Pazifismus. Eine Verteidigung - Olaf L. Müller - E-Book

Pazifismus. Eine Verteidigung E-Book

Olaf L. Müller

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Beschreibung

Pazifisten haben es nicht leicht: Man wirft ihnen Blauäugigkeit oder blinden Dogmatismus vor. Dieser Essay verteidigt demgegenüber einen Pazifismus ohne Prinzipienreiterei. So gut wie alle kriegerischen Handlungen sind unmoralisch. Pazifismus darf deshalb nicht darauf hinauslaufen, mit geschlossenen Augen starre moralische Regeln zu predigen, sondern er muss auf friedliebende Art und Weise die politische Wirklichkeit betrachten. Olaf Müller gibt dabei in aller Offenheit zu: So verstandener Pazifismus ist anstrengend und bietet keine Garantie dafür, am Ende schuldlos zu bleiben.

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Seitenzahl: 133

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Olaf Müller

Pazifismus

Eine Verteidigung

Reclam

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Dem Gedenken an Heinrich Arend (1901–1945)

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962084-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014354-4

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Erstes Kapitel: Einleitung

1. Pazifismus aus pragmatischer Sicht

2. Jeder ist gegen Krieg – nicht jeder ist Pazifist

3. Was zählt zum Krieg dazu?

4. Verschiedene Formen moralischer Urteile

Zweites Kapitel: Unterwegs zum verantwortungsethischen Pazifismus

5. Kritik am gesinnungsethischen Umgang mit Krieg

6. Einstein und Russell vertraten ihren Pazifismus mit einer einzigen Ausnahme

7. Drei Thesen zwischen Sein und Sollen

8. Das Kriterium der Folgen

Drittes Kapitel: Ein Problem mit der Objektivität

9. Das zweistufige Modell der Subsumption

10. Was wäre, wenn?

11. Verrückte und weniger verrückte Beispiele für kontrafaktische Wenn-dann-Sätze

12. Wie objektiv sind kontrafaktische Sätze über Krieg?

Viertes Kapitel: Werte bei der kontrafaktischen Betrachtung der Wirklichkeit

13. Bombenkrieg über deutschen Städten

14. Strittige Werte im Hintergrund des Streits über Wenn-dann-Sätze zum Bombenkrieg

15. Beispiel Folter

16. Verschärfung mithilfe von Handlungsvorschlägen

Fünftes Kapitel: Beispiel Kosovo

17. Unstrittige Fakten aus dem Kosovokrieg

18. Ein strittiger Wenn-dann-Satz über den Kosovokrieg

19. Was der Westen im Kosovo hätte tun sollen

20. Wertekompass

Sechstes Kapitel: Ein optimistischer Vergleich zwischen Pazifismus und Physik

21. Ausflug in die pragmatistische Wissenschaftsphilosophie

22. Schönheit als leitendes Ideal physikalischer Forschung

23. Pazifistische und physikalische Leitprinzipien im Vergleich

24. Angst

Siebtes Kapitel: Pragmatismus, Pazifismus, Pessimismus

25. Pessimismus

26. Inferno

27. Pragmatistische Gesamtschau

28. Schwäche

Literaturhinweise

Zum Autor

Vorwort

Seit Jahren plane ich ein Buch für den Pazifismus – und bin doch jedes Mal, wenn es hätte ernst damit werden können, davor zurückgeschreckt. Jetzt muss es sein; nachdem Wladimir Putin Ende Februar des Jahres 2022 seine mörderischen Truppen auf ukrainisches Territorium losgelassen hat, werden wir Pazifisten in zunehmend höhnischem Ton kritisiert. Da ist es an der Zeit, eine Verteidigung gegen viele der Einwände auf den Tisch zu legen. Wie ich zugeben muss, sind einige Einwände mehr als berechtigt – mit der Folge, dass ich nicht ohne Änderungen dessen auskommen werde, wie der Pazifismus für gewöhnlich verstanden wird. Mein Ziel besteht darin, ihn bei dieser Umformulierung nicht zu sehr aufzuweichen – es bleibt dabei, dass ich mich als Pazifist gegen kriegerische Handlungen ausspreche, doch tue ich dies mit einem Schuss Pragmatismus und weniger apodiktisch, als vielleicht zu erwarten wäre: Am Ende werde ich Ihnen meine Selbstzweifel angesichts des gegenwärtigen Kriegs nicht verhehlen. Doch der Reihe nach; als Allererstes möchte ich kurz schildern, wie ich zum Pazifisten geworden bin.

Ich habe nichts gegen Soldaten; ich bin selbst einmal Soldat gewesen. Direkt nach dem Abitur leistete ich den Wehrdienst als Vorzimmersoldat in Celle nach drei Monaten Drill bei der Grundausbildung in Achim. Ich hatte und habe keine moralische Allergie gegen Schusswaffen, und überraschenderweise war nicht der körperliche Stress dieser Monate demoralisierend, sondern das Tragen einer Uniform: Als sie uns am zweiten Tag verpasst wurde, blieb mir und meinen Schulkameraden auf der Stube das Lachen im Hals stecken – schlagartig war’s aus mit der Individualität.

Hier hatten wir das erste Anzeichen für eine Tatsache von größerer Bedeutung. In deutschen Garnisonsstädten verschwinden soldatisch uniformierte Personen trotz ihrer beachtlichen Zahl gleichsam in einem toten Winkel der Wahrnehmung von Zivilisten; dass man die Soldaten vielleicht lieber nicht sehen will, passt zur merkwürdigen Gleichgültigkeit, mit der die Öffentlichkeit das Tun und Sterben unserer Soldaten in Afghanistan weitgehend auszublenden wusste. Oder um dasselbe durch ein verstörendes Erlebnis meiner Soldatenzeit zu illustrieren: Selbst als ich sie auf offener Straße grüßte, hat mich die eigene Mutter wegen meiner Uniform zuerst nicht erkannt. Spätestens da wurde mir klar, dass der Soldat nicht allzu sehr als Mensch betrachtet werden soll, wenn ein Krieg ansteht. Schlimmer noch: Wenn ein Krieg ansteht, soll überhaupt kein Betroffener ganz und gar als Mensch betrachtet werden, und das ist nicht gut.

Meine Zweifel an der Richtigkeit militärischer Tätigkeit verstärkten sich nicht lange nach dem Ende der Dienstzeit, und um nicht als Reservist aktenkundig zu werden, verweigerte ich den Dienst nachträglich mit einem verantwortungsethischen Plädoyer für die Abschaffung der Bundeswehr – was im Rahmen der Gewissensprüfung eigentlich so nicht zulässig gewesen wäre.

Seither verstehe ich mich zwar als Parteigänger des Pazifismus. Dennoch lehne ich Gewalt als Mittel zum Kampf gegen das Böse ausdrücklich nicht ab und finde beispielsweise die Idee eines Tyrannenmords erwägenswert.

Erstes Kapitel: Einleitung

1. Pazifismus aus pragmatischer Sicht

Pazifisten sind gefühlsduselige Gutmenschen, verantwortungslose Hasardeure, irrationale Spinner, Traumtänzer mit Jesuslatschen, dubiose Gesinnungsethiker.1 Solchen Vorurteilen sieht sich der Pazifismus seit jeher ausgesetzt.

Vor kurzem ist ein weiteres Vorurteil hinzugekommen. Seit dem 23. Februar 2022 werden Pazifisten sogar für Putins verbrecherischen Angriffskrieg mitverantwortlich gemacht: Ihr nützlichen Idioten mit eurer Friedensliebe, eurer Naivität, eurer Blindheit gegenüber dem Bösen – ihr seid mitschuld, so heißt es, dass Putin die europäische Friedensordnung mit Füßen tritt, über Leichen geht, einen Völkermord anzettelt.

Bei Lichte besehen sind solche Vorwürfe so neu auch wieder nicht. Schon vor knapp vier Jahrzehnten hat es der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (1930–2017) auf den Punkt gebracht: »Der Pazifismus der Dreißiger Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht«.2 Und vor einem Vierteljahrhundert gab der erste grüne Außenminister, Joschka Fischer, den damaligen Pazifismus seiner Partei preis, indem er uns vor die Wahl zwischen »Nie wieder Krieg« und »Nie wieder Auschwitz« stellte.3 Einmal mehr stand der Verdacht im Raum, dass Pazifisten beim Thema Auschwitz unsichere Kantonisten sind.

Gegen alle diese Vorurteile wende ich mich mit dem vorliegenden Büchlein. Es gibt, so meine These, einen pragmatischen Pazifismus, der sowohl intellektuell als auch moralisch respektabel ist. In seiner Ablehnung kriegerischer Handlungen geht der pragmatische Pazifist weit über den Konsens der meisten irgendwie friedliebenden Zeitgenossen hinaus – doch ist er nicht so radikal, prinzipiell jeden Einsatz militärischer Gewalt zu verdammen. Den Krieg der Alliierten gegen Hitler-Deutschland nimmt er als entscheidende und vielleicht einzige Ausnahme aus dem Anwendungsbereich seiner pazifistischen Moral heraus: einer Moral, der er zwar engagiert, aber nicht um den Preis der Verrücktheit folgt.

Er vertritt also keinen gesinnungsethischen Total-Pazifismus; Gesinnungsethik ist eine zweifelhafte Form von Moral, die sich auf die richtige Gesinnung im Innern des Akteurs konzentriert und dabei dessen Verantwortung für äußere Folgen seines Tuns ausblendet.

Trotz aller Sympathie für das verantwortungsethische Gegenteil jedweder Gesinnungsethik unterwirft sich ein pragmatischer Pazifist auch der Verantwortungsethik nicht uneingeschränkt. Seiner Ansicht nach führt jeder Versuch, eine solche folgenorientierte Ethik auf Fragen von Krieg und Frieden anzuwenden, zu einer völlig unrealistischen Überschätzung menschlicher Erkenntnismöglichkeiten. Diese Schwierigkeit scheint den meisten Verantwortungsethikern beim Thema Krieg nicht in aller Schärfe vor Augen zu stehen, und zwar unabhängig davon, ob sie Krieg befürworten oder ablehnen. Doch niemand kann, so meine These, eine solche Form von Objektivität erreichen, wie er sie als Verantwortungsethiker für die Folgenabschätzung der kriegerischen und nichtkriegerischen Handlungsoptionen braucht.

Und so geht es im vorliegenden Buch um einen Mittelweg zwischen der moralischen Arroganz von Gesinnungsethikern und der erkenntnistheoretischen Arroganz ihrer veranwortungsethischen Gegenspieler. Um diesen Weg zu bahnen, werde ich mich ausgiebig bei einer philosophischen Tradition bedienen, die hierzulande weder prominent noch sonderlich beliebt ist. Sie stammt aus Nordamerika, ist einigermaßen raffiniert und läuft unter der Überschrift Pragmatismus. Was soll das sein?

Pragmatisch nennen wir eine Haltung, die ohne Prinzipienreiterei auskommt. Statt sich im Tun und Denken an starren Lehrsätzen zu orientieren, gehen Pragmatiker flexibel, fallweise und situationsbezogen vor. Lassen sie sich also von Sachzwängen willenlos hin- und herschieben? Nein, denn sie orientieren sich versuchsweise an ihren bisherigen Prinzipien und sind darauf vorbereitet, sie im Lichte neuer Ereignisse zu modifizieren, umzuformulieren und – falls es nicht anders geht – sogar preiszugeben.

Eine solche pragmatische Lebenshaltung kann man ohne jede philosophische Hintergrundtheorie einnehmen. Der nordamerikanische Pragmatismus stellt demgegenüber eine bestimmte philosophische Theorie dar, die von pragmatischen Lebenshaltungen ausgeht und diese systematisch zu durchdringen, zu verfeinern und weiterzutreiben sucht – mit teilweise überraschenden Ergebnissen.4 Insofern diese philosophischen Ergebnisse weitergehen als die pragmatische Haltung, heißen sie pragmatistisch, nicht bloß pragmatisch. Strenggenommen müsste der Titel dieses Abschnitts also verlängert werden: »Pazifismus aus pragmatischer und pragmatistischer Sicht«. Doch diese kleine Unschärfe schadet kaum; insofern die pragmatistische Sicht eine theoretische Fortentwicklung der pragmatischen Haltung bietet, hängt beides engstens miteinander zusammen, und so lautet die Substantivierung beider Adjektive denn auch gleich – Pragmatismus.

Eine der theoretischen Überraschungen aus dem Pragmatismus besteht in der philosophischen Einsicht, dass sich objektive Fakten nicht sauber von Werten und Normen trennen lassen.5 Von dieser Einsicht, die dem überkommenen Schulwissen zuwiderläuft, werde ich auf der Suche nach dem gesuchten Mittelweg zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ausgiebig Gebrauch machen. Demzufolge blicken Pazifisten mit anderen Werten auf die Wirklichkeit als ihre Widersacher.

Dass darin nichts Irrationales liegt, werde ich durch einen extremen Vergleich nachzuweisen versuchen. Wie ich mithilfe pragmatistischer Wissenschaftsphilosophie nahelegen möchte, kann man den idealistischen Blick der Pazifisten auf die Wirklichkeit gut und gerne mit dem idealisierenden Blick vieler Physiker auf die Natur vergleichen. Wie jeder Vergleich hinkt auch dieser; doch ist er auf seine Weise erhellend genug und geht weiter, als man zunächst denken möchte. Physiker wissen unsere Welt mit mächtigen Theorien zu durchleuchten und mit mächtigen Apparaten zu gestalten. Insofern sie also über den Verdacht erhaben sind, weltfremde Erkenntnismethoden einzusetzen, können wir auch die pragmatistischen Pazifisten vom Vorwurf der Weltfremdheit lossprechen.

2. Jeder ist gegen Krieg – nicht jeder ist Pazifist

Wie man weiß, sind Pazifisten immer gegen Krieg. Nun ist heutzutage fast niemand für Krieg – zumindest hier in Deutschland. Kein Wunder, nach zwei Weltkriegen: Nachdem unsere Landsleute 1914 bis 1918 und, weit schlimmer noch, 1939 bis 1945 mehrheitlich von Kriegsbegeisterung, Kriegstaumel, ja Kriegsfanatismus befallen waren, sind allein in Europa zigmillionen Tote zu beklagen gewesen, lagen unsere Städte in Trümmern, war das ganze Land moralisch bankrott. Der zweite dieser Kriege war eindeutig von Deutschland vom Zaun gebrochen worden, und die deutsche Mitschuld am Ersten Weltkrieg ist deutlich genug. Die Lektion, die aus alledem zu ziehen war, wird bei uns weithin akzeptiert: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.

Mit diesem Slogan allein wird man noch nicht zum Pazifisten. So steckt im Slogan eine moralisch zweifelhafte Beschränkung auf unser Land. Pazifisten sind aber nicht zuallererst damit beschäftigt, irgendwelche politischen Richtlinien für ihr eigenes Land zu formulieren – so wie es etwa die außenpolitischen Denkfabriken tun. Nein, Pazifisten formulieren eine moralische bzw. ethische Position.

Für die Zwecke dieses Essays ist es nicht erforderlich, zwischen Moral und Ethik zu unterscheiden. Es geht um das richtige Tun schlechthin, nicht um das richtige Tun im Lichte dieser oder jener Staatsinteressen. Und es ist herrschende Meinung unter Ethikern und Moralphilosophen, dass es bei der Frage nach dem richtigen Tun nicht auf die Nationalität des Handelnden ankommt.

Wenn also ein Kriegsverbot wirklich als moralisch-ethische Haltung gemeint sein soll, dann muss sich die Sache auf alle Staaten der Welt beziehen. Und das Ergebnis dieser Erweiterung ist heute im Jahr 2022 aktueller denn je: Es darf nie wieder ein Krieg von irgendeinem Territorium aus losgetreten werden.

Auch dem wird hierzulande kaum einer widersprechen; das moralische Verbot von Angriffskriegen bietet einen Minimalkonsens unter Politikern, Kommentatoren und Wahlvolk. Einen solchen Konsens können sich alle diese Leute ohne jeden Pazifismus auch deshalb leisten, weil es ein Leichtes ist, das eigene kriegerische Tun als Verteidigungskrieg auszuzeichnen – und damit aus dem Anwendungsbereich des moralischen Verbots von Angriffskriegen herauszunehmen.

In dieser Hinsicht (und ausschließlich in dieser Hinsicht) gleichen sich eine Reihe rhetorischer Schachzüge der verschiedensten Kriegsherren. Als russische Truppen die Ukraine überfielen, hatte Putin das offiziell deshalb befohlen, weil er Leute, die er als Russen betrachtet, gegen ukrainische Nazis verteidigen wollte. Dass die angeblichen Russen ukrainische Staatsbürger sind und dass die angeblichen Nazis in Wahrheit deren demokratisch gewählte Regierung ist, tat der Wirkung seiner Rhetorik daheim kaum Abbruch.

Noch infamer sagte Adolf Hitler (1889–1945) beim deutschen Überfall auf Polen am Anfang des Zweiten Weltkriegs:

Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.1

Selbst der allerverwerflichste Angriffskrieg aller Zeiten wurde also mit defensiven Feigenblättern geschmückt.

Die beiden Fälle sind widerwärtig und eindeutig genug. Aber der Wahnsinn hat auch in milderen Fällen Methode. Es ist nicht allzu lange her, dass wir mit einem Satz konfrontiert worden sind, dem ein ähnlicher Ruch zukommt, wenn auch schwächer: »Die deutsche Sicherheit«, sagte der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck (1943–2012; SPD), »wird auch am Hindukusch verteidigt«.2

Angesichts der dürftigen Grundlage für diese These kann man ebenso gut sagen: Unsere Sicherheit wurde am Hindukusch erstens insofern riskiert, als wir uns dadurch in einem teilweise radikal muslimischen und allemal traditionalistischen Umfeld nicht nur Freunde, sondern auch Feinde gemacht, ja die Blickrichtung potentieller Terroristen auf unser Land gelenkt haben. Und zweitens wurde sie insofern riskiert, als unsere Bundeswehr durch jahrelange internationale Einsätze von ihrer Kernaufgabe abgebracht worden ist – nämlich von der gründlichen Vorbereitung einer allfälligen Verteidigung unseres hiesigen Territoriums; wenn die Bundeswehr jetzt nicht mehr genügend Abwehrwaffen für einen konventionellen Krieg in Europa hat, dann liegt das sicher auch an den Fehlsteuerungen infolge der Kriegseinsätze im Ausland (von denen derjenige in Afghanistan am schwersten wog, weil er die Bundeswehr riskanterweise bis an die Grenzen ihrer Belastung strapaziert hat).

Um nicht missverstanden zu werden: Struck war kein Putin und erst recht kein Hitler; und unsere Intervention in Afghanistan ist weder mit dem Überfall 2022 auf die Ukraine noch gar mit dem auf Polen 1939 vergleichbar. Dennoch kann man darüber streiten, ob nicht auch Struck den Begriff der Verteidigung überdehnt hat. Und es ist auffällig, dass damals lange Zeit nicht von Krieg die Rede war, sondern – wie oben in einer Art Echo zwanglos wiedergegeben – von einer »Intervention« (was übrigens für die beteiligten Soldaten eine Katastrophe bedeutete, da sie nach ihrer Rückkehr nicht entsprechend versorgt wurden). Zwar war es in Deutschland jahrelang unüblich, aber natürlich rein rechtlich gesehen erlaubt, von einem Krieg zu reden – anders als jetzt in Russland, wo dies Wort strafbar ist und es stattdessen »Spezialoperation« heißen muss.

Wie man sieht, sind die Begriffe dehnbar. Manche dehnen den Begriff der Verteidigung auf haarsträubende Weise, andere gehen dabei subtiler vor. Mit solchen Spitzfindigkeiten müssen sich diejenigen herumschlagen, die sich punktgenau die Ablehnung von Angriffskriegen auf die Fahnen schreiben und dabei redlich, also ohne Sprachmissbrauch vorgehen wollen. Dem Pazifisten können diese Feinheiten gleichgültig sein; er plädiert nicht einfach nur gegen Angriffskriege, was leicht zu haben ist – er plädiert gegen Krieg überhaupt.

3. Was zählt zum Krieg dazu?

Als Ergebnis des vorangegangenen Abschnitts ist herausgekommen, dass Pazifisten auf moralische Weise gegen Krieg sind – und zwar gleichgültig, von wem der Krieg geführt wird, und gleichgültig, ob es sich um einen Angriffs- oder um einen Verteidigungskrieg handelt.

Saubere Begriffe dienen der Klarheit, unsaubere Begriffe der Ideologie. Krieg ist ein schwammiger Begriff. Wer in abstracto Krieg kritisiert, ja verbietet, der stellt uns damit noch nicht die Adressaten einer solchen Kritik vor Augen. Wem, genau, gilt das pazifistische Kriegsverbot?

Um der Deutlichkeit willen sollten wir uns vom abstrakten Begriffsmonstrum namens ›Krieg‹ erst einmal loslösen und uns klarmachen, dass unter dieser Überschrift die allerverschiedensten menschlichen Handlungen zusammengefasst werden, also ganz konkrete Taten einzelner Personen. Reden wir einstweilen besser von Kriegshandlungen statt von Krieg.

Beispiele dafür sind einerseits Sprechhandlungen der Befehlshaber mit militärischen Folgen, etwa eine Kriegserklärung oder der Befehl zum Abmarsch auf fremdes Territorium oder zur Bombardierung einer Stadt oder zum Beschuss der Angreifer.