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Noel muss Victor sehen. Sofort. Victor, seinen größten Rivalen im Fußballteam und bei den Frauen. Victor, den arroganten Eisklotz. Da ist eine Sache, die Noel nicht ungeklärt lassen darf, egal, was sich ihm in den Weg stellt. Leider ist das eine ganze Menge. Unterwegs zu seinem Konkurrenten scheint sich die halbe Welt gegen Noel zu verschwören ... aber ist Victor wirklich sein Konkurrent? Oder verbergen sie durch ihre Feindseligkeit Gefühle, die sich keiner von beiden eingestehen will?
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Impressum
Zu ihm
Text Copyright © 2016 Regina Mars
Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.
Regina Mars
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Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
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»Du musst mich nach Karlsruhe fahren«, sagte ich, noch bevor Sarah die Tür ganz geöffnet hatte.
Sie runzelte die Stirn. Hinter ihr leuchtete die rosafarbene Wand des Flurs. Alles in Sarahs Haus war rosa, pink oder weiß, vom Keller bis zum Dachboden. Ihre Mutter hatte das so entschieden und der Rest der Familie lebte damit, mehr schlecht als recht. Ihr Vater wirkte bemitleidenswert, wenn er auf dem pink-weiß gestreiften Sofa mit Glitzerkissen Sportschau sah.
»Was willst du denn in Karlsruhe?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen, weil die Morgensonne sie blendete.
»Victor ist in Karlsruhe.«
»Ja, und?«
»Ich muss mit ihm reden. Komm schon, Sarah. Die Fahrt dauert höchstens 'ne Stunde und ich habe kein Auto.«
Sarah seufzte und fuhr sich durch die seidenglatten, blondierten Haare. Ihre perlmuttfarbenen Fingernägel glitzerten. Im Gegensatz zu ihrem Vater passte Sarah perfekt in die pinke Hölle hinter ihr.
»Was ist mit deiner Familie?« Sie zog einen Schmollmund. »Wieso fahren die dich nicht? Und warum nimmst du nicht das Auto von deinem Dad?«
»Die sind gestern Abend in den Urlaub gefahren und haben das Auto mitgenommen.« Ich setzte meinen besten Welpenblick auf. »Bitte, Sarah. Du bist meine letzte Hoffnung.«
Sie schnaubte genervt, aber ich konnte schon sehen, dass sie weich wurde. Meinem Welpenblick widersteht niemand.
»Und du bist meine allerbeste Freundin«, fuhr ich fort, »und ich wäre verloren ohne dich.«
»Ja, meinetwegen!« Sie warf die Hände in die Luft. »Ist ja nicht so, als hätte ich was Besseres vor. Jetzt, wo die Ferien angefangen haben und ich endlich meine Bikinifigur habe und 'ne Zehnerkarte für's Freibad … Okay, aber ich habe eine Bedingung: Du darfst kein Wort über mein Auto sagen.«
»Versprochen!« Ich strahlte sie an. »Ich werde absolut nichts über die Barbiebüchse sagen.«
»Noel ...« Ihr Tonfall klang warnend.
Ich tat so, als würde ich meinen Mund mit einem Reißverschluss zuziehen und schluckte alle Bemerkungen über das abscheuliche Gefährt herunter. Sarah holte ihre Handtasche (rosa Kunstleder mit einem Goldkettenhenkel) und stolzierte die Treppe vor ihrem Haus hinunter. In der Einfahrt parkte ihr schreiend pinkfarbener VW mit Hello Kitty-Radkappen. Ich zuckte innerlich zusammen, als ich mich in den Beifahrersitz sinken ließ. Natürlich war der mit rosa Kunstpelz bezogen, und zwar komplett. Die Kopfstütze hatte Mäuseohren.
»Hoffentlich sieht mich niemand«, murmelte ich, so leise, dass sie mich nicht hören konnte.
Sarah startete den Motor und zündete sich, sobald wir auf der Straße waren, eine Zigarette an. Ich klappte die Sonnenblende herunter, auf der mit Strasssteinchen »Rich Bitch« geschrieben stand und sah in den Spiegel.
Trotz der Katastrophe letzte Nacht saßen meine Haare perfekt. Ich war sehr stolz auf meine Haare. Sie waren honigblond oder hellbraun, je nachdem, wie das Licht darauf fiel. Seit zwei Monaten trug ich sie mit kurzen Seiten, aber sehr langem Haupthaar, so dass mir einzelne Strähnen gentlemanlike in die Stirn fielen.
»Wenn´s um deine Haare geht, bist du ein richtiges Mädchen«, brummte Sarah zwischen zwei Zigarettenzügen. Sie warf mir einen missmutigen Blick zu. Ich kümmerte mich nicht darum. Sarah war immer missmutig. »Vielleicht sogar schlimmer.«
»Hey, die Ladys mögen meine Haare. Sie lieben es, durch meine goldenen Locken zu wuscheln.« Ich zwinkerte meinem Spiegelbild zu. Ja, ich sah gut aus.
»Du hast keine Locken.«
»Sie lieben es trotzdem. Janina meint, ich wäre der hübscheste Kerl im ganzen Fußballteam.«
»Muss ich mir die gesamte Fahrt über anhören, wie du dich selbst lobst?«
Sie bog schwungvoll auf die B27 ein. Erstklassig, wir waren schon fast auf der Autobahn. Ich würde die Angelegenheit kurz und schmerzhaft hinter mich bringen und mit meinem Leben weitermachen. Sarah sah mich an, obwohl sie besser auf die Straße geachtet hätte.
»Sag mal, was machst du eigentlich hier? Wolltest du nicht in dieses Fußballcampdings?«
»Ins Trainingslager. Ja.« Von einem Moment auf den anderen sank meine Laune auf den Nullpunkt. »Das … hat nicht geklappt.«
»Was? Aber du hast gesagt, das wäre eine sichere Sache. Hast du dafür nicht auf den Urlaub mit deiner Familie verzichtet?«
»Ein großes Opfer.« Ich rollte die Augen und rutschte tiefer in den kuscheligen Sitz. »Ne, ich wurde dann doch nicht ausgewählt. Ist aber egal. Hab ich halt das Haus für mich. Morgen schmeiß ich 'ne Party, das sag ich dir. Du kannst auch kommen, wenn du deine Karre zuhause lässt.«
»Werd nicht hysterisch, du Zicke.« Sie drückte ihre Zigarette energisch aus. »Klar komm ich. Aber wer ist denn statt dir ins Trainingslager gefahren?«
»Victor.« Allein sein Name hinterließ einen schlechten Geschmack in meinem Mund.
»Ach daher weht der Wind.« Ihre Mundwinkel zuckten und für einen Moment sah sie gar nicht mehr so biestig aus. »Lass mich raten: Das Trainingslager ist in Karlsruhe.«
Ich brummte etwas Bejahendes und verschränkte die Arme vor meiner muskulösen Brust. Sarah blickte schon wieder zu mir, statt auf die Straße. Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen.
»Noel … du weißt, du bist wie ein kleiner, verblödeter Bruder für mich, aber … Ich fahre dich nicht gerade nach Karlsruhe, weil du Victor eine reinhauen willst, oder?«
»Ne. Ich habe doch gesagt, dass ich mit dem Sack reden muss.«
»Aha. Und über was?«
»Unwichtig.«
»Noel, ich fahre dich gerade 80 Kilometer weit nach fucking Karlsruhe. Ich wüsste gern, warum.«
Aber ich presste die Lippen zusammen und schwieg. Sie konnte eh nicht mehr umdrehen, denn wir waren soeben in die Autobahnauffahrt eingebogen.
***
»Ich hasse dich«, sagte Sarah zwei Stunden später.
Wir standen im Stau, seit wir auf die A8 eingebogen waren. Vielleicht hatten wir schon 10 Kilometer geschafft. Vielleicht auch nicht. Um uns herum standen Lastwagen, so viele, dass ich mich fühlte wie auf einem Elefantenfriedhof. Wegen dem Brummi vor meiner Nase konnte ich kaum die gigantische Autokarawane sehen. Von allen Seiten kroch Abgasgestank in meine Nase. Und obwohl wir beide Fenster heruntergekurbelt hatten, schwitzten wir wie Bauarbeiter. Die Mittagssonne verwandelte die rosa Blechbüchse in einen Kochtopf.
»Wir haben uns seit einer halben Stunde nicht bewegt«, sagte ich und wischte mir über die feuchte Stirn. »Was ist das denn für ein Unfall?«
»Einer, der beide Fahrbahnen blockiert, offensichtlich«, brachte sie zähneknirschend hervor. »Habe ich erwähnt, dass ich dich hasse?«
»Hast du. Hundertmal ungefähr.«
»Gut.« Sarah schaltete den Motor ab und ließ sich zurück in den Plüschsitz fallen. Sie zündete sich eine Zigarette an und knüllte dann die Packung in ihrer manikürten Hand zusammen. Ich sah eine Ader auf ihrer Stirn pochen. »Das war die letzte. Wenn nicht gleich eine Tankstelle kommt, raste ich aus.«
»Wird schon.« Ich tippte auf mein Handy ein. »In sechs Kilometern gibt's eine. Zufrieden?«
»Mir ist langweilig. Und ich muss aufs Klo.«
»Soll ich dir nen Becher suchen?«
»Die Klappe halten sollst du.« Sie seufzte. »Wenn du mir nicht sagen willst, was du mit Victor zu bereden hast, dann sag mir wenigstens, warum du ihn so hasst. Ich versteh das nicht.«
»Und ich verstehe nicht, warum du ihn nicht hasst.« Ich sah sie ungläubig an. »Wenn er alle so behandelt wie mich, warum hat er dann Freunde? Ich meine, du bist mit ihm in einer Klasse. Ist er da nicht so?«
»Wie soll er denn sein?«
»Na, arrogant. Und überheblich. Und eingebildet und hochnäsig und versnobt und ...«
»Ja, ich habe's kapiert. Ne, ist er nicht.«
»Was?«
»Na, er ist ruhig, klar.« Sarah wirkte ernst. Nichts in ihrem Gesicht deutete darauf hin, dass sie mich verarschte. »Aber ich glaube nicht, dass er sich für was Besseres hält. Vielleicht verwechselst du da was.«
»Tu ich nicht!« Ich schlug mir auf das Knie. »Er hat von Anfang an so getan, als wäre er ein Halbgott und mich hat er behandelt wie einen ... Wurm oder so.«
»Wirklich?« Sie legte den Kopf schief. »Von Anfang an?«
»Von Anfang an.«
»Erzähl.«
– Vor vier Monaten –
Ich sah ihn gleich, als ich in die Umkleide stürmte, wie immer zu spät.
Den Neuen.
Er saß zwischen den anderen Spielern auf der Holzbank und hörte dem Trainer zu. Irgendetwas war seltsam an ihm. Er wirkte konzentrierter als der Rest. Nicht nur, weil er aufmerksamer zuhörte, sondern auch, weil es schien, als wäre seine Masse ... dichter als die der anderen? Keine Ahnung, in Physik habe ich eine Vier.
Irgendwie war er intensiver. Lag vielleicht an seinen Augen, die waren so beißend hellblau wie die von einem Husky. Seine Haare waren rabenschwarz. Allein das ließ ihn wohl schon rausstechen. Er war ein bisschen muskulöser als der Rest des Fußballteams, mittelgroß und hatte im Vergleich zu Sebastian, der neben ihm saß, ein fast quadratisches Gesicht. Bestimmt nicht hässlich, aber kaum so hübsch wie … meins zum Beispiel. Aber wer hat das schon?
Seine Augenbrauen waren buschig, die Nase ein wenig breit und die Lippen geschwungen wie kleine Wellen. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Nicht missmutig oder traurig, sondern emotionslos wie das von einer antiken Statue. Auch in den Wochen, die folgten, blieb es in diesem Zustand. Ich sah ihn exakt einmal Gefühle zeigen und das war nicht heute.
Als er seinen Blick auf mich richtete, bewegte sich kein einziger Muskel in seinem Gesicht. Er war bestimmt ein guter Pokerspieler. Seine hellblauen Augen schienen sich zu Laserstrahlstärke zu bündeln und ein Loch durch meine Stirn zu brennen. Glaub ich. Wie gesagt: Physik: Vier.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin!«, rief ich, nachdem ich den Neuen sekundenlang angestarrt hatte.
Ich grinste breit und der Trainer knurrte. Zwischen seinen Augenbrauen erschien eine Faltenwüste.
»Setz dich«, raunzte er. »Ach ja, das hier ist Victor. Er ist letzte Woche hergezogen. Mal gucken, wie er sich schlägt. Vielleicht kann ich dich ja endlich ersetzen.«
»Aber ich bin unersetzbar, das wissen Sie doch.«
Ich lachte. Der Trainer beschwerte sich ständig, dass ich zu faul war und dauernd zu spät kam. Aber ich war der beste Spieler, den er hatte und das wurmte ihn. Ich wandte mich zu Victor um, der immer noch seinen Laserblick auf mich richtete. Mein Grinsen wurde noch unverschämter. Schließlich wollte ich nicht wirken, als könnte er mir echt meinen Platz streitig machen.
»Hi, ich bin Noel. Willkommen im Team.«
Ich erwartete, dass er ebenfalls lächeln würde. Oder den Mund aufmachen. Aber Victor nickte nur knapp und sah dann weg.
So ein arroganter Scheißkerl, dachte ich. Ich hatte damals noch keine Ahnung, wie richtig ich damit lag.
Nachdem der Trainer uns den Plan für diesen Monat erklärt hatte, standen wir auf. Erleichtert registrierte ich, dass Victor kleiner war als ich. Nur drei Fingerbreit, aber immerhin.
Als er mir bei den Aufwärmrunden davonrannte, machte ich mir noch keine Sorgen. Geschwindigkeit ist nicht alles. Leider war Victor auch geschickt. Und wendig. Und ausdauernd. Und sein Ballgefühl war fast schon gruselig. Je länger das Training ging, desto mehr zog er die Aufmerksamkeit auf sich.
Und desto mehr wuchs mein Misstrauen. Wollte er mir wirklich meinen Platz streitig machen? Ich beobachtete, wie er zwischen den orange-weißen Kegeln Slalom lief, unglaublich schnell, den Ball praktisch am Fuß klebend. Sein Gesicht zeigte wieder diese Intensität, diese absolute Konzentration.
»Nicht schlecht, was?« Ich hatte gar nicht bemerkt, dass der Trainer hinter mich getreten war. »Das ist es, was dir fehlt: Präzision.«
»Ich bin präzise. Und ich bin stärker und geschickter als der.«
»Du bist schlampig.« Der Trainer schien richtig glücklich, dass er mir eins reinwürgen konnte. »Im Vergleich zu Victor bist du das reinste Chaos. Du bist eine stumpfe Axt und er ist ein Skalpell.«
Victor beendete den Slalomlauf vier Sekunden schneller als ich. So ein Arschloch. Zu allem Überfluss hatte Christoph neben mir gestanden, während der Trainer mich beleidigt hatte. Was dazu führte, dass Victor ab sofort den erstklassigen Spitznamen »das Skalpell« trug. Und ich den total beknackten Spitznamen »Axel«.
Trotzdem versuchte ich ein letztes Mal, freundlich zu sein. Als Victor nach dem Training mit Sebastian und Markus quatschte, die ihn anhimmelten wie kleine Mädchen, kam ich dazu und lobte sein Ballgefühl. Nicht, dass noch irgendwer dachte, ich hätte Angst vor ihm oder so.
»Mit dir gewinnen wir das nächste Spiel bestimmt«, sagte ich, total nett. Aber Victor warf mir einen kurzen, überheblichen Blick zu und zuckte mit den Achseln.
»Klar. Warum nicht?«, brummte er.
Und dann kein weiteres Wort mehr. Dieser arrogante Dreckskerl. Ich hatte ihn reden sehen, als sie noch zu dritt gewesen waren. Der wollte mich ganz klar ausgrenzen. Irgendwann, als das Schweigen unerträglich wurde, fing Markus an, vom letzten Spiel gegen die Mannschaft des Schiller-Gymnasiums zu erzählen. Ich quatschte ein wenig mit, aber als Victor beharrlich schwieg, suchte ich das Weite.
Also war er hinter meiner Stellung her. Die würde ich ihm bestimmt nicht kampflos überlassen. Und freundlich würde ich auch nie wieder sein. Nicht zu diesem überheblichen Vollpfosten.
»Nicht zu diesem überheblichen Vollpfosten«, schloss ich meine Erzählung. Der rosa Terror, den Sarah Auto nannte, stand immer noch am selben Fleck. In der Ferne hörten wir ein Hupen. »So ein Wichser.«
»Na, das hast du ja wahrgemacht«, sagte Sarah. »Du lässt echt nie ein gutes Haar an ihm.«
»Wie denn auch? Er hat ja keins.«
Sie seufzte.
»Wenn du das meinst. In der Klasse ist er jedenfalls anders. Ich habe noch nie gesehen, dass er gemein zu irgendwem war. Ganz im Gegenteil. Letztens, als wir Marissa ein bisschen, äh, aufgezogen haben ...«
»Gemobbt meinst du.«
»Ich wollte das gar nicht.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Echt. Aber Juli und Georgia haben angefangen. Und du weißt schon, wenn ich mich weigere, mitzumachen, werden sie sauer und die will ich echt nicht als Feinde haben.«
»Ein tolle Freundschaft. Hängt ihr nur zusammen rum, um euch gegenseitig im Auge zu behalten?«
»Das verstehst du nicht«, sagte sie und sah starr geradeaus. »Mädchenfreundschaften funktionieren anders. Jedenfalls standen wir um sie rum und haben, na ja, ein paar nicht so nette Sachen über ihre Haare gesagt – aber die waren wirklich voll verfärbt, total gelbstichig ...«
»Und dann erschien Victor wie ein strahlender Held und hat sie gerettet? Glaub ich nicht.«
»Na, er hat sie gefragt, ob er kurz mit ihr quatschen kann und sie von uns weggeholt. Keiner sonst hat sich getraut, was zu tun. Und Juli und Georgia waren nicht mal sauer, weil er so höflich war. Ich habe auch erst später kapiert, dass er ihr geholfen hat. Er ist ein richtiger Diplomat.«
»Bist du sicher, dass er nicht wirklich was mit ihr besprechen wollte?« Ich hob eine Augenbraue. »Der ist doch viel zu arrogant, um den edlen Ritter zu spielen.«
»Bist du sicher, dass du ihn nicht falsch einschätzt?« Ihre Augen durchbohrten mich, fast so schlimm wie Victors damals. »Vielleicht ist er ja gar nicht arrogant, sondern … schüchtern.«
»Kommt er dir schüchtern vor?«
»Nein«, gab sie zu.
»Hast du je gesehen, dass er rot wird oder sonst wie unsicher wirkt?«
»Na ja, ne. Aber manche Leute werden einfach nicht rot. «
»Klar.« Ich legte meinen Arm auf dem Seitenfenster ab. »Er ist so schüchtern, dass er mich dauernd beleidigt. Letztens habe ich gemeint, dass ich das Trainingslager auf jeden Fall durchhalte, wenn der Trainer mich auswählt. Und weißt du, was er gesagt hat?«
»Was?«
»Ja. Wenn.«
Ihre Mundwinkel zuckten und meine Laune wurde noch mieser.
»Jaja, total lustig, dass er mich dauernd beleidigt.«
»Hey, du bist auch nicht besser. Du nennst ihn ständig Vicky.«
»Wegen ihm nennen mich alle Axel.«
»Da kann er doch nichts dafür ...« Sie zuckte zusammen. »Okay«, sagte sie gepresst. »Ich hab's mir überlegt.«
»Was überlegt?«
»Such doch einen Becher.«
»Was?«
»Hörst du schlecht? Ich mach mir gleich in die Hose.«
Ich starrte sie an. Nein, sie machte keine Witze. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß leuchteten. Ihre Knie, die aus dem Rock ihres fliederfarbenen Kleides herausschauten, waren fest zusammengepresst.
Oh nein. Hektisch durchwühlte ich das Handschuhfach, fand aber nur eine Menge Kaugummidöschen, die garantiert zu klein waren.
»Muss das sein?«, fragte ich, zwischen die Vordersitze geklemmt. Ich suchte den Boden nach einer leeren Flasche oder etwas Ähnlichem ab, fand aber nichts. Dieses Auto war viel zu ordentlich!
»Meinst du, ich würde dich fragen, wenn es nicht sein müsste?«, schnappte sie. »Verdammt, warum habe ich auch drei Kaffee getrunken? Und auf dich Trottel gehört. Wenn du mich nicht überredet hättest, dich nach Karlsruhe zu kutschieren, würde ich jetzt am Badesee liegen!«
»Sorry! Aber ich find nichts.« Ich warf mich zurück in den Sitz. »Kannst du nicht einfach aussteigen und hinter der Leitplanke pinkeln?«
»Damit mich alle Lastwagenfahrer dabei beobachten?« Sie schob die Unterlippe vor. »Nein, danke. Wenn ich Pech habe, filmen die mich auch noch dabei. Ne, da mache ich mir doch lieber hier in die Hose.«
»Bitte tu´s nicht«, flehte ich.
Und dann geschah endlich das, worauf wir seit Stunden warteten: Der Laster vor uns setzte sich in Bewegung.
»Es geht weiter!«, rief ich. »Halt durch, es sind nur noch sechs Kilometer bis zur Tankstelle!«
»Okay.« Fest entschlossen beugte sie sich vor. Der Stau löste sich auf und wir heizten über die Fahrbahnen, ein Auto nach dem anderen überholend.
»Da ist die Ausfahrt!« Ich dankte dem Himmel für das weißblaue Schild vor uns. Nur noch 500 Meter. Wir verließen die Autobahn und brausten auf die Tankstelle zu. »Oh, da stehen 'ne Menge Autos direkt davor ...«
»Dann spring ich raus und du parkst den Wagen«, befahl Sarah.
»Wird erledigt.«
Sie bremste mit quietschenden Reifen, direkt neben dem WC-Schild, schnallte sich ab und hüpfte aus dem Auto. Als ich mich auf den Fahrersitz gequetscht hatte, war sie schon hinter der Tür mit Milchglasscheibe verschwunden. Ich gondelte über den grau gepflasterten Parkplatz. Bis ich endlich eine Lücke gefunden hatte, hatten ungefähr hundert Leute ein Foto von mir in dem scheußlichen Gefährt gemacht. Fantastisch. So schnell ich konnte, parkte ich ein, stieg aus und ließ den pinken Terror hinter mir.
Sarah wartete vor dem runden Gebäude des Tankstellenshops. Sie wirkte so erleichtert, dass sie fast gelächelt hätte. Aber nur fast.
»Mann, das war knapp«, begrüßte sie mich. »Da wollte sich so eine Omi vordrängeln, aber der hab ich gleich erklärt, was Sache ist.«
Die arme Omi, dachte ich. Aber ich sagte: »Super, ich geh auch und dann können wir weiterfahren, oder?«
»Ich habe Hunger. Essen wir noch was. Guck mal, Burger King ist gleich da drüben.« Sarah wühlte in ihrer Handtasche, dann stoppte sie, als wäre ihr etwas eingefallen. »Und du lädst mich ein.«
»Das ist doch das Mindeste, das ich tun kann.«
Ich lächelte mein umwerfendstes Lächeln. Bei den Portionen, die Sarah aß, würde ich kaum arm werden.
Sie schaffte ganze drei Mozzarellasticks, bevor sie aufgab.
»Viel zu fettig«, stöhnte sie und lehnte sich in ihrem Plastikstuhl zurück. Eine Horde Kinder raste kreischend an uns vorbei. »Wie schaffst du es, soviel zu fressen?«
»Mach halt viel Sport«, brachte ich zwischen zwei Bissen hervor. »Außerdem sind zwei Menüs echt nicht zu viel.«
Sarah verzog angeekelt das Gesicht und warf ihre hellblonden Strähnen über die Schultern. Aber sie hatte sich endlich beruhigt. Es war bestimmt schon eine Viertelstunde her, seit sie das letzte Mal »Ich hasse dich« gesagt hatte. Neue Zigaretten hatte sie gottseidank auch gekauft. Ich wischte mir den Mund ab und grinste sie an.
»Na denn: weiter!«
Schwungvoll schmiss ich die zerknüllte Serviette auf das Tablett. Wir waren nur noch eine halbe Stunde von Karlsruhe entfernt. Zeit, die Sache hinter sich zu bringen. Auch wenn mir etwas mulmig zumute war. Ehrlich gesagt war ich richtig nervös. Aber ich würde weder Sarah noch Victor etwas davon merken lassen.
»Bist du nervös?«, fragte Sarah, sobald wir aus dem Burger King traten.
»Warum sollte ich das sein?« Ich sah sie herablassend an. Natürlich kaufte sie es mir nicht ab.
»Wegen der Sache, die du mit Victor besprechen willst, du Honk.«
»Ach was, das ist nur 'ne Kleinigkeit.«
Zwei Mädchen liefen an uns vorbei.