietzsche bezaubert: »Ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Fascination, von einer gleich schauerlichen und süssen Unendlichkeit, wie der Tristan ist, – ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Lionardo da Vinci’s entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan.«[11] Es ist »das eigentliche opus metaphysicum aller Kunst«, ein Werk, »auf dem der gebrochene Blick eines Sterbenden liegt, mit seiner unersättlichen süssesten Sehnsucht nach den Geheimnissen der Nacht und des Todes, fern weg von dem Leben, welches als das Böse, Trügerische, Trennende in einer grausenhaften, gespenstischen Morgenhelle und Schärfe leuchtet.«[12]

In Venedig wurde auch Byrons Manfred, dieses todessüchtige Poem der »forgetfulness« vollendet. Byrons Manfred war einst die Lieblingsdichtung des Knaben Nietzsche, die er 1872 noch in Töne gesetzt hat, für Klavier zu vier Händen.[13] Er spricht von dieser Dichtung in ganz ähnlichen Tönen wie von Tristan: »Mit Byrons Manfred muss ich tief verwandt sein: ich fand alle diese Abgründe in mir, – mit dreizehn Jahren war ich für dies Werk reif.«[14] Wie der Tristan, so trägt auch Byrons Manfred Züge jener verführerischen venezianischen Mischung aus Todesnähe und Lebenssüße.

Venedig, das ist für Nietzsche auch Heinrich Köselitz alias Peter Gast, wie er seinen Musiker des Glücks taufen wird, der eigens für seine Ohren Musik macht und ihn in der Serenissima umsorgt.

Die Verbindung von Wasser und Musik faszinierte auch den Venedig-Liebhaber Joseph Brodsky. Für ihn ist Musik »die Zwillingschwester des Wassers«.[15] Die ganze Stadt ähnele, »besonders bei Nacht, einem riesigen Orchester mit trüb erleuchteten Palazzi als Notenständern, mit einem unermüdlichen Chor von Wellen, mit dem Falsett eines Sterns am Winterhimmel.«[16] Zuletzt lockt auch Nietzsche seine Freundin Resa von Schirnhofer mit einem ähnlichen Bild nach Venedig: »Man fährt auf der Gondel, man lacht, man ist ein bisschen malinchonico und hört über die Wasser weg singen und Musik machen.«[17]

In den Jahren von 1880 bis 1887 lebte Nietzsche insgesamt fünfmal für längere Zeit in Venedig. Dabei hatte es zunächst den Anschein, als sollte es ihm niemals gelingen, die Lagunenstadt zu erreichen.

ERSTES KAPITEL

»Ich möchte Venedig daraufhin ansehn, ob ich dort längere Zeit leben könnte«

Präludium

Die Tauben von San Marco

Im Wintersemester1878/79 ist Nietzsches Gesundheit auf einem Tiefpunkt angelangt. Seit zehn Jahren ist er Professor für klassische Philologie in Basel und gerade erst vierunddreißig Jahre alt. Selbst sein engster Freund und Vertrauter, der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck, befürchtet, er könne nicht einmal die zweite Hälfte des Semesters überstehen. Auf alle Fälle möchte Overbeck Vorsorge treffen für die anschließenden Osterferien, und so erkundigt er sich bei Heinrich Köselitz, dem zehn Jahre jüngeren Schüler Nietzsches, der inzwischen als Musiker in Venedig lebt, ob es möglich wäre, dass der kranke Freund die Ferien bei ihm in der Lagunenstadt verbringe: »Gerne wäre er mit Ihnen dort zusammen, und wir erführen daher ebenfalls gern durch Sie, was Sie uns etwa Genaueres über die Einwirkung der Luft zu besagter Jahreszeit mitzutheilen wüssten«,[1] schreibt Overbeck, da Nietzsche zu diesem Zeitpunkt kaum in der Lage ist, selbst Briefe zu schreiben. Seine fast väterliche Fürsorge hat etwas Rührendes. Die Antwort aus Venedig lässt allerdings auf sich warten. Erst sechs Wochen später berichtet Köselitz, die Lagunenstadt gelte als »klimatischer Cur-Ort« neben Nizza. Dabei beruft er sich nicht wie üblich auf den Baedeker als Reiseführer, sondern auf seinen Basler Kollegen, den Kunsthistoriker, Mediziner und Reiseschriftsteller Theodor Gsell-Fels, welcher von 1870 bis 1880 an der Universität Basel italienische Kunstgeschichte gelehrt hat und Mitglied des großen Rats gewesen ist: »Der Dr. med. Gsellfels sagt: das Klima sei nicht gut für Erschlaffte, Skrophulöse und Chloritische.«[2]

Er selbst, betont Köselitz jedoch, habe sich in Venedig jederzeit wohler gefühlt als »in Basel und Florenz; der venezianische Sommer ist milder und bei weitem angenehmer als z. B. der baseler; bekanntlich sind an den Küsten die Jahreszeiten temperirter, als im Binnenland, der Sommer weniger heiss, der Winter weniger kalt. Den ganzen Sommer über habe ich in Venedig jede helle Nacht unter freiem Himmel geschlafen, was ich in keiner anderen Stadt hätte wagen dürfen. Im Mai beginnen nämlich die Zanzaren [die Stechmücken] zu kommen«, doch dann begebe er sich einfach auf die Altane über dem Dach seines Hauses, wo es den Zanzaren zu zugig sei. Er liebe Venedig außerordentlich, »nicht nur weil es so eindringlich auf die Stimmung wirkt«, sondern auch, weil es ganz »ohne Staub und ohne Wagengerassel« ist und dadurch »dem Ideal einer Stadt schon um vieles näher rückt«. Außerdem seien »die Menschen dort von einer ungemein wohlthuenden Naivetät, von anderem Erfreulichen ganz zu schweigen.« Jacob Burckhardt habe ihm noch eingeschärft, sich »in Venedig vor der Zugluft in Acht zu nehmen«, Nietzsche solle auf alle Fälle seinen »Sommerüberzieher« mitnehmen, denn des »Aufhörens der wirklichen Winterkälte« dürfe man sich erst Ende März gewiss sein. Natürlich würde es ihn unaussprechlich freuen und ehren, wenn Herr Prof. Nietzsche ihn in Venedig aufsuchen wollte.[3] Seiner Braut Cäcilie Gussenbauer berichtet Köselitz umgehend, sie könne sich gar nicht vorstellen, wie sehr ihn die Ankündigung von Nietzsches Osterbesuch freue.[4]

Köselitz, der Nietzsche als eine Art Eckermann bereits in Basel als Vorleser und Sekretär gedient und fast alle Druckmanuskripte für ihn erstellt hatte, ist auch in Venedig, wo er sich 1878 dauerhaft als Musiker niedergelassen hat, weiterhin mit Nietzsches Manuskripten beschäftigt. Mitte März 1879 erschienen die Vermischten Meinungen und Sprüche als Anhang zu Menschliches, Allzumenschliches, und auch hier hatte Köselitz bei der Korrektur geholfen. Als Ende Februar die mühsame Korrekturarbeit zu Ende ist, schreibt Nietzsche: »Nun, lieber guter hülfreicher Freund, bleibt Ihnen nur noch übrig, an mir selber die Correctur zu machen – in Venedig! Mein Zustand war wieder fürchterlich, hart an der Gränze des Ertragbaren. ›Ob ich reisen kann?‹ Die Frage war mir oft: ob ich da noch leben werde? … Dienstag den 25 März Abends 7 Uhr 45 komme ich in Venedig an und werde von Ihnen eingeschifft. Nicht wahr? Sie miethen mir eine Privatwohnung (Zimmer mit gutem warmen Bett): ruhig. Womöglich eine Altane oder ein flaches Dach bei Ihnen oder mir, wo wir zusammen sitzen und so weiter. Ich will nichts sehen als zufällig. – Aber auf dem Markusplatz sitzen und Militärmusik hören, bei Sonnenschein.«[5]

Heinrich Köselitz alias Peter Gast (1854-1918)

Was heute eher seltsam anmutet, war damals ganz selbstverständlich. Venedig gehörte zwar schon seit 1866 zu Italien, aber auf dem Markusplatz spielte sonntags immer noch eine österreichische Militärkapelle. Außerdem wollte Nietzsche »alle Festtage … die Messe in S. Marco« hören, die öffentlichen Gärten »in aller Stille ablustwandeln. Gute Feigen essen. Auch Austern. Ganz Ihnen folgen, dem Erfahrenen. Ich esse nicht im Hôtel. – Größte Stille. Ein paar Bücher bringe ich mit. Warme Bäder bei Barbese (ich habe die Adresse). … Wüßten Sie nur, wie gut und dankbar ich immer von Ihnen denke und spreche! Und was ich alles von Ihnen erhoffe! Jetzt seien Sie in Venedig mein guter Hirte und Arzt: aber mich quält’s zu denken, daß ich Ihnen wieder viel Mühe mache. Aber so wenig wie möglich Zeit will ich Ihnen nehmen, das verspreche ich. – Ich wünsche sehr, reisen zu können, aber glaube noch nicht daran. – Wohnung für 4 Wochen (c. 30-40 frs.) Ich möchte Venedig daraufhin ansehn, ob ich dort längere Zeit leben könnte (auch sehr billig –), wenn ich doch mein Basler Amt aufgeben müßte. Ich benutze Ihre Fußtapfen.«[6]

Noch zweifelt Nietzsche daran, die weite Reise in seinem derzeitigen Zustand überhaupt bewältigen zu können, er lebe an einem Abgrund, alles sei eine einzige Tortur: »Dreiviertel Schmerz und ein Viertel Erschöpfung«.[7] Ihn plagen wütende Kopfschmerzen, er ist fast blind, »der Magen immer zerstört«,[8] und im Hintergrund beständig die Frage, ob er die nächsten Monate überleben werde: »Für mich ist Venedig noch immer keine ausgemachte Sache. … Trotzdem: es ist wahrscheinlich dass ich komme.«[9] Köselitz verspricht eine Wohnung nach seinem Wunsch. »An der Riva de’ Schiavoni, die freilich die prächtigsten Aussichten bietet, ist wegen des lauten Treibens Nichts zu holen. Ich denke aber an die Paläste Malpier-Trevisan und Grimani bei der Kirche Santa Maria Formosa, oder Häuser in der Nähe – sehr ruhig und venezianisch schön gelegen. Oder Palazzo Zorzi und Nähe. Ich habe die Absicht mich an den Fondamenta nuove anzusiedeln, weiss aber noch nicht wie mir’s gelingen wird.«[10] Das war keine schlechte Wahl. Die Palazzi, die Köselitz ins Auge gefasst hatte, waren allesamt prächtige, stattliche Bauwerke, im Sestiere Castello, rund um den Campo Santa Maria Formosa gelegen, einen der größten Plätze der Stadt. In dem Palazzo Malipiero-Trevisan führte die Fürstin Hatzfeld einen berühmten literarischen Salon, in dem Richard Wagner und Franz Liszt regelmäßig verkehrten.

Direkt an dem herrlichen Campo Santa Maria Formosa befindet sich auch eine bedeutende Bibliothek, von der Köselitz in einem späteren Brief berichtet: »In Venedig habe ich eine Lesegesellschaft mit Bibliothek, in welcher unter anderem Schopenhauers und Wagners Schriften auch zu finden sind! im Stil der Baseler entdeckt; dort sind deutsche, englische, französische und italienische Journale und periodische Schriften; sie heißt Fondazione Stampali-Querini, ist eine reiche Stiftung eines Patriziers, der Eintritt ist ganz frei, man hat nur seine Karte abzugeben.«[11] Die Fondazione Querini-Stampalia direkt hinter der Kirche Santa Maria Formosa wurde von Conte Giovanni Querini Stampalia gegründet, der in seinem Testament von 1868 seine private Büchersammlung samt Bibliothek der Stadt Venedig vermacht hat und dabei verfügte, dass diese auch dann geöffnet sei, wenn andere Einrichtungen bereits geschlossen sind. Die Bibliothek ist bis heute, auch an allen Sonn- und Feiertagen, täglich bis 23 Uhr geöffnet. Selbstverständlich verwies Köselitz auch auf die Biblioteca Marciana: »Eine gute, auch mit vielen deutschen Werken versehene Bibliothek ist im Dogenpalast; verliehen wird aber Nichts, sondern man erhält die Bücher nur im Lesesaal.«[12] Die Biblioteca Marciana war zwischen 1812 und 1904 tatsächlich im Dogenpalast untergebracht und nicht in der 1553 von Sansovino eigens dafür errichteten Libreria vecchia auf der gegenüberliegenden Seite der Piazzetta, die damals für andere Zwecke genutzt wurde. Heute ist die Bibliothek wieder an ihrem angestammten Sitz, sogar um ein zusätzliches Gebäude erweitert, die Zecca, das angrenzende, ebenfalls von Sansovino erbaute Münzgebäude, mit Blick auf das Bacino di San Marco.

Köselitz’ Bemühungen waren vergebens, eine Woche später erfolgt Nietzsches endgültige Absage: »Ach, mein lieber hülfereicher und wieder so hülfbereiter Kamerad, wir werden uns nicht sehen, ich kann nicht kommen! Es ist zu schlecht gegangen.«[13] Venedig scheint ihm plötzlich viel zu weit, er sucht erneut Ruhe in den nähergelegenen Bergen am Genfer See. Doch auch dort sollte er keine Erleichterung finden, er »glaube an keine Genesung mehr«, schreibt er seiner Schwester Elisabeth, »von der Erschütterung des Gehirns, dem Erlöschen der Augen« könne sie sich keine Vorstellung machen.[14] Noch denkt er an eine längere Pause, Overbeck spricht von fünf Jahren. »Alles ist trüb und kalt. Die Einsamkeit schwer zu ertragen, der Magen schlecht, der Kopf immer voller Schmerzen. Das Savoyische Gebirge sah wie ein beschneites Grab aus«, so zumindest erschien es Nietzsche, auf seinem Weg an den Genfer See.[15] Erneut plagen ihn Zweifel, ob er die nächsten Wochen und Monate überhaupt überleben werde.[16] Die Anfälle fesseln ihn tagelang ans Bett, es sei eine einzige »Thierquälerei und Vorhölle«.[17] Nietzsche ist am Ende. Nach seiner Rückkehr aus Genf reicht er am 2. Mai 1879 an der Universität Basel sein Entlassungsgesuch ein.[18] Er ist vierunddreißig Jahre alt. Im Juni erhält er die Entlassungsurkunde und ist frei, krank, aber frei. Die Schwester löst die Basler Wohnung auf. Teile des Mobiliars erwirbt Marie Baumgartner, die Mutter eines ehemaligen Schülers von Nietzsche, aus deren Nachlass sie später in die Stiftung Nietzschehaus in Sils Maria gelangen, wo sie heute zu besichtigen sind. Die Bücher kommen zu Overbecks Schwiegermutter nach Zürich. Doch wohin soll er selbst? Die Reise nach Venedig erscheint ihm erneut viel zu beschwerlich, aufs Neue verspricht er sich Linderung von den Bergen, diesmal in Wiesen bei Davos.

Doch Köselitz lockt weiter mit Venedig: Er habe »nirgends das Gefühl der großen Landschaft in dem Grade gehabt wie auf einsamen Kahnfahrten durch die Lagune bei lichtem Wetter: über die lombardische Ebene sieht man hin bis in die Graubündner Alpen, von da den Zackenkranz bis zu den Friauler Bergen, dann die paduanischen Berge, die aus dem Wasser aufzusteigen scheinen; … in dieser weiten fruchtbaren Einsamkeit ruht meine höchste Seligkeit, die ich bis jetzt kenne.«[19] Und er lockt mit dem Lido: »Was sagt der Arzt dazu? Ich meinte schon, wenn sie sich am Lido ansiedelten und während des Sommers die merkwürdige Kühle genössen die dort vom Meere her weht! Mir ist immer, als sei gerade diese Luft das einzig gemäße für Sie; die Griechen haben gewiss nicht umsonst Meerluft geathmet. Diese Temperatur und Luft, die ich meine, ist nicht in Venedig selbst auch nicht an der Lagunenseite des Lido, sondern nur an dessen Strandseite; vielleicht wissen die Ärzte gar nichts davon: sie unterscheidet sich wesentlich von der, welche irgend dort weht, wo das Meer direkt ans Festland stößt. Denn der Lido ist seinem Namen nach ein flacher Landstreifen, eine lang gestreckte Insel, mit der Abweichung vom Gewöhnlichen, dass auf der einen Seite bewegtes Meer, auf der andern ruhiger Wasserspiegel ist.«[20]

Die Idee mit dem Lido habe manches für sich, schreibt Franz Overbeck, »Nietzsche denkt daran. Lassen Sie ihn doch sofort Näheres über die Lebensbedingungen daselbst wissen, ob ein leidliches Unterkommen daselbst zu finden ist – nicht etwa nur Fischer drauf wohnen – wie es mit der Ernährung steht, ob ein trockenes Spazierengehen möglich ist?«[21] Köselitz antwortet umgehend, in dem kleinen Ort S. Elisabetta, wo die Dampfschiffe zum Lido anlegen, seien Wohnungen zu haben, zwar habe er noch keine angesehen, aber sie schienen ihm ganz annehmbar.

»Im Sommer ist hier ein sehr anmutendes Volksleben; die Menschen sind so, dass man sie lieben muss. Von Unsicherheit in polizeilicher Hinsicht darf, auf mein Wort!, keine Rede sein. Gegen das Meer hin sind Gärten mit Häusern – alles von der Badegesellschaft für die Fremden erbaut und für den Sommer beziehbar; dazu würde ich Ihnen jedoch nicht rathen. Das große Bade-Etablissement ist im Pfahlbautenstil gebaut.«[22]

Die monumentalen Hotelbauten, von denen Rilke später sagte, es seien »stupide Häuser«, die aussähen, »als ob sie dreißig Häuser verschluckt hätten«,[23] entstehen erst später. Sowohl das Grand Hotel des Bains, das durch Thomas Mann, vor allem aber durch Viscontis Verfilmung des Tod in Venedig Berühmtheit erlangte, als auch das glamouröse, im maurisch-orientalischen Stil erbaute Grand Hotel Excelsior wurden erst nach der Jahrhundertwende erbaut. Heute ist das Grand Hotel des Bains geschlossen, das Excelsior erstrahlt jedes Jahr Ende August im Glanz der Internationalen Filmfestspiele von Venedig.

Pfahlbauten auf dem Lido um 1900

»Das Baden im Adriatischen Meer hier wird mit Recht viel gerühmt: weicher Sandboden, nicht wie in Livorno Felsplatten, an denen man sich die Fusssohlen verwundet; große Bewegung des Meeres meist erst im Herbst. Ich kenne im Physischen kaum Etwas, das mir ein solches Lebensgefühl mittheilte, wie diese Bäder. – Was das Speisen betrifft, so ist dafür in allen Abstufungen gesorgt: in der Badeanstalt ist ein feines Restaurant, in S. Elisabetta sind 4 Wirtshäuser, zwei davon mit Gärten; man isst in Italien meist überall gut. Über anderes Seegethier als Fische habe ich kein eigenes Urtheil, weil ich’s nie versucht habe und nicht mag. Nach Andrer Meinung sollen denn die Austern hinter den nordischen zurück stehen, sie sind auch kleiner als diese; andere sehr begehrte Meerthiere sind Gambari, Carperossui, Seespinnen und wie das Zeug weiter heisst. Von Fischen kenne ich nur den vorzüglichen Branzin und Seezungen; Fische nähren ihres Jod- und Phosphorgehalts wegen, namentlich das Gehirn.« Köselitz scheint sich von einer fischreichen Ernährung günstige Auswirkungen auf Nietzsches Kopfschmerzen zu versprechen. Der Wein im Veneto sei sehr herb, aber kräftig, er bekenne sich »zu dem toskanischen Chianti, der hier aller Orten auch zu haben ist. Ein feines Gemüse, die Artisciocchi, wird nämlich namentlich in den Gärtnereien auf dem Lido gezüchtet. Das Spazierengehen am Meer ist so, dass man den Fuß auf den Sand, von dem sich eben die Welle zurückzog, setzen kann, ohnedass man nass wird. Es ist die Eigenschaft der Sandwege in Baden-Baden, noch potenziert.« Auf den Sandwegen von Baden-Baden hatte Nietzsche im Jahr zuvor Heilung gesucht. »An der Lagunen Seite des Lido führen ostwärts, mit Mauern aus dem Wasser geböscht, ganz trockene und angenehme Wege hin, es folgt eine Waldpartie, wie sie der Fremde hier nicht vermuthet; am Ostende des Lido liegt sehr malerisch das Dorf und Fort S. Niccolò mit vielen Bäumen. Der Blick auf die Lagune mit den Inseln, Venedig, die Alpen, die Stille über den Wassern – ich wüsste nicht gleich, wo man schöpferischer gelaunt wäre als hier und als der anfängliche Geist.«[24] Für die Ankunft empfiehlt Köselitz den späten Nachmittag: »Sehr günstige Zeit für den ersten Eindruck von Venedig: unter Glockengeläute Einfahrt in die Stadt durch den grossen Canal, die Abendsonne glüht oben an den Palästen aus.«[25]

Köselitz befürchtet, dass man sich in Basel kein rechtes Bild vom Lido mache, sie dächten wohl, es sei »der ödeste Sandrücken, der nur eben so übers Wasser taucht, dass ihn die Wogen mit knapper Noth nicht überspülen.«[26] Er rät deshalb, Jacob Burckhardt zu befragen, welcher den Lido kenne und genau wisse, dass es, »in den Lagunen nichts weniger als monotones oder Farbenarmes gibt. Byron wollte auf dem Lido sein Grab haben: Shelley ist gern hier gewesen, er hat ein größeres Gedicht, das auf dieser Insel beim Sonnenuntergang spielt; Shelley verstand sich auf den Verkehr mit der Natur.«[27] Auch Reitpferde seien zu haben, fügt Köselitz hinzu. Tatsächlich hatte auch Byron vier Pferde auf dem Lido untergestellt, mit denen er täglich ausritt. Shelleys »großes Gedicht«, das Versepos »Julian and Maddalo: A Conversation«, ist im Spätsommer 1818 in Byrons Villa »I Cappucini« in Este bei Venedig entstanden, inspiriert von den gemeinsamen Gesprächen, die die beiden Dichter dort geführt haben.

Da er keine Photographien ausfindig machen konnte, beauftragte Köselitz eigens seinen Freund, den Maler Max Minutti aus München, damit, für Nietzsche ein Aquarellbild des Lido, »von einer sehr schönen Partie im Umkreis der Festung Niccolò« im östlichen Teil der Insel anzufertigen, doch das ging schief: Minutti hatte »mit seinem Malkasten kaum Posto gefasst, als die Schildwache ihn nach dem Permess frug, den man zur Zeichnung strategischer Orte haben müsse. Da er ihn nicht hatte, überhaupt nicht wusste, dass ein solcher Permess nöthig sei so musste die Sache zu seinem und meinem Bedauern unterbleiben. Es wäre ein sehr gutes Aquarell geworden.«[28] Etwas später schickte Köselitz dann zwei eigenhändig angefertigte Farbskizzen des Lido mit Blick auf die Lagune. Eine der beiden Skizzen zeigte die Insel San Lazzaro degli Armeni, zwischen dem Lido und Venedig gelegen: »es ist das Mechitaristen-Kloster, in welchem Byron die armenische Sprache 1816 erlernte.«[29] Dieses Kloster hat als Mutterhaus des Mechitaristenordens die Insel zu einem der weltweit bedeutendsten Zentren der armenischen Kultur gemacht. Köselitz’ »Lidographien«,[30] wie Nietzsche die Skizzen nannte, sind leider nicht erhalten.

In Basel wurde »die Lidoangelegenheit gründlich bedacht«. Overbeck konferierte mit Jacob Burckhardt darüber, der wegen der »Oede« und »Schattenlosigkeit« dringend vom Lido abriet.[31] Die Mischung aus Wasser und Licht ist für jeden Migränepatienten eine absolute Quälerei. Dieser Aspekt scheint auch Nietzsche überzeugt zu haben, und so bildete das »grelle Licht« den »Hauptstein des Anstosses«, er war sogar ganz sicher, den grellen Schein des Lichts »in Venedig und zumal am Meeresstrande nicht ertragen zu können«, zumindest nicht im Sommer, »denn für den Winter hat er zur Zeit keinen Plan ernster ins Auge gefasst als den Ihren«, schrieb Overbeck nach Venedig und betonte, wie wichtig es ihm sei, Nietzsche gerade jetzt in Köselitz’ Obhut zu wissen, denn er reise ganz allein. Overbeck sorgte sich nicht nur um den Freund, er trauerte auch um ihn, der Basel nun endgültig verlassen hatte: »Nach 9jährigem, Jahre lang täglichem Verkehr mit Nietzsche können Sie sich denken, wie mir zu Muthe ist.«[32]

Lido, San Elisabetta, um 1880

Unterdessen meldete sich Nietzsche aus den Schweizer Bergen selbst zu Wort: In der »Höhen- und Waldluft« rund um Davos suche er Linderung seines »gräßlich und grausam gewordenen Zustandes«, berichtet er Köselitz. Gegen den Lido hätten nur seine »Augen in ihrer jetzigen unglaublichen Reizbarkeit etwas einzuwenden: selbst hier suchen sie noch nach Dunkel. Gewiß, daß wir noch in Venedig zusammenleben werden, aber möglicherweise doch erst von Spätherbst an. Falls (Im Fall?) ich lebe – eine Formel die ich Grund habe, allen Plänen anzuhängen.«[33]

Burckhardts Aussage, der Lido sei öde und schattenlos, konnte Köselitz so nicht stehen lassen, sie könne sich nur auf einen Teil beziehen, meint er, der Lido sei aber »2 Stunden lang«. Am Strand und »westlich gegen die ›Murazzi‹ hin« stünden freilich keine Bäume, die Murazzi selbst seien »eine stundenlange Cyklopenmauer, aus gewaltigen Blöcken, durch deren weite Spalten und Zwischenräume die anbrandenden Wogen zerstäubend und über das Bollwerk zurücksinkend ›wuchten‹: ein rechtes Exempel zu dem ›weitaufrauschenden Meer‹ Homer’s.« Dort herrsche dafür »eine Stimmung von unvergleichlicher Erhabenheit … die Luft weht immer herb und kühl über’s Wasser. Der Wasserspiegel flimmert nur früh; denn von Mittags an steht die Sonne, vom Standpunkt des Meeresstrandes aus, gegen das Land hin, kann also nicht vom Wasser reflectirt werden. Die schönste waldige idyllische Party des Lido ist im Osten, und zwar das Fort San Niccolò mit seiner Umgebung; dorthin verirrt sich selten ein Fremder, vielleicht kennt auch Burckhardt diesen Teil nicht, wie wohl eine unter dem Dogen Contarini im elften Jahrhundert erbaute Kirche hier steht.«[34] An alles Venezianische müsse man sich erst gewöhnen. Für den Winter sei von Venedig jedoch dringend abzuraten, der Winter sei nur in Unteritalien erträglich, in Oberitalien sei es fast so kalt wie im Norden, und dabei hätten die Häuser keine Heizung.

Unterdessen erhält Nietzsche von seinem Verleger Schmeitzner Nachricht über »einen abscheulichen Mißerfolg« seines Hauptbuchs Menschliches, Allzumenschliches: »Es sind, statt 1000 Exemplaren, wie er erwartet, nur 120 Exemplare verkauft.« Nietzsche befürchtet, Schmeitzner werde daran zu Grunde gehen.[35]

Sein Zustand in Wiesen bei Davos verschlimmert sich, vielleicht auch in Folge der schlechten Nachrichten von seinem Verleger, und so begibt er sich noch höher hinauf, ins Oberengadin, nach St. Moritz, wo es zunächst tatsächlich besser geht. Es ist sein erster Aufenthalt im Oberengadin. Hier sei er »wie in [s]einem Element, ganz wundersam! Ich bin mit dieser Natur verwandt«,[36] schreibt er an Franz Overbeck. Endlich kam die ersehnte Erleichterung, doch in Gedanken ist er weiterhin mit Venedig und dem Lido beschäftigt: »Der Lido, an dem Goethe zum ersten Male das Meer sah … scheint auch Ihnen Entzückungen gegeben zu haben«, schreibt er an Köselitz und erinnert sich, dass er in Schopenhauer als Erzieher Worte Goethes zitiert habe, mit welchen dieser seiner Entzückung beim ersten Anblick des Meeres Ausdruck verliehen habe:[37] »Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie ab gemessen zu seinem Zustand, wie wahr, wie seiend!«, rief Goethe beim Studium der Seeschnecken und Taschenkrebse auf dem Lido aus.[38] Nietzsche zitiert diese Worte in Schopenhauer als Erzieher, allerdings nicht, wie Goethe, mit Blick auf die Natur, sondern auf »wahre Denker«, »die, weil sie das Tiefste gedacht gerade das Lebendigste lieben müssen«.[39]