Kalter Rauch / Wie du mir - Zwei Zorn-Thriller in einem Band - Stephan Ludwig - E-Book

Kalter Rauch / Wie du mir - Zwei Zorn-Thriller in einem Band E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Das Kult-Duo Hauptkommissar Zorn und der dicke Schröder von Bestsellerautor Stephan Ludwig ermitteln in ihrem fünften und sechsten Fall Zorn - Kalter Rauch: Es regnet Fische auf die Stadt. Eines Nachts klatschen Aale und Lachse auf die dunklen Straßen und Dächer. Bei den Aufräumarbeiten wird ein künstliches Hüftgelenk gefunden. Doch die Frau, der es eingesetzt wurde, ist spurlos verschwunden. Gregor Zettl, der Ehemann der Vermissten, schweigt beharrlich. Was die beiden Hauptkommissare Zorn und Schröder nicht wissen: Jemand ist hinter Zettl her und droht ihn umzubringen … Zorn - Wie du mir: Zorn kann es nicht fassen, als er am Morgen seines fünfundvierzigsten Geburtstags neben Staatsanwältin Frieda Borck aufwacht. Aber wie er bald feststellen wird, ist das sein kleinstes Problem. Schröder und er ermitteln in einem neuen Fall, die Leiche eines jungen Mannes wurde am Flussufer gefunden. Zorn entdeckt im Handy des Toten eine Nummer, die das Opfer kurz vor seiner Ermordung gewählt hat. Und sie gehört niemand anderem als Zorns eigenem Bruder Cornelius …

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Seitenzahl: 989

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Stephan Ludwig

Zorn. Die Fälle fünf und sechs für Hauptkommissar Zorn und den dicken Schröder

Zwei Romane in einem Bundle: Kalter Rauch / Wie du mir

FISCHER digiBook

Inhalt

Buch 1 - Kalter RauchWidmungMottoTEIL EINSEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtTEIL ZWEINeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnTEIL DREIAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigTEIL VIERSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigBuch 2 - Wie du mirMottoEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzig

Für Peter Ludwig. Du hättest ruhig noch eine Weile bleiben können.

Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.Wilhelm Busch

 

Die Menschen fürchten den Tod sogar mehr als den Schmerz. Es ist komisch, dass sie den Tod fürchten. Das Leben schmerzt viel mehr als der Tod.Jim Morrison

 

Die guten Musiker sind alle Einsiedler und außer der Zeit. Friedrich Nietzsche

TEIL EINS

Eins

Es war exakt zwei Uhr einunddreißig, als der erste Fisch vom Himmel fiel.

Die Glocke der Kirche auf dem Hasenberg vibrierte noch, die Schläge der alten Turmuhr verhallten in der kühlen Nachtluft, dünne, verloren wirkende Töne.

Der Fisch, eine fingergroße Elritze, landete auf dem östlichen der vier Seitentürme, überschlug sich, rutschte das steile Kupferdach hinab, weiter über die Ziegel des Querhauses und blieb schließlich in der Dachrinne liegen.

Zwei Sekunden vergingen.

Dann klatschte eine Bachforelle neben einem Papierkorb auf das Pflaster vor dem Hauptportal. Das Licht einer gusseisernen Laterne spiegelte sich in den silbrigen Schuppen, es schien, als bewege sich das Tier, die letzten Zuckungen einer sterbenden Kreatur.

Die Menschen in den gepflegten Villen rund um den Fuß des Berges und die sternförmig abzweigenden Straßen schliefen tief und fest. Der Himmel über der Stadt war klar. Keine Wolke. Sterne funkelten.

Irgendwo bellte ein Hund.

Der nächste Fisch, ein Karpfen, durchschlug das Dach der Sakristei. Ein weiterer folgte. Noch einer. Und noch einer.

Der Regen begann.

Ein Prasseln, leise erst, dann anschwellend, als würde eine riesige Reisschüssel über der Kirche ausgeschüttet.

Die Fische stürzten vom Himmel, blitzende, stumme Geschosse, ein funkelnder Hagel ergoss sich über den mächtigen sechzig Meter hohen Backsteinbau. Die Tiere prallten auf den Hauptturm, zerplatzten auf dem Pflaster vor dem dreitürigen Haupteingang, verfingen sich in den Wipfeln der umstehenden Bäume. Blut, Eingeweide und Schuppen bedeckten die Mauern, die geschnitzten Türen, die geschwungenen gotischen Fenster. Die breite Freitreppe hinauf zum Berg verschwand unter einer pulsierenden, gekrümmten Masse. Flundern. Welse. Aale. Hechte. Die meisten schon vor dem Aufprall verendet, einige gefroren, andere scheinbar in den letzten Zuckungen liegend. Hunderte. Tausende. Ein wirres, zuckendes Durcheinander, ineinander verschlungen, ein schleimiges, in allen Farben schimmerndes Chaos.

Nach zwanzig Sekunden war es vorbei. So, wie es angefangen hatte, endete es, als habe jemand weit oben in der Stratosphäre einen Schalter umgelegt.

Unten am Kreisverkehr jaulte eine Alarmanlage auf, ein anderthalb Kilo schwerer Lachs hatte die Windschutzscheibe eines Audi durchschlagen. In den Villen gingen die ersten Lichter an, Köpfe erschienen in den Fenstern, verschlafen rümpften die Menschen die Nasen, der Gestank nach Fäulnis, Nässe und Verwesung sollte erst in den Morgenstunden verschwinden.

Der erste Notruf wurde um zwei Uhr vierunddreißig registriert, vierzig weitere gingen in der nächsten halben Stunde ein. Niemand war verletzt worden, die toten Fische lagen in einem Umkreis von hundert Metern um die Kirche verstreut, später wurden vereinzelte Kadaver in den Gärten, den Seitenstraßen und auf ein paar Hausdächern gefunden.

Kurz vor drei Uhr morgens rief ein ratloser Streifenbeamter zunächst bei der Stadtreinigung, später beim Veterinäramt, dann im Universitätsklinikum an. Ein Meteorologe wurde herbeigerufen, ein Mitarbeiter des Zoos gesellte sich dazu. Niemand konnte erklären, was geschehen war. Um vier Uhr titelte die Onlineausgabe des örtlichen Boulevardmagazins etwas ratlos und orthographisch nicht ganz korrekt von den SCHLEIMIGEN VORBOTEN DER APPOKALYPSE AUF DEM HASENBERG. Der zuständige Redakteur, ein fünfunddreißigjähriger ehemaliger Aushilfskellner, hatte im Internet auf die Schnelle nur krude Verschwörungstheorien und verschwommene Hinweise auf ähnliche, kaum dokumentierte und längst vergangene Ereignisse in Australien und Südengland finden können.

Im Morgengrauen begann das Aufräumen. Arbeiter in den orangefarbenen Westen der Stadtwerke schlurften missmutig über den Hügel und klaubten die größeren Kadaver von der Wiese, Feuerwehrleute reinigten mit Schläuchen das verschmierte Pflaster vor dem Portal, die Freitreppe, die Bänke. Uniformierte Streifenpolizisten wurden als Verstärkung hinzugezogen und das, sollte sich bald zeigen, war nicht nur im Hinblick auf ein schnelles Ende der Arbeiten von Vorteil. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ein übernächtigter junger Wachtmeister mit spitzen Fingern und verkniffenem Mund eine zerplatzte Rotfeder aus einem Papierkorb am Fuße der Freitreppe fischte. Was er darunter fand, halb verdeckt von zerknüllten Zeitungsresten und durchgeweichten Pappbechern, wäre unter anderen Umständen wohl nie entdeckt worden und für alle Zeiten in den Untiefen der städtischen Müllhalde verschwunden.

So aber geschah es, dass an diesem freundlichen Junimorgen ein künstliches Hüftgelenk mit der Seriennummer GZ-375469C-B3 in einem öffentlichen Papierkorb sichergestellt wurde. Ein Umstand, der zwar weit weniger verwirrend erschien als tonnenweise vom Himmel fallender Süßwasserfisch, aber trotzdem ausreichte, den Diensthabenden der zuständigen Polizeiwache herbeizurufen, welcher wiederum umgehend die Spurensicherung alarmierte.

Zwei Stunden später begannen die Ermittlungen.

Zwei

Gregor Zettl saß auf dem Sofa und wartete.

Seit neun Tagen tat er das jetzt. Nein, auf dem Sofa hatte er natürlich nicht gesessen, nicht die ganze Zeit. Er hatte geschlafen, gelesen, ferngesehen, all die Dinge getan, die jeder normale Mensch tut. Aber gewartet hatte er, jede einzelne Sekunde in diesen neun Tagen, mal bewusst, mal weniger bewusst.

Donata. Vor neun Tagen war sie morgens aus dem Haus gegangen. Wie immer hatte sie ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben, wie immer hatte er nicht gewusst, was genau sie den ganzen Tag tun würde. Erst recht hatte er nicht wissen können, dass sie nicht zurückkehren würde. Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten. Auch nicht am übernächsten.

Die Sonne fiel schräg ins Zimmer, blendete ihn. Gregor Zettl seufzte, faltete die Zeitung zusammen, stand schwerfällig auf und zog die Gardinen zu. Schwere fliederfarbene Samtvorhänge, er mochte die Farbe nicht, ebenso wenig den goldgelben Teppich, die dunkle, erdrückende Schrankwand mit den geschwungenen Messinggriffen, den geschliffenen Glastüren, den Geruch nach feuchten Fliesen und frischem Beton. Eigentlich gefiel ihm das ganze Haus nicht, ein zweistöckiger Neubau, eingezwängt zwischen identischen, ebenso gesichtslosen Einfamilienhäusern, innerhalb weniger Monate auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne am Stadtrand aus dem lehmigen Boden gestampft. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, das winzige Grundstück zu kaufen und dieses Haus bauen zu lassen, natürlich nicht. Donata hatte es so gewollt.

Diskutiert hatte er nicht, das hatte er nie getan. Sie hatte die Verträge unterschrieben, sie war es, die sämtliche Entscheidungen in Gregor Zettls Leben traf. Sie sorgte für das Geld, für ihren Unterhalt. Wie sie das tat, hatte ihn nie interessiert.

Gregor, der Unsichere. Donata, die Macherin.

Gregor Zettl seufzte, kratzte sich am Kinn. Er musste sich rasieren, dringend. Donata achtete peinlich darauf, dass er sich pflegte.

Seit sechsundzwanzig Jahren waren sie verheiratet. Nein, Sorgen machte er sich nicht, noch nicht. In den letzten Jahren war sie immer wieder verreist, nach Frankreich, Spanien, Italien. Eine, manchmal zwei Wochen, geschäftlich, wie sie gesagt hatte, um Investoren zu treffen, er hatte nie nachgefragt. Allerdings hatte sie ihm vorher immer Bescheid gesagt, es war das erste Mal, dass sie einfach so wegblieb, sie wusste, dass er auf sie wartete, seit neun Tagen mittlerweile, das waren zweihundertsechzehn Stunden, sie …

Es klingelte an der Tür.

Gregor Zettl verzog das Gesicht. Er hasste den schrillen, dissonanten Ton. Donata klingelte nie, sie benutzte den Schlüssel.

Zettl ging in den Flur. Sein Spiegelbild huschte über die Schrankwand, eine gedrungene, übergewichtige Gestalt, nicht zu vergleichen mit dem dünnen, fast mädchenhaften Jungen, der er vor dreißig Jahren gewesen war.

Ein weiteres Klingeln.

Er zögerte. Ging ins Gästebad, schob vorsichtig die Gardine zur Seite und sah hinaus in den Garten. Keinen der beiden Männer hatte er jemals gesehen, weder den Dunkelhaarigen in der Lederjacke noch den kleinen, glatzköpfigen Kerl in der ausgebeulten Cordhose. Gregor Zettl selbst bekam nie Besuch. Er hatte keine Ahnung, was die beiden wollten, sie sahen nicht so aus, als gehörten sie zu Donatas Freundeskreis. Eher wie Zeugen Jehovas oder GEZ-Fahnder, aber die gab es ja mittlerweile nicht mehr.

Egal. Jedenfalls niemand, mit dem er reden wollte.

Gregor Zettl trat zurück in den Schatten.

Hörte, wie der Kleine draußen fragte, was sie jetzt machen sollten.

»Keine Ahnung«, ertönte die mürrische Stimme des Dunkelhaarigen. »Du bist doch jetzt der Chef.«

*

»Würdest du hier leben wollen?«

Zorns Unterarme lagen auf dem Dach des Volvos, er hatte das Kinn abgestützt und sah sich um. Zwei Dutzend Häuser drängten sich in Reih und Glied in der Waldstraßensiedlung, die meisten noch im Bau. Im Hintergrund türmte sich eine riesige Schuttpyramide aus den Überresten der Kaserne.

»Die Frage stellt sich mir nicht. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.«

Schröder sah sich ebenfalls um. Staub und aufgewirbelter Bauschutt tanzten in der Sonne. Schräg gegenüber parkte ein Möbelwagen vor einem der unverputzten Kästen, ein improvisierter Weg aus schiefen Holzpaletten führte über den winzigen, mit getrocknetem Schlamm bedeckten Vorgarten. Das Haus war noch eingerüstet, ein weißgekleideter Maler strich die Fassade in einem dunklen giftgrünen Farbton. Neben einem Schuttcontainer stand ein großer, in schreiend bunten Farben bemalter Gartenzwerg.

Schröder öffnete die Beifahrertür.

»Wir werden beobachtet«, sagte er beiläufig.

»Was?«

»Hinter dir. Jemand ist im Haus.«

Unwillkürlich drehte Zorn sich um. Das gelbe Doppelhaus, an dessen Tür sie soeben geklingelt hatten, wirkte verlassen. Ein niedriger Mauersockel grenzte das Grundstück zur Straße ab, ein halbes Dutzend eiserner, in das Mauerwerk einbetonierter Pfähle deutete darauf hin, dass hier noch ein Zaun errichtet werden sollte. Der Rasen dahinter war frisch gesät, rechts parkte ein staubiger grauer VW Polo in der Einfahrt. Die linke Hälfte wirkte verlassen, die Fenster waren dunkel, Zorn sah keine Gardinen. Die Grenze zwischen den Grundstücken wurde durch einen mannshohen hölzernen Fertigzaun aus dem Baumarkt markiert. WIR REALISIEREN IHR TRAUMHAUS! verkündete ein riesiges Schild an der Straße, ANSPRUCHSVOLL, ENERGIEEFFIZIENT UND PREISWERT!

Zorn schob die Brille zurecht und stieg in den Volvo.

»Bist du sicher?«

Schröder antwortete nicht.

Natürlich ist er das, dachte Zorn, startete den Motor und fuhr an. Neben ihm verstaute Schröder die Aktentasche zwischen seinen kurzen Beinen. Die Räder drehten auf dem Schotter durch, die Straße war noch nicht geteert. Eine rötliche Staubwolke stieg auf.

»Nix wie weg hier.«

Zorn blinkte und bog auf die Schnellstraße am Stadtwald.

»Die Leute werden sich’s schon schön machen«, sagte Schröder und schnallte sich umständlich an.

»Sicher doch«, murmelte Zorn und dachte an den riesigen Gartenzwerg. »Sie haben schon damit angefangen.«

*

»Die Adresse stimmt jedenfalls.« Schröder stand am Waschbecken und füllte den Tank der Kaffeemaschine. Es war warm im Büro, sie hatten ein Fenster gekippt. »Donata Zettl, verheiratet, selbständige Maklerin.«

Zorn erwiderte nichts, er saß am Schreibtisch, den Blick auf den Monitor seines Rechners gerichtet.

»Laut Krankenakte«, fuhr Schröder fort und drehte den Wasserhahn zu, »wurde ihr das Hüftgelenk vor anderthalb Jahren eingesetzt.«

Zorn sah auf. Runzelte die Stirn, überlegte einen Moment und fragte dann: »Wie schreibt man Apokalypse?«

»Wie meinen?«

»Mit einem P oder mit zweien?«

»Mit zweien.« Schröder ging zum Fenster und startete die Kaffeemaschine. »Eins nach dem A, eins nach dem Ypsilon.«

»Ich meinte, ob nach dem A ein Doppel-P kommt«, sagte Zorn und wandte sich wieder seinem Computer zu. »So schreiben’s die Idioten von der Zeitung.«

»Ja«, nickte Schröder. »Ich hab’s auch gelesen.«

Fauchend erwachte die Kaffeemaschine zum Leben.

»Fischregen«, murmelte Zorn. »So ein Schwachsinn.«

»Theoretisch wär’s möglich.« Schröder nahm Platz, rollte auf seinem Bürostuhl zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. »Ein Tornado tobt über einem Gewässer, wirbelt die Tiere bis hinauf in die Stratosphäre und lädt sie Hunderte Kilometer weiter wieder ab. Das würde erklären, dass die Fische teilweise gefroren sind.«

»Wo hast du das denn her?«

»Unerklärliche Phänomene.« Schröder deutete auf Zorns Computer. »Eine Webseite. Ziemlich reißerisch, aber nicht uninteressant. Stellenweise jedenfalls. Eine weitere Theorie besagt, dass die Fische …«

»Ich hasse Fisch.«

»Das ist mir bewusst, Chef.«

»Ich bin nicht mehr dein …«

»Auch das ist mir bewusst.«

Sie sahen sich an.

»Sprich den Namen nicht aus, Schröder. Wage es nicht.«

»Das hatte ich nicht vor.« Schröder lächelte unmerklich. »Ich weiß, wie peinlich dir dein Vorname ist.«

Zorn setzte zu einer genervten Erwiderung an, doch Schröder kam ihm zuvor.

»Wir sollten das pragmatisch sehen. Du warst über zehn Jahre lang mein Chef, und ich habe mich daran gewöhnt, dich so zu nennen. Jetzt ist es umgekehrt, aber stell dir vor, du würdest mich Chef nennen. Das würde zwar unserem dienstlichen Verhältnis entsprechen, aber wir sollten das Wort Chef«, Schröder malte mit den Fingern ein paar Anführungszeichen in die Luft, »nicht als Position, sondern als Eigennamen verstehen. Sozusagen als deinen zweiten Vornamen. Oder Rufnamen, wenn dir das besser gefällt.«

Zorn runzelte die Stirn.

»Du nennst mich also Chef.«

»Genau, Chef.«

»Obwohl eigentlich du der Chef bist.«

»Auf dem Papier. Der theoretische Chef, sozusagen.«

»Aber praktisch gesehen, bist du doch auch der Chef!«

»Stimmt«, nickte Schröder. »Theoretisch jedenfalls.«

»Und welcher Chef bin ich dann?«

Schröder überlegte einen Moment.

»Der akustische?«

Zorn verstand kein Wort. Und das sah man ihm auch deutlich an.

»Es ist nur ein Wort«, erklärte Schröder. »Ohne Bedeutung.«

»Dann könnte ich dich ebenfalls Chef nennen«, erwiderte Zorn.

»Das Tohuwabohu sollten wir uns ersparen, Chef.«

Zorn nickte nachdenklich.

»Es ist einfach«, sagte Schröder nach einer Weile. »Ich bezeichne dich als etwas, das du längst nicht mehr bist, während du«, er deutete auf Zorn, »mich«, er deutete auf sich selbst, »eben nicht so bezeichnest.«

»Obwohl du’s mittlerweile bist.«

»Yes.«

Der Duft des frischen Kaffees mischte sich mit der lauen Brise, die durch das geöffnete Fenster ins Büro drang.

Zorn holte tief Luft, stieß sie geräuschvoll wieder aus.

»Ich hab keinen Schimmer, was du mir eigentlich sagen willst.«

Schröder seufzte ebenfalls.

»Ich auch nicht.«

Ähnliche Gespräche hatten sie in den letzten Monaten immer wieder geführt. Sinnlose Wortwechsel, an denen beide ihren Spaß hatten. Eigentlich war die Situation klar: Jahrelang war Zorn Schröders Vorgesetzter gewesen, jetzt war es umgekehrt. Anfangs hatte Zorn damit gerechnet, Schwierigkeiten zu bekommen, vor allem mit sich selbst. Schließlich kannte er sich, seine Eitelkeit, seine Selbstsucht, irgendwie hatte es auf der Hand gelegen, dass er, Zorn, türenschlagend wie eine verletzte Operndiva durch das Präsidium rennen und lamentierend über die schreiende Ungerechtigkeit klagen würde. Doch nichts dergleichen war geschehen. Zorn hatte in sich hineingehorcht, hatte nach einem Grummeln im Bauch gesucht, einem Stechen, etwas, das darauf hindeutete, dass er sich ungerecht behandelt fühlte, schließlich hatte er lange genug auf diesem Posten gesessen. Er hatte nichts gefunden. Das anfängliche Misstrauen den eigenen Gefühlen gegenüber war mit der Zeit einer gewissen Erleichterung gewichen, und schließlich hatte Zorn erfreut festgestellt, dass ihm seine Karriere egal war. Völlig egal. Schnurzpiepegal. Es interessierte ihn nicht, auch nicht (erst recht nicht), was die anderen im Präsidium dachten. Das alles war einfach nicht wichtig. Ging ihm am Arsch vorbei. Meilenweit sogar.

Und darauf war Hauptkommissar Claudius Zorn ein wenig stolz.

Zu Unrecht, wenn man es genau betrachtete. Denn in Wahrheit hatte sich so gut wie nichts geändert. Im Gegenteil, früher hatte er unliebsame Entscheidungen erst auf Schröder abwälzen müssen, das war nun nicht mehr nötig – abgesehen davon, dass Schröder sowieso der Klügere war, auch das wusste Zorn seit langem.

Alles war beim Alten geblieben. Zorn war der Muffel. Der Kindskopf, dessen Schläfen langsam grau wurden. Schröder der stille Entscheider. So war es vorher gewesen. Und so war es auch jetzt. Gut so.

Die Tür öffnete sich, Frieda Borck, die junge Staatsanwältin, erschien. Wie immer ließ sie sich keine Zeit für eine umständliche Begrüßung und kam sofort zur Sache.

»Was macht das Hüftgelenk?«

Die Frage war an Schröder gerichtet, doch es war Zorn, der antwortete.

»Danke der Nachfrage, ich fühl mich prima. Wenn man bedenkt, dass ich auf die fünfzig zugehe. Ein wenig steif vielleicht, aber …«

»Ich warne Sie, Zorn.«

Das hätte sie gar nicht erst aussprechen müssen, ihr Blick war deutlich genug.

»Darf ich Ihnen«, flötete Zorn und wies zum Fenster, »einen Kaffee anbieten?«

»Das dürfen Sie. Aber ich will keinen.«

Stumm wandte sie sich an Schröder, dieser ging zum Schreibtisch und schlug eine dünne Akte auf.

»Wir haben das Hüftgelenk zugeordnet. Die Frau, der es eingesetzt wurde, haben wir bisher nicht erreicht. Donata Zettl, viel haben wir nicht über sie. Sechsundfünfzig, keine Vorstrafen und laut System«, Schröder blätterte um, »selbständige Maklerin, Handelskauffrau und Projektentwicklerin.«

Die Staatsanwältin strich sich eine Locke aus der Stirn.

»Was halten Sie von dem Fall?«

Schröder zögerte einen Moment, bevor er antwortete.

»Ich bin nicht sicher, ob wir’s überhaupt mit einem Fall zu tun haben.«

»Ein künstliches Hüftgelenk landet nicht einfach so im Papierkorb«, sagte Frieda Borck. »Vor allem nicht, wenn es sich im Körper eines Menschen befunden hat.«

»Deswegen«, mischte Zorn sich ein, »wollten wir ihn vorhin befragen.«

»Ihn?«, fragte die Staatsanwältin.

»Den menschlichen Körper«, half Schröder.

»Danke für den Hinweis.« Frieda Borck hob die Stimme. Kaum merklich, doch es reichte, dass Zorn sich ein wenig in seinen Sessel duckte. »Es wäre nett, wenn Sie das Ganze ein wenig ernsthafter angehen würden, meine Herren.«

»Das tun wir«, erwiderte Schröder, ernster jetzt. »Ich werde noch einmal mit dem Krankenhaus telefonieren. Möglicherweise stimmt die Seriennummer in der Akte nicht, oder das Gelenk ist später ausgetauscht worden.«

Die Staatsanwältin musterte Schröder einen Moment, dann nickte sie. »Finden Sie die Frau.« Sie ging zur Tür, drehte sich noch einmal um. »Sprechen Sie mit den Angehörigen, dem behandelnden Arzt. Wenn sich herausstellen sollte, dass ihr dieses Gelenk implantiert wurde, müssen wir sie zur Fahndung ausschreiben.«

Ein weiteres Nicken, dann verließ sie das Büro.

Schröder wandte sich seinem Rechner zu. Zorn lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte an die Decke und lauschte den letzten Tropfen, die leise glucksend in die Kaffeemaschine fielen.

So verging eine Weile.

Dann räusperte sich Zorn.

»Was macht eigentlich ein Projektentwickler?«

Schröder sah auf.

»Keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln. »Projekte entwickeln?«

*

Am frühen Abend saß Gregor Zettl auf einer Holzbank im Garten seines Hauses. Nun, Garten war übertrieben, der schlauchförmige kümmerliche Rest des Grundstücks hinter dem Haus war höchstens vier Meter breit und knapp zehn Meter lang. Links und rechts hatte Donata Zypressen anpflanzen lassen, dunkelgrüne, drei Meter hohe Wände, die dem Garten den Anschein eines Tunnels gaben. Gregor Zettl war das egal, wichtig war nur, dass er so vor neugierigen Blicken verborgen war. Ein kurzer, mit rosafarbenen Marmorkieseln ausgelegter Weg führte zur hinteren Grundstücksgrenze, dort stand ein winziger Holzschuppen. Für die Gartengeräte, hatte Donata gesagt, die würden sie später anschaffen. Daneben hatte sie einen weiß verputzten Kaminofen aufstellen lassen, hier, hatte sie gemeint, würden sie grillen können, mit Freunden, vielleicht auch mit den Nachbarn, vorausgesetzt, sie würden sich als nett erweisen.

Weiter rechts ragte der obere Teil des Schuttbergs in den Himmel. Die Sonne stand tief, eine gleißende Corona aus rötlichem Licht umhüllte den Berg und verlieh ihm etwas Majestätisches, Geheimnisvolles.

Gregor Zettl nippte an einem Glas Mineralwasser, leckte sich die Lippen und stellte es neben sich auf eine Betonplatte. Er war jetzt zweiundfünfzig, in letzter Zeit wurden seine Bewegungen langsamer, steifer, als würde er in einem Korsett stecken. Etwas schwerfällig lehnte er sich zurück, das weiße Hemd spannte über dem Bauch. Neulich, beim Duschen, hatte er einen zufälligen Blick in den großen Badspiegel geworfen, kurz nur, der Anblick hatte ihm nicht gefallen, der schmale, hängende Brustkorb, die schlaffe Haut an den Unterarmen, die mageren Beine. Er hatte eines von Donatas Handtüchern vor den Spiegel gehängt und gehofft, dass es so lange dort bleiben würde, bis er nicht mehr daran denken würde.

Zettl faltete die Hände vor dem Bauch, lehnte den Kopf an die Hauswand und schloss die Augen. Links von ihm fiel eine Tür ins Schloss, ein Kind begann zu weinen, nah, kaum gedämpft durch die Hecke. Es klang, als würde es direkt neben ihm stehen. Ein weiteres fiel ein, wahrscheinlich ein paar Jahre älter. Die neuen Nachbarn, er hatte sie noch nicht gesehen, sie waren erst vor ein paar Tagen eingezogen.

Andere Geräusche drangen kaum zu Gregor Zettl. Das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen, all dies wurde vom Rauschen stetig vorbeifahrender Autos übertönt. Wohnen direkt am Stadtwald hatte es in dem Prospekt geheißen, den Donata ihm vor einem Jahr gezeigt hatte. Das stimmte, wenn man davon absah, dass eine Schnellstraße zwischen der Grundstücksgrenze und dem Waldrand lag.

Neun Tage, dachte Gregor Zettl, sind eine lange Zeit.

Er spürte den rauen Beton am kahlen Hinterkopf. Gedankenverloren drehte er den Ehering an seinem Finger, ein blauer Edelstein blitzte, das Metall verschwand fast in der fleischigen Haut. Gegenüber dröhnte ein Lkw über die Schnellstraße. Hinter ihm, im Wohnzimmer, klirrten Donatas Kristallgläser im Schrank. Dort lag auch sein Handy, ein altes hellblaues Nokia, er benutzte es so gut wie nie. Vor ein paar Stunden, kurz nachdem die beiden Männer davongefahren waren, hatte er Donatas Nummer gewählt. Ihr Telefon war aus.

Zettl stand auf, streckte den Rücken. Überlegte, ob er hineingehen sollte, dann dachte er an die Briefe auf dem Couchtisch, es waren fünf, zwei davon waren Einschreiben. Er hatte sie nicht geöffnet, das tat er nie, Donata kümmerte sich um die Post.

Er zögerte, sah hinauf zum Abendhimmel. Ein schmales, dunkel werdendes Rechteck. Keine Wolke, morgen würde er die Hecke gießen müssen. Und den Rasen, den durfte er nicht vergessen. Er dachte an den Briefkasten vorn an der Straße, daran, dass er ihn seit einer Woche nicht geleert hatte, dass wahrscheinlich weitere dieser dünnen, amtlich aussehenden Briefe darin lagen.

Es wurde kühl. Er musste hineingehen, um sich eine Strickjacke zu holen. Vielleicht auch den blauen Westover, er hing an der Garderobe neben Donatas Regenmantel. Vorher, fiel ihm ein, würde er nach oben gehen, in ihr Zimmer. Im Kleiderschrank nachsehen, ob ihr Koffer da war. Wenn Donata verreist war, hatte sie ihn sicherlich mitgenommen.

Er bückte sich, hob das Glas auf. Warf einen letzten Blick in den Garten. Stutzte. Zunächst hielt er das, was hinten vor dem Schuppen auf dem Weg lag, für ein Seil. Zögernd ging er darauf zu, seine Schritte knirschten auf dem rosafarbenen Kies. Am Rande registrierte er, dass die Kinder nebenan nicht mehr weinten, er hatte nicht mitbekommen, wann sie aufgehört hatten.

Nein, das war kein Seil. Im Näherkommen dachte er an eine Schlange. Eine große, grün schimmernde Schlange, dick wie der Unterarm eines Kindes.

Zettl hockte sich hin. Stellte das Glas neben sich ab, Wasser schwappte über und versickerte im Gras. Er achtete nicht darauf, sein Blick war starr nach unten gerichtet.

Auf die spitzen Zähne, die schuppige Haut. Die Flossen. Und auf die Augen, kreisrund, schwarz, von einem milchigen Schimmer überzogen.

Gregor Zettl verzog das Gesicht.

Ein traniger, schlammiger Geruch stieg ihm in die Nase.

In seinem Garten krümmte sich ein toter Aal.

*

Es war fast dunkel, als Claudius Zorn an diesem Abend den Fahrstuhl im vierzehnten Stock verließ, den vertrauten Geruch nach klammer Unterwäsche und Bohnerwachs in der Nase, das Quietschen seiner Sohlen auf dem rissigen Linoleum im Ohr. Als er eine Viertelstunde später mit einem Glas Martini in der Hand am Wohnzimmerfenster stand und beobachtete, wie die Sonne hinter der Neustadt im Dunst versank, dachte er weder an künstliche Hüftgelenke noch an Fische, die plötzlich vom Himmel regneten. Auch nicht an Schröder, der noch immer im Büro saß, Pfefferminztee trank und medizinische Berichte über Gelenkoperationen studierte.

Claudius Zorn dachte an nichts. Nicht an die Zukunft, nicht an die Vergangenheit. Er nippte ab und zu an seinem Glas, zählte die Flugzeuge, deren Kondensstreifen im schwindenden Licht aufleuchteten, lauschte dem leisen Klirren der Eiswürfel und genoss die Ruhe. Die Leere in seinem Kopf, die langsam aufsteigende Wärme, ein weiches, angenehmes Pulsieren.

Nichts fehlte. Keine Wünsche, kein Verlangen.

Es hatte lange gedauert. Wochen, Monate. Natürlich, sie war immer noch da, versteckte sich irgendwo in seinem Kopf, vielleicht auch in seinem Herzen, er wusste es nicht. Zunächst hatte er sie mit Gewalt verdrängen wollen, wütend, mit zusammengebissenen Zähnen hatte er gegen sie gekämpft, es hatte nicht funktioniert. Nach einer Weile war sie schwächer geworden, allmählich verblasst, zumindest tagsüber aus seinen Gedanken verschwunden, dann, wenn er mit Schröder zusammen war, die Gespräche, die Arbeit hatten ihn abgelenkt. Die Abende waren schlimm gewesen, die Nächte noch schlimmer, Zorn hatte die Minuten gezählt, die Stunden, die Tage, hatte gerechnet, immer wieder, neun Monate, dann wurde ein Mensch geboren, im September musste es so weit sein.

Ununterbrochen hatte er daran gedacht. Eine Endlosschleife, ein Film, der immer und immer wieder abgelaufen war. Bis ihm bewusst wurde, dass ihn das alles auffraß. Dass es sinnlos war, etwas daran ändern zu wollen, er hatte es oft genug versucht. Seine einzige Chance war, alles zu vergessen.

Dass sie nicht mehr da waren, verschwunden aus seinem Leben.

Malina. Und sein Kind.

Zorn war sicher gewesen, dass er einen Sohn bekäme. Jetzt war er weg. Gegangen, bevor Zorn ihn überhaupt kennenlernen würde.

Die Sonne war untergegangen. Zorn öffnete das Fenster, schnippte die Zigarette hinaus. Er rauchte wieder in der Wohnung, es gab niemanden mehr, den er vor dem Qualm schützen musste. Langsam segelte die Zigarette nach unten, Funken stoben, zerbarsten an der rissigen Betonfassade.

Zorn sah nach unten. Noch immer dachte er nicht an Malina. Auch nicht an sein Kind. Stattdessen überlegte er, wie lange es wohl dauern würde, bis er auf dem schmutzigen Plattenweg neben dem Parkplatz aufschlagen würde. Was ihm wohl durch den Kopf gehen würde, in diesen letzten Sekunden, bevor sein Schädel in tausend Stücke barst. Wenn er jetzt einfach sprang.

Schwachsinn, murmelte Zorn.

Gähnte. Trank einen weiteren Schluck und hatte sofort wieder vergessen, was ihm soeben durch den Kopf geschossen war.

Als er später ins Schlafzimmer ging, spürte er einen leichten, nicht unangenehmen Schwindel, seufzend sank er aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen.

Kurz darauf schlief er tief und fest.

Keine Träume.

Gut so.

Drei

Gregor Zettl ging ungern aus dem Haus. Er fühlte sich unwohl in Gesellschaft anderer Menschen, bedrängt, eingeengt von der Masse. Es ging ihm besser, wenn er allein war, unbeobachtet, abgeschirmt vor den Blicken der Außenwelt.

Kein Wunder also, dass er den Einkauf so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Zwei weitere Tage waren vergangen, am Morgen hatte er nach einem Blick in den Kühlschrank festgestellt, dass fast nichts mehr im Haus war.

Es war kurz vor Mittag. Als die Glastüren vor dem Einkaufswagen beiseiteglitten, registrierte Zettl erleichtert, dass der Supermarkt am Rande des Stadtwaldes so gut wie leer war. Zügig steuerte er auf das Regal mit den Fertiggerichten zu und verstaute je eine Dose Ravioli, Hühnersuppe und Bohneneintopf im Wagen. Überlegte einen Moment, griff zu und stellte wahllos ein paar weitere Büchsen dazu. Er ging zu den Mikrowellengerichten, nach kurzem Zögern entschied er sich für eine Doppelpackung Putengeschnetzeltes (Deftig wie bei Muttern!) und zwei Tüten Milchreis. Einfache, schnell zubereitete Dinge, wahrscheinlich würde alles gleich schmecken, aber es machte satt, dachte Gregor Zettl, schob den Wagen weiter zum Süßwarenregal und studierte stirnrunzelnd die aneinandergereihten Schokoladentafeln. Vier Großpackungen landeten im Wagen, er mochte Schokolade, ebenso wie Kaffee, aber davon, erinnerte er sich, stand noch eine volle Packung im Schrank neben der Spüle.

Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Die Klimaanlage musste riesig sein, es war mindestens zehn Grad kälter als draußen in der Sonne. Die trockene künstliche Luft kribbelte unangenehm in der Nase, Zettl überlegte, ob er nach hinten zu den Getränken gehen sollte, entschied sich dann dagegen. Was das betraf, war er genügsam, Leitungswasser und Kaffee reichten aus.

Die Kassiererin, ein mageres, höchstens achtzehnjähriges Ding mit blonden, an den Spitzen schwarz gefärbten Haaren, begrüßte ihn mit einem Lächeln. Zettl lächelte zurück, räumte die Einkäufe auf das Laufband und versuchte, den blechern aus den Lautsprechern dringenden Schlager zu ignorieren, ebenso das ohrenbetäubende Piepsen, mit dem die Barcodes eingescannt wurden. Die Frage, ob er Bargeld abheben wolle, verneinte er höflich, reichte seine EC-Karte hinüber und begann, die Büchsen in einer Plastiktüte zu verstauen.

»Huch!«, sagte die Kassiererin.

Zettl hielt inne, eine Dose Königsberger Klopse in der Hand.

»Ich glaube«, lächelte sie, »wir haben ein kleines Problem.«

Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, trat einen Schritt näher. Die Kassiererin deutete auf das Lesegerät.

Karte nicht lesbar.

»Komisch«, murmelte Gregor Zettl.

»Das kann natürlich am Gerät liegen.« Sie lächelte noch immer, professionell, offensichtlich tat sie den ganzen Tag nichts anderes. »Soll ich noch einmal …«

»Nein, nein«, unterbrach er.

Das war ihm peinlich, sehr sogar. Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf seiner Glatze. Zum Glück war niemand weiter in der Nähe, er klopfte seine Hosentaschen nach Bargeld ab, förderte schließlich einen zerknüllten Zwanzigeuroschein zutage.

»Das passiert ständig«, sie verstaute den Schein in der Kasse und reichte ihm das Wechselgeld. »Die Dinger sind total unzuverlässig.«

Gregor Zettl nickte. Seine Finger zitterten kaum merklich, als er die EC-Karte wieder in seiner abgewetzten Brieftasche verstaute.

»Das glaub ich«, sagte er.

Aber das tat er nicht. Jedenfalls nicht ganz.

Irgendetwas sagte ihm, dass das nicht stimmte.

*

Die Ampel sprang auf grün. Ruckelnd fuhr der graue Polo an, das Getriebe protestierte mit einem Krachen, als Zettl in den zweiten Gang schaltete und in die Schotterstraße zur Waldstraßensiedlung einbog. Nein, Gregor Zettl war kein guter Fahrer, trotzdem nutzte er das Auto, auch für kurze Strecken. Das Laufen lag ihm nicht, er fühlte sich ungeschützt, wenn er zu Fuß unter freiem Himmel unterwegs war.

Steif saß er hinter dem Steuer, den Kopf nach vorn gereckt, das Lenkrad fest umklammert. Schotter klapperte gegen die Radkästen. Er fuhr langsam, die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen näherte er sich dem gelben Haus, blinkte und parkte schließlich in der Einfahrt. Zettl stieß einen erleichterten Seufzer aus und schloss kurz die Augen. Dann gab er sich einen Ruck, stemmte sich schwerfällig aus dem Sitz, öffnete den Kofferraum und griff nach der Tüte mit den Einkäufen.

Die Gestalt, die sich neben dem Haus aus dem Schatten löste, bemerkte er zunächst nicht. Langsam kam der Mann herbeigeschlendert, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und trat die Kippe im Schotter aus. Das Knirschen der Kiesel ließ Zettl aufhorchen.

»Schön, dass ich Sie endlich mal erreiche«, sagte der Dunkelhaarige, stieß den Rauch durch die Nase aus und streckte dem verdutzten Zettl einen Ausweis entgegen. »Mein Name ist Zorn. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«

*

»Entschuldigen Sie die Unordnung, Herr Kommissar.«

Zorn saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und beobachtete, wie Zettl hinter einer Durchreiche in der winzigen Küche nebenan seine Einkäufe verstaute. Von Unordnung war für Zorns Geschmack nicht viel zu entdecken, eigentlich gar nichts. Alles in diesem Haus schien seinen Platz zu haben, war penibel, fast militärisch angeordnet in Reih und Glied. Die weißen Porzellanblumentöpfe auf dem Fensterbrett zum Garten, die bunten Sammeltassen hinter den Glastüren der dunklen Schrankwand, die Kristallfiguren, die in goldenen Gips gerahmten Kunstdrucke an den Wänden. Die Fernsehzeitung auf dem Couchtisch war exakt parallel zur Tischkante ausgerichtet, neben Zorn lag eine akkurat gefaltete gelbe Tagesdecke.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee?«

»Nein, danke.«

Zorn nahm die Zeitung, blätterte darin, ohne etwas zu lesen. In der Küche schloss sich eine Schranktür, Wasser wurde kurz aufgedreht, dann erschien Zettl in der Tür. Einen Moment stand er unschlüssig da, wischte die Handflächen an der Anzughose ab, sah sich um. Trat einen Schritt auf die Couch zu, ging wieder zurück, schaltete das Licht ein. Runzelte die Stirn, als die geschwungene Messinglampe über dem Couchtisch dunkel blieb.

»Stromausfall.«

Er hob entschuldigend die Hände.

Zorn zuckte die Achseln. Die Mittagssonne schien durch das Fenster, das Zimmer war klein, beengt, aber hell. Hell genug, fand Zorn.

»Wollen Sie vielleicht ein Wasser?«, fragte Zettl. Noch immer stand er in der Tür, sein Lächeln wirkte nervös, unsicher.

»Nein, danke«, wiederholte Zorn. »Setzten Sie sich, bitte.«

Zettl kam näher. Die Hose saß tief über der Taille, der blaue Westover spannte über dem unübersehbaren Bauch. Sein Kopf wirkte etwas zu groß auf den schmalen Schultern, der Haaransatz war weit zurückgegangen. Mit der flachen Hand strich er über das Polster eines braunen Ledersessels, dann nahm er Platz, auf der vorderen Kante der Sitzfläche, die Hände zwischen den Knien gefaltet.

Zorn ließ sich Zeit mit der ersten Frage. Er wusste, dass Zettl Anfang fünfzig war, doch der Mann im Sessel gegenüber sah älter aus. Graue Bartstoppeln wuchsen auf dem Doppelkinn, die Haut am Hals hing schlaff über dem Hemdkragen. Die Stille schien Zettl unangenehm, sein Blick wanderte durchs Zimmer, ruhelos irrten seine Finger über die Sessellehne, zupften eine unsichtbare Fussel vom Hosenbein.

»Verrückt, was in letzter Zeit alles geschieht«, sagte er schließlich. Seine Stimme, samtweich und hell, hätte durchaus zu einer Frau gepasst. »Das mit den Fischen«, fügte er hinzu, als Zorn noch immer schwieg. »In der Zeitung stand, dass vielleicht ein Flugzeug die Fische verloren hat, aber das halte ich für Blödsinn. Da stand auch, dass es nur in einem engen Umkreis um den Hasenberg passiert ist. Aber wissen Sie, was ich vor zwei Tagen draußen gefunden habe?«

Er redet, weil er die Stille nicht erträgt, dachte Zorn.

Zettl deutete aus dem Fenster. Senkte die Stimme.

»Einen Aal. Einen zwei Kilo schweren Aal, Herr Kommissar.«

Früher musste er ein attraktiver Mann gewesen sein, die Augen, von einem stechenden, intensiven Grün, lugten hinter langen Wimpern hervor, sie wirkten wie Fremdkörper in dem aufgedunsenen Gesicht. Zettls Lippen waren noch immer voll, doch die Falten um die hängenden Mundwinkel, die rötlichen Flecken auf den Wangen und die kleinen, geplatzten Äderchen um die Nase zeigten an, dass das lange her war, sehr, sehr lange sogar.

»Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Fische zu reden, Herr Zettl.«

Zettl lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander. Hob die Hand und betrachtete seine Fingernägel, dann kratzte er sich am Kopf.

»Sondern über Ihre Frau«, fügte Zorn hinzu.

»Donata?«

»Wir suchen nach ihr. Seit zwei Tagen mittlerweile, und auch Sie haben wir nicht erreichen können, Herr Zettl.«

»Ich … ich war viel unterwegs.«

Er lügt, dachte Zorn. Warum?

»Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?«, fragte er.

»Vor elf Tagen.«

Die Antwort kam schnell.

»Und Sie machen sich keine Sorgen?«

»Natürlich.« Zettl beugte sich vor, griff nach der Zeitung, schob sie auf dem Tisch hin und her. »Andererseits ist Donata viel unterwegs, es kommt oft vor, dass sie ein paar Tage verreist.«

»Ohne Ihnen Bescheid zu geben?«

»Nein.« Die Zeitung lag wieder parallel zur Tischkante. »Bisher wusste ich immer, wohin sie wollte.«

»Was genau tut Ihre Frau, Herr Zettl?«

»Beruflich?«

Zorn nickte.

»Ich kenne mich nicht genau mit ihren Geschäften aus.« Zettl überlegte, sah aus dem Fenster, als würde er im Garten eine Antwort finden. »Es geht um Versicherungen, Aktien, Import, Export, all sowas. Sie hat Kontakte in ganz Europa, deshalb ist sie viel unterwegs.«

»Hat sie sich zwischendurch gemeldet? Telefonisch? Per Mail?«

Zettl schüttelte den Kopf.

»Sie haben also keine Ahnung, wo sie sein könnte?«

Ein weiteres Kopfschütteln. Plötzlich setzte ein Dröhnen ein, das ganze Haus bebte. Der Boden vibrierte unter ihren Füßen, Porzellan klirrte. Nach ein paar Sekunden war es wieder vorbei.

»Die Nachbarn«, erklärte Zettl, es klang, als wolle er sich entschuldigen. »Sie sind letzte Woche erst eingezogen, wahrscheinlich hängen sie Bilder auf.«

»Dann ist sie wahrscheinlich kaputt.«

»Wer?«

Zettl verstand nicht.

»Die Lampe.« Zorn deutete an die Decke. »Wenn die Nachbarn bohren können, kann’s kein Stromausfall sein.«

*

»Das stimmt«, erwiderte Gregor Zettl. »Ich werde nach den Sicherungen sehen.«

Unbehaglich rutschte er in seinem Sessel hin und her, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Die Luft erschien ihm stickig, der Geruch des Mannes auf der Couch gefiel ihm nicht. Tabak, Leder und etwas anderes, Süßliches. Pfefferminze vielleicht. Dieser Polizist machte keinen Hehl daraus, dass er ungern hier war, die Lustlosigkeit, mit der er auf dem Sofa hing, die langen Beine übereinandergeschlagen, wirkte fast arrogant. Gleichzeitig verströmte er eine Aura, die Zettl beengte, unter Druck setzte. Obwohl die Fragen gleichgültig klangen, hatte er das Gefühl, sich rechtfertigen, regelrecht verteidigen zu müssen.

»Sind Sie sicher, dass Ihre Frau verreist ist?«, fragte der Kommissar.

»Ihr Koffer ist weg, ihre Waschtasche auch. Und ihren Mantel hat sie mitgenommen.«

Der Polizist dachte nach. Er nahm seine Brille ab, legte sie auf den Couchtisch, das Haar fiel ihm in die Stirn. Es war zu lang, fand Zettl. Und musste dringend gewaschen werden.

Der Mann sollte gehen. So schnell wie möglich. Noch immer wusste Zettl nicht, warum er hier war. Doch er wagte nicht, danach zu fragen. Er hatte Angst vor der Antwort.

»Denken Sie, ich sollte eine Vermisstenanzeige aufgeben?«

»Das können Sie, aber es wird nicht nötig sein. Wir fahnden seit heute nach Ihrer Frau.«

»Warum?«

Zettl knetete die Hände im Schoß. Die Antwort, jetzt würde sie kommen.

»Ihre Frau wurde an der Hüfte operiert?«

»Ich …«, Zettl blinzelte verwirrt, »ich verstehe nicht …«

»Wir haben ein künstliches Hüftgelenk gefunden. In einem Papierkorb in der Nähe des Hasenbergs. Laut Seriennummer wurde es Ihrer Frau implantiert. Es liegt nahe, dass sich das Gelenk noch bis vor kurzem in einem menschlichen Körper befunden hat, was wiederum bedeutet, dass es entfernt wurde. Und wir fragen uns, wie, wann und warum das passiert ist.«

Zettl stand auf, öffnete die Glastür zum Garten. Hielt das Gesicht in die Sonne und atmete tief ein. Plötzlich hatte er Durst, fürchterlichen Durst.

»Verstehen Sie, was ich meine, Herr Zettl?«

Zettl ging zurück zum Sessel. Seine Finger fanden die Lehne, verkrallten sich in dem kühlen Leder.

»Das muss ein Irrtum sein.«

»Natürlich, das ist möglich.« Der Kommissar stand auf. »Wir müssen Ihre Aussage aufnehmen. Es wäre nett, wenn Sie nachher ins Präsidium kommen könnten.« Er schob den Ärmel seiner Lederjacke hoch, sah auf die Uhr. »Nein«, korrigierte er sich, »morgen früh reicht aus.«

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Zettl.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich gehe selten aus dem Haus. Wenn, dann nur ungern.«

»Ihre Frau ist verschwunden, Herr Zettl. Die Umstände sind mehr als rätselhaft. Ich gehe davon aus, dass Sie daran interessiert sind, dass wir sie finden.«

Bisher hatte der Eindringling gelangweilt geklungen, mürrisch, als wolle er das alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Gregor Zettl hatte ein feines Gehör, er erkannte den scharfen Unterton, der unter den letzten Worten gelegen hatte.

»Natürlich.« Zettls Lächeln wirkte gequält. »Ich werde kommen.«

»Sehr freundlich.«

Der Polizist lächelte, doch seine Augen blieben ernst, unbewegt. Zettl hatte seinen Namen vergessen. Ein komischer Name, erinnerte er sich. Ein Gefühlszustand. Eine Silbe nur. Grimm? Nein, aber so ähnlich.

»Ich brauche ein Foto Ihrer Frau.«

Groll?

»Und etwas, damit wir die Fingerabdrücke vergleichen können.«

Wut?

»Eine Tasse oder ein Glas, das sie benutzt hat.«

Zettl nickte stumm.

Hass?

»Ich gebe Ihnen meine Durchwahl.«

Der Polizist wühlte in der Jackentasche, kramte ein Einwegfeuerzeug, einen Kronkorken und zwei zerknitterte Quittungen hervor. Er fischte eine fleckige Visitenkarte heraus, wischte ein paar Tabakkrümel ab und reichte sie Zettl.

Hauptkommissar Zorn, las Gregor Zettl.

Zorn, genau.

Der Name passte. Besser als jeder andere.

*

»Der Typ ist komisch.«

Schröder sah auf.

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß auch nicht.« Zorn fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, mit der anderen Hand wischte er etwas Puderzucker vom Tisch. »Komisch eben.«

Auf dem Rückweg ins Büro hatte er beim Bäcker gehalten und Kuchen gekauft. Schröder hatte abgelehnt.

»Glaubst du, er hat was mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun?«

»Ich weiß nicht«, wiederholte Zorn und deutete fragend auf den Pappteller mit der Streuselschnecke neben seinem Monitor. Wieder schüttelte Schröder den Kopf.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte Zorn.

»Sicher«, nickte Schröder. »Aber ich hab …«

Er sah auf. Sein kurzer, beiläufiger Blick sagte, dass Zorn eigentlich wissen müsse, was er meinte, doch dieser runzelte ratlos die Stirn.

»… Diabetes.«

Scheiße, das wusste Zorn seit einer ganzen Weile. Wieder etwas, das er einfach so vergessen hatte. Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl nach vorn, wischte ein paar weitere Krümel vom Tisch, während Schröder mit flinken Fingern seine Tastatur bearbeitete.

Zorn musterte ihn kauend. Eigentlich erschien ihm der kleine Mann völlig unverändert, das Haar, dünn wie eh und je, lag quer über der Glatze, unter den rötlichen Strähnen glänzte die Kopfhaut. Das runde Kindergesicht war glatt, nichts deutete darauf hin, dass Schröder die Vierzig überschritten hatte. Vielleicht die winzigen Falten um die Augen, doch das strahlende Blau, das Schröders Blick etwas kindlich Naives verlieh und andere dazu verlockte, den kleinen Mann zu unterschätzen, leuchtete wie immer.

»Hast du abgenommen?«, fragte Zorn schließlich.

»Anderthalb Kilo.«

»Machst du ’ne Diät?«

»Ich ernähre mich bewusst.«

Ein weiterer kurzer Blick zu Zorn.

Könnte dir ebenfalls nicht schaden, hieß das.

Kein gutes Thema, fand Zorn.

Noch etwas anderes lag in diesem Blick, etwas Prüfendes, Nachdenkliches. Als ob Schröder ihn taxierte. Sicher war Zorn nicht, wie immer, aber angenehm war es nicht. Im Gegenteil, er fühlte sich beobachtet. Kontrolliert. Irgendetwas in der Art, erklären konnte Zorn es nicht.

»Dieser Zettl«, sagte er, um die aufkommende Stille zu überbrücken, »es ist, als wäre der gar nicht richtig da. Ich glaube, der sitzt den ganzen Tag in seinem Reihenhaus und zählt die Muster auf der Raufasertapete. Gibt’s noch Kaffee?«

»Nee. Ich hab Kamillentee gemacht.«

Zorn grunzte abfällig und biss in seine Streuselschnecke. Schröder tippte auf die Enter-Taste, lehnte sich zurück und verschränkte die kurzen Arme vor dem Bauch.

»Was meinst du damit?«

»Womit?«

»Du sagst, Zettl wäre nicht richtig da?«

»Irgendwie«, Zorn kratzte sich an der Nase, »nur zur Hälfte.«

Der Drucker erwachte ratternd zum Leben.

»Und die andere Hälfte?«, fragte Schröder. »Wo ist die?«

»Keine Ahnung, in einer anderen Welt. Ich weiß nicht, wie ich’s ausdrücken soll, der Typ hat was Sphärisches, als wäre er«, Zorn zögerte, »durchsichtig. Der lebt in seiner eigenen Realität. Jeder, der darin auftaucht, macht ihm Angst. Es gab nur eins, das den interessiert hat: dass ich schnell wieder verschwinde.«

»Und er macht sich keine Sorgen um seine Frau?«

Zorn überlegte einen Moment.

»Doch, irgendwie schon. Als ich ihm die Sache mit dem Hüftgelenk erzählt habe, war er völlig durcheinander. Erklären konnte er mir’s jedenfalls nicht.«

»Wie auch?« Schröder seufzte. »Wir können’s ja selbst nicht.«

Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber.

»Und?«, fragte Zorn dann. »Was hast du so gemacht?«

»Recherchiert.«

»Aha.« Zorn zerknüllte den Pappteller und warf ihn in Richtung Papierkorb. Stieß ein enttäuschtes Grunzen aus, als der Teller knapp einen Meter entfernt unter dem Garderobenständer auf dem Teppich landete. »Und was hast du«, das letzte Wort betonte er unmerklich, »recherchiert?«

»Ich hab ein bisschen was über Gregor Zettl zusammengesucht.«

Schröder deutete auf den Drucker, der im Sekundentakt die Papierbögen ausspie. Der Stapel im Ausgabefach war bereits beachtlich angewachsen. Fünfzig, wenn nicht hundert Seiten, schätzte Zorn.

»Ein bisschen?«

»Ach, das ist erst der Anfang«, sagte Schröder. »Bei Google bekommt man fast eine halbe Million Treffer, wenn man seinen Namen eingibt.«

»Was für ’nen Namen, verdammt?«

Schröder öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs.

»Das«, sagte er und kramte ein dünnes, vergilbtes Heftchen hervor, »ist eine Bravo von 1983.«

Er hielt Zorn die Zeitung entgegen. Dieser schob die Brille aus der Stirn, kniff die Augen zusammen und betrachtete abwechselnd die Bravo und Schröders unbewegtes Gesicht.

»Ich habe die Dinger früher gesammelt«, erklärte Schröder.

»Toll«, sagte Zorn.

Sein Blick wanderte über das Titelblatt, den bonbonfarbenen Schriftzug, die bunten Porträts längst vergessener Stars und Sternchen.

Der Drucker ratterte unermüdlich weiter.

»Und?«, fragte Schröder schließlich.

»Ich weiß nicht. Ich hab das Mistblatt nie gelesen, aber ich denke schon, dass es seinen Preis wert ist. Unter Sammlern vielleicht.« Zorn legte den Kopf ein wenig schief. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Womit, Chef?«

»Mit dir.« Zorn tippte sich an die Stirn. »Gesundheitlich, meine ich.«

»Ich zeige dir diese Zeitschrift aus einem bestimmten Grund.«

»Natürlich tust du das, du machst nie was ohne Grund, Schröder.«

Wortlos schob Schröder das Heft über den Tisch. Zorn wollte die Zeitschrift aufschlagen, schlug sich plötzlich an die Stirn.

»Natürlich«, seufzte er, »Doktor Sommer! Herrjeh, warum bin ich nicht gleich drauf gekommen?«

Schröder verzog keine Miene.

»Es ist schön«, begann Zorn und faltete die Hände auf dem Tisch, »und ich freue mich ehrlich, dass du dich langsam mit deiner Sexualität auseinandersetzt, du bist jetzt wirklich alt genug, Schröder.« Zorn senkte salbungsvoll die Stimme. »Jetzt, mein Lieber, beginnt eine Zeit des Suchens, der Unsicherheit. Du entdeckst deinen Körper, verstehst oft nicht, was mit dir geschieht. Die Hormone machen sich selbständig, die Östrogene verändern dich und …«

»Testosteron.«

»Ja, das auch. Aber du kannst dich auch anders informieren, da brauchst du diesen antiken Kram nicht.« Zorn deutete auf das Heft. »Das, was in diesen alten Doktor-Sommer-Kolumnen steht, findest du überall im Netz. Du musst keine Angst haben, dass dein Penis zu klein ist, Schröder, wirklich nicht. Und es ist völlig normal, dass man sich manchmal zu Männern hingezogen fühlt. Onanieren ist etwas Natürliches, man muss sich danach wirklich …«

»Das Titelblatt.«

»… nicht schuldig fühlen. Aber es wird Zeit, dass du dir einen Partner suchst, jemanden, mit dem du deine Sexualität ausleben kannst, ohne Scheu …

»Ich sagte, du …«

»… ohne Tabus …«

»… sollst dir …«

»… jaja, das Titelblatt angucken!« Zorn hob die Stimme. »Das hab ich doch!«

Schröder hatte geduldig zugehört, ein leichtes, amüsiertes Blitzen in den Augen. Jetzt bekam sein Blick etwas Mitleidiges.

»Sieh’s dir genau an.«

Das tat Zorn. Sein Blick wanderte über die kreischbunten Fotos, die glatten, unschuldig wirkenden Gesichter. Nena. John Travolta. Michael Jackson.

»Das große Foto in der Mitte«, sagte Schröder. »Die Titelstory. Du kennst den Mann.«

»Natürlich kenn ich den«, blaffte Zorn. »Das ist …«

Er stutzte. Räusperte sich.

»Das kann nicht sein.«

Betrachtete das glatte, bartlose Gesicht, die toupierten Haare, die hohen Wangenknochen, die vollen, geschminkten Lippen des jungen Mannes. Und die Augen, sie waren mit Kajal umrandet. Groß, verträumt, ein wenig widerwillig sahen sie in die Kamera. Darunter in fetten, pinkfarbenen Buchstaben:

GREG ZETT – NEUE GERÜCHTE UM DEUTSCHLANDS HEISSESTEN STAR! MIT SUPERPOSTER FÜR DIE WAND!

»Scheiße.«

Der Drucker verstummte.

Zorn rieb sich verwirrt die Augen, das Foto verschwamm, wurde wieder scharf.

»Es ist lieb«, lächelte Schröder, »dass du dir Sorgen um meine Sexualität machst. Aber ich denke, es gibt im Moment wichtigere Themen.«

Zorn stierte Schröder an, als habe er ein Gespenst gesehen.

»Scheiße«, wiederholte er.

Mehr fiel ihm im Moment nicht ein.

*

Gregor Zettl stand im Wohnzimmer. Seine Hände strichen über die Lehne des Sessels, das kühle Leder beruhigte ihn, wirkte irgendwie tröstlich. Die Tür zum Garten stand weit offen, doch der Geruch, den der Polizist hinterlassen hatte, hing noch immer in der Luft. Kalter Tabak, Leder und dieses süßliche, künstliche Aroma, Mundwasser, vielleicht auch Zahnpasta oder Kaugummi.

Es war kühl im Zimmer. Draußen schien die Sonne, die hohen Hecken warfen scharfe, eckige Schatten in den Garten. Zettl überlegte, ob er nach oben gehen sollte, hinauf ins Schlafzimmer. Er war müde, der Rücken tat ihm weh. Auf das Sofa wollte er sich nicht legen, da hatte der Polizist gesessen, die Polster waren womöglich noch warm, eine unangenehme Vorstellung. Der Sessel war zu unbequem zum Schlafen, abgesehen davon war es Donatas Platz, hier saß sie immer, die Beine auf dem Couchtisch, las Zeitung, löste Kreuzworträtsel oder sah ihre Kochshows im Fernsehen.

Zettl atmete seufzend ein. Legte den Kopf schief, als lausche er in sich hinein.

Schlafzimmer? Sofa? Sessel?

Im Halbdunkel zeichnete sich seine gedrungene, füllige Gestalt vor dem hellen Fenster ab wie ein verstaubter Scherenschnitt.

Zwei Stunden lang rührte er sich nicht von der Stelle.

*

»Hast du ’ne Ahnung, wer dieser Typ ist?«

Allmählich fand Zorn die Sprache wieder. Es hatte eine Weile gedauert, er redete leise, Ehrfurcht lag in seiner Stimme.

»Natürlich, steht bei Wikipedia. Greg Zett«, rezitierte Schröder aus der Erinnerung, »ist ein Musiker, der in den 1980er Jahren kurzzeitig zu einem der bekanntesten deutschen Popstars avancierte und später den Beinamen ›Komet‹ erhielt, da er ebenso plötzlich, wie er in der Öffentlichkeit erschien, wieder verschwand. Über die Gründe für das unerwartete Ende seiner Karriere wurde nach seinem Abtauchen viel spekuliert, es war von Drogen, Alkoholmissbrauch und Depressionen die Rede. Sein größter und einziger kommerzieller Erfolg war …«

»Der Mann war ’ne Institution«, unterbrach Zorn ihn heftig. »Eine Ikone, niemand konnte dem das Wasser reichen!«

»Mag sein.« Schröder zuckte die Achseln. »Das ist über dreißig Jahre her.«

Zorn betrachtete das Cover. Rief sich das Bild des aufgeschwemmten älteren Herren in Erinnerung, bei dem er gerade noch auf dem Sofa gesessen hatte. Suchte Ähnlichkeiten mit dem dünnen, androgynen Jungen auf dem Foto. Nein, bis auf die Augen war da nichts und auch das, da war Zorn sicher, erkannte man nur, wenn man es wusste.

»Vor dreißig Jahren hätte ich meinen rechten Arm geopfert, wenn der mir ein Autogramm gegeben hätte«, murmelte er kopfschüttelnd.

»Verständlich, du warst noch ein Teenager«, lächelte Schröder. »Die Hormone haben verrückt gespielt, du wusstest nicht, wohin mit dir, die aufkommenden Triebe, die Suche nach einem Partner …«

»Partnerin!«

»… all das hat dich verwirrt, die fleischliche Lust, nie gekannte Gefühle …«

»Könnten wir«, unterbrach Zorn gedehnt, »vielleicht ein bisschen ernsthafter arbeiten? Tu mir einen Gefallen und hör mit diesen pubertären Kindereien auf, ja? Wir haben einen Fall zu lösen!«

»Natürlich.« Schröder senkte schuldbewusst den Blick. »Chef.«

Zorn strich sich mit gespreizten Fingern durchs Haar, kratzte sich am Hinterkopf und dachte nach. Das dauerte ein paar Sekunden, zu einem Ergebnis allerdings kam er nicht.

»Was sucht der in diesem Kaff?«, fragte er dann.

»Zettl?«

»Seit wann lebt der hier?«

»Seit über zehn Jahren.«

»Steht das auch bei Wikipedia?«

»Nee.« Schröder rollte seinen Stuhl zum Drucker, griff den Papierstapel und warf ihn auf den Tisch. Klatschend landete der Stapel neben Zorns Tastatur, die Bravo flatterte zu Boden. »Steht alles da drin. Als Zettl hergezogen ist, gab es sogar einen kleinen Wirbel in der Lokalpresse, obwohl damals schon kaum noch jemand von ihm gesprochen hat. Zettl hatte sich Ende der Achtziger aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, keine Interviews mehr gegeben. Mit einem Schlag, von einem Tag auf den anderen.«

»Warum«, Zorn schüttelte ratlos den Kopf, »landet der ausgerechnet hier? In diesem …«

»Kaff?«

»Nenn’s wie du willst.«

»Die Eltern seiner Frau stammen von hier.«

Das erklärte einiges, fand Zorn.

»Sie war früher Zettls Managerin«, sagte Schröder.

»Und jetzt ist sie verschwunden.«

»Ja«, nickte Schröder. »Jetzt ist sie verschwunden.«

Zorn sank resigniert in seinen Sessel zurück.

»Womit wir wieder bei unserem Fall wären.«

*

Am Abend begann es zu regnen. Ein leichtes, warmes Nieseln nur, nach einer halben Stunde war es wieder vorbei. Als dann die Sonne untergegangen war, hatte sich ein lauer, würziger Duft über der Stadt ausgebreitet, es roch nach frisch gemähtem Gras und feuchtem Beton, eine erste Ahnung des kommenden Hochsommers.

Gregor Zettl bemerkte davon nichts. Er saß an einem winzigen Tisch in der Küche und rührte in einem Teller mit Nudelsuppe. Auf einer Serviette lag ein Stück Knäckebrot, daneben stand ein Glas Leitungswasser. Es war dunkel, nur eine Kerze in der Durchreiche zum Wohnzimmer flackerte.

Zettl beugte sich über die Suppe, kostete mit einem leisen Schlürfen. Er verzog das Gesicht, klirrend fiel der Löffel auf den Tellerrand.

Automatisch analysierte er den Ton, ein tiefes A. Das tat er schon seit seiner Kindheit. Egal, welches Geräusch er hörte, sein Hirn wertete die Schwingungen aus, suchte harmonische Verbindungen, musikalische Intervalle, er konnte sich nicht dagegen wehren. Das Brummen eines Netzteils, das Rufzeichen eines Telefons, eine zuschlagende Tür, das Hupen eines Autos, dies alles waren keine bloßen Klänge, sondern Elemente einer Melodie mit einer klar definierten Höhe, selbst das dissonante Kreischen einer Kreissäge ordnete er der Tonleiter zu. Mehr noch, das Rattern eines Druckers, das Blubbern einer Kaffeemaschine formte sich zu einem Rhythmus, der noch lange, nachdem er verstummt war, in seinem Kopf nachhallte.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. So saß er eine Weile da, den Rücken durchgestreckt, die Hände im Schoß gefaltet. Sein Schatten, grotesk verzerrt, tanzte über die Raufasertapete, das Kerzenlicht spiegelte sich im polierten Plastik der Einbauküche.

Schließlich öffnete Zettl die Augen, beugte sich über den Teller, schnupperte. Nichts. Die Suppe schien völlig geruchlos. Geronnenes Fett schwamm in der trüben Brühe, die Nudeln erinnerten an gekrümmte Maden, die rosafarbenen Möhrenwürfel an Erbrochenes.

Kein Wunder, die Suppe war kalt. Es gab keine Möglichkeit, sie aufzuwärmen. Nicht etwa, weil der Herd kaputt gewesen wäre, nein, die Induktionsplatten funktionierten tadellos. Auch der Backofen war in Ordnung, jedenfalls, soweit Zettl das einschätzen konnte, er benutzte ihn nie. Das Kochen übernahm sonst Donata, Zettl war für den Abwasch verantwortlich. Der schmale Geschirrspüler unter der Spüle funktionierte allerdings ebenfalls nicht, ebenso wenig wie die Kaffeemaschine, das Licht und der Fernseher.

Es gab keinen Strom im Haus. An den Sicherungen lag es nicht, die hatte er sofort kontrolliert, als der Kommissar endlich das Haus verlassen hatte.

»Nicht gut«, murmelte Gregor Zettl. »Nicht gut.«

Er griff nach dem Knäckebrot, biss ein Stück ab. Das Knacken des Brotes wirkte in der stillen Küche unpassend wie ein Pistolenschuss. Zettl kaute langsam und sorgfältig, es war, als wäre sein Mund mit Staub gefüllt. Er trank einen Schluck Leitungswasser, wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Die verchromten Stuhlbeine schabten über die weißen Küchenfliesen, Zettl stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Er zögerte eine Sekunde, wusste nicht, wohin mit dem vollen Teller, stellte ihn schließlich auf die Arbeitsplatte neben der Kaffeemaschine. Langsam, mit bedachten, wohlüberlegten Bewegungen, tat er das Glas in die Spüle, den Löffel. Öffnete den Wasserhahn, das Wasser blieb kalt, natürlich.

Nicht gut.

Er schlurfte in den Flur, nahm seine Strickjacke von der Garderobe. Gelbliches Laternenlicht fiel durch das dicke, geriffelte Glas der Eingangstür. Zettl streifte die Jacke über, sein Blick fiel auf die Alarmanlage, einen weißen Plastikkasten neben den Lichtschaltern. Die Kontrolllampen waren aus, das Display dunkel. Das System musste ein kleines Vermögen gekostet haben, es gab Sensoren an den Fenstern, Bewegungsmelder im Garten und vor dem Haus, Lichtschranken in jedem Zimmer. Auch das hatte Donata veranlasst, natürlich. Sicherheit, hatte sie gesagt, sei unbezahlbar, und wenn sie sich schon ein solches Haus leisteten, konnten, nein, mussten sie sich ihren Schutz ebenfalls etwas kosten lassen.

Die Wohnzimmertür schabte über den dicken Teppich, automatisch langte Zettl nach dem Lichtschalter, eine sinnlose Bewegung, doch im Laufe eines über fünfzigjährigen Lebens ebenso zur unbewussten Gewohnheit geworden wie der regelmäßige Blick auf die Uhr oder das Zupfen an der Unterlippe, etwas, das Zettl immer tat, wenn er nachdachte.

Die Tür zum Garten stand offen. Zettl überlegte, ob er sie schließen sollte, ließ es dann bleiben. Kühle, feuchte Luft strömte aus dem Garten herein, das nasse Gras glitzerte im fahlen Mondlicht. Zettl zog die Strickjacke am Kragen zusammen, spürte, wie das Hemd darunter über dem Bauch spannte.

Er fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. Seine Finger suchten die Lehne des Sessels, strichen über das Leder.

Die Briefe. Er hatte sie noch immer nicht geöffnet. Eines der Einschreiben kam von den Stadtwerken, er ahnte jetzt, dass es eine Mahnung gewesen war. Eine letzte Mahnung, bevor der Strom abgestellt wurde. Ob das andere Einschreiben von der Bank kam, wusste Gregor Zettl nicht, doch er war fast sicher. Seine EC-Karte war nicht kaputt, bisher hatte sie immer funktioniert. Es lag am Konto. Sie hatten das Konto gesperrt.

Geld. Er hatte sich nie darum kümmern müssen. Wenn er etwas gebraucht hatte, war es da gewesen. Die anderen Dinge, Rechnungen, Kredite, Versicherungen, all dies hatte Donata erledigt, hatte ihn davor geschützt, so, wie sie ihn früher von der Öffentlichkeit abgeschirmt hatte.

Im Laufe der Jahre hatte er sich daran gewöhnt, keine Entscheidungen treffen zu müssen. Das war jetzt vorbei. Die anderen Briefe, wahrscheinlich waren es Zahlungsaufforderungen, weitere Mahnungen, Rechnungen.

Nicht gut.

Gregor Zettl würde sie nicht öffnen, nicht nur, weil er zu feige war. Der Inhalt war klar, unnötig, es schwarz auf weiß zu lesen. Ändern konnte er es sowieso nicht.

Er ging vor der Schrankwand in die Hocke, das Hemd rutschte hinten aus der Hose. Die Schublade unter dem Fernseher klemmte ein wenig, er kramte eine zerkratzte Zigarrenkiste hervor, schüttete den Inhalt auf den Couchtisch. Dort hatte Donata immer etwas Bargeld aufbewahrt, doch im flackernden Schein der Kerze fand er nur ein paar Tankrechnungen, Rabattmarken und einen Gutschein für ein kostenloses Probetraining im Fitnessstudio am Domplatz.

Ächzend richtete er sich auf, sein linkes Knie antwortete mit einem empörten Knacken. In seiner Hosentasche waren noch zwölf Euro.

Nicht gut. Gar nicht gut.

Plötzlich wurde ihm schwindlig. Das kleine, spießige Wohnzimmer drehte sich vor seinen Augen, Zettls Beine wurden weich, sein rundes Gesicht wurde blass, kalkweiß, als würde die Farbe nach innen in seinen Kopf gesaugt. Das war in letzter Zeit öfter passiert, immer dann, wenn er sich schnell aufgerichtet hatte. Kein Wunder, hatte Donata gesagt, sein Blutdruck, der sei bestimmt zu niedrig, er müsse zum Arzt, schließlich, hatte sie hinzugefügt und ihn über den Rand ihrer Lesebrille gemustert, sei er keine vierzig mehr. Das war vor drei Wochen gewesen, Zettl erinnerte sich genau, Donata hatte in ihrem Sessel gesessen, die Beine auf dem Couchtisch, eine aufgeklappte Fernsehzeitschrift auf dem Schoß. Er hatte genickt, mit einem leisen, ergebenen Seufzen, so wie er es immer tat, und gewartet, dass sie einen Termin vereinbaren würde und …

Zettl stutzte.

Der Mond stand jetzt hoch am Himmel, ein heller Streifen fiel durch die Gartentür schräg ins Zimmer. Ohne es zu bemerken, war Zettl auf den Couchtisch gesunken, er saß auf der Kante und starrte auf den Teppich. Der Gutschein des Fitnessstudios war zu Boden geflattert, EIN MONAT EXKLUSIVES TRAINING INKLUSIVE GRATIS ERNÄHRUNGSBERATUNG! stand über dem Foto eines jungen, eingeölten Mannes im Liegestütz.

Das war es nicht, was Gregor Zettl den Schweiß auf die Stirn trieb. Sein Atem wurde flach, er beugte sich vor, starrte auf den Teppich zu seinen Füßen. Der Fleck war frisch, eindeutig, der Abdruck eines Schuhs, selbst das Profil war deutlich zu erkennen. Ein Männerschuh. Zettl schluckte, als er die anderen Abdrücke bemerkte, er zählte vier, in einer geraden Linie zur Gartentür. Feucht glänzender Schlamm, dazwischen kleine rosafarbene Kiesel, die Marmorsteine des Gartenwegs mussten sich im Profil verfangen haben.

Fußspuren.

Zettl stöhnte auf.

Es waren nicht seine eigenen.

Vier

Es war kurz vor acht, als ein schwarzer, ziemlich verdreckter Volvo mit quietschenden Bremsen auf dem Parkplatz vor dem Präsidium hielt. Die Sonne stand am wolkenlosen Himmel, es würde ein warmer, angenehmer Tag werden.

Nicht für Claudius Zorn, so schien es jedenfalls. Er blieb noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen und starrte mit leerem Blick durch die schmutzige Windschutzscheibe. Schließlich rappelte er sich mürrisch auf, stieg aus dem Wagen, streifte die Lederjacke ab und warf sie auf den Rücksitz. Ein paar Sekunden später brannte eine Zigarette in seinem Mundwinkel, er stieß die Fahrertür mit dem Fuß hinter sich zu, lehnte sich an den Kotflügel und rauchte, die Arme vor der Brust verschränkt. Reifen knirschten über den Asphalt, eine Zivilstreife parkte direkt neben dem Volvo. Zorn ignorierte die beiden Beamten, sein Blick war zu Boden gerichtet, als zähle er die Risse im Rinnstein. Der Widerwille, den Hauptkommissar Zorn an diesem Morgen ausstrahlte, war nie greifbarer gewesen, die Gleichgültigkeit umgab ihn wie ein Ballon, als stecke er in einer großen, ölig schimmernden Seifenblase.

»Gut geschlafen?«

Schröder erschien zwischen zwei Streifenwagen. Das karierte Hemd hing weit über der Cordhose, auf dem Kopf trug er eine grüne Baskenmütze, die er keck über das linke Ohr geschoben hatte. Normalerweise hätte Zorn sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen können, doch er nickte Schröder nur zu und zog schweigend an seiner Zigarette.

»Alles in Ordnung?«, fragte Schröder.

»Klar.«

Schröder nahm die Aktentasche von einer Hand in die andere.

»Sicher?«

»Logisch.«

Zorn schob mit den Stiefelspitzen einen Kieselstein zur Seite. Schröder musterte ihn schweigend.

»Dein T-Shirt«, sagte er schließlich.