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Olaf L. Müller

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Beschreibung

Goethe als Naturwissenschaftler: eine Rehabilitation! Ob Goethe ganz zuletzt »Mehr Licht!« gesagt hat, werden wir nie erfahren. Fest steht, dass er es hätte sagen sollen: Der Spruch bringt Jahrzehnte seiner Forschung zu Farben, Licht und Finsternis auf den Punkt. Die Erhöhung der Helligkeit, auf die Goethe abzielte, führt zu ganz konkreten, exakt reproduzierbaren und überraschenden Experimenten. Gegen die verfehlte Goethe-Kritik zweier Jahrhunderte zeigt der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Olaf L. Müller anhand ausführlich illustrierter Experimente, wo Goethe gegen Newton gewonnen hat und welchen Gewinn wir daraus ziehen können. Goethe war nicht nur ein gewiefter Experimentator – er war auch ein begnadeter Wissenschaftsphilosoph.

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Olaf Müller

Mehr Licht

Goethe mit Newton im Streit um die Farben

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Inhalt

Für meinen Farbenlehrer [...]Gefördert von der VolkswagenStiftung [...]VorwortHinweise zum GebrauchTeil I Newtons Spektrum: Farbe und SonnenlichtKapitel I.1. Einleitung: Frische Blicke auf den Streit zwischen Newton und GoetheKapitel I.2. Ein beleuchtetes Prisma in der Dunkelkammer: Newton entdeckt die Heterogenität des SonnenlichtsKapitel I.3. Newtons subjektive Experimente – und zwei genauere Blicke auf Newtons TheorieKapitel I.4. Newtons experimentum crucisKapitel I.5. Farblose Schlüsse aus dem ExperimentTeil II Goethes Theorem: Die verlorene Unschuld der FinsternisKapitel II.1. Goethe protestiertKapitel II.2. Zwei Vollspektren: Goethe vertauscht die Rollen von Licht und FinsternisKapitel II.3. Theoretische Einwände gegen die Heterogenität der FinsternisKapitel II.4. Experimentelle Einwände gegen die Heterogenität der Finsternis?Kapitel II.5. Unorthodoxe Blicke auf Newtons experimentum crucisAnhang: Goethes Theorem und dessen BeweisTeil III Die Macht des Zufalls: Newton triumphiert bei Farbe, Licht und FinsternisKapitel III.1. Goethes Pech ist Newtons GlückKapitel III.2. Unterstützung für Goethe aus der Physik seiner ZeitKapitel III.3. Physikalische Verrisse der FarbenlehreKapitel III.4. Was ist Finsternis aus Sicht der modernen Wissenschaft?Kapitel III.5. Gibt es Finsternisquellen?Anhang: Nussbaumers Entdeckung der unordentlichen SpektrenTeil IV Philosophische Diagnose: UnterbestimmtheitKapitel IV.1. experimentum crucis oder Unterbestimmtheit?Kapitel IV.2. Durch welche und wie viele Daten wären Theorien unterbestimmt?Kapitel IV.3. Über die Größe von TheorienKapitel IV.4. Sparsamkeit, Einfachheit, SchönheitKapitel IV.5. Anschlussfähigkeit und andere extrinsische TugendenKapitel IV.6. Was wäre, wenn? Kontrafaktische Physik-GeschichteKapitel IV.7. Wahl der WeltanschauungKapitel IV.8. Unversöhnlicher AusblickErklärung einiger Zeichen und SymboleWissenschaftshistorischer AnhangA) Positive fachwissenschaftliche Reaktionen auf die Physik in Goethes Farbenlehre (1810–1832)B) Ambivalente fachwissenschaftliche Reaktionen auf die Physik in Goethes Farbenlehre (1810–1832)C) Eindeutig negative fachwissenschaftliche Reaktionen auf die Physik in Goethes Farbenlehre (1810–1832)FarbteilNachweise zu den FarbtafelnLiteraturverzeichnisPersonenregister

Für meinen Farbenlehrer

und Freund Ingo Nussbaumer

Gefördert von der VolkswagenStiftung

(Initiative Pro Geisteswissenschaften, Programm opus magnum)

und aus Mitteln der Exzellenzinitiative

(Förderlinie Freiräume an der Humboldt-Universität zu Berlin)

Vorwort

Was wäre geschehen, wenn sich Newton und Goethe ans Prisma gestellt hätten, um zusammen zu experimentieren? Diese Frage hält mich seit fünfzehn Jahren auf Trab. Sie hat mein Leben verändert und zu diesem Buch geführt. Selbstverständlich habe ich keine definitive Antwort auf die Frage gefunden, doch die tentative Vermutung, zu der ich gelangt bin, ist beunruhigend genug: Möglicherweise sähe heute unsere Physik komplett anders aus.

Ich vermute und befürchte das, und mit beidem möchte ich Sie in diesem Buch konfrontieren. Ich werde einerseits zeigen, was für die Vermutung spricht und warum wir gleichwohl keine Chance haben, sie zu beweisen; sie wird auch am Ende meines Buchs in der Schwebe bleiben. Andererseits werde ich durchdenken, welche Konsequenzen es hätte, wenn die Vermutung zuträfe. Verächter der Naturwissenschaft würden frohlocken, gewiss – aber in deren Gesellschaft möchte ich mich nicht begeben. Diese Leute machen es sich zu einfach. Ich werde dagegen vorführen, wie viel Respekt vor den Errungenschaften experimenteller Naturwissenschaft man aufbieten muss, um (im Verein mit Goethe) überhaupt seriöse Zweifel an ihrer Objektivität wecken zu können.

Ob meine Vermutung zutrifft, hängt von einigen unwesentlichen Faktoren ab, die man besser ausklammern sollte. So sind Goethe und Newton gleichermaßen dafür berüchtigt, dass sie keinen Widerspruch vertragen konnten – vor allem nicht in optischen Angelegenheiten. Schlimmer noch, beide haben sich im vergangenen Jahrhundert die unschmeichelhafte Diagnose eingefangen, verrückt gewesen zu sein; sie wurden auf die Couch gelegt, psychiatrisch durchleuchtet und posthum per Indizienbeweis für unzurechnungsfähig erklärt – ausgerechnet wegen ihrer auffälligen Empfindlichkeiten in optischen Streitfragen. Wären diese Diagnosen richtig, so hätte es wohl geknallt, wenn die beiden in der Dunkelkammer aufeinandergestoßen wären; wissenschaftlich wäre nichts weiter passiert. So gewendet ist das Gedankenspiel unergiebig. Interessant für Scotland Yard, uninteressant für Physik und deren Philosophie.

Daher möchte ich noch einmal neu ansetzen. Ich klammere etwaige Verrücktheiten oder Charakterschwächen der beiden Personen aus und frage unter psychologisch idealisierten Annahmen: Was wäre geschehen, wenn Goethe und Newton gemeinsam am Prisma gestanden hätten und wenn sie beide über ihren Schatten gesprungen wären? Was also, wenn sie einander ihre besten Experimente gezeigt und dann darüber rational diskutiert hätten? Auch darauf habe ich keine definitive Antwort, doch gewinnt meine beunruhigende Vermutung nun an Gewicht – vielleicht hätte Newton eine andere Optik geschrieben, und Goethes Farbenlehre wäre ungeschrieben geblieben. Und vielleicht wäre dann auch unsere heutige Physik ganz anders.

Ich finde dieses Gedankenspiel verstörend und reizvoll; es ist mehr als bloße Spielerei. Hinter dem Gedankenspiel steckt eine These, die ich in meinem Buch begründen werde. Sie lautet: Goethe und Newton waren einander in optischen Angelegenheiten ebenbürtig. Sie hätten sich gegenseitig ernst nehmen müssen, jeder hätte vom andern lernen können, und das Ergebnis ihres rationalen Gedankenaustauschs zur Optik wäre nicht auszudenken.

Da die naturwissenschaftlich informierte Welt Newton als den rechtmäßigen Gewinner im Streit über das Licht und die Farben ansieht, steckt in meiner These eine Provokation: Nicht nur hätte Goethe von Newton viel lernen können (geschenkt, geschenkt), sondern auch Newton von Goethe – und zwar, wie gesagt, in seinem ureigensten Metier, in der Optik. Goethe hat dort eine faszinierende Symmetrie entdeckt, die Newtons Argusaugen entgangen war und die das gesamte Reich der newtonischen Experimente verdoppelt. Hier in modernen Worten eine erste grobe Fassung dessen, worauf Goethes Entdeckung hinausläuft: Man nehme die Farbfotografie eines beliebigen Experiments von Newton; dann kann man auch das Negativ dieses Fotos als Bild eines Experiments deuten – und zwar eines Experiments, das wirklich so ausgeht, wie das Negativ zeigt. Jedes Experiment Newtons hat also ein komplementäres Gegenstück (das bei Newton und an unseren Schulen unter den Tisch fällt). Das Gegenstück entsteht aus dem ursprünglichen Experiment durch Umkehrung der Beleuchtung – durch Vertauschung der Rollen von Licht und Dunkelheit. Daher rede ich oft von einer Symmetrie zwischen Helligkeit und Finsternis. Diese Symmetrie ist bis heute nicht recht gewürdigt worden; vermutlich hat man sie noch nicht einmal richtig verstanden. Beides möchte ich mit meinem Buch ändern. Und da gutes Verständnis vor jeder Würdigung kommt, werde ich alles tun, um Ihnen Goethes Entdeckung Schritt für Schritt zu erklären. Irgendwelche besonderen Vorkenntnisse werden Sie für meinen Gedankengang nicht brauchen.

* * *

Falls sich jemand dafür interessiert, will ich kurz erzählen, wie ich auf diese Symmetrie gestoßen bin und was sie mit mir angestellt hat. Mit den Argumenten für sie und den Konsequenzen aus ihr hat das nichts zu tun; sie kommen erst nach diesem Vorwort auf den Tisch, und wer schon ungeduldig wird, sollte sofort in die Einleitung springen, die auf S. 27 beginnt.

Aus der Vorgeschichte dieses Buchs kann man allerlei über unser Universitätssystem lernen. Während ich noch befürchtete, mein späteres Leben außerhalb der Universität als Fahrradkurier fristen zu müssen, und kurz bevor unter Wissenschaftsfunktionären das makabre Wort von der Verschrottung einer ganzen Wissenschaftlergeneration – meiner Generation – kursierte, da sagten mir meine akademischen Karriereberater: Immer bloß systematisch mit Blick auf die Gegenwart zu philosophieren, reicht nicht; du musst wenigstens ein einziges philosophiehistorisches Thema besetzen, egal welches – sonst bist du verloren.

Da ich stets einen weiten Bogen um jede Form der Philosophiegeschichte gemacht hatte und daran nichts ändern wollte, legte ich mir einen kleinen Umweg in die Vergangenheit zurecht: Ich knöpfte mir Goethes Farbenlehre vor und plante, ihren physikalischen Teil (den ich nur vom Hörensagen kannte) als ernst gemeinten Beitrag zur Optik beim Wort zu nehmen, um ihn mit den Mitteln der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie ein für allemal zu erledigen. Das hatte bislang keiner gemacht und müsste ein Kinderspiel sein; dachte ich.

Das glatte Gegenteil ist passiert. Es war alles andere als ein Kinderspiel, und jetzt (anderthalb Jahrzehnte später) lege ich sogar eine Verteidigung der wichtigsten Idee Goethes zur Optik vor – ironischerweise mit den Mitteln der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie.

Auch mit ihren Mitteln: Wie Sie sehen werden, kommt die Wissenschaftsphilosophie erst im TEIL IV meines Buchs zu ihrem Recht – zuvor dominieren Experimente das Geschehen, und zwar im TEIL I Newtons Experimente, im TEIL II Goethes, im TEIL III die Rezeption dieser Experimente zu Goethes Lebzeiten sowie wichtige Experimente aus letzter Zeit.

Wie ist es dazu gekommen, dass ich nun das Gegenteil dessen vorlege, was ursprünglich geplant war? Einfach: Wissenschaftliche Forschung lässt sich nicht vorausplanen, geisteswissenschaftliche Forschung noch weniger – und philosophische schon gar nicht. In meinem Fall lief es so: Ich bin in Goethes Farbenlehre auf eine überraschende Serie von Experimenten gestoßen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Sie weisen allesamt in dieselbe Richtung und lassen sich mit Hilfe dessen auf den Punkt bringen, was ich Goethes Theorem nennen werde. Sie waren Goethe äußerst wichtig; ihr symmetrischer Witz ist aber von fast allen Kommentatoren übersehen oder unterschätzt worden – von Goethes Kritikern genauso wie von seinen Fans.

Beispielsweise ist dem Physik-Nobelpreisträger Max Born vor einem halben Jahrhundert folgendes Missgeschick passiert: In einem vielzitierten Vortrag aus dem Jahr 1962 äußerte er eine berechtigte Kritik an einigen Experimenten und Schlüssen, die sich bei Goethe in der Tat finden und auf die viele wohlmeinende Leser leider immer wieder zurückgekommen waren (die Kritik bezieht sich auf Goethes Kantenspektren, siehe Farbtafel 02 links und Mitte). Im Eifer des Gefechts übersah Born, dass Goethe in der Farbenlehre klar genug angedeutet hat, warum diese Kritik anhand anderer Experimente völlig in sich zusammenbricht (und zwar bei Experimenten mit Komplementärspektren, dazu Farbtafel 06). Peinlicher noch, die fraglichen Andeutungen Goethes sind wenige Jahre vor Borns Vortrag experimentell abgesichert worden; Born hätte es also besser wissen können – und bei sauberer Arbeitsweise auch wissen müssen.

Lang, lang ist’s her, mögen Sie vielleicht denken. Doch Borns Missgeschick ist kein Einzelfall und gehört nicht der Vergangenheit an. Im kürzlich erschienenen Goethe-Handbuch zur Naturwissenschaft kommt die allerwichtigste Einsicht aus Goethes Farbenlehre ebenfalls nicht vor; dort ist keine Rede von der durchgängigen Symmetrie zwischen Licht und Dunkel, die Goethe entdeckt hat. Und das Handbuch ist von exzellenten Kennern der gigantischen Literatur zu Goethes Naturwissenschaft zusammengestellt worden. (Der fragliche Band ist übrigens – abgesehen von diesem einen blinden Fleck – ganz vorzüglich. Er hat 1800 engbedruckte Spalten.)

Jetzt fragen Sie sicher: Wie ist das möglich? Wie können ganze Heerscharen von Goethe-Forschern und -Lesern einen so wichtigen Gesichtspunkt übersehen haben? Die Antwort ist erschreckend: Goethe hatte seine Leser angefleht, die von ihm beschriebenen Experimente mit eigenen Augen nachzuvollziehen – doch fast keiner hat’s gemacht. Und diejenigen, die es gemacht haben, ließen sich von Nebenpunkten ablenken. Das ist auch Goethes Schuld, denn er hat seine symmetrische Hauptsache nicht optimal vorgetragen.

Aber das erklärt den Skandal nur zum Teil. Denn die entscheidenden Experimente sind einigermaßen einfach. Man kann in die Sache innerhalb von fünf Minuten hineingezogen werden – wenn man gerade ein Prisma zur Hand hat. Aber wer hat das schon.

Ich hatte zufällig eines, als ich an der polnischen Ostsee Sommerferien machte und die Farbenlehre im Rucksack mit mir herumtrug. Ich schaute (angeleitet von Goethe) durchs Prisma, plötzlich machte es Klick, und alles war klar. Sie wollen den Aha-Effekt schon jetzt nachvollziehen? Nichts leichter als das: Verschaffen Sie sich ein Prisma, und experimentieren Sie mit der Vorlage aus Abb. III.3.12b, die zwar erst zum Kapitel III.3 gehört, aber jetzt schon ausprobiert werden kann (siehe S. 272 in § III.3.12).

Als ich den symmetrischen Witz der Experimente Goethes verstanden hatte, überstürzten sich die Ereignisse. Ich hatte kurz vorher für meine Habilitation eine durch und durch ahistorische Zweckschrift über die Matrix eingereicht und bereitete mich auf den Abschluss dieses atavistischen, aber schönen Initiationsrituals vor, auf die Probevorlesung. Dafür musste man in Göttingen der hochmögenden Fakultät drei Themen vorschlagen, die möglichst verschieden sein sollen. Goethes Farbenlehre war eines meiner drei Themen. Genau wie es meine Karriereberater vorhergesehen hatten, schnappte die Kommission nach dem historischen Köder, und so durfte ich im November des Jahrs 2001 hochschulöffentlich über Goethes Farben vorlesen.

Das hätte mich fast Kopf, Kragen und Karriere gekostet. Ich machte nämlich den Fehler, am Anfang Rudolf Steiner zu erwähnen. Nicht, dass ich mich auf ihn hätte stützen wollen. Im Gegenteil, ich nannte ihn als Kontrast zu dem, was ich vorhatte: Scharfkantige rationale Argumentation anstelle weicher Pastellfarben in Häusern ohne Ecken, in denen man seine Namen tanzt und so. (Ich weiß, ich übertreibe.)

Wie ich später erfuhr, darf man den Begründer der Anthroposophie noch nicht einmal erwähnen, wenn man akademisch auf Nummer Sicher gehen will; so jedenfalls sahen es einige Mitglieder der riesigen Göttinger Philosophischen Fakultät, die mir aus alledem einen Strick drehen wollten. Während die professorale Debatte hinter verschlossenen Türen hin und her wogte, ließ man mich draußen vor der Tür eine lange, lange Weile schmoren. Das erlösende Verdikt wurde verkündet, als ich die Hoffnung schon hatte fahren lassen. Das glimpfliche Ende der Geschichte verdanke ich zuallererst dem beherzten Einsatz der Fachphilosophen aus der Fakultät, denen sich die meisten Vertreter von insgesamt dreißig Fächern doch noch anschlossen.

Dann griff das Gesetz vom quadratischen Erfolg. Wegen Goethe und den Farben bekam ich an der Humboldt-Universität einen Lehrstuhl für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften. Kenner werden wissen, dass beides nicht zusammenpasst – ein Oxymoron als Hauptgewinn.

Nomen est omen: In Ihren Händen liegt ein Buch, in dem wirklich beide Schwerpunkte vorkommen; wie paradox es geworden ist, müssen andere sagen. Übrigens findet sich laut Literaturverzeichnis im ganzen Buch kein Rudolf Steiner des Anstoßes. Mir ist bewusst, dass einige Bewunderer der Farbenlehre Goethes den Begründer der Anthroposophie in meiner Betrachtung vermissen werden; zu Unrecht. Denn Steiner hat sich nicht erhellend zu den Fragen geäußert, mit denen ich mich hier auseinandersetzen werde. Dass man der Farbenlehre auch ohne anthroposophische Brille viele wichtige, scharfsinnige Einsichten über unsere Naturwissenschaft entnehmen kann, wird man hoffentlich selbst im Lager der Steiner-Anhänger zugeben.

Natürlich war der Ruf nach Berlin das größte Hindernis auf dem Weg zu diesem Buch. Als Fahrradkurier hätte ich den Kopf freigehabt für ernsthafte wissenschaftsphilosophische Gedanken; der Beruf des Professors hält einen dagegen neuerdings vom Denken ab – vor allem, seitdem die oben erwähnten Wissenschaftsfunktionäre und ihre Helfershelfer eine Spur der Verwüstung durchs deutsche Hochschulwesen geschlagen haben.

Es ging also nur noch im Schneckentempo voran. Der Habilitationsvortrag zu Goethe war veröffentlicht, niemand las ihn, und von Zeit zu Zeit diskutierte ich mit meinem Mitarbeiter, dem amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Eric Oberheim, über die Sache. Der sagte: you need a physicist. Und empfahl mir, erst einmal gründlich Newton zu lesen.

Mit beidem hatte er recht. Beim Versuch, Goethes Theorem auf den geballten Scharfsinn der newtonischen Experimentierkunst anzuwenden, geriet ich in eine jahrelange Sackgasse. Ausgerechnet das geniale experimentum crucis Newtons sperrte sich gegen eine Behandlung à la Goethe – ausgerechnet das eine Experiment, dem Newton wegweisende Eindeutigkeit zugetraut hatte (an einem Kreuzweg der wissenschaftlichen Wahrheitssuche: daher der Name). Mein Weimarer Gewährsmann war an derselben Stelle steckengeblieben, war sich aber zeit seines Lebens sicher, recht zu haben. Und ich wusste intuitiv, dass das stimmte. Aber so was ist kein Argument.

In der Tat, ohne Physiker konnte es nicht weitergehen. Goethe hatte verzweifelt nach mathematisch gebildeten Physikern gesucht, die ihm hätten helfen sollen – und er hatte nach eigenem Urteil keine Hilfe aus der Physik bekommen. (Ein Fehlurteil mit fatalen Folgen, wie sich im Kapitel III.2 zeigen wird.) Ich steckte in keiner besseren Lage. Zwar hatte ich Mathematik (und leider auch Ökonomie) studiert, aber das reichte für mein Problem nicht, und ich bereute, dass ich mich zu Studienbeginn nicht auf Physik eingelassen hatte.

Statt weiterzukommen, reiste ich mit meinem Goethe-Vortrag durch die Lande – stets in der Hoffnung, am Ende doch noch einem Verbündeten aus der Physik zu begegnen. Die Physiker hörten mir interessiert und nicht ohne Sympathie zu. Es kam kein einziges Mal zum Eklat, und das nahm ich als gutes Zeichen. Doch nach Vortrag und Diskussion enteilte ein jeder wieder in seine eigenen Forschungsgebiete.

Was ich damals nicht wusste (ebenso wenig wie früher Max Born): Es gibt seit sechzig Jahren einen skandinavischen Kreis von Physikern und Goethe-Kennern, in dem man genau das angepackt hatte, worum es mir zu tun war – Pehr Sällström und sein kürzlich verstorbener Lehrer Torger Holtsmark haben in dieser Sache aufsehenerregende Resultate erzielt. Und es gab ausgerechnet an meiner Universität zwei Physiker, die sich auf denselben Weg gemacht hatten, zeitgleich mit mir: Johannes Grebe-Ellis und Matthias Rang.

Dass ich davon erfuhr, verdanke ich einerseits dem Zufall und andererseits einem Wiener Künstler: Ingo Nussbaumer, der in seinem Atelier jahrzehntelang immer auch als Farbforscher gearbeitet hatte. Ich brauchte Experimente mit ganz bestimmten Ergebnissen, und die meisten davon hatte er. Ich werde es nie vergessen: Lange nach Mitternacht am 7. September 2006 empfing ich auf meinem Rechner eine Nachricht von ihm, mit der alle Sorgen auf einen Schlag zerstreut wurden. Ich lud ihn umgehend in mein wissenschaftsphilosophisches Kolloquium ein, und als er endlich kam, begann ein wunderbarer, unerschöpflicher Gedankenaustausch; bis heute hat das Gespräch mit Ingo Nussbaumer immer wieder zu den farbigsten Überraschungen und zu den überraschendsten Farben geführt.

Er hatte für seinen Vortrag ein ausgewachsenes Buchmanuskript mitgebracht, das den Abend sprengte. Spontan beraumten wir gleich für den kommenden Morgen ein Sondertreffen ein, um die Diskussion fortzusetzen, und fast keiner der Teilnehmer ließ sich die Gelegenheit entgehen, weiterzumachen. Was uns damals präsentiert wurde, liegt inzwischen in Ingo Nussbaumers Buch Zur Farbenlehre vor; schon die kolorierten Tafeln dieses großen Buchs zeigen, dass die Farbforschung seit kurzem neue Ufer erreicht hat. Immer wenn ich über Farben arbeite und das Buch nicht in greifbarer Nähe ist, werde ich nervös.

Wie durch Zufall war auch der Physiker Johannes Grebe-Ellis zum Kolloquium gekommen; wir stellten sofort fest, dass wir am selben Strang ziehen, ebenso wie auch sein Doktorand Matthias Rang – und so hatte ich auf einen Schlag gleich drei Mitstreiter mit genau derjenigen experimentellen und theoretischen Expertise gefunden, nach der ich so lange vergebens gelechzt hatte.

Bei unseren informellen Treffen – beim Farbentrinken – hat es immer wieder erbitterten Streit gegeben, und das lag nicht am roten Wein. Physiker ticken anders als Künstler, und Philosophen sitzen mit ihrer Begriffsstutzigkeit sowieso zwischen allen Stühlen. Aber wir rauften uns immer wieder zusammen. Jeder von uns verfolgte in den vergangenen Jahren letztlich genau dasselbe Ziel (wenn auch mit den Eigenheiten der jeweiligen déformation professionnelle): Aus Respekt vor harten empirischen Tatsachen und scharfer Logik sowie aus Freude an Symmetrien wollen wir eine newtonische Lanze für Goethes Farbenlehre brechen – nicht für all ihre (teils zweifelhaften) Bestandteile, sondern für ihren faszinierenden Hauptgedanken.

Ich lernte bei allen diesen Kontroversen so viel, dass ich es endlich wagte, die Sache offiziell zu machen. Das bedeutet in unserem Wissenschaftssystem, auf das ich vorhin so geschimpft habe: Drittmittel. Was man aber braucht, ist Zeit. Bei Drittmittelprojekten gewinnt man Geld und verliert Zeit. Es gibt jedoch eine wunderbare »Initiative für die Geisteswissenschaften«, in der man verstanden hat, was Sache ist. Da bewarb ich mich und gewann zwei volle Jahre Zeit samt Freiheit für die ehrenvolle Aufgabe, ein opus magnum zu schreiben – so der einschüchternde Name dieses Forschungsprogramms. Finanziert und organisiert wird das Programm von der VolkswagenStiftung, deren hilfsbereiten Mitarbeitern ich hiermit herzlich Danke sage für beides und viel mehr. Danken macht froh. So will ich als nächstes den drei schon erwähnten Koryphäen danken, ohne deren tatkräftige Mithilfe ich das ganze Projekt nicht hätte zuendebringen können:

Ich danke Ingo Nussbaumer für präzise Ratschläge, übersprudelnde Auskünfte, scharfsinnige Ideen – und detaillierte Sehhilfen beim Blick auf Farben. Er war es, der mich darauf stieß, wie irreführend schon allein die Farbterminologie ist, die sich in der Goethe-Forschung breitgemacht hat und der ich selber früher verfallen war, weil ich nur nachgedacht hatte, statt hinzuschauen: Was Goethe zuweilen »Gelbrot« nennt, ist kein Orange, sondern ein Rubinrot; was er »Violett« nennt, sieht eher blau aus, und Goethes »Blau« geht ins Türkise. Diese Lektion war nur der Anfang, und ich bin heilfroh über die Geduld, mit der mir der Maler seine spektakulären Experimente immer wieder gezeigt und erklärt hat, bis es endlich saß.

Johannes Grebe-Ellis (inzwischen Wuppertal) hat mir mit schmissigem Schwung die Feinheiten erklärt, auf denen alles weitere aufbaut: von der Lochkamera-Abbildung bis hin zur Funktion einer Sammellinse; vom Strahlengang im Prisma bis zur Optik der Bilder. Wieder und wieder hat er meine optischen Sorgen beruhigt – einer fast schon fanatischen Vorliebe für Klarheit frönend. Und er hat diejenigen Teile dieses Buchs strengstens gegengelesen, bei denen ich mir physikalisch unsicher war. Ich werde es nie vergessen, wie er uns beim allerersten Farbentrinken kurz vor dem Morgengrauen erst durch ein Nadelöhr das helle Bild einer leuchtenden Glühwendel auf die Leinwand projizierte, um dann den Spieß umzudrehen: Er ersetzte das Nadelöhr durch einen Stecknadelkopf, und plötzlich ward das Bild der immer noch leuchtenden Glühwendel schwarz. »Implizit schon bei Kepler«, sagte er verschmitzt. Die Spätfolgen dieses Schocks finden Sie im TEIL II – wie Sie sehen werden, hat Goethe den Wahnsinn noch gesteigert und mit schwarzen Bildern der Sonne gearbeitet; ohne den nächtlichen Zaubertrick hätte ich den Tiefsinn nicht kapiert, der darin steckt.

Matthias Rang (inzwischen Dornach) danke ich für theoretische Einsichten und experimentelle Antworten überall da, wo ich steckengeblieben bin; es war eine erlösende Lern-Erfahrung, von ihm interdisziplinär aus der Patsche gerettet zu werden. Besonders wichtig war das an zwei Stellen: Erstens bei der goetheanischen Behandlung des experimentum crucis. Wie mir schien, wollte er mich mit Spiegelfechtereien hinters Licht führen und mit Spiegelspaltblenden blenden. Das hatte zwar alles Hand und Fuß (weiß ich jetzt), war mir aber bei weitem zu hoch. Als ich nicht locker ließ und darauf beharrte, dass Goethe sich nicht damit hätte abspeisen lassen, verlor er nicht die Geduld, sondern x-te die Sache mit mir Lichtstrahl für Lichtstrahl durch. Ich war überrascht, dass in diesem Gewirr alles richtig hinkam; er kein bisschen. Zweitens gab er mir entscheidende Denkanstöße für meinen Plan, Goethes Theorem streng zu beweisen. Dass der Beweis irgendwie funktionieren musste, war ihm aus der Forschung für seine Dissertation sonnenklar. Aber ein teuflisches Detail hatte es in sich, und als ich ihn alarmiert hatte, setzte er sich hin und rechnete die Sache mit Fresnels Formeln durch. Er sah mein Problem als Bewährungsprobe für seine eigene Arbeit. Einen Tag später kam der beruhigende Anruf, dass abermals alles so herausgekommen war, wie von mir gehofft und letztlich von Goethe geahnt. Matthias Rang leitete seine gute Botschaft mit den Worten ein: »Die Natur ist schön«, und da hatte er verdammt recht.

Eine große Zahl weiterer Physiker hat mir bei den verschiedensten Detailfragen geholfen und mich mit zielgenauer Kritik weitergebracht – bis hin zu Ratschlägen für die Abbildungen: Martin Dressel, Brigitte Falkenburg, Johannes Gatzke, Paniz Imani, Marc Müller, Wolfgang Reinecke, Christian Rempel, Pehr Sällström, Wolfgang Sandner, Alexander Schreiber, Florian Theilmann. Überflüssig zu erwähnen, dass die Zustimmung zu meinen Plänen nicht überwog; aber ich bin stolz und dankbar, dass Physiker mit teils ganz anderen Forschungsinteressen bereit waren zuzuhören, zu lesen, zu diskutieren.

Aus Goethe-Forschung, Literaturwissenschaft, Kunst und Kunstgeschichte kamen wertvolle Ratschläge, manche Ermunterung und viel Gegenwind von: Anne Bohnenkamp, Horst Bredekamp, Jutta Eckle, Holger Helbig, Undine Kramer, Michael Mandelartz, Gisela Maul, Stefan Muntwyler, Michael Niedermeier, Ernst Osterkamp, Michael Schilar, Hubert Schmidleitner, Albrecht Schöne und Sylwia Trzaska. Nun wäre es gelogen, so zu tun, als hätte immer eitel Sonnenschein geherrscht. Ich bin für den Gedankenaustausch mit Germanisten deshalb besonders dankbar, weil ich einen völlig anderen Ansatz vertrete als im literaturwissenschaftlichen Schrifttum zu Goethes Farbenlehre üblich. Gerade weil Literaturwissenschaftler sich nicht mit den Mitteln an Goethes Farbenlehre annähern, mit denen ich es versucht habe, danke ich in Richtung Germanistik auch für – Toleranz.

Nun möchte ich meinem Vater Johannes Müller danken, dessen umfassende Goethe-Begeisterung mich in Jugendjahren kaltgelassen hatte. Wie sich die Zeiten ändern – seit Jahr und Tag hat mir seine Belesenheit und seine Geduld mit meiner Unwissenheit bei den verrücktesten Fragen zu Goethe weitergeholfen.

Meine Untersuchung hat wichtige Anstöße aus Philosophie und Wissenschaftsgeschichte bekommen, namentlich von Roman Göbel, Paul Hoyningen-Huene, Timm Lampert, Felix Mühlhölzer, Eric Oberheim, Christoph Schamberger, Thomas Schmidt, Alan Shapiro, Friedrich Steinle, Holm Tetens, Emanuel Viebahn, Heiko Weber.

Als Lektor zweier früherer Fassungen des gesamten Manuskripts stand Harald Köhl mit Widerspruchsgeist und Philosophie, Witz und Donner, Sarkasmus und Perfektionismus, feinem Sprachgefühl und strenger Sprachkenntnis auf dem Plan; wie ich einmal mehr von ihm lernen durfte, ist die deutsche Sprache ein Fass ohne Boden und ein steter Quell der Freude. Dass ich seine maxfrischen Ansprüche am Ende doch nicht alle zu erfüllen wusste, steht auf einem anderen Blatt. Alexander Roesler, dem Philosophen und Lektor des Fischer Verlages, danke ich für seine ultimative und nur zu berechtigte Aufforderung, kurzerhand die Hälfte des Manuskripts umzustoßen; das tat der Sache gut, ebenso wie sein Beistand bei den vielen vertrackten allerletzten Entscheidungen, die beim Büchermachen zu beachten sind. Und ich danke Hektor Haarkötter für Rat und Tat beim letzten Schliff.

Zuverlässige Kritikerinnen und Helfer, Mitdenkerinnen und Lektoren, Bibliographen und Rechnerinnen fand ich an meinem Lehrstuhl in Christian Beer, Matthias Herder, Lukas Lewerentz, Benjamin Marschall, Katharina Nagel, Anna Reinacher, Sarah Schalk, Christoph Schamberger, Astrid Schomäcker, Anna Welpinghus.

Ich danke Astrid Schomäcker, Christoph Schamberger und Emanuel Viebahn für die Rohfassungen der übersetzten englischen und lateinischen Zitate, Matthias Herder für Mithilfe bei der Endredaktion der Übersetzungen. Zusammen mit Ingo Nussbaumer hat mir Matthias Herder jeden noch so anspruchsvollen Abbildungswunsch erfüllt, und zwar mit unbestechlichem Perfektionismus.

Viel Stoff zum Nachdenken boten mir Hörerinnen und Hörer aus Vorlesungen an der Humboldt-Universität, Teilnehmer aus Seminaren in Göttingen, München (LMU) und Berlin (HU), insbesondere Merlin Bittlinger, Philipp Kanschik, Kilian Schubert und Romila Storjohann, sowie die Mitglieder meines wissenschaftsphilosophischen Kolloquiums. Was wären wir ohne die akademische Jugend?

 

Olaf L. Müller, Berlin im September 2014

Hinweise zum Gebrauch

Verschiedene Pfade führen durch dieses Buch. Wer sich nur für einen Ausschnitt meines Gesamtbildes interessiert, dem will ich hier einige Wegweiser anbieten. Wenn Sie es ganz besonders eilig haben und Freude an Hypertexten haben, springen Sie zum Tafelteil in der Buchmitte. Ich habe die Bildbeschreibungen mit Bedacht so ausführlich gehalten, dass sich meine Hauptgedanken gut durch gründlichen Blick auf die Bilder nachvollziehen lassen, sogar ohne eingehende Konsultation des zugehörigen Kapitels. Es ist erstaunlich, wie viel Information in einzelnen Bildern unterkommen kann. Doch Obacht, iconic turn hin oder her: Es gilt das geschriebene Wort; die Feinheiten der Argumente stehen selbstverständlich in meinen dreiundzwanzig Kapiteln. Wie ich hoffe, werden Sie von der Betrachtung der Bilder in den Text selbst gelockt. (Genau für Leser, die blätternd vom linearen Pfad durch das Buch abgekommen sind, habe ich eine Unzahl von Querverweisen eingebaut; wer geradeaus liest, kann die Verweise ignorieren.)

Falls Sie einfach nur Neuigkeiten über Newtons Optik kennenlernen möchten, genügt die Lektüre des TEILS I. Natürlich entgeht Ihnen dann die Pointe der Farbenlehre Goethes. Aber immerhin, man kann sich über Newton informieren und Goethe einen guten Mann sein lassen. Umgekehrt geht es nicht, denn nur wer Newton zumindest rudimentär kennt, wird Goethes Gedanken und Experimente verstehen.

Falls Sie sich also ausschließlich für Goethes Farbenforschung interessieren, brauchen Sie sich zwar nicht auf die Höhe der newtonischen Experimentierkunst aufzuschwingen. Aber die Lektüre der Kapitel I.1 bis I.4 aus dem Newton gewidmeten TEIL I lässt sich kaum umgehen; danach lesen Sie den Goethe gewidmeten TEIL II, also die Kapitel II.1 bis II.5. (Und falls Ihnen die Sache mit Newtons experimentum crucis zu kompliziert wird, können Sie die Kapitel I.4 und II.5 auch noch fortfallen lassen.) Im dem Zufall gewidmeten TEIL III bieten die Kapitel III.2 und III.3 Überraschungen über Goethes Wirkung bei den Physikern seiner Zeit, sind also für historisch versierte Goethe-Forscher von besonderem Interesse. Dort können Sie staunend mitverfolgen, wie viele Zufälle für Goethes Scheitern mitverantwortlich waren, obwohl ihm Spitzenphysiker starken Rückenwind gegeben haben.

Wenn Sie sich überhaupt nicht für Wissenschaftsphilosophie interessieren sollten, kann es dabei bleiben. Aber dann entgeht Ihnen viel von dem, was Goethes Farbenlehre aus heutiger Sicht spannend macht – kurzum, ich empfehle Ihnen doch die Lektüre aller vier Teile dieses Buchs. Selbst dann stehen Ihnen Abkürzungen offen:

Ich setze diejenigen Passagen meines Textes (wie z.B. den nächsten Absatz) in kleingedruckter Schrift, die den Hauptgedankengang vertiefen, ohne für sein Verständnis nötig zu sein. So finden sich im Kleingedruckten Angaben zur Literatur, weiterführende Überlegungen, offene Probleme, Anregungen zum Weiterdenken und Richtigstellungen von Details, die im Haupttext um der Prägnanz willen vereinfacht dargestellt werden mussten.

Hinweis. Längere kleingedruckte Passagen (wie der Beweis des Goethe-Theorems im Kapitel II.5) stehen immer am Ende eines Kapitels; ich setze sie vom großgedruckten Haupttext ab, indem ich ihnen drei Sternchen vorausschicke. Dieses Zeichen soll andeuten, dass der Hauptgedanke im nächsten Kapitel weitergeht, dass also ungeduldige Leserinnen und Leser ihre Lektüre am besten gleich beim folgenden Kapitel fortsetzen können, ohne etwas Wesentliches zu verpassen. (Dasselbe Zeichen zwischen zwei kleingedruckten Passagen weist darauf hin, dass es sich um getrennte Detail-Überlegungen handelt, die nichts miteinander zu tun haben.) – Nur zum Nachschlagen dienen dagegen die Literaturverweise, die ich in den Anmerkungen am Ende des Buchs versammelt habe; wer keine Nachweise prüfen will, kann diese Anmerkungen links liegen lassen.

* * *

Querverweise innerhalb dieses Buchs beziehen sich auf die römischen Nummern der vier Teile, auf Kapitel- und Paragraphennummern; z.B. verweist »siehe § I.5.3« im TEIL I aufs 5. Kapitel, und darin auf den dritten Paragraphen; ein Verweis wie »§ I.1.2k« verweist auf kleingedruckte Passagen am Ende des § I.1.2. (Den Zusatz erspare ich mir dort, wo der gesamte Paragraph kleingedruckt ist.)

Zu den Zitaten: Eingerückte Textstücke, die mit einer Fußnote und darin einem Literaturbeleg abschließen, sind immer wörtliche Zitate – die Einrückung ersetzt in diesem Fall je einen Satz an Gänsefüßchen. Meine treuen Helferinnen und Helfer haben die Zitate (in Sachen Rechtschreibung und Zeichensetzung) exakt aus den Werken abgeschrieben, die in der Anmerkung nach dem jeweiligen Zitat als erstes angegeben sind; nur der abschließende Punkt vor der Anmerkung gehört nicht zum Zitat dazu. In Sachen Typographie haben wir nicht alle Feinheiten aus den Originalen kopiert. So haben wir Anführungszeichen innnerhalb von Zitaten stets durch französische Anführungszeichen wiedergegeben; Zähler und Nenner von Brüchen haben wir einheitlich mit Hilfe von Schrägstrichen getrennt (wie etwa in »1/2«). Zudem haben wir einige veraltete Sonderzeichen modernisiert: Wir haben querliegende »E«s über Vokalen (wie z.B. »«) als Umlaute wiedergegeben (»ü«). Hingegen haben wir das (vor allem in Fraktur auftauchende) scharfe »s« genauso wiedergegeben wie alle anderen »s«; diese Regel führte oft dort zu einem Doppel-S, wo man vielleicht ebenso gut ein Esszett hätte schreiben können. Den im Newton-Englisch manchmal zusammengezogenen Laut »æ« haben wir auseinandergeschrieben, wie in »phaenomena«. Zudem haben wir aus heutiger Sicht befremdende Leerzeichen (z.B. vor einem Komma) weggelassen. Wo wir Hervorhebungen aus dem Original übernommen haben, sind sie einheitlich kursiv gesetzt – einerlei, ob sie im Original durch kursiv, fett oder gesperrt geschriebene Wörter oder Unterstreichungen angezeigt wurden. Wir geben stets an, ob die Hervorhebungen aus dem Original stammen oder von mir.

Zur Übersetzung der Originalzitate: Zitate, für die keine veröffentlichten Übersetzungen ins Deutsche vorlagen, sind von meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zunächst wörtlich ins Deutsche übertragen worden. Ausgerechnet bei den wunderschönen Originalen aus Newtons Schriften sah die wörtliche Übersetzung grauenhaft aus; alte britische Eleganz überträgt sich schon beim Satzbau nicht von allein ins Deutsche. Und so habe ich für die Endfassung sämtlicher übersetzter Zitate ausgiebig von der Binsenweisheit Gebrauch gemacht, dass jede Übersetzung Interpretation ist; um der Verständlichkeit willen und aus stilistischen Gründen habe ich den ursprünglichen Wortlaut z.T. erheblich verändert. Und als ich mit dieser ruchlosen und riskanten Arbeit so richtig in Schwung gekommen war, habe ich auch gleich noch in die bereits anderswo veröffentlichten Übersetzungen eingegriffen. Um das kenntlich zu machen, gebe ich in der Anmerkung nach jedem schon anderswo übersetzten Zitat zwar die Fundstelle der Übersetzung an, die ich herangezogen habe – aber immer dann mit dem Vorspann »vergl.«, wenn meine Fassung vom Wortlaut dieser Fundstelle abweicht. (Dieser Vorspann fehlt also nur in den wenigen Fällen, in denen ich kein Jota verändert habe.) Meine übersetzerische Freiheit hat einen angenehmen Nebeneffekt: Nicht immer ist es nötig, weggelassene Wörter durch »[…]« zu kennzeichnen. – Zur Beruhigung: Sämtliche übersetzten Zitate finden sich originalsprachlich in den Anmerkungen.

Nachträge, Zusätze und Diskussionen zum Farbenstreit zwischen Goethe und Newton finden Sie unter www.farbenstreit.de.

Teil INewtons Spektrum: Farbe und Sonnenlicht

Kapitel I.1.Einleitung: Frische Blicke auf den Streit zwischen Newton und Goethe

Zwei streitbare Helden§ I.1.1.  Dies Buch handelt von Farben, Helligkeit und Dunkelheit. Es hat zwei Helden: Newton und Goethe. Wie man weiß, passen die beiden zueinander wie Feuer und Wasser. Das ist ein Irrtum. Im Widerstreit von Feuer und Wasser kann immer nur eines der Elemente gewinnen – ich möchte aber zeigen, dass meine zwei Helden echte Siegertypen sind, alle beide. Und Siegertypen lassen sich nicht vom Gegner überwältigen.

Siegertypen schließen aber auch keine faulen Kompromisse. Auf irgendeinen Kompromiss wird meine Geschichte nicht hinauslaufen; das verspreche ich. Nein, es gibt einen handfesten wissenschaftlichen Widerstreit zwischen Newtons und Goethes Partei. Dieser Streit muss ausgetragen werden, und zwar mit Hilfe der schärfsten Waffen, über die sie gebieten.

Die Schärfe der Waffen meiner zwei Helden ist von fast allen Zaungästen des Kampfs dramatisch unterschätzt worden. Weniger militaristisch formuliert: Newton und Goethe argumentieren weit scharfsinniger, als bislang gewürdigt worden ist. Das gilt für beide, auch für Goethe. Er ist vom Publikum stärker unterschätzt worden als sein britischer Hassgegner. Kein Wunder – wir schätzen Goethe als Dichter und Newton als Physiker. Liegt da nicht auf der Hand, welche Partei den Streit für sich entscheiden muss, ja längst schon entschieden hat?

Nein. Wie ich Ihnen vorführen möchte, ist der Streit in der Hauptsache bis heute offen. Gewiss, in ein paar Nebenpunkten hat Newton gewonnen; in ein paar anderen Goethe. Und kein Zweifel, Goethe hat sich mehr Fehler zuschulden kommen lassen als Newton – in Nebenpunkten. Ich werde darauf zurückkommen, denn sie sind nicht ohne Belang. Aber den Hauptstreit entscheiden sie nicht. Der dreht sich um Newtons Behauptung, dass das weiße Sonnenlicht nicht homogen ist, sondern erwiesenermaßen aus Lichtstrahlen sämtlicher Spektralfarben besteht (also aus allen Farben des Regenbogens). Goethe hat eine ganze Batterie von Einwänden gegen Newtons Haltung aufgeboten, und der wichtigste dieser Einwände hängt mit seinem Theorem von der experimentellen Symmetrie zwischen Licht und Dunkelheit zusammen. Was es damit auf sich hat, werde ich in § I.1.4 skizzieren; vorher muss ich kurz ausholen.

 

 

Her mit den Experimenten§ I.1.2.  Was sind die Waffen, mit denen meine beiden Helden ohne Ende kämpfen? Erstens Experimente und zweitens Argumente – in dieser Reihenfolge. Es ist in den letzten paar Jahrhunderten viel über Newtons Opticks (1704) und Goethes Farbenlehre (1810) geschrieben worden, aber zu wenig über ihre Experimente. Und noch viel weniger hat man sich ihre Experimente tatsächlich angesehen.[1]

Das ist ein Jammer. Es widerspricht den erklärten Ansichten meiner zwei Helden. Sie waren sich einig: Experimente sind das beste Mittel, um etwas über Licht und Farben zu lernen. Keiner der beiden plädierte für wahlloses Experimentieren. Beide strebten nach den bestmöglichen Experimenten: nach treffsicheren, glasklaren, unwiderstehlichen Experimenten. Und diesen Anspruch haben sie auch erfüllt.

Das werde ich Ihnen im TEIL I anhand der zwei, drei besten Experimente Newtons vorführen und im TEIL II anhand der zwei, drei besten Experimente Goethes. Im TEIL III skizziere ich die besten Experimente, die bis heute noch dazugekommen sind.

Keine Sorge, man benötigt keine physikalischen Spezialkenntnisse, um meiner Untersuchung folgen zu können; ich werde alles erklären, was Sie fürs Verständnis der Experimente brauchen. Zudem werde ich Ihnen keinen bunt zusammengewürfelten Haufen von Experimenten zumuten. Im Gegenteil: Wie sich herausstellen wird, hängen die drei Gruppen der optischen Experimente engstens zusammen, die ich in den TEILEN I bis III meiner Untersuchung vorstelle. Sie haben allesamt mit Newtons Spektrum und Goethes Theorem zu tun.

Erst im letzten TEIL IV treten die Experimente in den Hintergrund: Dort wird philosophiert – über Experimente und deren Verhältnis zur Theorie. Es ist meine feste Überzeugung, dass die Wissenschaftsphilosophie zur nutzlosen Trockenübung verkommt, wenn sie ohne Bezug zu konkreten Experimenten glaubt auskommen zu können. Erst müssen klare Beispiele her, dann kann man darüber philosophieren.

Wie man sieht, fürchte ich mich vor haltloser Abstraktion; genau wie meine zwei Helden. Unser Credo hat Ludwig Wittgenstein auf den Punkt gebracht – denk nicht, sondern schau![2] Ob das überall ein gutes Motto ist, kann ich offenlassen. Angewandt auf die Optik (und nicht ganz nah an Wittgensteins eigener Nutzanwendung), bedeutet der Satz: Schau dir zuallererst die Experimente an, dann mag immer noch genug Zeit zum Nachdenken, Theoretisieren, Kritisieren, Argumentieren, Philosophieren bleiben.

Die Rede vom Schauen meine ich wörtlich. Deshalb finden Sie in diesem Buch zahllose Abbildungen, für die man sich Zeit nehmen sollte, vor allem für die Farbtafeln, die in der Buchmitte versammelt sind. Falls Sie damit noch nicht angefangen haben, ist genau jetzt der richtige Moment dafür. Mit einem Blick auf Farbtafel 01 gewinnen Sie einen ersten konkreten Eindruck von Newtons Vorgehensweise; und auf Farbtafel 06 rechts sehen Sie neben Newtons Spektrum ein wunderschönes anderes Spektrum, das Goethe entdeckt hat.

In den kommenden vier Paragraphen werde ich die vier Teile meiner Untersuchung knapp zusammenfassen. Im Anschluss daran möchte ich weit ausführlicher auf den TEIL II eingehen, der mit Goethe zu tun hat. In diesem Teil verbirgt sich Sprengstoff – darauf will ich Sie bereits in der augenblicklichen Einleitung schonend vorbereiten.

 

 

Grobe Vorschau auf Teil I§ I.1.3.  In groben Zügen beginnt meine Geschichte so. Zunächst trat Newton auf den Plan und lancierte – nach einigen Vorarbeiten – mit dem berühmten experimentum crucis ein schlagendes Experiment zugunsten seiner Theorie (der zufolge das weiße Sonnenlicht aus buntem Licht besteht). Die meisten Interpreten glaubten zwar an Newtons Theorie und an sein Experiment, hielten es aber nicht für beweiskräftig genug; sie spielten Newtons stolzen Beweisanspruch herunter und unterschätzten die Schärfe seiner wichtigsten Waffe. Demgegenüber werde ich zeigen, dass Newton recht hatte: Mit dem experimentum crucis kann man tatsächlich Newtons Grundeinsicht beweisen – genau wie er gesagt hat. Was Newton mit dieser scharfen Ansage genau gemeint hat, werde ich später klären. (Jetzt für Eingeweihte nur so viel: Der Beweis, den Newton versprach und auch lieferte, beruht auf direkten Schlüssen aus dem Experiment; das ist etwas ganz anderes als die indirekte Schlussweise, die wir aus der hypothetisch-deduktiven Methode kennen.)

Bloß wenn Philosophen auftauchen und skeptische Möglichkeiten an den Haaren herbeiziehen, verliert Newton sein Spiel. Doch darauf herumzureiten, wäre unfair; Newton beanspruchte den Sieg auf dem Feld der Naturwissenschaft, nicht auf dem der Philosophie – hie gelten andere Spielregeln als da. Natürlich muss der Naturwissenschaftler nicht beweisen, dass es die Außenwelt gibt, bevor er seinen Experimenten irgendwelche Informationen entnehmen kann. Ebenso wenig muss er beweisen, dass die Natur sich morgen noch so verhalten wird wie heute und gestern. Kurzum, skeptizistische Einwände sind in der Naturwissenschaft keinen Pfifferling wert.

Newton hat es jedenfalls so gesehen. Er wusste, dass man mit unbelegten, fingierten Gegenhypothesen jeden Beweis stoppen kann. Dennoch gab er den Beweis seiner Theorie aus dem experimentum crucis als durchschlagend aus (im Rahmen der naturwissenschaftlichen Spielregeln). Wollte sich Newton dadurch gegen jede Kritik feien? Nein; er deutete zuweilen an, dass sich die ganze Angelegenheit angesichts unerwarteter experimenteller Ergebnisse vielleicht wieder anders darstellen könnte. Experimentelle Kritik ist in den Spielregeln der Naturwissenschaft vorgesehen, ja ausdrücklich erwünscht; rein hypothetische Kritik ohne jede empirische Bodenhaftung böte dagegen einen Regelverstoß, so Newton.

 

 

Grobe Vorschau auf Teil II§ I.1.4.  Solange keine unerwarteten Experimente dazwischenkommen, solange gilt der Beweis; andere Einwände ließ Newton nicht gelten, und mit Recht nicht. Alles wäre also in bester Ordnung – wenn nicht Goethe auf den Plan getreten wäre und einige Experimente vorgeführt, andere geplant hätte, die Newtons Beweisanspruch vollständig unterminieren: experimentell, nicht philosophisch.

Bei aller Verschiedenheit im Detail haben Goethes beste Experimente eine entscheidende Gemeinsamkeit. Sie zeigen, dass jedes newtonische Experiment ein umgekehrtes Gegenstück hat (worin die Rollen von Licht und Finsternis genau vertauscht sind). Das ist die entscheidende Botschaft dessen, was ich als Goethes Theorem bezeichne: Im Reich der optischen Experimente herrscht eine perfekte Symmetrie zwischen Hell und Dunkel; zu jedem Experiment Newtons gibt es eine Umkehrung, und das kann man beweisen. (Gerade weil man’s beweisen kann, rede ich von einem Theorem.)

Das schärfste der umgekehrten Experimente ist genauso scharf wie Newtons schärfstes Experiment. Es folgt sogar derselben Logik – kann aber mit eben dieser newtonischen Logik zu gegenläufigen Schlussfolgerungen getrieben werden; eine konträre Theorie passt also genauso gut zur empirischen Realität wie Newtons Theorie. Diese neue Theorie hat Goethe nicht selber verfochten, sondern nur zum Zweck des Arguments formuliert. Ihr zufolge besteht nicht weißes Licht, sondern Dunkelheit aus verschiedenfarbigen Strahlen. Hiergegen sind sämtliche Experimente Newtons machtlos.

Um nicht missverstanden zu werden: Alles das unterminiert zwar die Beweislogik Newtons, nicht aber seine Theorie selbst. Die Theorie verträgt sich mit allen von Goethe entdeckten Experimenten, ja sie kann sie allesamt erklären. Goethes Farbenlehre ist oft so gedeutet worden, als habe er das nicht verstanden und als wolle er die Theorie Newtons allen Ernstes mit Hilfe neuer Experimente widerlegen. Das ist eine Zeitungsente.

Goethe attackierte Newtons Beweisansprüche, und zwar mit experimentellen Indizien. Genauso kann die Verteidigerin des tatverdächtigen Gärtners den Indizienbeweis des Staatsanwalts mittels eigener Indizien attackieren, ohne ein Sterbenswörtchen darüber verlieren zu müssen, ob der Gärtner den Lord ermordet hat. Was der Fall war und ist, ist eine Sache; ob es sich beweisen lässt, eine andere. Die Zeitungsente ist von Leuten in die Welt gesetzt worden, die diesen aus dem Rechtswesen geläufigen Unterschied nicht berücksichtigt haben. Und da ihnen in den letzten zweihundert Jahren nicht laut genug widersprochen wurde, hat sie sich bis heute in den Köpfen gehalten. Das gilt es zu ändern.

 

 

Grobe Vorschau auf Teil III§ I.1.5.  Im TEIL III werde ich durchdenken, ob das Unentschieden zwischen Newton und Goethe vielleicht mit modernen Experimenten überwunden werden kann – Fehlanzeige. Stattdessen werden Sie sehen, dass sich Newtons Theorie bloß deshalb durchgesetzt hat, weil es in unserem Universum recht dunkel ist.

Da kann einem schummrig werden, und vielleicht fragt man sich: Wovon hängt es denn nun ab, an welche der Theorien wir glauben? Vom Zufall! Das werde ich u.a. dadurch demonstrieren, dass ich nachweise, wie viel Pech Goethe hatte, als er seiner entscheidenden Einsicht – seinem Symmetrie-Theorem – beim Publikum Gehör verschaffen wollte. Er biss nicht aus sachlichen, sondern aus sachfremden Gründen auf Granit.

Um das zu zeigen, werde ich um einen Exkurs in die tatsächliche Wissenschaftsgeschichte nicht herumkommen. Aber es ist kein Selbstzweck, dass ich erst Goethes Unterstützer aus der Fachwissenschaft und dann seine dortigen Kritiker aufmarschieren lasse; denn bei dieser Übung lassen sich systematische Einsichten aus historischen Tatsachen extrahieren.

 

 

Grobe Vorschau auf Teil IV§ I.1.6.  Was? Zufall und Beliebigkeit sollen an wichtigen Weggabelungen über den Gang der Wissenschaft entscheiden? Ich gebe es zu: Für Freunde der Naturwissenschaften (wie mich selber) ist es eine Zumutung, was in den ersten drei Teilen der Untersuchung aufs Tapet kommt. Man muss die Naturwissenschaften nicht zum Götzen erheben, muss also kein Szientist sein, um das als Zumutung zu empfinden; selbst der gesunde, milde Respekt, den wir dem naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch allemal schulden, droht nach dem Gesagten ins Wanken zu geraten. Die Wahrheiten der Naturwissenschaften sind nicht alles; das war klar – aber sind sie etwa nichts?

Angesichts solcher Sorgen muss die philosophische Arbeit anfangen. Ich werde im TEIL IV (mit den Mitteln der modernen Wissenschaftsphilosophie) auf die verwirrenden Ergebnisse der ersten drei Teile zurückblicken und fragen: Was hat das alles zu bedeuten?

Wie sich zeigen wird, bieten die zuvor erarbeiteten Ergebnisse die bestmögliche Illustration für eine These, die vor fünfzig Jahren vom amerikanischen Philosophen Willard Van Orman Quine in die Luft geworfen worden ist (und zwar ohne Beispiele). Die These lautet: Selbst wenn sämtliche Daten, Beobachtungen und Experimente eines Phänomenbereichs vorliegen, steht dadurch immer noch nicht fest, welche Theorie in diesem Bereich gilt; Theorien sind durch Daten prinzipiell unterbestimmt. Goethe wusste das, Newton nicht. Was Goethe ihm entgegenschleuderte, stieß in die einzige Lücke, die in Newtons gut durchdachtem erkenntnistheoretischen Bau klaffte.

Aber es geht mir in meinem philosophischen Abschluss der Untersuchung nicht allein darum, Goethe erkenntnistheoretisch recht zu geben. Etwas anderes ist wichtiger: Das Beispiel für die Unterbestimmtheit der optischen Theorie durch die prismatischen Daten, das wir Goethe verdanken, eignet sich vorzüglich dazu, Quines These genauer herauszuarbeiten und ihre Brisanz auszuloten. Die These profitiert also von ihrer Illustration. Wie Sie am Ende sehen werden, ist die These für Freunde der Wissenschaft schlimmer als gedacht – aber nicht katastrophal. Sie wird uns dabei helfen, Naturwissenschaft als Projekt von Menschen für Menschen zu verstehen; oder um ein hohes Wort zu bemühen: humanistisch.

Was bedeuten die Schlagwörter vom Humanismus und vom Szientismus, die in diesem Paragraphen aufgeblitzt sind? Man kann darunter viele verschiedene Positionen verstehen. Mir geht es grob um folgenden Gegensatz: Szientisten sind in dem Sinne wissenschaftsgläubig, dass sie den Ergebnissen und Methoden der naturwissenschaftlichen Arbeit unbedingten Respekt zollen, während sie die Erkenntnisansprüche anderer geistiger Aktivitäten belächeln. Humanisten gehen insofern lockerer und freier mit den Resultaten der Naturwissenschaft um, als sie sich deren Autorität nicht bedingungslos unterwerfen. Um es polemisch zuzuspitzen: Während der Mensch für Szientisten eines der Objekte naturwissenschaftlicher Arbeit darstellt, ist er für Humanisten das Subjekt aller geistiger Aktivität, u.a. auch das Subjekt naturwissenschaftlicher Arbeit.

 

 

Auf einen Schlag wird alles klar§ I.1.7.  Nach diesem Parforce-Ritt durch die vier Teile meiner Untersuchung möchte ich fast den gesamten Rest der Einleitung dazu nutzen, Sie schonend auf den harten Schlag vorzubereiten, den ich Newton (und unserer von ihm geprägten Optik) mit Goethes Theorem im TEIL II versetzen will. Auf diesen Schlag kommt alles an. Obwohl ich Newton im TEIL I schärfere Waffen attestieren werde als gemeinhin üblich, liegt die eigentliche Überraschung im TEIL II, wo ich dasselbe für Goethe tun werde.

Newton hat in seiner Dunkelkammer mit eng abgezirkelten Lichtstrahlen experimentiert, die er in ihre diversen bunten Bestandteile zerlegen konnte. Dabei entstand sein berühmtes Spektrum. Das ist Schulwissen. Goethe stellte diesem altbekannten Vorgehen etwas diametral anderes gegenüber, und zwar experimentell: Statt Lichtstrahlen im Dunklen durchs Prisma zu schicken, ließ er Schatten im Hellen durchs Prisma fallen; unter diesen Unständen entsteht ein völlig anderes Spektrum! Als ich das erste dieser Experimente kennenlernte, dachte ich: Mich tritt ein Pferd. Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder sortiert hatte, und dann geschah etwas Erstaunliches.

Plötzlich überblickte ich, worauf es Goethe zuallererst ankam – auf den tausend Seiten seiner Farbenlehre, seines größten oder jedenfalls längsten Werks. Zuvor war ich nicht recht schlau geworden aus dem Gewimmel und Gewusel tausenderlei bunter Einzelheiten, die Goethe nur locker miteinander verknäuelt zu haben schien. Doch all das ordnete sich jäh zu einem gut überschaubaren Muster, nachdem ich Goethes schärfste Waffe am eigenen Auge gespürt und sein scharfsinnigstes Experiment verstanden hatte. Mir wurde klar, worum sich der Streit in der Hauptsache dreht und warum er immer noch nicht ruht. Viele missliche Details der Farbenlehre, die mich zuvor verwirrt, geärgert oder abgelenkt hatten, traten in den Hintergrund und wurden plötzlich unwichtig – Nebensachen. Sie machten die Bühne frei für Goethes Theorem.

 

 

Eine erstaunliche Symmetrie§ I.1.8.  Um es zu wiederholen: Es gibt eine systematische Symmetrie zwischen Licht und Finsternis. Soll heißen, zu jeder optischen Errungenschaft Newtons existiert ein Gegenstück, in dem die Rollen von Licht und Finsternis, von Helligkeit und Dunkelheit, von Weiß und Schwarz exakt vertauscht sind. Das gilt für Newtons Experimente genauso wie für seine Theorie, seine Beweise, seine Definitionen.

Angewandt auf Experimente, bedeutet es dies: Wo Newton Lichtstrahlen (oder besser Lichtbündel) untersucht und etwa durchs Prisma fallen lässt, kann man genauso gut Schatten durchs Prisma fallen lassen; wenn man abgesehen von diesem Rollentausch nichts weiter am ursprünglichen Experiment ändert, gelingt das Gegenexperiment ebenfalls. Es zeigen sich dann allerdings andere Farben als bei Newton, und zwar genau deren Komplementärfarben (also z.B. Türkis anstelle von Rot; oder Purpur anstelle von Grün).

Der Witz ist: Dieser Rollentausch funktioniert für sämtliche Experimente, die Newton zugunsten seiner Theorie aufgeboten hat. Goethe war das klar, und genau deshalb schreibe ich ihm das Symmetrie-Theorem zu, für das ich in meinem Buch plädieren werde. Er setzte alle seine Karten auf dieses Theorem, konnte es aber nicht beweisen. Ein Beweis dafür wird in diesem Buch erstmals skizziert (§ II.5.22–§ II.5.31). Demnächst wird der Physiker Matthias Rang in seiner Dissertation einen Beweis publizieren, der weiter reicht und anspruchsvoller ist als der meine.

 

 

Zwei Beweise für dieselbe Sache§ I.1.9.  Wie verhalten sich die beiden Beweise zueinander? Meiner spielt sich im Rahmen dessen ab, was Newton wissen konnte – in der sogenannten geometrischen Optik, in der man mit Lichtstrahlen operiert und die in ihren wesentlichen Zügen von Newton geprägt wurde. Er wäre schockiert gewesen, wenn ihm jemand den Beweis präsentiert hätte; für meine Zwecke wird das reichen.

Doch da heutige Physiker wissen, wie problematisch der Begriff des beliebig dünnen Lichtstrahls ist, könnten sie das bewiesene Ergebnis unterschätzen – hier greift der Beweis von Matthias Rang, der ganz auf der Höhe unserer Zeit steht, dafür aber auch wesentlich schwerer zu durchschauen ist.

Aus theoretischer Perspektive lässt sich einiges zugunsten der experimentellen Symmetrie zwischen Hell und Dunkel sagen. Für sie sprachen bereits zu Newtons und Goethes Zeit prinzipielle Gründe (und daran hat sich bis heute nichts geändert). Doch nicht nur speist sie sich aus prinzipiellen, theoretischen Erwägungen – vielmehr wirkt sie auf theoretische Gesichtspunkte zurück. Genauer gesagt vererbt sich die Hell/Dunkel-Symmetrie sofort vom Reich der Experimente ins Reich der Theorie. Ich werde darauf in dieser Einleitung später noch etwas ausführlicher zurückkommen (§ I.1.17, § I.1.18). Zuvor will ich mehr über die experimentelle Seite der Angelegenheit sagen.

 

 

Mehr Licht§ I.1.10.  Wenn ich Goethes wichtigste Einsicht so sensationell finde – warum habe ich mich nicht damit begnügt, nur ein Buch über seine Experimente zu schreiben? Einfach: Ich möchte ja zugunsten von Goethes Theorem zeigen, dass jedes Experiment Newtons ein Gegenstück hat (in dem die Rollen von Helligkeit und Dunkelheit vertauscht sind). Das kann ich nur, nachdem ich zuerst die wichtigsten Beispiele der newtonischen Experimentierkunst vorgeführt, analysiert und in ihrer vollen Überzeugungskraft gewürdigt habe. Wie gesagt soll das im TEIL I geschehen, wo ich den Scharfsinn Newtons anpreisen werde. Und in der Tat, je besser Newtons Experimente dort dastehen, desto überraschender und stärker müssen die Umkehrungen wirken, die dann im TEIL II aufscheinen werden.

Damit bei der Umkehrung alles hinkommt, muss man freilich gut aufpassen und die Rolle von Licht mit der von Finsternis überall im Experiment vertauschen, systematisch eben. Beispielsweise hat Newton am liebsten in einer Dunkelkammer experimentiert. Beim Umkehren seiner Experimente muss die Dunkelheit, in der er arbeitete und herumtappte, aufgehellt werden: Mehr Licht, so könnte man das auf den Punkt bringen.

Daraus ergibt sich ein völlig neuer Grund, warum Goethe die Dunkelkammer Newtons ablehnte und Experimente im Freien befürwortete. Er tat das nicht bloß deshalb, weil er treffende Einwände gegen kontrolliertes Experimentieren unter Laborbedingungen gehabt hätte oder weil er seiner romantischen Liebe zur Natur da draußen frönen wollte, tandaradei. Weit gefehlt. Sein Grund gegen die Dunkelkammer lässt sich bestens mit exakter Laborwissenschaft vereinbaren: Im Dunkeln kann man die Hälfte der Experimente nicht aufbauen, um die es ihm zu tun war; dort kann man nur die andere Hälfte aufbauen – diejenige Hälfte, die wir Newton verdanken.

Was Goethe also brauchte, war das glatte Gegenteil der newtonischen Dunkelkammer; er brauchte eine Streulichtkammer, in der es aus allen Richtungen gleichmäßig hell wäre. Auch das wäre ein Labor, sogar ein technologisch raffiniertes – nur eben ein anderes Labor als dasjenige Newtons. Nun konnte man zu Goethes Zeit keine Streulichtkammern realisieren; abgesehen von Kerzen, Öllampen und anderen Funzeln gab es kein brauchbares künstliches Licht. In freier Natur herrscht an Sonnentagen zwar genug Licht. Aber für Goethes Zwecke taugt es nichts, weil es nicht gleichmäßig genug verstreut ist. Sonnenlicht bietet also kein exaktes Gegenteil der einheitlichen Dunkelheit, in der Newton gearbeitet hatte.

Vertiefungsmöglichkeit. Wie konnte Goethe die experimentelle Hell/Dunkel-Symmetrie überhaupt entdecken? Indem er sich an sie annäherte. Eine der besten Näherungen an die Streulichtkammer hat jedermann im Haus: weißes Papier. Es bildet zwar keine eigene Lichtquelle, aber bei tagheller Beleuchtung wirft es das Sonnenlicht in alle Richtungen gleichmäßig zurück (im Sinne der diffusen Reflexion). Wer also auf dem Papier experimentiert, hat auf eng abgezirkeltem Raum die Bedingungen geschaffen, die Goethe brauchte. Aber das diffus reflektierte Licht ist viel zu schwach, um damit großartig weiterzuexperimentieren. Ausweg: Wer den Raum des Experiments ins Auge verlängert, wer die gewünschten Effekte also auf seine Netzhaut wirft, der kann sehr wohl beobachten, worauf es ankommt – das Auge reagiert äußerst sensibel auf Beleuchtungsunterschiede an der Netzhaut. Dass Goethe überaus oft sein Auge ins Experiment eingebunden hat, hängt also zuallererst mit dem damals herrschenden Mangel an guten künstlichen Lichtquellen zusammen; es hängt nicht damit zusammen, dass er lieber subjektiv als objektiv experimentieren wollte. Zwar nannte er die Experimente mit eingebundenem Auge subjektiv. Aber das hat nichts mit Beliebigkeit, Subjektivismus oder Romantik zu tun; es ist nur der Ausdruck für eine Notlösung, die angesichts des damaligen Lichtmangels nicht umgangen werden konnte. Newton ist in entscheidenden Situationen ähnlich vorgegangen; daher behandle ich den notorischen Unterschied zwischen sog. subjektiven und sog. objektiven Experimenten nicht im TEIL II, der Goethe gewidmet ist, sondern schon im TEIL I über Newton, Kapitel I.3. (Abgesehen davon sind dem Dichter einige der Umkehrungen sogar ohne eingebundenes Auge gelungen, also im objektiven Stil – auch hier behalf er sich mit Approximationen an das, was eine völlig exakte Umkehrung leisten müsste.)

 

 

Hellsichtigkeit ohne Hellseherei§ I.1.11.  Obwohl Goethe mit seinem Theorem richtig lag, konnte er es seinerzeit nicht zweifelsfrei beweisen. Goethes schärfste Waffe war vor zweihundert Jahren zu stumpf. Erst heute wissen wir, wie viel schärfer sie geschliffen werden kann und wie gefährlich sie dann für Newtons Partei wird (Details der teils diffizilen Schleifarbeiten im Kapitel II.5). Goethe hat das nur geahnt, doch seine Ahnung traf ins Schwarze; man könnte es auch hellsichtige Intuition nennen. Das ist etwas anderes als Hellseherei. Es ist dieselbe Intuition, die den modernen Mathematiker oder den theoretischen Physiker antreibt, auf Symmetrien zu setzen, noch bevor er seine Sache beweisen kann.

Goethe ist dafür verschrien, keine Ahnung von Mathematik gehabt zu haben; er hat selber damit kokettiert. Aber die Koketterie war fehl am Platze. Ich werfe ihm das nicht vor; die Art von Symmetrie, die er intuitiv gesehen und auf die er in seinem Theorem gesetzt hat, zog erst viele Jahrzehnte später in Mathematik und mathematische Physik ein. Er wusste nicht und konnte nicht wissen, was er tat. Er tat es ohne Netz. Aber er tat es mit der schlafwandlerischen Sicherheit eines Könners der Mathematik.

Nun ist schlafwandlerische Sicherheit etwas anderes als rationale Argumentation. Und die Ahnung irgendwelcher (umgekehrter) Experimente ist etwas anderes als deren Durchführung. Zwar vermochte Goethe einige einfache Experimente Newtons tatsächlich umzudrehen; aber längst nicht alle – vor allem nicht die, auf die es zuallererst angekommen wäre. Daher könnte man mir entgegenhalten: Wenn Goethe die besten der von ihm ausgetüftelten Experimente nicht realisieren konnte, dann waren das eben nicht Goethes Experimente, und so verliert er den Streit gegen Newton doch.

 

 

Rationale Rekonstruktion§ I.1.12.  Ich gebe es zu, Goethe hat den Streit verloren – de facto, in den Augen fast aller naturwissenschaftlich Denkenden. Aber darauf kommt es mir nicht an. Das hier ist keine historische Untersuchung zum faktischen Verlauf der Wissenschaftsgeschichte. Es ist eine systematische Untersuchung. Ich frage nicht, wer zwischenzeitlich recht behalten hat, sondern: Wer hat recht? Wohin führt uns die Abwägung der besten Gründe und Gegengründe? Und für solche Fragen ist man nicht gut beraten, suboptimale Argumente aus versunkenen Zeiten zu betrachten; für die Frage nach der Wahrheit ist das Beste gerade gut genug. Rationale Rekonstruktionen sind also gefragt anstelle detailgetreuer Nacherzählungen.

Selbstverständlich muss sich selbst die rationale Rekonstruktion an den Originalquellen messen lassen; wo Goethe draufsteht, muss auch Goethe drinstecken. Meine Art, Goethe zu lesen und starkzumachen, läuft so ziemlich allen wohlvertrauten Gewohnheiten aus der Goethe-Literatur zuwider. In der Tat schlage ich vor, zweihundert Jahre fehlgeleiteter Rezeption beiseitezulegen.

Woher ich die Berechtigung dafür nehme? Aus zwei Gesichtspunkten: Erstens passt meine Rekonstruktion der Farbenlehre perfekt zu vielen Äußerungen und Schachzügen Goethes, die ohne sein Theorem zusammenhangslos nebeneinanderstünden. Zweitens stärkt sie diese Äußerungen und Schachzüge, holt also das Beste aus ihnen heraus, und zwar auch dort, wo Goethe Anlauf nahm – und noch nicht weiterkam (etwa in seiner Reaktion auf Newtons schärfste Waffe, aufs experimentum crucis).

 

 

Was auszuklammern bleibt§ I.1.13.  Selbstredend harmonieren nicht alle Äußerungen und Schachzüge aus Goethes Farbenlehre perfekt mit der Rekonstruktion und Stärkung, die ich anbiete. Zwei weite Bereiche der Arbeit Goethes passen nicht ins schöne, neue Bild und müssen daher außen vor bleiben. Der erste Bereich wird unter den Tisch fallen, weil er von der Hauptsache ablenken würde; harmlos. Mit dem zweiten Bereich steht es weniger harmlos; er wäre möglicherweise wichtig, aber ich kann mit ihm nichts anfangen.

Zum ersten Bereich: Da es mir hier um die Physik des Lichts, der Farben und der Finsternis geht, also um Optik, kann ich alle Äußerungen und Schachzüge Goethes ausklammern, die damit wenig zu tun haben: von Farbwahrnehmung und Farbenblindheit über Ästhetik der Farbgebung bis hin zur Wissenschaftsgeschichte unseres Denkens über die Farben, ja zur Geschichtlichkeit unserer Naturwissenschaft überhaupt. Nach Ansicht vieler Leser liegen just auf diesen Feldern die Stärken Goethes. Alles sehr sympathisch; aber nicht mein Thema. Ich leugne, dass es seine einzigen und wichtigsten Stärken sind. Sie sind mir gleichgültig, weil irrelevant für den Streit mit Newton.[3] Diesen Streit wollte Goethe in erster Linie gewinnen, und wer ihn stattdessen auf schöngeistigen oder medizinischen Nebenkriegsschauplätzen lobt, lenkt von der Hauptsache ab.

So weit weiß ich mich mit meinem Gewährsmann einig. Weniger harmlos ist der zweite Arbeitsbereich Goethes, den ich unter den Tisch fallen lassen muss. Ich werde zentrale Aspekte aus Goethes eigener Erklärung der Spektralfarben links liegen lassen. In dieser Erklärung sollen die Farben irgendwie aus einem Zusammenspiel von Licht und Dunkel hervorgehen. Wie aber? Das verstehe ich nicht, und ich hege den Verdacht, dass es sich überhaupt nicht verstehen lässt; Goethes sonst so klarer Text ist genau an dieser Stelle trüb.

Hier hört die Eintracht mit meinem Gewährsmann auf. Ich sollte besser erklären, warum das nicht schadet. Wie Sie gleich sehen werden, hängt Goethes Theorem nicht vom Schicksal seiner eigenen Lehre ab. Ohne das Theorem hätte er seine Lehre zwar nicht so formuliert, wie er es tat. Aber das müssen wir weder Goethe noch seinem Theorem ankreiden. Es ist nämlich verflixt schwierig, das Theorem in eine gute Theorie umzumünzen. Niemand hat die leiseste Ahnung, wie das gehen soll. Das Theorem selbst wird von dieser anhaltenden Schwierigkeit nicht in Mitleidenschaft gezogen. (Das Symmetrie-Theorem überlebt also nicht nur im Rahmen der Lehre Goethes, die weit über das Theorem hinausgeht und insgesamt nicht funktioniert.)

 

 

Der negative und der positive Teil der optischen Arbeit Goethes§ I.1.14.  Goethe verfolgte in seiner Arbeit zur Optik ein doppeltes Motiv; einerseits hatte er Einwände gegen Newtons Theorie, andererseits wollte er diese Theorie durch seine eigene Lehre ersetzen. Man kann das negative Motiv starkmachen, ohne sich um das positive zu scheren. (Aber nicht umgekehrt; wer Goethes positiver Lehre folgt, gibt Newton eben dadurch unrecht.)

Selbstverständlich wäre es besser, wenn ich konstruktiver mit Goethes Erklärung der Spektralfarben umgehen könnte, als bloß mit den Achseln zu zucken und zu sagen: Wie bitte? Doch da ich mit analytischer Wissenschaftsphilosophie unterwegs bin, finde ich die Artikulation von Unverständnis attraktiver als exegetische Eiertänze im Trüben. Und ich verspreche es, ich werde Goethe bei seiner Erklärung so weit entgegenkommen wie irgend möglich. Ich werde nämlich durchdeklinieren, warum es ihm attraktiv erscheinen musste, die Spektralfarben so zu erklären, wie er’s versuchte.

Das Desiderat, das er mit seiner Erklärung erfüllen wollte und dessen Missachtung er Newton vorwarf, finde ich völlig berechtigt: Beflügelt von der optischen Symmetrie zwischen Newtons dunklen Experimenten und ihren hellen Gegenstücken, suchte Goethe nach einer Erklärung, in der sowohl Helligkeit als auch Dunkelheit vorkommen sollten, und zwar gleichberechtigt. Das lag angesichts seines Theorems nahe. Er suchte nach einer symmetrischen Theorie für einen symmetrisch organisierten Bereich von Phänomenen. Dagegen ist nichts einzuwenden; im Gegenteil. Es steht im besten Einklang mit modernen Methoden der Naturwissenschaft.

Nur leider ist die Angelegenheit verzwickter, als er meinte und hoffte. Genauer gesagt: Bis heute weiß kein Mensch, ob sich Goethes Desiderat erfüllen lässt – und wenn ja, wie. Dadurch ändert sich nichts an der Plausibilität des Desiderats. Es ist und bleibt als Desiderat plausibel, und zwar ganz unabhängig von der Tatsache, dass man mit Goethes Versuch seiner Erfüllung keinen Blumentopf gewinnen kann.

 

 

Unerfüllte Desiderate§ I.1.15