Zu lieben sind wir da - David N. Field - E-Book

Zu lieben sind wir da E-Book

David N. Field

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Beschreibung

Wir leben heute mit großen Spaltungen und die Polarisierung spiegelt sich oft auch in der Kirche wider. Als Christen wissen wir zwar, dass wir einander lieben sollen, doch sogar dieser Auftrag wird innerhalb der Kirche unterschiedlich verstanden. Was bedeutet es also in unserer Zeit, Gott und den Nächsten zu lieben – sowohl in der Welt als auch in der Kirche – und kann dies die Lösung sein für Konflikte, die zu Spaltungen führen können? In Zu lieben sind wir da beantwortet David N. Field die Frage mit einem überzeugenden "Ja!". Indem Field auf das Werk John Wesleys, des Gründers der methodistischen Bewegung, Bezug nimmt, zeigt er, dass die Kirche die Liebe Gottes verkörpern kann und muss und wie sich dies für unser Zusammenleben auswirkt. Dabei legt Field einen besonderen Schwerpunkt darauf, die Bedeutung der Einheit für das christliche Zeugnis hervorzuheben. Er lädt uns ein, zu überlegen, wie wir als Einzelne leben und wie wir unser Miteinander in einer Glaubensgemeinschaft gestalten, in der Christen zusammenkommen, die in vielen Fragen gegensätzliche Überzeugungen haben. Zu lieben sind wir da ist hervorragend für Kleingruppen oder Hauskreisen geeignet, um es in Verbindung mit Themen wie "Wie kommt Liebe ins Zentrum?" und "Was bedeutet 'Einheit' für die Kirche?" gemeinsam zu lesen und darüber ins Gespräch zu kommen.

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David N. Field

Zu liebensind wir da

Der methodistische Weg, Kirche zu sein

übersetzt von Christine Wetzka

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland. Bearbeitet sowie fachlich begleitet von Manfred Marquardt, Klaus Ulrich Ruof und Rosemarie Wenner.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Originaltitel

David N. Field: Our Purpose Is Love. The Wesleyan Way To Be The Church, Copyright © 2018 by Abingdon Press, Nashville, Tennessee, USA. All rights reserved. Used by permission.

© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibeltexte: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart und BasisBibel. Das Neue Testament und die Psalmen, © 2012 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Cover: Fruehbeetgrafik · Thomas Puschmann, Leipzig

Satz und Gestaltung: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-05859-4

www.eva-leipzig.de

Für Ernst Geiger –

in Dankbarkeit für das Geschenk seiner Freundschaft

Vorwort

John Wesley, der Gründervater der methodistischen Bewegung, schrieb 1742 ein kleines Traktat über die »Kennzeichen eines Methodisten« (The Character of a Methodist). Er wehrte sich gegen den Vorwurf, die Methodisten würden eine Sonderlehre vertreten oder ganz besondere Praktiken und »Methoden« nutzen. Das Wesentliche lag für ihn in einem Dreischritt: Gottes Liebe erfahren, die durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist (Römer 5,5), deshalb Gott lieben von ganzem Herzen und mit aller Kraft (5. Mose 6,5) sowie seinen Nächsten lieben wie sich selbst (3. Mose 19,18). Von diesem Dreischritt der Liebe soll das Leben eines Methodisten erkennbar geprägt sein. Wesley beendet sein Traktat mit dem Hinweis, dass diese »Kennzeichen eines Methodisten« nichts anderes sind als die Kennzeichen eines Christen überhaupt.

Welche Konsequenzen zog Wesley aus all dem für die Gestaltung des Lebens der methodistischen Gemeinschaft? Welche Rolle spielte die Liebe als leitendes Prinzip in der Ausbildung von kirchlichen Strukturen? Diesen Fragen geht David Field in seinem Buch nach und macht dabei erstaunliche Entdeckungen. Seine Beobachtungen erweisen sich als hochaktuell und hinterfragen unsere heute gelebte Praxis. Die Art, als evangelisch-methodistische Christen Kirche zu sein, hat durch den Dreischritt der Liebe eine besondere Ausprägung erfahren. Wie kann dies unsere kirchliche Gemeinschaft in ihrem Umgang mit Einheit und Verschiedenheit weiterhin prägen? Wie können Methodisten in einer Zeit, in der in Kirche und Welt immer häufiger polarisiert und ausgegrenzt wird, glaubhaft »da sein, um zu lieben«?

Wir hoffen, dass dieses Buch zu angeregten Gesprächen in unseren Gemeinden führt. Es soll helfen, den Schatz zu entdecken oder wiederzuentdecken, den Wesley den Methodisten – als Einzelnen und als Gemeinschaft – ursprünglich mit auf den Weg gab. Möge es dazu beitragen, unsere methodistische Identität zu fördern und zu stärken. Und wenn andere Kirchen und Gemeinschaften sich darin wiederfinden, können wir mit Wesley nur sagen: Umso besser, denn dann sind wir uns im Wesentlichen einig.

Frankfurt und Zürich, im August 2018

Bischof Harald Rückert und Bischof Patrick Streiff

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1. Warum ist Liebe die Lösung?

2. Ein von Gottes Liebe gesättigtes Leben

3. Was bedeutet das für die Kirche?

4. Die Kirche – eine Menschen verwandelnde Gemeinschaft

5. Die Kirche – eine erkennbar andere Gemeinschaft

6. Die Kirche – eine grenzüberschreitende Gemeinschaft

7. Die sichtbare Einheit der Kirche.

8. Können wir trotzdem Gemeinschaft sein?

Und jetzt?

Nachwort

Anmerkungen

Weitere Bücher

1

Warum ist Liebe die Lösung?

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde,

zum Bilde Gottes schuf er ihn;

und schuf sie als Mann und Frau.

1. Mose 1,27

Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe.

1. Johannes 4,8

Spannungen, Gegensätze und Konflikte sind Teil unserer täglichen Erfahrung. Nachrichtensendungen im Fernsehen liefern Berichte und Bilder internationaler und nationaler Konflikte in unsere Wohnzimmer. Politische Debatten ufern schnell in Beschimpfung, Verunglimpfung und Beleidigung aus. Unterschiede in politischen Ansichten können sich auch unter Freunden, Nachbarinnen und Kollegen rasch zu persönlichen Konflikten auswachsen. Die sozialen Medien sind zu einer Plattform geworden, auf der Beleidigungen, Verleumdungen, einfache Erklärungsmuster und eskalierende Konflikte an der Tagesordnung sind. Auch in den Kirchen scheint es für ernsthafte Meinungsverschiedenheiten keinen Platz mehr zu geben. Menschen mit abweichenden politischen, sozialen oder theologischen Standpunkten werden schnell dämonisiert. Als Christen wissen wir, dass wir einander lieben sollen. Aber sogar dieses Gebot wird von verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich interpretiert. Einige meinen, den Nächsten zu lieben heiße, mit ihm einer Meinung zu sein. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, Nächstenliebe so zu verstehen, dass sich in der Zuwendung zum Mitmenschen das barmherzige, gnädige Herz Gottes widerspiegelt. Deshalb stellen sich uns folgende Fragen: »Was heißt es, Gott und die Nächsten heute zu lieben – sowohl in der Welt als auch in der Kirche?« Und: »Warum ist das die Lösung des Konflikts, der uns trennt und spaltet?« Vorliegendes Buch will diese Fragen beantworten. Dafür wird John Wesleys Verständnis von Gottes Liebe untersucht und bedacht, wie wir sie heute in der Kirche und in der Welt verkörpern können.

Lassen Sie uns anfangen, indem wir ganz an den Anfang gehen.

Warum schuf Gott Menschen?

Zu verstehen, warum Gott Menschen geschaffen hat und wie wir in Gottes Vorstellung von der Welt passen, ist grundlegend für das Verständnis, warum Liebe nicht nur für unsere Zeit, sondern für alle Zeiten die Lösung ist. Es heißt in 1. Mose 1,27, dass wir zum Bilde Gottes geschaffen wurden. Christliche Denker aller Jahrhunderte haben mit der Frage gerungen, was das bedeutet, und mit einer Reihe von Antworten aufgewartet. Was bedeutet es tatsächlich, zum Bilde Gottes geschaffen zu sein?

Wir betrachten dazu die Bibelstelle aus 1. Mose 1,27 mit den Augen der Bibelwissenschaft und mit denen der Theologie John Wesleys, des Begründers des Methodismus.

Ein biblisches Verständnis

Zeitgenössische Bibelwissenschaftler haben größere Klarheit in die Frage gebracht, was es heißt, zum Bilde Gottes geschaffen zu sein. Dabei richtet sich das Augenmerk auf die alten Israeliten und was ihnen in den Sinn gekommen sein mochte, wenn sie die Worte aus 1. Mose 1,27 hörten. Im antiken kulturellen und religiösen Kontext konnte sich der Begriff des Bildes eines Gottes auf eine Statue oder ein Bildnis beziehen, welches die Gottheit darstellte und als Zentrum der Verehrung diente; oder auf Könige und Priester, die im Namen dieser Gottheit handelten und denen daher gedient und gehorcht werden musste. Die in Stein gemeißelte Figur eines Gottes war dazu gedacht, das Wesen dieses Gottes darzustellen, während Könige und Priester die Interessen der Götter in der Gesellschaft vertraten. Der Autor von 1. Mose 1 verwendet diese gängigen Ideen in neuer Weise, indem er nicht Steinfiguren oder Könige und Priester, sondern alle Menschen beschreibt. Wenn also die alten Israeliten diesen Ausdruck »zu seinem Bilde« hörten, war ihnen klar, dass alle Menschen geschaffen wurden, das Wesen des Gottes Israels darzustellen und Gottes Interessen in der Welt zu vertreten. Das heißt, dass wir als Menschen das Vorrecht und die Pflicht haben, Gott in der Welt zu repräsentieren. Unser Wesen, unser Lebensstil und unsere Taten sollen ein Bild dafür sein, wer Gott ist und was Gott in der Welt tut.

Als Menschen haben wir das Vorrecht und die Pflicht, Gott in der Welt zu repräsentieren.

Im nächsten Kapitel des ersten Buches Mose lesen wir: »Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte« (1. Mose 2,15). Es ist bemerkenswert, dass die mit »bebauen« und »bewahren« übersetzten Wörter nicht nur landwirtschaftliche Bedeutung haben, sondern auch in religiösen Zusammenhängen verwendet werden und den Dienst der Priester und Leviten in der Stiftshütte beschreiben. Tatsächlich beziehen sich viele der Bilder, die den Garten Eden beschreiben, auch auf Symbole aus der Stiftshütte. Interessanterweise enden viele der Schöpfungsgeschichten von Nachbarvölkern Israels mit der Errichtung eines Tempels oder Heiligtums. In diesem Kontext erscheint es, als würden in der Bibel Menschen nicht nur als Bauern dargestellt, sondern als Priester, die der Erde und ihren Bewohnern Gottes Segen vermitteln.

Was hat das damit zu tun, wie wir das »zum Bilde Gottes geschaffen sein« verstehen? Gott hat Menschen erschaffen, damit sie Gottes Wesen widerspiegeln, Gottes Interessen repräsentieren und so eine Quelle des Segens für die Erde sind. Das wirft zwei weitere Fragen auf, die wir in diesem Kapitel untersuchen werden: Wer ist Gott? und Wie ist Gott?

Ein wesleyanisches Verständnis

Die Bezeichnung methodistisch geht zurück auf die Zeit, als John Wesley und einige seiner Freunde an der Universität von Oxford eine Art Club gründeten. Sie trafen sich regelmäßig und versuchten, ihr Leben anhand klarer Regeln zu ordnen. Dazu studierten sie die Bibel, nahmen wenigstens einmal in der Woche am Abendmahl teil und suchten nach praktischen Wegen, den Bedürfnissen von Armen, Ungebildeten, Gefangenen und anderen Menschen am Rande der Gesellschaft zu begegnen. Sie waren bereit, für diese notleidenden Menschen nicht nur ihren materiellen Besitz, sondern auch ihren Ruf zu opfern. Dieser aufopferungsvolle Einsatz für die Bedürftigen war ihnen nicht einfach eine Pflicht, sondern ein Weg, das Wesen Gottes auszudrücken, wie es sich in Jesus Christus offenbart. Sie versuchten, Christus in der Welt nachzuahmen. Diese Selbstverpflichtung, Christus nachzuahmen, hat einen tieferen Grund: Indem wir Christus als dem »Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kolosser 1,15) folgen, verkörpern wir das Bild Gottes in der Welt. Als Wesley sein Verständnis davon entwickelte, wie Christus in der Welt nachzuahmen ist, kehrte er immer wieder zu 1. Mose 1,27 zurück, wo die Menschheit als zum Bilde Gottes geschaffen beschrieben wird. Dies wurde zu einem zentralen Thema in seiner Theologie. Er ging von drei Dimensionen des »Bildes Gottes« aus: (1) das natürliche Ebenbild, nämlich unsere Fähigkeit, zu denken, zu verstehen und verantwortliche Entscheidungen zu treffen; (2) das politische Ebenbild, das heißt unsere Berufung, Gott in der Welt zu repräsentieren, indem wir liebend und sorgend über die Schöpfung herrschen; (3) und das moralische Ebenbild, das sich auf unsere Berufung bezieht, das moralische Wesen Gottes zu verkörpern. In anderen Worten – wir sollen Gottes Wesen auf der Erde widerspiegeln. Wesleys Verständnis des moralischen Bildes Gottes – des Wesens Gottes – wurde geformt durch die großartige Geschichte von Gottes Interaktion mit der Menschheit, wie sie in der Bibel geschildert ist und durch das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu am besten beschrieben wird.

Wesley verwendete einen weiteren Begriff, um den einzigartigen Platz zu beschreiben, den Menschen in Gottes Vorstellung von der Welt einnehmen: Es ist das Bild eines Haushalters. Ein Haushalter ist ein Diener, der betraut ist mit der Verantwortung für die Verwaltung, das Wohl und das Gedeihen des Anwesens und Vermögens seines Herrn. Als Haushalter muss er seinem Herrn darüber Rechenschaft ablegen. Haushalterschaft findet sich in heutigen Überlegungen in der beliebten Formulierung »Bewahrung der Schöpfung« wieder. Wesleys Verständnis ist noch viel umfassender: Alles, was wir besitzen, gehört Gott, und daher sind wir Haushalter von allem, was wir sind und haben. Wir sind folglich dazu berufen, alles, was wir sind und haben, dafür einzusetzen, damit Gottes Absichten in der Welt vorangetrieben werden und gedeihen. Hiermit kehren wir wieder zu den Fragen zurück: Wer ist Gott? und Wie ist Gott?

Wer ist Gott? und Wie ist Gott?

In der Bibel wird Gottes Wesen auf vielerlei Weise beschrieben. Gott selbst beschreibt in 2. Mose 34,6 sein eigenes Wesen als »barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue«. Im ganzen Alten Testament finden wir Verweise auf diese Aspekte von Gottes Wesen – sie bestimmen, wer Gott ist und wie Gott handelt. Zum Beispiel begründet der Autor von Psalm 86,15 seinen Ruf nach Gottes Hilfe, indem er feststellt:

Du aber, Herr, Gott,

bist barmherzig und gnädig,

geduldig und von großer Güte und Treue.

Vielleicht findet sich das bemerkenswerteste Zeugnis im Buch Jona, in dem sich Jona bei Gott darüber beklagt, dass dieser sich weigert, Ninive zu bestrafen: »Ach, Herr, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen« (Jona 4,2).

Für Christen ist Gott vollkommen offenbart im Leben, in der Lehre, der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu – das ist der Inbegriff von Gottes Barmherzigkeit, Erbarmen, Treue und Liebe. Jesu Gleichnisse verkünden die Liebe Gottes, besonders jenen gegenüber, die ausgeschlossen und verworfen sind; und seine Wunder sind Ausdruck seines Mitgefühls mit Kranken und Leidenden. Wenn Jesus diejenigen, die ihm nachfolgen, dazu aufruft, Gott nachzuahmen, hat er Gottes bedingungslose Liebe zu allen Menschen im Blick (Matthäus 5,43–48). Die Autoren des Neuen Testaments beschreiben die Kreuzigung übereinstimmend als den Ausdruck sich selbst hingebender Liebe, die das äußerste Opfer bringt, um Sünde und Böses zu überwinden. Am Kreuz enthüllt sich Gottes Wesen vollkommen. Daher kann 1. Johannes 4,8 Gottes Wesen mit der einfachen Erklärung »Gott ist Liebe« zusammenfassen.

John Wesley hat in seinen Schriften über das Wesen Gottes diese und andere Beschreibungen Gottes herangezogen. So auch in den folgenden Textausschnitten:

Liebe existierte von Ewigkeit her in Gott, dem großen Meer der Liebe.1

Gott wird oft heilig, gerecht, weise genannt; aber nicht Heiligkeit, Gerechtigkeit oder Weisheit an und für sich; denn man sagt, er sei Liebe: und man gibt damit zu verstehen, dass dies seine teuerste, seine alles umfassende Eigenschaft sei; die Eigenschaft, die einen gewinnenden Glanz auf all seine anderen vollkommenen Eigenschaften wirft.2

Johns Bruder Charles schrieb über Gottes Wesen in seinem Lied Zeig dich, du unbekannter Mann:

O Liebe! Ja, du gabst dich hin,

lockst Ohr und Herz zu dir hinauf.

Der Tag bricht an, die Schatten fliehn,

und deine Sonne geht mir auf.

Wend dein Erbarmen allen zu!

In allem Liebe – das bist du!3

Was lernen wir daraus? Was wir als Zentrum von Gottes Wesen erkennen, wird dafür prägend sein, wie wir über andere Wesenszüge und Beschreibungen Gottes und über Gottes Handeln denken. Wir werden zu einem ganz anderen Gottesverständnis gelangen, wenn wir beispielsweise Souveränität und Ehre ins Zentrum der Beschreibung von Gottes Wesen stellen. Dann wird Gott in erster Linie als derjenige angesehen, der alles zu dem Zweck beherrscht, sich selbst Ruhm zu verschaffen. Gott wird dadurch zu einem Tyrannen, der verlangt, dass Menschen aufopferungsvoll handeln, um willkürlichen Gesetzen zu gehorchen. Wenn Gott dagegen Liebe ist, dann sind Gottes Gebote Ausdruck dafür, dass es ihm ums menschliche Wohl geht.

Aus der Bibel und der wesleyanischen Theologie erkennen wir, dass Gott Liebe ist, und Gottes Liebe ist leidenschaftliche Sorge für das umfassende Wohl der Menschen – für jeden von uns. Es gibt vier Perspektiven oder Schwerpunkte, von denen aus wir Gottes Liebe als leidenschaftliche Sorge betrachten können:

– Gottes Liebe ist auf Beziehung ausgerichtet. Gott hat den leidenschaftlichen Wunsch, uns in eine Beziehung zu ihm selbst zu ziehen und alle Hindernisse zwischen uns und ihm zu beseitigen. Erst in dieser Beziehung können wir die persönliche Erfüllung erlangen, die Gott für uns vorgesehen hat.

– Gottes Liebe drückt sich aus in Erbarmen, Gerechtigkeit und Wahrheit. Gerechtigkeit ist Gottes Zusage, uns danach zu behandeln, wer wir sind und was wir tun. Erbarmen ist Gottes Mitgefühl mit uns als leidenden und sündigen Menschen; dieses Erbarmen geht über Gerechtigkeit hinaus, indem wir trotz unserer Ablehnung Gottes geheilt und verwandelt werden sollen. Wahrheit ist Gottes Verlässlichkeit in Sein und Handeln, sodass wir immer darauf vertrauen können, dass Gott gemäß seinem in der Bibel offenbarten göttlichen Wesen und Willen handeln wird.

– Gottes Liebe offenbart sich am Kreuz in vollkommener Weise. Das ist die tiefe, teure, aufopferungsvolle Hingabe an die Menschen, die teilhat am Schmerz und Leid der Welt, um Heilung, Versöhnung und Verwandlung zu bringen.

– Gottes Liebe ist nicht das Gegenteil von Gottes Zorn, denn Gottes Zorn schützt. Gottes Zorn richtet sich gegen alles Zerstörerische, was uns daran hindern würde, das von Gott für uns vorgesehene Wohl zu erlangen.

Diese vier Perspektiven zu kennen, ist für eine Gesellschaft wichtig, in der die Vorstellung von Gottes Liebe oft mit einem vagen Begriff von Nettigkeit verwechselt wird. Gott wird dabei auf einen gutmütigen alten Mann reduziert. Als ob uns Sünde und Böses nicht bekümmern müssten, meinen wir, seinen Namen anrufen zu können, damit er unseren persönlichen Interessen diene. Gottes Hauptfunktion erschöpft sich dann darin, für unser oberflächliches Glück zu sorgen. Die in der Bibel offenbarte Liebe Gottes ist das genaue Gegenteil davon. Erst, wenn wir das verstanden haben, können wir mit John Wesley sagen: »Liebe ist das reine Bild Gottes; sie ist der Glanz seiner Herrlichkeit«.4

Liebe ist das reine Bild Gottes; sie ist der Glanz seiner Herrlichkeit.

Gott und andere lieben

Wenn Gott Liebe ist und wir zum Bilde Gottes geschaffen sind, dann will Gott, dass wir ganz von Liebe erfüllt sind. Als Spiegelbilder von Gottes Natur und Wesen in dieser Welt sollen wir Liebe zu Gott und Liebe zu anderen zeigen. Liebe sollte unsere gesamte Einstellung und alle unsere Gedanken, Worte und Taten begründen und formen. In unserer heutigen Kultur ist Liebe jedoch entwertet worden. Unterhaltungsmusik und Filme stellen Liebe meistens als romantisches Gefühl oder sexuelle Lust dar. Ich liebe dich heißt dann »ich liebe deinen Körper« oder »ich will dein Liebhaber sein« und hat nicht den hingebungsvollen Einsatz für das Wohl des anderen im Sinn. Über den engen Kreis von Familie und Freunden hinaus wird Liebe in der Regel als Geste der Güte oder Wohltätigkeit wahrgenommen, die keinerlei Rückwirkung auf das eigene Leben hat. In anderen Zusammenhängen, sogar in christlichen Kreisen, wird Liebe darauf reduziert, nett zu sein, keinen Staub aufzuwirbeln und vorzugeben, dass keine Probleme existieren. Solche »Liebe« ignoriert die Wirklichkeit von Sünde, Bösem und Leid und ist als solche nicht wirklich am Wohl anderer interessiert. Nicht selten werden tiefe, ungelöste Konflikte »mit Liebe« übertüncht.

Wir stehen vor der Aufgabe, zu einem biblischen und wesleyanischen Liebesverständnis zurückzufinden. Das werden wir im nächsten Kapitel ausführlich untersuchen. Hier wollen wir zunächst einige Schlüsselmerkmale biblischer Liebe hervorheben:

– Liebe zu Gott richtet das eigene Leben auf Gott aus. Das heißt: Gott aufrichtige Treue erweisen, ein Leben zur Ehre Gottes führen und alles ablehnen, was mit der Bindung zu Gott in Konkurrenz treten will.

– Liebe zu Gott erwächst nicht aus einem Pflichtgefühl. Sie entsteht aus Dankbarkeit für das, was Gott in Christus getan hat, und umfasst unser ganzes Sein.

– Liebe zu Gott nimmt Gestalt an in einem durch Gebet und Dank geprägten Leben, in der Teilnahme am gemeinsamen Gottesdienst, im Gehorsam gegenüber Gottes Geboten und im Vertrauen auf Gottes Fürsorge.

– Liebe zu anderen ist der aufopferungsvolle Einsatz für das konkrete und ganzheitliche Wohl aller Menschen, das sowohl geistliche als auch psychische, physische und soziale Aspekte umfasst.

– Liebe zu anderen erschöpft sich nicht in äußerlichen Taten. Sie geht einher mit inneren Haltungen und Antrieben wie etwa Geduld, Demut, Sanftmut, Gerechtigkeit, Opferbereitschaft und Güte.

– Liebe zu Gott führt zur Sorge um die Erde und Zuwendung zu ihren Geschöpfen, denn diese wurden von Gott geschaffen und auch ihnen gilt Gottes Sorge und Zuwendung.

Wenn wir sagen, dass wir zum Bilde Gottes geschaffen sind, dann heißt das zusammengefasst: Wir sind geschaffen, Gottes Wesen widerzuspiegeln, indem wir Gott und die Nächsten lieben und als Haushalter die uns von Gott anvertrauten Gaben so einsetzen, dass sie dem umfassenden Wohl anderer dienen, um so eine Quelle des Segens für die Welt zu sein. Es entspricht Gottes Willen und seinem Plan, dass wir in Verbindung mit ihm leben, in Gemeinschaft mit anderen und in Wechselbeziehung mit der Schöpfung.

Wir wurden für die Liebe geschaffen, aber da gibt es ein Problem: Anstatt Gott und andere zu lieben, kreisen wir nur um uns selbst. Anstatt Gott in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen und so unser Leben auf diejenigen auszurichten, die Gott geschaffen hat und liebt, machen wir das Ich zum Zentrum unseres Lebens. Diese Selbstliebe drängt Gott zur Seite und hält uns davon ab, andere zu lieben. Das ist die Wurzel der Sünde, die unser Leben, unsere Gemeinschaften und Gesellschaften durchdringt. Das betrifft alle Bereiche menschlichen Lebens. Menschen, die ihren finanziellen Erfolg zum Mittelpunkt ihres Lebens machen, vernachlässigen oft Ehepartner und Kinder. Wenn wir in wirtschaftliche und soziale Bereiche Einblick nehmen, sehen wir Unternehmen, die Arbeitnehmer ausbeuten und Kunden übervorteilen und denen Profite wichtiger sind als Menschen. Politiker, die in die eigene Macht und Stellung verliebt sind, fördern Gesetze, die ihre Wiederwahl sicherstellen, selbst wenn diese anderen Leid zufügen. Gegebenenfalls werden bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft bewusst zum Sündenbock gemacht.

Doch es gibt auch eine gute Nachricht. Wie wir in Wesleys Schriften sehen, ist der Kern der Botschaft des Evangeliums, dass Gott uns, trotz unserer Selbstbezogenheit und ihrer tragischen Folgen, noch immer liebt. Er weigert sich, damit aufzuhören, uns zu lieben. Gott handelt aus Liebe, um uns so zu verwandeln, dass seine Liebe zum Zentrum unseres Lebens werden kann.

Gottes Mission in der Welt

Gott hat eine Mission in der Welt, und Liebe ist das Herzstück dieser Mission. Weil Gott uns liebt, will er unsere Herzen verwandelt sehen in Heiligung und Neugeburt. Diese Verwandlung des menschlichen Herzens steht im Zentrum von Wesleys Nachdenken über Gott und Menschheit. Wenn wir verstehen wollen, was Wesley damit meinte und wie dies mit seinem Verständnis von Kirche zusammenhängt, müssen wir Wesleys umfassendere Vorstellung davon untersuchen, was Gott in der Welt tut und welchen Stellenwert die Liebe dabei hat.

Gott hat eine Mission in der Welt, und Liebe ist das Herzstück dieser Mission.

Die Wiederherstellung unserer Fähigkeit zu lieben

Gottes Mission beginnt mit Gnade. Unsere Fähigkeit, vollkommen und rückhaltlos zu lieben, wird durch Gottes Gnade wiederhergestellt. In anderen Worten: Gott weigert sich, die Menschen zu verwerfen, vielmehr nimmt er ihre Verwerfung auf sich und wirkt fortwährend in ihrem Leben, indem er sie hinlockt zum ursprünglichen Ziel – dass ihr Leben von Liebe durchdrungen sein möge. Dies beginnt mit dem, was Wesley als zuvorkommende Gnade bezeichnet. Was Wesley damit meinte, können wir nur verstehen, wenn wir wissen, was Wesley unter Gnade verstand. Gnade ist die verzeihende und verwandelnde Gegenwart von Gottes Geist, die uns von unserer Selbstbezogenheit befreit und zu einer dynamischen Gottesbeziehung hinzieht, sodass wir zu Geschöpfen werden, die von Gottes Liebe gesättigt sind. Zuvorkommende Gnade ist Gottes Gegenwart und Wirken in allen Menschen, die den Prozess begründet, der uns in eine verwandelnde Gottesbeziehung führt. Daher ist für Wesley Gottes Geist immer dort am Werk, wo sich Menschen von ihrer Selbstbezogenheit abwenden und einem Leben zuwenden, das das Wohl anderer sucht. Das gilt unabhängig davon, ob diese Person um die Gnade Gottes weiß, Christ ist oder irgendeine Kenntnis von Gott hat. Wir können dies wie folgt zusammenfassen:

– Gnade ist die Gegenwart und Kraft des Heiligen Geistes.

– Gnade erleuchtet, befähigt und verwandelt uns.

– Gnade bewirkt in uns, dass wir werden, wie Gott uns gewollt hat: von Liebe gesättigte Geschöpfe.

– Gnade ist persönlich und daher immer dynamisch und interaktiv.

– Gnade befähigt, aber sie zwingt nicht.

– Gnade ist frei, und ihre Folgen sind unvorhersehbar.

– Gnade ist in der Tiefe des menschlichen Wesens am Werk.

– Gnade ist im wechselseitigen Zusammenwirken von Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften am Werk.

– Gnade begegnet uns durch Mittel oder Werkzeuge.

Zuvorkommende Gnade wirkt in einer atheistischen Ärztin, die sich unter Gefahr ihres eigenen Lebens »Ärzte ohne Grenzen« anschließt, um kranken und leidenden Menschen zu helfen. Sie ist in einem hinduistischen Politiker am Werk, der seine politische Laufbahn dem Aufstieg der Armen widmet. Zuvorkommende Gnade ist auch in der Kirche und durch den Dienst der Kirche am Werk. Sie wirkt zum Beispiel im Leben von Kindern, die kirchlich aufwachsen und sich nicht erinnern können, wann sie zu einem persönlichen Glauben an Christus gefunden haben. Sie haben den Eindruck, dass Christus schon länger Teil ihres Lebens ist, als sie sich erinnern können. Geradezu aufsehenerregend kann Gnade auch durch die Predigt des Evangeliums wirken, sodass diese tief ins Leben von Menschen eindringt, sie spektakulär zum Glauben an Christus führt und sie verwandelt. Gnade verwandelt eine selbstbezogene Geschäftsperson, die nur auf ein möglichst großes Vermögen aus ist, in einen Menschen, der sich Gott und dem Wohl anderer widmet. Gnade ist so facettenreich, wie die Menschen sind. Sie begegnet uns unvermutet in der Not und zieht uns zum Gott der Liebe. Wesley beschrieb die zuvorkommende Gnade als Gegenwart und Wirken des Heiligen Geistes in allen Menschen, in allen Gesellschaften und allen Kulturen, die jeder menschlichen Reaktion und sogar dem Verstehen vorausgeht. Die zuvorkommende Gnade ist die Gnade, die uns befreit und befähigt, Gottes Liebe zu erwidern. Die zuvorkommende Gnade wirkt durch den Heiligen Geist, der Menschen aus ihrer Selbstbezogenheit in eine verwandelnde Gottesbeziehung zieht und sie dadurch befreit und befähigt, Gott und die Mitmenschen zu lieben. Wesleys Lehre von der zuvorkommenden Gnade hat viele Dimensionen. Die folgenden sind für unsere Betrachtung von Bedeutung:

– Zuvorkommende Gnade bewirkt in allen Menschen einen Sinn für Richtig und Falsch.

– Zuvorkommende Gnade schafft ein grundlegendes Bewusstsein für Gottes Gebot, die anderen zu lieben wie uns selbst.

– Zuvorkommende Gnade befähigt alle Menschen, dieses grundlegende Gebot in die Tat umzusetzen.

– Zuvorkommende Gnade erzeugt eine Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott, auch wenn Menschen nicht dazu fähig sind, diesen Wunsch zu formulieren.

– Zuvorkommende Gnade bereitet den Weg für eine umfassendere Offenbarung von Gottes Absicht für die Menschheit.

Wir finden bei allen Menschen und in allen Gesellschaften eine merkwürdige und instabile Mischung, die aus den Folgen menschlicher Selbstbezogenheit und der schon wirkenden zuvorkommenden Gnade entsteht. Es sollte uns nicht überraschen, wenn wir auf Menschen stoßen, die anderen Glaubens oder ohne Glauben sind und keinerlei Berührung mit dem Christentum haben und die trotzdem nach der Goldenen Regel leben. In etlichen seiner Schriften beschreibt Wesley das Ausmaß von Gerechtigkeit, Erbarmen und Wahrheit in nicht-christlichen Gesellschaften und stellt dies in positiver Weise der Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Unaufrichtigkeit gegenüber, die in »christlichen« Gesellschaften Europas zu finden sind. Alle Gesellschaften belegen die lieblose, selbstsüchtige Natur der Menschheit, aber auch die Gegenwart der zuvorkommenden Gnade, die bereits am Werk ist und die Fähigkeit wiederherstellt, Gott und die anderen zu lieben.

Gott, Israel und Liebe in der Bibel

Obwohl Gott zu allen Menschen in seiner vorausgehenden Gnade eine Beziehung herstellt, hat Gott sich entschieden, zum Volk Israel eine besondere Verbindung zu pflegen. Mit diesem Volk schloss Gott einen Bund und betraute es mit Weisungen für ein Leben in Gottes- und Nächstenliebe. Vielleicht lässt sich die Beziehung Gottes zu Israel am besten als konzentrierte Form zuvorkommender Gnade verstehen, die den Weg für das Kommen Christi bereitet.

Nach Wesleys Verständnis bereitete Gott das Kommen Christi vor, indem er Israel eine eingehendere Darstellung offenbarte, wie die Menschen seiner Vorstellung nach leben sollten. Die Zehn Gebote und die ethischen Gesetze, die sich vom zweiten bis ins fünfte Buch Mose sowie in den Schriften der Propheten finden, lehren, was es heißt, Gott und unsere Mitmenschen zu lieben. Sie erklären, was Liebe in bestimmten Situationen verlangt. Wenn man beispielsweise den eigenen Nachbarn liebt, wird man es unterlassen, diese Person zu bestehlen. Das Moralgesetz geht dann mehr ins Detail, beispielsweise mit Geboten, wie für Arme, Witwen, Waisen und Fremde zu sorgen ist.

Viele Christen finden die Gesetze für Israel im Alten Testament schwierig zu verstehen, und zumindest einige scheinen überholt. Wesley näherte sich den alttestamentlichen Gesetzen, indem er sie im Lichte dreier Kategorien interpretierte: das Moralgesetz, das Ritualgesetz und das Zivilgesetz. Das Ritualgesetz bezieht sich auf die verschiedenen religiösen Rituale, Zeremonien und die dazugehörigen Regelungen. Das Zivilgesetz ordnet die Belange der Zivilgesellschaft Israels in jener Zeit. Das Moralgesetz dagegen sei zeitlos und universal und gelte der ganzen Menschheit. Wesley deutete das Moralgesetz so, dass es Gottes Wille sei, Israel und die ganze Menschheit zu befähigen, Geschöpfe der Liebe zu werden.

Die Unterteilung der alttestamentlichen Gesetze in drei Kategorien geht nicht auf Wesley zurück; sie findet sich in den Glaubensartikeln der Kirche von England und reicht sogar bis vor Thomas von Aquin im dreizehnten Jahrhundert zurück. Diese Herangehensweise ans Alte Testament geht davon aus, dass die rituellen und zivilen Gesetze nur für Israel galten, die moralischen Gesetze hingegen bleibende Bedeutung haben, da sie das Wesen Gottes widerspiegeln, der Liebe ist. Wie Wesley erkannt hat, ist es nicht immer leicht zu entscheiden, zu welcher Kategorie ein bestimmtes Gesetz gehört. Tatsächlich haben einige Gesetze moralische, rituelle und zivile Aspekte. Ein interessantes Beispiel hierfür ist das Gesetz zu den Sabbat- und Erlassjahren (2. Mose 23,10–11; 3. Mose 25,1–55; 5. Mose 15,1–18). Wie auch beim Sabbattag können Aspekte dieser Gesetze als zeremoniell angesehen werden, als Teil des rituellen Lebens Israels. Sie hatten auch konkrete zivilrechtliche Bedeutung, indem sie Bestimmungen zum Schuldenerlass, zur Freilassung von Sklaven und für die Rückgabe von Land an die ursprünglichen Besitzer festlegten. Doch der Kern dieser Bestimmungen war Ausdruck der Liebe zu den Armen und Bedürftigen, zu jenen, die schwere Zeiten durchlitten hatten, und zum Land selbst. Wesley fasste die Ansprüche des Moralgesetzes oft in drei Begriffen zusammen: Gerechtigkeit, Erbarmen und Wahrheit. Für alle drei gibt es Beispiele in den alttestamentlichen Gesetzen. Gerechtigkeit verlangt ein faires Verfahren für Menschen, denen Verbrechen zur Last gelegt werden. Außerdem dient Gerechtigkeit dazu, den schwächsten Gliedern der Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit zu gewähren, um sicherzustellen, dass diese nicht ausgenutzt werden. Erbarmen geht darüber hinaus und versucht die Bedürfnisse derjenigen zu befriedigen, die von Wohlstand und Macht ausgeschlossen sind. Bauern wurden angewiesen, einen Teil der Ernte auf den Feldern für die Armen, Witwen, Waisen und Fremden zurückzulassen. Dieselben Gruppen wurden neben den Leviten als Nutznießer von Israels Zehnten genannt. Wahrheit erforderte Ehrbarkeit in allen Bereichen des Lebens, weshalb den Israeliten verboten war, falsche Maße oder Gewichte zu verwenden.