Zu schön, um falsch zu sein - Olaf L. Müller - E-Book

Zu schön, um falsch zu sein E-Book

Olaf L. Müller

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Beschreibung

Sind Wahrheit und Schönheit verbunden? Hilft es Naturwissenschaftlern, wenn sie ästhetisch denken? Lehrt uns Schönheit etwas über die Natur? Wenn einem wissenschaftlichen Gedanken Schönheit zukommt, steigt seine Glaubwürdigkeit: Zu diesem Satz haben sich führende Physiker seit Kepler und Newton bekannt, ohne rot zu werden. Umgekehrt ist manch ein wissenschaftlicher Gedanke zu hässlich, um wahr zu sein, und muss daher sterben. Doch warum orientieren sich Physiker so erfolgreich an ihrem Sinn für Ästhetik? Olaf L. Müller schaut den Genies bei ihrer schönheitsbeflissenen Arbeit über die Schulter. Wie er anhand zahlloser Beispiele aus Kunst, Musik und Dichtung vorführt, bestehen enge ästhetische Verwandtschaften zwischen künstlerischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften: Unser Schönheitssinn konstituiert einen Teil dessen, was wir in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis anstreben.

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Seitenzahl: 912

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Prof. Dr. Olaf L. Müller

Zu schön, um falsch zu sein

Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Förderhinweis][Motto]VorwortHinweise zum Gebrauch1. Kapitel. Schwierigkeiten mit der Schönheit (Einleitung)Teil I Streifzug durch die Wissenschaftsgeschichte2. Kapitel. Einstein und die Bewunderer der Schönheit seiner Relativitätstheorie3. Kapitel. Die Sonne als wunderschönes Heiligtum bei Kopernikus4. Kapitel. Kepler im Rausch der SchönheitTeil II Ästhetische Fallstudie in Newtons Dunkelkammer5. Kapitel. Newton als Ästhet6. Kapitel. Schönheit, Schock und Schmutz im Spektrum7. Kapitel. Synthese, Sauberkeit und SymmetrieTeil III Mit Newton vom schönen Experiment zur schönen Theorie8. Kapitel. Symmetrien beim Experimentieren, Argumentieren und Theoretisieren9. Kapitel. Symmetrie in den Künsten10. Kapitel. Idealisierung als Beschönigung mit theoretischer AbsichtTeil IV Fortsetzung der Fallstudie in Nussbaumers Atelier11. Kapitel. Farben mischen auf der spektralen Palette12. Kapitel. Goethes Coup mit kunterbunten Kontrapunkten13. Kapitel. Cage, die Stille und das DunkleTeil V Philosophische Verknüpfungen14. Kapitel. Vergleiche gehen kreuz und quer über alle Grenzen15. Kapitel. Schönheit und Glaubwürdigkeit16. Kapitel. Ästhetischer Subjektivismus ist absurd17. Kapitel. Eine humanistische Sicht der Naturwissenschaft (Ausblick)Mathematischer AnhangDer Gang der Argumentation im Überblick1. Kapitel: Schwierigkeiten mit der Schönheit (Einleitung)Teil I: Spaziergang durch die Wissenschaftsgeschichte2. Kapitel: Einstein und die Bewunderer der Schönheit seiner Relativitätstheorie3. Kapitel: Die Sonne als wunderschönes Heiligtum bei Kopernikus4. Kapitel: Kepler im Rausch der SchönheitTeil II: Ästhetische Fallstudie in Newtons Dunkelkammer5. Kapitel: Newton als Ästhet6. Kapitel: Schönheit, Schock und Schmutz im Spektrum7. Kapitel: Synthese, Sauberkeit und SymmetrieTeil III: Mit Newton vom schönen Experiment zur schönen Theorie8. Kapitel: Symmetrien beim Experimentieren, Argumentieren und Theoretisieren9. Kapitel: Symmetrien in den Künsten10. Kapitel: Idealisierung als Beschönigung mit theoretischer AbsichtTeil IV: Fortsetzung der Fallstudie in Nussbaumers Atelier11. Kapitel: Farben mischen auf der spektralen Palette12. Kapitel: Goethes Coup mit kunterbunten Kontrapunkten13. Kapitel: Cage, die Stille und das DunkleTeil V: Philosophische Verknüpfungen14. Kapitel: Vergleiche gehen kreuz und quer über alle Grenzen15. Kapitel: Schönheit und Glaubwürdigkeit16. Kapitel: Ästhetischer Subjektivismus ist absurd17. Kapitel: Eine humanistische Sicht der Naturwissenschaft(Ausblick)LiteraturverzeichnisWerkverzeichnisse (chronologisch)A) Schöne Literatur: Gedichte, Theaterstücke, Novellen, Romane, KurzgeschichtenB) FilmeC) MusikstückeD) Bildbeispiele aus der Kunst(mit Nachweisen)E) Nachweise für die FarbtafelnPersonenregisterTafelteil

für Wanda & Kalina,

die neuen Kundschafterinnen der Schönheiten dieser Welt

Gefördert aus Mitteln der Exzellenzinitiative (Förderlinie Freiräume an der Humboldt-Universität zu Berlin)

warhafftig steckt die kunst inn der natur, wer sie herauß kann reyssenn, der hat sie

Albrecht Dürer[1]

und die Schönheit der Natur spiegelt sich auch in der Schönheit der Naturwissenschaft

Werner Heisenberg[2]

Vorwort

In diesem Buch möchte ich Sie mit einem Erlebnis beglücken und mit einem Rätsel konfrontieren. Für das Erlebnis lade ich Sie ein, einige naturwissenschaftliche Errungenschaften zu betrachten – aber nicht in erster Linie mit dem Realitätssinn, sondern mit dem Schönheitssinn. Ich verspreche, dass Sie dabei etwas erleben werden, was Ihnen aus dem Umgang mit Kunst wohlvertraut ist: Einige großartige Experimente aus der Geschichte der Physik erfreuen unseren Sinn für Ästhetik nicht anders als einige großartige Kunstwerke aus Musik-, Film-, Literatur- und Kunstgeschichte.

Selbstverständlich behaupte ich nicht, dass die Schönheit eines Experiments und beispielsweise eines Musikstücks exakt demselben Muster folgt. Auch in den verschiedenen Kunstgattungen und -epochen verläuft Schönheit nicht auf exakt denselben Bahnen; selbst innerhalb des Œuvres eines Künstlers tut sie es nicht. Und doch arbeitet unser Schönheitssinn in allen diesen Bereichen nach vergleichbaren Richtlinien, auch in der Naturwissenschaft. Das Wort »Schönheit« ist überall gut am Platze; man kann es sogar mit Fug und Recht auf naturwissenschaftliche Theorien anwenden.

Damit komme ich zu dem Rätsel, das ich versprochen habe. Wie ein Blick in die Geschichte der Physik ohne jeden Zweifel zeigt, spielt der Sinn für Ästhetik eine herausragende Rolle für den wissenschaftlichen Fortschritt. Gerade die Genies der neuzeitlichen und modernen Physik setzen ihre Karten immer wieder auf das Schöne.

Ästhetischen Experimenten schenken sie größere Aufmerksamkeit als deren hässlichen Gebrüdern, darum feilen sie jahrelang an der Schönheit ihrer Versuchsaufbauten – und verschönern ihre Versuchsergebnisse. Beispielsweise Newton, der wohl wichtigste Physiker der Neuzeit: Mit einem herrlichen Experiment war es ihm gelungen, aus dem weißen Sonnenlicht die regenbogenbunten Bestandteile herauszuholen, die laut seiner Theorie darin enthalten sind; wenn die Theorie stimmt (so Newton), dann muss sich das regenbogenbunte Licht des Sonnenspektrums wieder in weißes Licht zurückverwandeln lassen. Was vorwärts funktioniert, muss auch rückwärts gehen.

Schöne Idee! Doch die Sache wollte ihm zunächst nicht recht gelingen; Newtons allererstes Experiment zur Weißherstellung ließ zu wünschen übrig, und nur mit gutem Willen konnte man die Schmutzeffekte übersehen, die das gewonnene »Weiß« störten. Statt sich damit abzufinden und die Sache kurzerhand verbal zu beschönigen (wie es nur zu oft geschieht), spuckte er in die Hände und versuchte es immer wieder. Innerhalb von über dreißig Jahren hat er ein halbes Dutzend Weißsynthesen veröffentlicht, eine schöner als die andere – aber keine perfekt. Wer sich in diese alten Experimente vertieft, wird schnell vom ruhelosen Perfektionismus dieses großen Experimentierkünstlers gefesselt. Wie Sie sehen werden, geht die Geschichte gut aus; noch zu Newtons Lebzeiten sollte sein Schüler Desaguliers das perfekte Experiment zur Weißsynthese veröffentlichen, und man hört förmlich Newtons Jubel über diesen Triumph.

Wie bei der experimentellen Arbeit, so auch bei der theoretischen: Die Physiker investieren ungeheure Mühen in die Formulierung schöner Theorien und geben sich nicht mit ihren hässlichen Schwestern zufrieden. Ja, manch eine Theorie (an die wir bis heute glauben) hat sich anfangs überhaupt nur aufgrund ihrer Schönheit durchgesetzt – und zwar selbst dann, wenn die von ihr verdrängte Theorie seinerzeit besser zu den Daten passte.

Offenbar halten Physiker schöne Errungenschaften ihrer wissenschaftlichen Arbeit für glaubwürdiger als unschöne. Sie verfahren nach dem Motto: Zu schön, um falsch zu sein. Und sie sind damit verblüffend erfolgreich, nicht anders als ihre Kolleginnen und Kollegen aus Chemie oder Biologie.

Wieso zum Teufel gilt das Motto in der Naturwissenschaft, insbesondere in der Physik? So lautet das Rätsel, das ich aufwerfen möchte. Weshalb können wir mit einer schönheitsbeflissenen Methode so viele wissenschaftliche Erfolge feiern? Warum dürfen wir unseren, menschlichen, Sinn für Ästhetik ins Spiel bringen, wenn wir herausfinden wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Als einst unser Universum mit einem großen Knall entstanden ist und sich seine Strukturen herausbildeten – warum entstanden dabei ausgerechnet diejenigen Strukturen, die Milliarden Jahre später von unbedeutenden Wesen in einer winzigen Ecke des Universums als hochästhetisch empfunden werden sollten? Wie man es auch dreht und wendet: Es grenzt an ein Wunder, dass Physiker ihren Schönheitssinn erfolgreich einsetzen können, wenn sie auf Wahrheitssuche sind.

Dass ich die richtige Antwort auf das Wunder wüsste, kann ich nicht behaupten; keiner weiß sie, soweit ich sehe. Es ist sogar umstritten, ob hier ein Wunder vorliegt. Selbstverständlich werde ich Ihnen die besten Antworten vorstellen, die mir begegnet oder eingefallen sind. Aber ich werde den Streit darüber nicht bis an den Punkt führen, wo sich das Gewicht der Argumente zwingend in eine Richtung neigt. Ist das schlimm? Ich meine nicht. Zuweilen tun wir gut daran, ein Rätsel in seiner ganzen Tiefe auszumessen – statt übereilt danach zu trachten, es zum Verschwinden zu bringen.

Kein Zweifel, es handelt sich um ein tiefes Rätsel. Die Naturwissenschaft ist eines der wichtigsten und mächtigsten Unterfangen, das uns Menschen offensteht, unser gesamtes Leben durchformt und hoffentlich verbessert. Und unser Schönheitssinn ist eine der wichtigsten und mächtigsten Quellen der Freude, ja des guten, gelingenden Lebens. Wenn nun Naturwissenschaft und Schönheitssinn auf innigere Weise zusammenhängen, als man kühlerweise denken könnte, so ist diese Tatsache von eminenter Bedeutung. Und das gilt auch dann, wenn wir uns noch keinen Reim darauf machen können. Um es zu wiederholen, ich kann das Rätsel nur aufwerfen, nicht lösen.

Da ich ohnehin gerade dabei bin, Schwächen einzugestehen, kann ich auf diesem Weg getrost noch ein Stückchen weitergehen. Und zwar habe ich das vorliegende Buch aus Versehen geschrieben. Eigentlich war ich mit einem anderen Buchprojekt zur Geschichte und Wissenschaftstheorie der Optik unterwegs, da fiel mir auf, wie ästhetisch es in dieser physikalischen Disziplin zugeht – und wieviel Freude mir das bereitet. Also wollte ich ein kurzes Kapitel zu diesem Thema einschieben. Ich besorgte mir einen ständig wachsenden Berg an Literatur, war von vielem fasziniert, von allem verwirrt und mit nichts zufrieden; so ist mir das Thema explodiert, sieben fette Jahre lang.

Es mag viele verschiedene Zugänge zur Schönheit in der Physik geben; man könnte z.B. systematisch argumentierend vorgehen oder historisch sortierend. Weder das eine noch das andere finden Sie im Herzstück dieses Buchs, denn ich gehe in erster Linie vor wie ein Kundschafter in unvertrautem Gelände – explorativ, verbindend und sammelnd.

Mein Hauptziel besteht darin, anhand konkreter Fälle aus der Physikgeschichte einige derjenigen vielfältigen Gesichtspunkte aufzuspüren und vorzuführen, die für die ästhetische Beurteilung physikalischer Experimente, Argumente oder Theorien einschlägig sind, z.B. Symmetrie oder Überraschungskraft. Diese Gesichtspunkte lassen sich in ihrer ästhetischen Wirkung nur dann nachvollziehen, wenn man ihre Gegenstände (die fraglichen physikalischen Errungenschaften) klar vor Augen hat; daher lege ich großes Gewicht auf die Erklärung der betrachteten Experimente und Theorien.

Aber das alleine genügt nicht, wie ich meine. Bevor wir in der Physik von ästhetischen Errungenschaften sprechen können, müssen wir uns vergewissern, dass sie sich an Errungenschaften in den Künsten anschließen lassen; die einschlägigen Gesichtspunkte müssen in beiden Bereichen zueinander passen, müssen irgendwie miteinander verwandt sein.

Systematisch argumentierend lässt sich diese Verbindung nicht erzwingen. Warum nicht? Unter anderem deshalb nicht, weil keine allgemeine Definition des Schönen oder des Ästhetischen in Sicht ist, die für alle Bereiche gut funktioniert und sich zum Subsumieren eignet. Das Feld der Phänomene ist bei weitem zu vielfältig für so eine Herangehensweise.

Stattdessen könnte man versuchen, eine historische Ordnung in die Phänomene zu bringen, also transdisziplinär der Entwicklung des Schönheitssinns durch den Lauf der Jahrhunderte nachzuspüren. Ich habe mich gegen diese Herangehensweise entschieden, weil sie dem Gedankengang ein zu starres zeitliches Korsett aufgezwungen hätte. In der Tat: Wenn wir schon Grenzen sprengen und munter von einer (z.B. naturwissenschaftlichen) Disziplin in die andere (z.B. künstlerische) Disziplin springen – warum sollen wir nicht auch mutig von einer Epoche in die andere springen, etwa von der frühen Neuzeit in die Moderne – und von dort zurück ins Barock? Warum nicht Transdisziplinarität mit Transtemporalität verbinden?

Oder wäre das etwa zu undiszipliniert? Wieso denn! Es ist ein verbreitetes Vorurteil, dass man nur dann über einen kulturellen Gegenstand sprechen darf, wenn man seine Vorgeschichte einbezieht. Meiner Ansicht nach bietet der historische Denkstil lediglich einen der vielen zulässigen Zugänge zu einem Gegenstand; je nach Lage der Dinge kann er die Betrachtung fördern oder hemmen – bei meinem Thema wäre er hemmend, weil er bestimmte erhellende Vergleiche von vornherein ausschließt. Demgegenüber werde ich ohne historische Skrupel bei einem newtonischen Experiment u.a. auf Charakteristika aufmerksam machen, die sich in einem bestimmten Gemälde Mondrians wiederfinden; bei einem anderen newtonischen Experiment sind es Charakteristika eines Bach-Kanons, die sich wiederum in der modernen Teilchenphysik ausmachen lassen und zusätzlich bestimmten cineastischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte ähneln; und so weiter.

Wohlgemerkt, ich behaupte nicht, dass sich das zuerst erwähnte Experiment Newtons ästhetisch auf das fragliche Gemälde Mondrians ausgewirkt hätte oder dass Bach beim Komponieren seines Kanons von dem anderen Experiment beeinflusst worden wäre. Gerade weil ich mein Material nicht historisch sortiere, komme ich um leidige, aber beliebte Fragen wie die nach Einfluss, Vorreiterei oder Epigonentum herum; sie sind für meine Zwecke uninteressant.

Es gibt eine verwandte Frage, die bei Theoretikern der Ästhetik ebenfalls beliebt ist und zu der ich in diesem Buch genauso wenig sagen werde: Natur oder Kultur? Es mag sein, dass Einsatz und Wertschätzung einiger ästhetischer Charakteristika, die ich behandeln werde, kulturell gewachsen sind; und es mag sein, dass dies bei einigen anderen Charakteristika nicht gilt, dass deren Wirksamkeit also eher zu unserer biologischen oder anthropologischen Grundausstattung gehört; und es mag eine Grauzone zwischen den beiden Polen geben. Angesichts dieser Skala könnte man in uferlose Grübeleien versinken. Ich werde dem aus einem einfachen Grunde widerstehen: Was aus meinen zeit- und fächerübergreifenden Vergleichen für die Frage nach Natur oder Kultur der Ästhetik gelernt werden könnte, weiß ich noch nicht – vielleicht wäre dies ein ergiebiges Thema für weitere Forschungen.

Wie auch immer; dass die Vergleiche kreuz und quer durch Disziplinen wie Epochen erlaubt sind, weil sie für sich allein funktionieren, ist die Pointe des vorliegenden Buchs. Sie ergibt sich weder aus systematischer Argumentation noch aus historischer Narration. Wenn sie Hand und Fuß hat, so tritt sie aus meinen Vergleichen allmählich hervor – vor Augen und Ohren derjenigen Leserinnen und Leser, die den Beispielen nicht ohne kritische Sympathie zu folgen geneigt sind.

Selbstverständlich rechne ich nicht damit, dass Sie all meinen ästhetischen Betrachtungen beipflichten; auf hundertprozentige Übereinstimmung kommt es zum Glück nicht an. Nein, mir ist es darum zu tun, Ihnen Betrachtungsweisen und Gesichtspunkte anzubieten, in deren Lichte ich selber und einige meiner Geprächspartner begeistert auf dies Kunstwerk oder das Experiment oder jene Theorie zu reagieren pflegen. Mit dem Angebot lade ich Sie ein zu prüfen, ob es Ihnen ähnlich geht. Dass diese Einladung ein gewisses subjektives Element mit sich bringt, lässt sich nicht vermeiden; so wie jeder andere folge auch ich einem persönlich geprägten Weg durch die Schönheiten dieser Welt.

Mir ist beispielsweise die ästhetische Kategorie des Erhabenen weitgehend fremd, daher kommt sie in meinem Buch kaum vor. Aber nicht deshalb, weil ich diese Kategorie verdächtig fände oder mich über deren Freunde erheben wollte – im Gegenteil, ich wäre froh, wenn ich mehr mit ihr anzufangen wüsste. Zu fremdeln ist ja kein Zeichen von Stärke.

Nach allen diesen Eingeständnissen lässt sich jetzt vielleicht nachvollziehen, warum ich dieses Buch in der Ich-Form schreibe: Es geht mir nicht darum, mich egozentrisch in den Vordergrund zu spielen, sondern um ein deutliches grammatisches Signal der Bescheidenheit. Ich beanspruche mit meinen Wertungen keine Allgemeingültigkeit; es handelt sich nur um Einladungen an Sie, das Vorgeschlagene auszuprobieren; dies Buch ist also eine Art offener Brief.

Noch einmal: Man kann darüber streiten, welche Beispiele sich für die Zwecke des angestrebten Vergleichs zwischen Kunst und Naturwissenschaft am besten eignen, und ich wäre nicht gut beraten, wenn ich meine Beispiele mit Klauen und Zähnen verteidigen wollte. Zweierlei ist wichtiger: Einerseits tun Beispiele not; rein abstrakt lässt sich das ganze Unterfangen nicht durchführen, ja nicht einmal beginnen. Andererseits gibt es Beispiele in Hülle und Fülle. Ich lade Sie ein, aus Ihrer eigenen Kunsterfahrung nach neuen Beispielen für das zu suchen, was ich mit den meinigen zu illustrieren versuche. Wie Sie sehen werden, lohnt sich die Übung. Unter anderem schärft und erfrischt sie die Aufmerksamkeit für Kunstwerke; und sie steigert das Verständnis dessen, was Naturwissenschaftler antreibt.

Spitzen Sie die Ohren, sperren Sie Ihre Augen auf – und machen Sie mit!

 

Olaf L. Müller, Łagów, im August 2018

Hinweise zum Gebrauch

Viele der Hauptgedanken dieses Buchs lassen sich gut durch gründlichen Blick auf die Bilder nachvollziehen; daher habe ich die Schwarz/Weiß-Abbildungen im Text und die wissenschaftlichen Farbtafeln im Anhang Tafelteil mit ausführlichen Beschreibungen versehen; diese Abbildungsbeschreibungen geben knapp das wieder, was ich auch im Haupttext zu den Bildern sage, müssen also bei fortlaufender Lektüre nicht eigens konsultiert werden. Wie ich hoffe, werden Sie von der Betrachtung der Bilder in den Text selbst gelockt. Die farbigen Kunsttafeln finden Sie ebenfalls im Anhang Tafelteil; die dort versammelten Werke können für sich selber stehen, daher habe ich sie ohne eigene Beschreibung abgebildet und nur im Haupttext kommentiert.

Die Passagen meines Textes (wie z.B. der nächste Absatz), die den Hauptgedankengang vertiefen, ohne für sein Verständnis nötig zu sein, sind kleingedruckt. So finden sich im Kleingedruckten unter der Überschrift »Vertiefungsmöglichkeit« weiterführende Überlegungen, offene Probleme, Anregungen zum Weiterdenken und Richtigstellungen von Details, die im Haupttext um der Kürze willen vereinfacht dargestellt werden mussten.

Hinweis. Längere kleingedruckte Passagen (wie z.B. die physikalische Beispielsammlung zur Symmetrie im 8. Kapitel, ab § 8.16) stehen immer am Ende eines Kapitels; ich setze sie vom großgedruckten Haupttext ab, indem ich ihnen folgendes Signal vorausschicke:

* * *

Dieses Signal soll andeuten, dass der Hauptgedanke im nächsten Kapitel weitergeht, dass also ungeduldige Leserinnen und Leser ihre Lektüre gleich beim folgenden Kapitel fortsetzen können, ohne etwas wesentliches zu verpassen. (Dasselbe Signal zwischen zwei kleingedruckten Passagen weist darauf hin, dass es sich um getrennte Detailüberlegungen handelt, die nichts miteinander zu tun haben).

Am Ende des Buchs habe ich meinen Gedankengang in einer Übersicht zusammengefasst, siehe Der Gang der Argumentation im Überblick. Dies analytische Inhaltsverzeichnis soll in erster Linie dabei helfen, sich nach der Lektüre zu orientieren. Auch die Querverweise im Text (insbesondere die nach vorne) dienen der Orientierung beim zweiten Lesen. Alle Verweise mit Paragraphen-Nummern wie z.B. »siehe § 2.3« beziehen sich auf dieses Buch; ein Verweis wie »siehe § 2.3k« bezieht sich auf die kleingedruckte Vertiefungsmöglichkeit in § 2.3; einer wie »siehe § 2.3n« auf eine Anmerkung zu § 2.3.

Die Anmerkungen, die am Ende des Buchs versammelt sind, muss man nicht lesen, um meinem Gedankengang zu folgen; sie enthalten mit Ausnahme der jetzigen[3] nichts anderes als langweilige Literaturverweise, fremdsprachige Originalzitate sowie manchmal eine knappe Erörterung zu deren Übersetzung und Interpretation.

Zu den Zitaten und ihrer Übersetzung ins Deutsche: Eckig eingeklammerte Passagen in den Zitaten stammen allesamt von mir. Fremdsprachige Zitate haben wir zunächst wörtlich ins Deutsche übertragen (und dabei eventuell existierende Übersetzungen konsultiert). Ausgerechnet bei den wunderschönen Originalen aus Keplers Werken und Newtons Schriften sah die wörtliche Übersetzung grauenhaft aus; frühneuzeitliches Latein und alte britische Eleganz überträgt sich schon beim Satzbau nicht von allein ins Deutsche. Daher habe ich für die Endfassung aller übersetzten Zitate ausgiebig von der Binsenweisheit Gebrauch gemacht, dass jede Übersetzung Interpretation ist; der Verständlichkeit zuliebe sowie aus stilistischen Gründen habe ich den ursprünglichen Wortlaut z.T. erheblich verändert, und zwar auch bei bereits anderswo veröffentlichten Übersetzungen. Um das kenntlich zu machen, gebe ich in der Anmerkung nach jedem schon anderswo übersetzten Zitat zwar die Fundstelle der Übersetzung an, die ich herangezogen habe – aber immer dann mit dem Vorspann »vergl.«, wenn meine Fassung vom Wortlaut dieser Fundstelle abweicht. (Dieser Vorspann fehlt also nur in den wenigen Fällen, in denen ich kein Iota verändert habe.) Meine übersetzerische Freiheit hat einen angenehmen Nebeneffekt: Nicht immer ist es nötig, weggelassene Wörter durch »[…]« zu kennzeichnen. – Zur Beruhigung: Sämtliche übersetzten Zitate finden sich originalsprachlich in den Anmerkungen.

In Sachen Typographie haben wir nicht alle Feinheiten aus den Originalen kopiert. So haben wir Anführungszeichen innerhalb von Zitaten stets durch Gänsefüßchen wiedergegeben. Einige veraltete Sonderzeichen haben wir modernisiert: Gleichheitszeichen im Innern zusammengesetzter Substantive geben wir (wie heute üblich) in Form einfacher Bindestriche wieder; querliegende »E«s über Vokalen (wie z.B. »«) schreiben wir als Umlaute (»ü«). Hingegen haben wir das (vor allem in Fraktur auftauchende) scharfe »s« genauso wiedergegeben wie alle anderen »s«; diese Regel führte oft dort zu einem Doppel-S, wo man vielleicht ebensogut ein Esszett hätte schreiben können. Den im Newton-Englisch und Kepler-Latein manchmal zusammengezogenen Laut »æ« haben wir auseinandergeschrieben, wie in »phaenomena«, genauso für einen Laut wie »œ«. Zudem haben wir aus heutiger Sicht befremdende Leerzeichen (z.B. vor einem Komma) weggelassen. Wo wir Hervorhebungen aus dem Original übernommen haben, sind sie einheitlich kursiv gesetzt – einerlei, ob sie im Original durch kursiv, fett oder gesperrt geschriebene Wörter oder Unterstreichungen angezeigt wurden. Wir geben stets an, ob die Hervorhebungen aus dem Original stammen oder von mir.

1. Kapitel.Schwierigkeiten mit der Schönheit (Einleitung)

Eine sonderbare Tatsache§ 1.1.  Wer sich anheischig macht, einen universellen Kriterienkatalog für Schönheit aufzustellen, ist ein Narr. Oder ein Scharlatan. Trotzdem ist Schönheit mehr als Wischiwaschi: Hinter dem Ausruf Das ist schön! steckt mehr als die Zufälligkeit der augenblicklichen Stimmung und des individuellen Geschmacks; zumindest kann mehr dahinterstecken. Es gibt immerhin so etwas wie geschulten Geschmack. Und Schulung beruht nie nur auf Wischiwaschi.

Dass ich mit den allgemeinen Bemerkungen aus dem vorigen Absatz nicht ganz falsch liegen kann, zeigt ein extremer Fall: die Rolle formaler Schönheit in den exakten Naturwissenschaften. Diese Schönheit dient nicht einfach nur der guten Laune des Physikers oder dem Entzücken der Chemikerin.[4] Vielmehr ist es in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder vorgekommen, dass sich eine naturwissenschaftliche Theorie durchgesetzt hat, weil sie so schön war. Führende Physiker des 20. Jahrhunderts haben sich dazu bekannt, ohne rot zu werden: Wenn einem wissenschaftlichen Gedanken Schönheit zukommt, steigt seine Glaubwürdigkeit. Umgekehrt ist manch ein wissenschaftlicher Gedanke zu hässlich, um wahr zu sein, und muss sterben.

Zum Auftakt liefere ich nur ein einziges Zitat eines Naturwissenschaftlers, der dem Schönheitssinn allen Ernstes physikalische Erkenntniskräfte zuschreibt. Und zwar staunt der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg über

»die ziemlich sonderbare Tatsache, dass etwas so Persönliches und Subjektives wie unser Schönheitssinn uns nicht nur dabei hilft, physikalische Theorien zu erfinden, sondern auch deren Gültigkeit zu beurteilen«.[5]

Weinbergs Votum gibt wieder, was viele Naturwissenschaftler, insbesondere viele Physiker in dieser Angelegenheit denken; mehr Belege aus der Physik liefere ich im wissenschaftsgeschichtlichen Teil I.

Biologinnen und Chemiker orientieren sich bei ihrer Arbeit ebenfalls am Schönheitssinn.[6] Während ich meinen Schwerpunkt auf den physikalischen Schönheitssinn legen möchte, werde ich ab und zu auch auf schöne Errungenschaften aus Chemie und Biologie eingehen – die freilich mehr Aufmerksamkeit verdienen, als ich ihnen hier schenken kann.[7]

 

 

Verwandtschaftsthese§ 1.2.  Wenn es auf Schönheit sogar in den mathematischen Naturwissenschaften ankommt, in den diszipliniertesten Disziplinen also, die wir ausüben, dann kann unsere ästhetische Urteilskraft nicht vollständig dem Belieben anheimgestellt sein.[8] Und diese erfreuliche Botschaft dürfte sich zugunsten unserer ästhetischen Beurteilung von Kunstwerken auswirken, zugunsten der Respektabilität solcher Urteile – jedenfalls in dem Maße, in dem folgende These plausibel ist:

(V)

Der Schönheitssinn, den Naturwissenschaftler zur Beurteilung ihrer Arbeitsergebnisse einsetzen, ist eng verwandt (wenn auch nicht identisch) mit dem Schönheitssinn, mit dessen Hilfe wir Kunstwerke beurteilen.

Zugunsten dieser Verwandtschaftsthese werde ich im Herzstück meiner Untersuchung eine detaillierte Fallstudie zur newtonischen Optik durchführen (Teile II bis IV). Beweisen werde ich die Verwandtschaftsthese nicht. Solche Thesen lassen sich allenfalls in günstiges Licht tauchen, exemplarisch. So werde ich Sie an vielen Stellen meiner Untersuchung auf Parallelen zwischen naturwissenschaftlicher und künstlerischer Schönheit aufmerksam machen, genauer gesagt: auf Parallelen zwischen Schönheit in physikalischen Errungenschaften (Experimenten, Theorien) und Schönheit in einigen Kunstwerken: hauptsächlich in Musikstücken, aber auch in Romanen, Gedichten, Filmen, Gemälden.

 

 

Z.B. Symmetrie§ 1.3.  Als Ergebnis meiner Fallstudie wird nicht herauskommen, dass ästhetische Wertschätzung in Physik und Kunst ein und dasselbe wäre; es gibt Unterschiede, und manche davon sind wichtig (mehr dazu im Rest dieser Einleitung). Aber je mehr aufschlussreiche Parallelen sich zwischen beiden Arten der ästhetischen Wertschätzung ziehen lassen, desto plausibler wird die Verwandtschaftsthese. Das Wort »Schönheit« bedeutet hier wie da ungefähr dasselbe, und der Schönheitssinn orientiert sich in beiden Bereichen an vergleichbaren Gesichtspunkten.

Dass ich meine Betrachtungen zur Naturwissenschaft auf die Physik konzentriere, hat eine Konsequenz, die ich besser gleich von Anbeginn herausstreichen sollte. Es geht mir in diesem Buch zuallererst um das, was man formale Schönheit in der Physik nennen könnte. Sie offenbart sich z.B. in symmetrischen Strukturen – etwa in der geometrischen Symmetrie von Versuchsanordnungen oder in der Symmetrie der mathematischen Gleichungen und Lehrsätze, mit deren Hilfe eine physikalische Theorie formuliert ist. Oft wird in diesem Zusammenhang von mathematischer Schönheit gesprochen, doch davon sollte man sich nicht einschüchtern lassen. Was es damit auf sich hat, lässt sich Schritt für Schritt erklären, ohne dass dies in Mathematik-Lektionen ausarten müsste.

In der Tat ist die formale Schönheit ein wichtiger Aspekt unseres Themas; und Symmetrien in physikalischen Experimenten oder Theorien bieten einen besonders aufschlussreichen Blickfang für die Würdigung formaler Schönheiten.[9] Dass Symmetrien auch bei der ästhetischen Beurteilung von Kunstwerken von Interesse sind (wenn auch weniger wichtig als in der Physik), verbindet die Schönheiten beider Bereiche miteinander. Daher findet sich genau in der Mitte meiner Untersuchung ein eigenes Kapitel mit zahlreichen Beispielen zu Symmetrien in Musik, Erzählkunst und Film (9. Kapitel). Obgleich Symmetrien in Naturwissenschaften und Künsten für unser Thema von besonderer Bedeutung sind, werde ich im Verlauf der Untersuchung viele andere Parallelen zwischen künstlerischer und naturwissenschaftlicher Schönheit ziehen.

Vertiefungsmöglichkeit. Um das Feld abzustecken, möchte ich mich zum Auftakt von zwei Autoren und deren Gegenpositionen abgrenzen. Erstens: Indem er die Naturwissenschaft nur mit bildender Kunst vergleicht (statt, wie ich es vorhabe, auch mit Musik, Filmkunst, Erzählkunst usw.), kommt der Chemiker und Philosoph Joachim Schummer zu einem Ergebnis, mit dem ich nicht einverstanden bin; seiner Ansicht nach bedeutet der Ausdruck »Schönheit« bei Naturwissenschaftlern etwas anderes als bei Künstlern, schon weil Naturwissenschaftler im Gegensatz zu Künstlern großen Wert auf Symmetrien legen. Schummer beruft sich u.a. auf den großen Königsberger, auf Immanuel Kant.[10] Ich werde Schummers Position später kurz streifen, will aber nicht ausschließlich über Symmetrien in Bildern und Skulpturen diskutieren. Für die Zwecke meiner Untersuchung ist es instruktiver, den Blick zu weiten und z.B. auch Symmetrien in Physik und Musik miteinander zu vergleichen.

Zweitens: Der Philosoph James McAllister, der eine ganze Monographie über Schönheit in der Naturwissenschaft geschrieben hat, geht in seiner Diskussion zu weit über den Aspekt mathematischer Schönheit hinaus. Zum Beispiel rechnet er die metaphysischen Annahmen einer Theorie zu dem hinzu, worauf unser Schönheitssinn bei der Theorienwahl achtet.[11] Meiner Ansicht nach bringt es wenig Vorteile, den Schönheitssinn zu überdehnen. Mehr dazu in § 15.11 und im Kleingedruckten in § 2.16k, § 3.5k, § 4.1k.

 

Unterschiede: Erstens Redeweisen§ 1.4.  Im weiteren Verlauf dieser Einleitung möchte ich auf Unterschiede zwischen der ästhetischen Wertschätzung in der Physik und ihrem Gegenstück in den Künsten zu sprechen kommen – nicht zuletzt deshalb, weil ich dem Verdacht undifferenzierter Gleichmacherei von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen will.

Einige dieser Unterschiede liegen an der sprachlichen Oberfläche und haben ausschließlich mit dem Wort »schön« zu tun, nicht so sehr mit dem zugehörigen Begriff – es geht zunächst nur um Stilfragen und Benimmregeln beim kultivierten Sprechen. Wer nicht als Banause gelten will, muss ihnen Rechnung tragen; ich werde mich vor ihnen verbeugen, um ihnen Tribut zu zollen. Im Rest dieses Buchs werde ich sie nicht weiter beachten, denn ich möchte den Blick auf wichtigere Fragen freibekommen.

Im ästhetischen Austausch über physikalische Theorien und Experimente taucht oft der Ausdruck »schön« auf, und das nicht nur mit schwärmerischer Absicht. Hingegen schrecken seit ungefähr hundert Jahren bildende Künstler und abgeklärte Kommentatoren der Kunst ebenso wie Musiker und Musiktheoretiker davor zurück, das Wort »schön« einzusetzen, um den ästhetischen Wert eines Bildes oder Musikstücks herauszustreichen.[12]

Das Wort hat sich in ihren Augen gründlich diskreditiert – oder jedenfalls abgenutzt. Es erinnert sie zu sehr an entzückte Geschmacksempfindungen oder an verfehlte philosophische Theorien vom Schönen. Wie ich im kommenden Paragraphen entfalten werde, gilt die Rede vom Geschmack in der Kunstwelt als Geschmacksverirrung.

 

 

Geschmack?§ 1.5.  Zunächst also zum Thema Geschmack. In der Kunstwelt ist es verpönt, sich auf den Geschmack zu berufen. So sagt der Wiener Künstler Ingo Nussbaumer voller Sarkasmus:

»Geschmack! Da kann ich ja gleich sagen, mir schmeckt die Wurst«.[13]

Im Gegensatz dazu geben sich Naturwissenschaftler (wie z.B. der britische Physiker und Mathematiker Roger Penrose) angesichts ihrer Arbeitsergebnisse weit unbefangener und verknüpfen Wörter wie »Schönheit« sogar mit der Rede vom Geschmack.[14] Im selben Stil brechen sie gleich noch ein anderes Tabu aus der Kunstwelt und loben die hübsche Mathematik ihrer Theorien – ohne sich davon beeindrucken zu lassen, dass der Ausdruck »hübsch« in der Kunst einem Todesurteil gleichkommt. (Ich belege das im Kleingedruckten am Ende dieses Paragraphen.)

Vielleicht lässt sich die Unbefangenheit, mit der die Naturwissenschaftler reden, folgendermaßen erklären. Wer im Bereich der Kunst vom Schönen oder gar Hübschen zu reden wagt, macht sich verdächtig, nur auf die sinnlich zugänglichen Aspekte der gelobten Kunstwerke zu achten; ein fauxpas bei den Neureichen. Denen entgeht, dass man eine Menge wissen muss, um Kunst würdigen zu können. Hinsehen oder Hinhören alleine reicht selten; ich werde darauf zurückkommen.[15]

Des Fehlers der Neureichen können sich die Naturwissenschaftler (angesichts ihrer theoretischen Arbeitsergebnisse) kaum schuldig machen. In ihre ästhetische Wertschätzung fließt ganz sicher mehr ein als bloß sinnliche Wahrnehmung. Aus dieser Überlegung ergibt sich, dass die abgeklärtere Redeweise aus der Kunstwelt inhaltlich am Ende doch nicht schlecht zu meiner Verwandtschaftsthese passt.[16]

Vertiefungsmöglichkeit. Die auf Künstler anstößig wirkende Rede von Geschmack hat Kant in die philosophische Ästhetik eingeführt, indem er anstelle des heute naheliegenden Ausdrucks »ästhetisches Urteil« vom »Geschmacksurteil« redet.[17] In der Philosophie werden bis heute unbekümmert beide Ausdrücke nebeneinander gebraucht.[18] Auch außerhalb der Philosophie ist eine derartige Redeweise weit verbreitet. Ausdrücke wie »hübsch« stehen dagegen bei philosophischen Ästhetikern nicht hoch im Kurs, anders als bei den Physikern. Ein Aufsatz des Physik-Nobelpreisträgers Paul Dirac heißt z.B. »Pretty mathematics«, wie der britische Publizist Arthur Piper pikiert kritisiert.[19]

Nicht ganz so allergisch, aber immer noch mit Befremden dürften Vertreter aus der Kunstwelt und aus der Ästhetik darauf reagieren, wenn Physiker und Mathematiker die Eleganz einer Theorie, eines Beweises, eines Experiments oder einer Präsentation loben. Denn die Rede von der Eleganz eines Kunstwerks gilt nicht als hohes Lob. Oft ist sie abwertend gemeint und streicht die Belanglosigkeit des Kunstwerks heraus oder seine mangelnde Originalität. In meinen Betrachtungen möchte ich keinen terminologischen Grenzpfahl zwischen Eleganz und Schönheit festklopfen. Wie man das im Fall der Physik mit Gewinn tun kann und warum dann Schönheit erkenntnistheoretisch wichtiger ist als Eleganz, führt Weinberg vor.[20]

 

Ästhetisch§ 1.6.  Die misslichen Assoziationen mit dem Hübschen, Niedlichen, Geschmäcklerischen oder Belanglosen, die ich im vorigen Paragraphen aufgerufen habe, bringen Ausdrücke wie »ästhetisch gelungen«, »ästhetisch wertvoll« oder einfach nur »ästhetisch« nicht mit sich. Daher kommt das Ästhetische im Gespräch über Kunst öfter vor. Sollte ich mir die Rede vom Schönen daher besser verkneifen und stattdessen immer auf das abgeklärtere Wort griechischen Ursprungs zurückgreifen?

Ich habe mich dagegen entschieden: Erstens will ich mich um bloße Divergenzen im Sprachgebrauch nicht scheren. Physiker des 20. Jahrhunderts haben sich nun einmal eine schwärmerische Ausdrucksweise angewöhnt, und das just in dem Augenblick, in dem Musiker, Künstler, Kunstkritiker der Schwärmerei aus früheren Tagen überdrüssig wurden und sich abgeklärter zu geben begannen. Das macht nichts; Moden des Wortgebrauchs haben mit der Sache nicht viel zu tun, und wir können sie links liegen lassen.

Noch eine zweite Überlegung spricht dagegen, immer nur auf Griechisch weiterzureden: Sogar der offene und vielschichtige Ausdruck »ästhetisch« eignet sich in den Augen der Künstler nur bedingt fürs Gespräch über Kunst. Auch dieser Ausdruck kann abfällig gebraucht werden – eine Frage des Tonfalls.

 

 

Spezielles Lob§ 1.7.  Wo bleibt das Positive? Darf man denn als Mitglied oder Gast der Kunstwelt kein Kunstwerk loben? Doch, man darf. Man kann sich konkreterer Redewendungen bedienen, z.B.:

»Unglaublich, wie er diese Linie zieht«,

oder:

»Das Bild ist eine beeindruckende Lösung zur Figuration der abstrakten Form«,

oder auch einfach nur:

»Tolles Bild«.[21]

Schon der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein hat uns daran erinnert, dass das Wort »schön« im ästhetischen Austausch über Kunst-werke keine große Rolle spielt. Er sagt nicht ohne Überspitzung:

»Es ist merkwürdig, über das Wort ›schön‹ zu sprechen; denn es wird kaum je gebraucht.«[22]

»In unseren tatsächlichen ästhetischen Urteilen kommen erstaunlicherweise ästhetische Adjektive wie ›schön‹, ›herrlich‹ usw. kaum vor. Werden ästhetische Adjektive in der Musikkritik benutzt? Man sagt: ›Betrachte diesen Übergang‹, oder […] ›Die Passage ist inkohärent‹. Oder in der Besprechung eines Gedichtes sagt man […]: ›Er gebraucht präzise Bilder‹.«[23]

Das ist fein beobachtet. Trotzdem glaube ich, dass wir auch allgemeine Ausdrücke für ästhetisches Lob brauchen.[24] Ich werde daher oft genug vom Schönen reden, dann wieder vom ästhetisch Gelungenen – und je nach Lage der Dinge benutze ich auch Ausdrücke wie »gut« im Sinne ästhetischer Wertschätzung, etwa in der Rede von einem guten Film. Es ist verblüffend, wie sich manche Redeweisen mit Blick auf die eine Kunstgattung aufdrängen und mit Blick auf die andere verbieten. Und so kann es nicht schaden, viele verschiedene Ausdrücke mit unterschiedlichen Nuancen im Gepäck zu haben – nur über die verniedlichende Rede vom Hübschen werde ich kommentarlos hinwegsehen.

Vertiefungsmöglichkeit. Der Zweifel an der Rede vom Schönen, den ich behandelt habe, stellt nur die Spitze eines Eisbergs dar. So ist der Amerikaner Barnett Newman ein Beispiel für einen Künstler, der sich vollständig vom Streben nach Schönheit in der Kunst abgewendet hat, und zwar nach einem Rundumschlag durch die gesamte europäische Geistesgeschichte:

»Die Erfindung der Schönheit durch die Griechen, das heißt das Postulat des Schönen als Ideal, war schon immer das Schreckgespenst der europäischen Kunst und ihrer ästhetischen Philosophien. Die natürliche Sehnsucht des Menschen, in den Künsten sein Verhältnis zum Absoluten auszudrücken, wurde mit dem Absolutismus vollkommener Schöpfungen identifiziert und verwechselt – mit dem Fetisch namens Qualität. Infolgedessen rackert sich der europäische Künstler fortwährend im moralischen Widerstreit zwischen der Idee der Schönheit und der Sehnsucht nach dem Erhabenen ab […] Ich glaube, dass einige von uns hier in Amerika, befreit vom Ballast der europäischen Kultur, die Antwort finden, indem unsere Kunst die vertrackte Suche nach dem Schönen konsequent ausklammert«.[25]

Es würde unseren Rahmen sprengen, wenn ich mich mit solchen Haltungen auseinandersetzen müsste. Wer sich auf sie einlässt und ihre künstlerischen Konsequenzen auslotet, mag daraus vielleicht viel Gutes ziehen, aber meine Untersuchung ist nicht der rechte Ort dafür.

 

define your terms!§ 1.8.  Ich ahne es, jetzt wird sicher jemand wissen wollen, warum ich nicht einfach klipp und klar definiere, wie ich die Wörter »schön«, »ästhetisch« usw. verstanden wissen möchte. Um das zu beantworten, muss ich ein weitverbreitetes Vorurteil zum korrekten Vorgehen in der Philosophie entkräften: Wer erwartet, dass man nur anfangen kann zu philosophieren, nachdem man seine Begriffe erklärt oder gar strikt definiert hat, täuscht sich.[26] Fast immer ist das Gegenteil der Fall. Viele spannende philosophische Debatten werden im Keim erstickt, wenn man vorab den Boden bereiten soll, auf dem debattiert wird. Und wer sauber definieren will, kommt leicht vom Hundertsten ins Tausendste.[27]

Oft genügt für den Start ein intuitives Vorverständnis der Begriffe. Sie schärfen sich fast immer wie von allein während der eigentlichen Arbeit, in ihrem Gebrauch. Und das intuitive Vorverständnis lässt sich am besten anhand von Beispielen wecken. So auch hier: Für meine Zwecke genügt es, wenn ich Ihnen im Lauf der Untersuchung plausible Beispiele für naturwissenschaftliche und künstlerische Errungenschaften zeige, die man gern schön nennen möchte – und wenn ich in jedem einzelnen Fall kurz erläutere, welche Gesichtspunkte dabei relevant sind. Wem das Schönheitserlebnis fremd ist, der wird daraus nichts lernen; ihm würde aber auch eine Definition nichts bringen.

Ähnlich bei der Rede vom ästhetisch Gelungenen. Wie vor kurzem dargetan brauchen wir Ausdrücke, um ästhetisches Lob auszudrücken, um also eine positive Reaktion unseres Schönheitssinns zu Protokoll zu geben. Oft, aber sicher nicht immer drängt sich uns in solchen Fällen dann das Wort »schön« auf, wenn wir zu unserer positiven Reaktion ohne erhebliche Vermittlung des Intellekts gelangen; und wo mehr Vernunft im Spiel ist, drängt sich uns vielleicht eher der Ausdruck »ästhetisch gelungen« auf. Aber diese Faustregel gilt nicht immer. Die Physiker sprechen mit Blick auf ihre Theorien ganz ungeniert von Schönheit – und das können sie nur tun, nachdem sie sich intellektuelle Anstrengungen abverlangt haben.

Insgesamt vertraue ich darauf, dass wir uns angesichts konkreter Fälle hinreichend oft einig darüber sind, was wir ästhetisch gelungen nennen wollen und was schön – und was weder das eine Lob noch das andere verdient.

Ja, vielleicht wird die Sache einfacher, wenn wir uns immer wieder auch auf diejenigen Charakteristika konzentrieren, in deren Lichte wir ein Kunstwerk, ein Experiment oder eine Theorie nicht schön finden, sondern ästhetisch misslungen. In hochgestochener Redeweise liefe das auf eine Ästhetik des Hässlichen hinaus – die selbstverständlich schon seit langem betrieben wird.[28]

Ich finde den Namen dieses Projekts schön, wenn auch etwas übertrieben. Es geht ja nicht um Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse, Schön oder Hässlich – sondern um die grauen und hochinteressanten Zwischentöne. Und so werde ich etwa bei der Diskussion der Optik Isaac Newtons einige Experimente bringen, die zwar insgesamt ästhetisch gelungen sind, gleichwohl hie und da zu wünschen übrig lassen; sie sind etwas hässlich, und man kann sehr genau sagen, woran das liegt. Als unverbesserlicher Optimist werde ich nicht beim Lamento stehenbleiben, sondern zeigen, wie Newton oder seine Nachfolger die fraglichen Experimente zu verschönern wussten.[29]

 

 

Schön und hässlich zugleich§ 1.9.  Ich würde es mir zu leicht machen, wenn ich mich lediglich darauf zurückzöge, dass in der Kunstwelt zurückhaltender mit gewissen Wörtern umgegangen wird als unter Normalsterblichen. Die Schwierigkeit liegt nicht nur im Sprachgebrauch. Das zeigt folgende Betrachtung, die sich zunächst bei der bildenden Kunst aufdrängt und offenbar kein naturwissenschaftliches Gegenstück hat.

Es ist nicht die Aufgabe der bildenden Kunst, immer nur das Schöne abzubilden. Erstens deshalb nicht, weil sie nicht immer etwas abbilden muss. Und zweitens gibt es Bilder, die auf gelungene Weise etwas abbilden, was wir nie und nimmer »schön« nennen würden.[30] Das lässt sich anhand des Portraits aus dem Jahr 1514 illustrieren, das der Maler und Mathematiker Albrecht Dürer von seiner alten Mutter gezeichnet hat (Abb. 1.9).[31] Ihr faltiges und knochiges Gesicht ist im Halbprofil dargestellt, ihre Wangen sind eingefallen, die Lippen schmal, die Nase scharf, der magere Hals sehnig. Ihr rechtes Auge scheint in eine andere Richtung zu starren als das linke, so als ob sie schielt. Ein Kopftuch deckt ihre Haare nachlässig ab, die Schultern sind nur angedeutet. Insgesamt sieht die Dargestellte so aus, wie sich Kinder eine böse Hexe vorstellen.

Abb. 1.9:

Albrecht Dürer, Bildnis seiner Mutter.

Es wäre seltsam, in solchen Fällen den Ausdruck »schön« zum Lob des Bildes heranzuziehen; soll man das Bild »schön und hässlich« zugleich nennen? Nein, diese paradox anmutende Redeweise lässt sich vermeiden, wenn man sagt:

Dies ist ein ästhetisch gelungenes Bild von einem hässlichen Gesicht.

Ja, im strengen Sinne wäre es vielleicht nicht einmal paradox zu sagen:

Dies ist ein schönes Bild von einem hässlichen Gesicht.

Dennoch sträubt sich in mir der Sinn fürs Verständliche gegen eine solche Formulierung – vor allem deshalb, weil sich beide hervorgehobenen Ausdrücke auf visuelle Tatbestände beziehen. Und wir reden hier nicht über beschönigende Bilder von etwas Hässlichem.

Ich muss gestehen: Je länger ich Dürers Bild betrachte, desto weniger vermag ich die dargestellte Mutter hässlich zu nennen. Sie ist alt – aber hässlich? Ihre Nase mag etwas zu groß für ihr mageres Gesicht sein, hat aber eine edle Form, und den Blick der Mutter kann man durchgeistigt nennen (vor allem wenn man ihr rechtes Auge abdeckt).

Um hier klarer zu sehen, müssten wir vielleicht mehr Beispiele durchdenken. Ich bin davon überzeugt, dass es bei unserem Thema ganz allgemein instruktiv ist, immer wieder von einer Kunstgattung in eine andere überzuwechseln; ich werde das jedenfalls regelmäßig tun. Und so möchte ich im kommenden Paragraphen nach möglichen musikalischen Parallelen suchen.

Doch zuvor muss ich einen Schritt zurücktreten und fragen: Habe ich es mir vielleicht zu schwer gemacht? Können wir die Parallele zwischen Kunst und Wissenschaft nicht doch so weit ziehen, dass sich ihr auch die zuletzt behandelten Redeweisen fügen müssen? Gibt es denn keine schönen Theorien von hässlichen Phänomenen? Ja doch, es mag so etwas geben – etwa eine evolutionsbiologische Theorie von den Leibspeisen der Lämmergeier. Aber geben wir es zu: Hier läuft die ästhetische Wertschätzung auf ganz anderen Bahnen als im Fall schöner Kunstwerke, die etwas Hässliches darstellen; dass beide Redeweisen ähnlich klingen, bietet nur eine oberflächliche Parallele.

 

 

Dasselbe in der Musik?§ 1.10.  Kann es in der Musik das geben, worauf ich Sie anhand von Dürers Bild aufmerksam gemacht habe? Wenn überhaupt, dann dort in der Musik, wo auch etwas dargestellt wird – also etwa in Sakralwerken, Opern oder in der Programm-Musik.

Beispielsweise finden sich in den Passionsmusiken des fünften Evangelisten hochästhetische Vertonungen von hässlichem Geschrei:

»Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« –

mit diesen Worten lässt Johann Sebastian Bach den Chor in seiner Matthäuspassion eine vierstimmige Kurzfuge singen, deren Disharmonien grell sind.[32] Wem diese Musik zum ersten Male entgegentritt, dem gefriert das Blut in den Adern.

Vielleicht steht das Beispiel windschief zum angeblichen Analogon aus der Malerei; denn die musikalisch dargestellte Hässlichkeit ist eher moralisch hässlich als ästhetisch hässlich. Um treffendere Analogien zu finden, müsste man nach musikalischen Darstellungen sinnlich hässlicher Sachverhalte fahnden.

Es gibt so etwas: Die Komponisten Georg Philipp Telemann und Wolfgang Amadeus Mozart haben sich lustigerweise schlechte Sänger bzw. miese Musikanten ausgedacht, etwa in der Kantate Der Schulmeister bzw. im Dorfmusikantensextett. Beiden Stücken haftet freilich ein Ruch von Banalität an (und so ist umstritten, ob Der Schulmeister wirklich von Telemann stammt).

 

 

Zurück zum Thema§ 1.11.  Kunst und Musik zielen nicht unbedingt auf das Schöne; wohl aber zielen sie auf ästhetischen Erfolg im weitesten Sinne. Dass sogar im Fall von Dürers Bild kein Paradox vorlag, hängt mit dem Unterschied zwischen Repräsentiertem und Repräsentierendem zusammen. Diese Beschwichtigungsstrategie aus den vorigen Paragraphen funktioniert weder bei abstrakter Malerei noch im analogen Fall der absoluten Musik. Das lässt sich in der Musik leicht illustrieren, anhand der westlichen Kunstmusik des 20. Jahrhunderts mit ihrem bewussten Einsatz unaufgelöster Dissonanzen.[33] Hier wie da fehlt es an einem repräsentierten Gegenstand, auf den wir beschwichtigend das Prädikat des Unschönen oder Hässlichen loslassen könnten, ohne unser ästhetisches Lob des Kunstwerks zu torpedieren.

Vielleicht lohnt es sich, solchen Phänomenen quer durch die Kunstgattungen nachzuspüren und dabei auszuprobieren, welche Redeweisen sich uns aufdrängen und welche nicht. Doch diese Arbeit muss ich hier nicht leisten. Denn es dürfte keine analogen Phänomene im Bereich naturwissenschaftlicher Schönheit geben – was meinen Zwecken nicht schadet. Die Verwandtschaftsthese verlangt keine Identität zwischen künstlerischer und naturwissenschaftlicher Schönheit; ich kann an der These festhalten, ohne zu bestreiten, dass sich im Bereich der Kunstschönheit stellenweise viel feiner verästelte Redeweisen herausgebildet haben als beim naturwissenschaftlichen Gegenstück.

 

 

Zweiter Unterschied: Glaubwürdigkeit§ 1.12.  In den letzten Paragraphen habe ich darauf aufmerksam gemacht, wie stark sich die ästhetischen Redeweisen in Kunst und Naturwissenschaft an einigen Stellen voneinander unterscheiden. Unterschiedliche verbale Gepflogenheiten mögen von Interesse sein; für meine Diskussion sind sie letztlich zweitrangig. Denn wie gesagt behaupte ich keine Identität meiner beiden Vergleichsgegenstände, sondern nur ihre Verwandtschaft.

Ich möchte dieses Kapitel mit einem anderen Unterschied zwischen ästhetischer Wertschätzung in Kunst und Physik abschließen. Er ist wichtiger als der Streit um Worte, den ich in den vorigen Paragraphen Revue passieren ließ. Weil er ins Herz der Debatte führt, werde ich auch später immer wieder auf ihn zurückkommen. Er hat mit dem Verhältnis zwischen Schönheit und Glaubwürdigkeit zu tun und besagt: Naturwissenschaftliche Schönheit trägt zur Glaubwürdigkeit oder Wahrscheinlichkeit gewisser Gedanken bei – aber es wäre seltsam, dasselbe z.B. von musikalischer Schönheit anzunehmen.[34]

Klarerweise könnte ästhetische Urteilskraft auf einem Gebiet selbst dann mit ihrem Gegenstück auf einem anderen Gebiet verwandt sein, wenn sie hie nicht denselben Zielen dient wie da. Insofern kann dieser Unterschied meine Verwandtschaftsthese (V) kaum bedrohen, die ich zur Erinnerung noch einmal einrücke:

(V)

Der Schönheitssinn, den Naturwissenschaftler zur Beurteilung ihrer Arbeitsergebnisse einsetzen, ist eng verwandt (wenn auch nicht identisch) mit dem Schönheitssinn, mit dessen Hilfe wir Kunstwerke beurteilen.

Gleichwohl kann ich mich nicht damit begnügen, mich darauf zurückzuziehen, dass ich nicht mehr behaupten möchte als eine bloße Verwandtschaft zwischen den Schönheiten in Naturwissenschaften und Künsten. Warum das nicht genügt, möchte ich nun zum Abschluss des Kapitels skizzieren.

 

 

Das Rätsel§ 1.13.  Wer das unterschiedliche Verhältnis beider Schönheitsbegriffe zu Fragen der Glaubwürdigkeit ausblendet, wird die Rolle von Schönheit in der Physik kaum erhellen können. Über Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit oder gar Wahrheit und Wissen in der Kunst möchte ich mich nicht groß auslassen. Falls die vier Begriffe dort überhaupt funktionieren, bringen sie andere Assoziationen mit sich als in der Wissenschaft und verdienen eine eigene Untersuchung – dazu also in aller gebotenen Kürze zunächst nur eine Andeutung.[35]

In der Tat spricht einiges dafür, dass meine Verwandtschaftsthese (V) ein plausibles Gegenstück hat, der zufolge nicht etwa bloß der bekannteste Schlüssel für die Künste (Schönheit) auch in den Naturwissenschaften passt, sondern darüber hinaus umgekehrt der bekannteste Schlüssel für die Naturwissenschaften (Wissen) auch in den Künsten:

(V´)

Das Wissen, nach dem Naturwissenschaftler in ihrer Arbeit streben, ist eng verwandt (wenn auch nicht identisch) mit denjenigen Wissensformen, die sich Künstler in ihren jeweiligen Disziplinen erarbeiten.

Demzufolge bieten uns die Künste nicht viel anders als Physik, Chemie usw. eine erkenntnissteigernde Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit; auch die Künste zielen nicht allein auf die Verschönerung der Welt. Diese These ist nicht das Thema meines Buchs; mir geht es in erster Linie um Naturwissenschaft, und nur um den dortigen Schönheitssinn zu beleuchten, werde ich Seitenblicke auf die Künste werfen. Wer dagegen die These (V´) behandeln möchte, muss sich viel intensiver mit den Künsten auseinandersetzen, als ich hier leisten kann.

Daher will ich die Begriffe des Wissens, der Glaubwürdigkeit, der Wahrscheinlichkeit und der Wahrheit nur auf dem vertrauteren Terrain der Naturwissenschaft ins Blickfeld rücken und folgendes Problem aufwerfen: Warum trägt die naturwissenschaftliche Schönheit (oder spezieller die Schönheit in der Physik) zur Glaubwürdigkeit oder Wahrscheinlichkeit gewisser Gedanken bei? Was haben naturwissenschaftliche Schönheit und Wahrheit miteinander zu tun? Wie kann uns physikalische Schönheit zur physikalischen Wahrheit verhelfen?

Vertiefungsmöglichkeit. These (V´) handelt ausdrücklich von Wissensformen und umgreift damit einen wesentlich breiteren Kreis von Problemen als die enge Frage nach Wahrheit oder Glaubwürdigkeit von Photographien, Schlachtengemälden oder gemalten Portraits. Das sind besondere Fälle, aus denen sich nicht viel über bildende Kunst insgesamt lernen lässt. (Abgesehen davon steigert die Schönheit solcher Werke ihre Glaubwürdigkeit kaum.) Im Normalfall hat Glaubwürdigkeit in der Kunst u.a. mit Authentizität zu tun – mit einem Begriff, der in der Naturwissenschaft keine große Rolle spielen sollte; und wer in der Kunst von Wahrheit spricht, hat oft etwas dezidiert anderes vor Augen als der Physiker. Beim Thema des Wissens drängen sich demgegenüber viel eher Verwandtschaftsthesen wie (V´) auf als bei Wahrheit, Wahrscheinlichkeit oder Glaubwürdigkeit. Das hat auch damit zu tun, dass Wissen eine besonders dehnbare Kategorie ist – so wie Schönheit.

 

Vorschau§ 1.14.  Ich werde das zuletzt aufgeworfene Problem nicht lösen; doch werde ich im letzten Teil V meiner Untersuchung überlegen, in welcher groben Richtung eine Lösung des Problems zu vermuten ist; die Resultate aus dem Herzstück meiner Untersuchung (aus der optischen Fallstudie in Teilen II bis IV) werden mir dabei zugute kommen. Mehr noch, ohne eine Fallstudie dieser Detailtreue dürfte man an dem Problem scheitern. Denn bevor wir die erkenntnistheoretische Rolle diskutieren, die dem Schönheitssinn bei der naturwissenschaftlichen Arbeit zukommt, sollten wir uns ein halbwegs konkretes Bild davon verschaffen, wie der naturwissenschaftliche Schönheitssinn funktioniert, worauf er anspringt und was er ablehnt.

Das ist die Hauptaufgabe der versprochenen Fallstudie. Bevor ich Sie jedoch in deren Details verwickle, will ich die Crème de la Crème der Physik zu Wort kommen lassen und ausführlich belegen, wie wichtig die berühmtesten Physiker aus Moderne und Neuzeit den Schönheitssinn bei ihrer Arbeit gefunden haben (Teil I). Ich werde mit Voten der Prominenz aus dem frühen 20. Jahrhundert anfangen (2. Kapitel), dann zu dem polnischen Arzt und Astronomen Nikolaus Kopernikus zurückgehen (3. Kapitel), um schließlich länger bei dem deutschen Mathematiker, Astrologen, Astronomen und Theologen Johannes Kepler zu verweilen, in dessen Forschung der Schönheitssinn eine besonders starke Rolle gespielt hat (4. Kapitel).

Wie Sie sehen werden, haben sich die Berühmtheiten zum Teil erstaunlich extrem geäußert. Dieser Streifzug durch die Wissenschaftsgeschichte dient aber nicht nur dazu, mich der Zustimmung berühmter Gewährsleute zu versichern; ich will Ihnen zusätzlich ein erstes Gespür dafür vermitteln, an welchen Stellen der physikalischen Arbeit es auf Schönheit ankommt. Zudem möchte ich herausarbeiten, was mich dazu bewogen hat, dann ausgerechnet mit einer Fallstudie zur Optik weiterzumachen: Meiner Ansicht nach haben wir auf diesem speziellen Terrain deshalb gute Chancen auf schnelle Erfolge, die repräsentativ fürs große Ganze sind, weil man in der Optik das Wechselspiel aus schönen Experimenten und schöner Theorie besonders erhellend durchdenken kann. In der Tat finden sich gerade am Anfang der Geschichte der Optik einige der sichtlich schönsten Experimente aller Zeiten.

* * *

Parallele zwischen Musik und Mathematik§ 1.15.  Dass musikalische Schönheit nichts zur Glaubwürdigkeit irgendwelcher Gedanken beiträgt, liegt auf der Hand – es sei denn, man rechnet z.B. Bachs Matthäuspassion zu den Gottesbeweisen hinzu.[36] So weit möchte ich hier nicht gehen.[37]

Wer in dieser Sache bodenständig bleibt, kann eine interessante Parallele zwischen Schönheit in Musik und Mathematik ziehen (die sich nicht analog auf das Verhältnis von Musik und Physik übertragen lässt): So wie in der Musik trägt auch in der Mathematik die Schönheit (etwa eines Beweises oder Theorems) keinen Deut zur Glaubwürdigkeit bei.

Denn worin soll die Glaubwürdigkeit eines mathematischen Beweises oder Theorems liegen? In der Wahrscheinlichkeit seiner Korrektheit? Nein; wer systematisch und anhaltend von der Wahrscheinlichkeit für die Korrektheit eines mathematischen Beweises bzw. für die Wahrheit eines mathematischen Theorems redet, macht sich unter Mathematikern verdächtig. Nur in heuristischen Zusammenhängen (d.h. nur während der Suche nach mathematischen Wahrheiten) gilt das nicht; nur hier dürfen mathematische Beweise unter Gesichtspunkten der Wahrscheinlichkeit bewertet werden – provisorisch. Wer also z.B. einen Beweis noch nicht gründlich geprüft hat, darf sehr wohl die Vermutung äußern, dass wahrscheinlich kein Fehler im Beweis stecke.

In solchen Fällen gilt die Schönheit eines Beweises oder Theorems jedoch oft als Makel, weil sie die Irrtumsgefahr steigert; im Überschwang der ästhetischen Begeisterung drohen sich Flüchtigkeitsfehler einzuschleichen. Das liegt auch daran, dass es sehr schwer ist, in der Mathematik zur Schönheit vorzustoßen; wer allzu schnell ästhetische Fortschritte erzielt, muss befürchten, etwas erreicht zu haben, was zu schön ist, um wahr zu sein. Andererseits können z.B. bestimmte Symmetrien die Übersicht beim Rechnen und Beweisen erhöhen, wodurch Fehler weniger wahrscheinlich werden.[38]

Wie dem auch sei: Sobald man einen Beweis gründlich geprüft und keine Fehler gefunden hat, spielt seine Schönheit oder Hässlichkeit keine Rolle fürs Urteil über seine Korrektheit. Das hält die Mathematiker freilich nicht vom Bestreben danach ab, einen hässlichen Beweis durch einen schöneren zu ersetzen.[39] Sie tun das im allgemeinen nicht, um die Glaubwürdigkeit des Beweises zu erhöhen (derer sie sich trotz seiner Hässlichkeit gewiss sein werden). Vielmehr tun sie es deshalb, weil Schönheit ein eigenständiges Ziel der mathematischen Arbeit darstellt. (Einen Beleg dafür biete ich am Ende des kommenden Paragraphen.)

 

Anders aber Axiome§ 1.16.  Anders als bei Beweisen steht es bei der Wahl der Axiome. Sollen wir z.B. das Auswahlaxiom für wahr halten? Für sich genommen ist das Axiom unglaubwürdig, vor allem als Axiom. Bereits kurz nach seiner Formulierung war es unter Mathematikern hochumstritten.[40] Insbesondere Intuitionisten und Konstruktivisten misstrauten dem Axiom.[41] Ließe es sich aus anderen, weniger zweifelhaften Axiomen herleiten, so wäre es ein glaubwürdiges Theorem; doch es ist logisch unabhängig von ihnen. Soweit ich sehe, halten die meisten Mathematiker nur deshalb am Auswahlaxiom fest, weil sonst viele Beweise in weiten Teilen der Mathematik hässlich, lästig, nervenraubend würden. Wer ohne das Axiom (und ohne äquivalente Axiome) einen vergleichbar schönen Weg zu den bislang per Auswahlaxiom bewiesenen Sätzen aufzeigte, der hätte einen ästhetischen Grund gegen das Axiom entdeckt! – Die Angelegenheit ist komplizierter, als ich es hier dartun kann; vor allem deshalb, weil sich verschiedene Fassungen und zugehörige Einsatzgebiete des Axioms unterscheiden lassen, u.a. extensionale und intensionale. Im Lichte dieser Unterschiede schreibt der schwedische Logiker Per Martin-Löf:

»In einem extensionalen Grundlegungsrahmen wie […] der konstruktiven Mengenlehre ist es nicht vollkommen unmöglich, ein Gegenstück zum konstruktiven Auswahlaxiom zu formulieren […], aber es wird kompliziert […] Die technischen Komplikationen […] sprechen aus meiner Sicht für einen intensionalen Grundlegungsrahmen.«[42]

Das ist ein ästhetisches Argument. Ist es frivol zuzugeben, dass die Glaubwürdigkeit der Fassung eines Axioms auch von der Schönheit seiner mathematischen Konsequenzen abhängt – bzw. von der Schönheit des Weges, auf dem diese Konsequenzen gewonnen werden? Keineswegs. Jedenfalls nicht in den Augen vieler Mathematiker. So schreibt der Mathematiker Godfrey Harold Hardy in seiner Autobiographie:

»Die Strukturen des Mathematikers müssen schön sein, genauso wie diejenigen der Maler und Dichter; seine Ideen müssen so wie deren Farben oder Wörter miteinander harmonieren. Schönheit dient als wichtigster Test: Für hässliche Mathematik ist auf Dauer kein Platz auf Erden.«[43]

Dieser radikale Ausspruch mag manchen überraschen, der die Mathematik nicht von innen kennt. Sie verfolgt offenbar – neben der Korrektheit – ein weiteres eigenständiges Ziel: Schönheit. Hierin unterscheidet sie sich von der Physik (in der die Schönheit oft als probates Mittel der Wahrheitsfindung angesehen wird, seltener als eigenes Ziel). Und so spricht einiges dafür, die Mathematik in dieser Hinsicht zwischen Physik und Musik einzuordnen; demzufolge wäre das einzige eigenständige Ziel der Musik die Schönheit und das einzige Ziel der Physik die Wahrheit – in der Mathematik käme es hingegen auf beide Ziele an. Ich muss es bei diesen vagen und gewagten Andeutungen belassen; mein Hauptthema ist die Rolle der Schönheit in der Physik.[44] Und wie gesagt: Ob eine Kunstgattung wie die Musik nicht doch im weitesten Sinne kognitive Ziele verfolgt (wie mittels (V´) in § 1.13 angedeutet), ist kein Thema dieses Buchs.

Teil IStreifzug durch die Wissenschaftsgeschichte

2. Kapitel.Einstein und die Bewunderer der Schönheit seiner Relativitätstheorie

Marschroute§ 2.1.  Vielleicht werden Sie fragen, ob ich mir so sicher sein darf, dass naturwissenschaftliche Schönheit die Glaubwürdigkeit oder Wahrscheinlichkeit gewisser Gedanken steigert, z.B. in der Physik. Statt diese Frage vorschnell auf eigene Faust zu beantworten, werde ich als erstes prominente Physiker zu Wort kommen lassen, die das behaupten. Dabei soll herauskommen, wie ernst die großen Genies und Heroen der Physikgeschichte den Schönheitssinn bei ihrer Arbeit genommen haben.

Könnten sich die Genies und Heroen nicht täuschen? Vielleicht; doch solange keine Indizien für eine Selbsttäuschung vorliegen, tun wir gut daran, den Physikern zu vertrauen.[45] Die Physik kann für sich selber sorgen und für sich selber sprechen. Nur wo sich Exzentriker zu weit aus dem Fenster lehnen und von ihren Kollegen zurückgepfiffen werden, ist Skepsis angebracht. (Mehr dazu gleich.)

Zugegeben, selbst wenn berühmte Physiker herausstreichen, welch wichtige Rolle der Schönheitssinn de facto bei der Erkenntnis der Wahrheit spielt, so beantwortet dies noch lange nicht philosophische Fragen wie die: Wieso dürfen sich die Physiker an ihrem Schönheitssinn orientieren? Wie und warum trägt Schönheit zur naturwissenschaftlichen Glaubwürdigkeit bei? Auf diese kniffligen Fragen werde ich im Teil V der Untersuchung zurückkommen.

Im Pulverdampf der bevorstehenden Zitateschlacht soll sich bereits eine grobe Marschroute für den weiteren Gedankengang abzeichnen. Wie sich zeigen wird, können wir Nichtphysiker besser überblicken, was es in der Physik mit der Schönheit auf sich hat, wenn wir zwei Empfehlungen beherzigen:

(i)

Man betrachte frühe, neuzeitliche physikalische Errungenschaften anstelle ihrer abstrakteren Nachfolger aus der modernen Physik.

(ii)

Man betrachte auch physikalische Experimente in ihrem Zusammenhang mit physikalischen Theorien.

Um die Vorzüge dieser Empfehlungen herauszustreichen, werde ich vorführen, wie schwierig die Sache wird, wenn man stattdessen die vergleichsweise junge Relativitätstheorie betrachtet (2. Kapitel) bzw. astronomische Theorien der frühen Neuzeit (3. Kapitel, 4. Kapitel). Hier werden wir zwar ein erstes Gespür für das gewinnen, was Physiker sich unter Schönheit vorstellen, doch erst bei der Betrachtung ihrer konkreten Arbeit wird die Sache wirklich klar – und spannend. Dafür eignet sich besonders gut die Optik Newtons, dem wir eine der frühesten wohlkomponierten Serien von Experimenten verdanken. Sie ist hochraffiniert und trotzdem gut zu überschauen. Und so werde ich mich im Teil II der Untersuchung gemeinsam mit Ihnen in die schönen experimentellen Details seiner Arbeit vertiefen, um im Teil III genauer auf die Schönheit seiner Theorie einzugehen und im Teil IV zu überlegen, wie sich beides noch verschönern lassen könnte.

Doch nehmen wir zunächst zur Kenntnis, was die großen Physiker des vergangenen Jahrhunderts zum Thema Schönheit in der Naturwissenschaft zu sagen wussten.

 

 

Dirac§ 2.2.  Der Mitbegründer der Quantenphysik Paul Dirac ist unter den Berühmtheiten des vergangenen Jahrhunderts am weitesten gegangen. Bei zahllosen Gelegenheiten hat er Schönheit als einzig wichtiges Kriterium zur Beurteilung physikalischer Theorien ausgerufen. Ich werde ihn mit einer repräsentativen Passage länger zu Wort kommen lassen, um Ihnen die Radikalität seiner Ansichten mit voller Wucht vorzuführen. In einem Text zum hundertsten Geburtstag des Jahrhundertgenies Albert Einstein zählt er zunächst die seinerzeit vorliegenden, unstrittigen Beobachtungsdaten zugunsten dessen Relativitätstheorie auf; dann beantwortet Dirac die Frage, ob wir die Relativitätstheorie preiszugeben hätten, falls sie nicht zu den Beobachtungen gepasst hätte:

»Die soeben aufgezählten Erfolge der Theorie Einsteins sind beeindruckend; sie alle sprechen für die Theorie, und zwar mit mehr oder minder großer Genauigkeit – je nachdem, wie präzise beobachtet werden kann und welche Messunsicherheiten dabei entstehen.

Doch nehmen wir einmal an, dass zwischen der Theorie und den Beobachtungen ein vielfach bestätigter Widerspruch auftritt. Wie sollte man darauf reagieren? Wie hätte Einstein selber darauf reagiert? Müsste man die Theorie in diesem Fall für grundlegend falsch halten?

Meiner Ansicht nach sollten wir die letzte Frage klar mit Nein beantworten. Wer die fundamentale Harmonie zu würdigen weiß, die den Lauf der Natur mit allgemeinen mathematischen Grundsätzen verbindet, wird spüren, dass eine Theorie im wesentlichen wahr sein muss, die so schön und elegant ist wie diejenige Einsteins. Sollte bei irgendeiner Anwendung der Theorie ein Widerspruch zur Empirie auftauchen, dann kann dies nicht an ihren allgemeinen Grundsätzen liegen; der empirische Widerspruch muss von irgendeiner zweitrangigen Annahme herrühren, der man keine hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Beim Aufbau seiner Theorie der Gravitation ging es Einstein nicht darum, diesen oder jenen Beobachtungsergebnissen gerecht zu werden – weit gefehlt. Sein ganzes Vorgehen bestand in der Suche nach einer schönen Theorie, nach einer Theorie, wie sie die Natur selber wählen würde.

Und so ließ er sich nur von einer einzigen Forderung leiten: Seine Theorie musste so schön und elegant sein, wie man es von jeder fundamentalen Beschreibung der Natur erwarten würde. Er stützte sich in seiner Arbeit ausschließlich auf Vorstellungen darüber, wie die Natur sein muss, und verlangte gar nicht erst, bestimmten experimentellen Ergebnissen gerecht zu werden.

Selbstverständlich braucht man echtes Genie, um sich bloß durch abstrakte Gedankenarbeit vorstellen zu können, wie die Natur funktionieren muss. Einstein hatte dies Genie.

Irgendwie kam er auf den Gedanken, die Gravitation mit der Krümmung des Raumes zu verbinden. Es gelang ihm, ein mathematisches System zu entwickeln, dem dieser Gedanke zugrundelag. Und dabei ließ er sich allein von der Schönheit seiner Gleichungen leiten.

Mit dieser Methode gelangte er zu einer Theorie, deren grundlegende Ideen von großartiger Einfachheit und Eleganz sind. So kommt man zu der überwältigenden Überzeugung, dass ihre Grundlagen wahr sein müssen, unabhängig davon, ob die Theorie mit den Beobachtungen übereinstimmt oder nicht«.[46]

Das ist starker Tobak. Wenn man nicht wüsste, dass diese Sätze von einem der bedeutendsten Physiker des letzten Jahrhunderts stammen, könnte man die Sache als Spinnerei abtun. So einfach können wir es uns jedoch nicht machen.

 

 

Überbordend optimistisch§ 2.3.  Wenige Physiker und Philosophen sind Dirac so weit gefolgt wie im vorigen Paragraphen zitiert. Ich möchte seine Haltung als überbordenden Optimismus bezeichnen und fasse sie so zusammen:

(Ü)

Überbordender Optimismus mit Blick auf den Schönheitssinn der Physiker:

(+)

Wann immer ein genialer Physiker eine hochästhetische Theorie formuliert, die nicht zu den bekannten empirischen Daten passt, wiegt die Schönheit dieser Theorie schwerer als ihre momentane Schwäche, mit den Daten zurechtzukommen. In diesem Fall soll sich der Physiker für die schönere Theorie entscheiden.

(–)

Und wann immer der Schönheitssinn eines genialen Physikers gegen die Hässlichkeit einer Theorie rebelliert, die gut zu den empirischen Daten passt, muss er die Theorie verwerfen.

Um den überbordenden Optimismus zu charakterisieren, habe ich genau wie Dirac auf den Schönheitssinn genialer Physiker zurückgegriffen – warum? Es war mir darum zu tun, dem allzu beliebigen Schönheitssinn von Hinz & Kunz zu entrinnen. Die Position (Ü) wäre sonst allzu unplausibel. Dirac hatte den Schönheitssinn von Physikern vor Augen, die in der gleichen Liga spielen wie er selbst; potentielle oder tatsächliche Nobelpreisträger.

Nun verkäme (Ü) zur Tautologie, wenn als »genial« per definitionem diejenigen Physiker bezeichnet würden, deren Urteile glaubwürdig sind. Denn dann liefe (Ü+) auf den banalen Ratschlag hinaus, diejenigen Theorien für wahr zu halten, die von glaubwürdigen Physikern für wahr und schön gehalten werden. Aber so ist die Sache nicht gemeint. Welcher Physiker genial ist, hängt von vielen Faktoren ab, die nicht allesamt mit Glaubwürdigkeit zu tun haben. Und selbstverständlich lässt sich keine scharfe Grenze zwischen genialen und normalsterblichen Physikern ziehen. Nichtsdestoweniger gibt es klare Fälle. Einstein war ganz sicher genial, mein erster Physiklehrer namens Wolfgang Morgeneyer war es nicht – und das, obwohl seine Urteile höchst glaubwürdig gewesen sind und er ein begnadeter Didaktiker war.

Vertiefungsmöglichkeit. Die zitierte Aussage Diracs entspringt nicht dem Überschwang spontaner Begeisterung; Dirac hat sich immer wieder so geäußert.[47]