Zu viel für diese Welt - Reiner Klingholz - E-Book

Zu viel für diese Welt E-Book

Reiner Klingholz

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Beschreibung

Die Menschheit ist ungeheuer erfolgreich. Keine Spezies hat den Planeten so geprägt wie sie. Doch das Anthropozän hat einen hohen Preis. Längst stöhnt die Erde unter der Last von fast acht Milliarden Menschen und den Folgen ihres Handelns: Klimawandel, Umweltverschmutzung, Artensterben und neue Infektionskrankheiten bedrohen unser aller Leben und das zukünftiger Generationen. Höchste Zeit also, unsere Erfolgsgeschichte anders weiterzuerzählen. Unsere Welt ist in doppeltem Sinne überbevölkert, analysiert der Demografie-Experte Reiner Klingholz. In den reichen Ländern verbrauchen wir zu viele Rohstoffe, in den armen Teilen der Welt leben zu viele Menschen im Elend. Doch Klingholz bleibt nicht bei der Analyse stehen: Er entwickelt Szenarien und stellt konkrete Maßnahmen vor, wie wir dieser doppelten Überbevölkerung erfolgreich begegnen können. Dabei appelliert er gleichermaßen an uns als politische Menschen wie auch als Konsumenten. Wenn wir endlich beginnen, zukunftsorientierter zu handeln, ist nicht nur genug für alle da, sondern wir erreichen sogar das Klimaziel für 2050.

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Reiner Klingholz

ZU VIEL FÜR DIESE WELT

Wege aus der doppelten Überbevölkerung

Inhalt

1Die doppelte ÜberbevölkerungZwischen Bonga und Bielefeld

2Never waste a good crisisKönnen wir aus Fehlern und Katastrophen lernen?

3Fähig – aber zu dummWarum die Menschen so erfolgreich sind

4Die (Negativ-)Folgen des ErfolgsAb in die ökologische Katastrophe

5Die (Positiv-)Folgen des ErfolgsHurra – es geht uns immer besser

6Das Trilemma des WachstumsWas tun, wenn auch noch die Armen reich werden?

7Panik oder Entwarnung?Wie die Welt von morgen aussieht

8Vorsicht: SelbstbetrugFallstricke auf dem Weg zur Nachhaltigkeit

9Was tun?Stopp der Konsum- und Bevölkerungsexplosion

Und jetzt konkret25 Punkte für die heile Welt

EpilogWar das ein Lehrjahr?

Dank

Anmerkungen

KAPITEL 1

Die doppelte Überbevölkerung

Zwischen Bonga und Bielefeld

Die 28-köpfige Großfamilie lebt irgendwo im Waldgebiet nördlich der Straße von Bonga nach Mizan Teferi in Äthiopiens Südwesten. Kaffa heißt die Gegend, sie war einst ein unabhängiges Königreich und von dort stammt der Kaffee. Nur in den Hochland-Regenwäldern Äthiopiens stand einst die wild wachsende Pflanze des Coffea arabica, bis arabische Händler im 11. Jahrhundert auf sie aufmerksam wurden und ein paar Exemplare in den heutigen Jemen entführten, um sie dort in bewässerten Gärten zu kultivieren. Sie bauten ein Monopol für Kaffee auf, exportierten das kostbare Handelsgut über den Hafen von Mokka und wurden steinreich. Ein früher Akt der Biopiraterie.

Später kamen die Holländer, klauten ein paar Pflanzen aus den jemenitischen Kaffeegärten und brachten sie in ihre Kolonie nach Indonesien. Von dort aus ging die Reise weiter. Jeder einzelne Kaffeebusch auf sämtlichen Arabica-Plantagen der Welt ist letztlich ein Abkömmling der entführten Urpflanzen aus dem Kaffa-Hochland, wo sich einst dichter Wald ausdehnte.

Heute ist der Forst ein Flickenteppich. Die Bevölkerung wächst rasch und sie hat seit Jahrzehnten Säge und Feuer an die Bäume angelegt. Die äthiopische Regierung hat nach Dürren und Hungersnöten im Norden und Osten des Landes immer wieder Tausende Familien in die fruchtbaren Hochlandgebiete im Südwesten umgesiedelt. Die Zuzügler kamen aus Trockenzonen und Wald war ihnen fremd. Also weg damit und Platz schaffen für Mais und Hirse. Heute stehen noch ein paar Prozent des einstigen Grüns, das ein Paradies sein könnte, mit regelmäßigen Niederschlägen und angenehmem Klima trotz Äquatornähe.

Tesfaye aus Kaffa

In dem verloren gegangenen Paradies hat sich Tesfaye mit seiner Familie niedergelassen: ein Mann, drei Frauen, 24Kinder. Ungefähr. So genau kann Tesfaye seine Nachkommen nicht auflisten. Das jüngste Kind ist ein paar Monate alt, das älteste 14Jahre. Viel Zeit zwischen den Schwangerschaften blieb den Frauen nicht. Sie sind nicht älter als 30Jahre. Die Kinder sind in schmutzige Tücher gehüllt, stecken in zerschlissenen T-Shirts, eines hat sich einen rosa-schwarzen Ski-Anorak mit Kunstfellkapuze übergeworfen, den vermutlich einmal ein europäisches Kind eine Wintersaison lang getragen hat. Jede der Frauen lebt mit ihren Kindern in einer Hütte, aus dicken Ästen und Bambusstangen grob zusammengezimmert, mit Stroh gedeckt. Diese bietet einen einzigen Raum, ohne Bett und irgendein Möbelstück. Geschlafen wird auf dem nackten Erdboden oder ein paar schmutzigen Bastmatten. Kein Stromanschluss, keine Wasserleitung. In der Ecke brennt ein Holzfeuer, hüllt den einzigen Raum in beißenden Qualm und hält die Mücken fern. Immerhin.

Ein paar der Mädchen schleppen Wasser in Plastikeimern aus dem einige Kilometer entfernten Bach heran, danach geht es zum Brennholzsammeln. Keines der Kinder lacht oder tobt herum. Hühner scharren zwischen den Bananenstauden. Auf einer abgebrannten Fläche hinter den Hütten wachsen ein paar Maispflanzen, Hirse, Bohnen, Kartoffeln. Die Menschen bekommen das, was die Schädlinge ihnen übrig lassen. Viel bleibt nicht für die Kinder, sie sind schmal und klein für ihr Alter, einige haben aufgeblähte Bäuche.

Geld spielt praktisch keine Rolle im Leben von Tesfaye, denn er hätte kaum etwas, was er verkaufen könnte. Manchmal bringt er etwas Mais in die nächste Stadt, verdient ein paar Birr und kann dann vielleicht ein Stück Seife oder eine Flasche Öl zum Kochen mitbringen. Tesfaye hat nie eine Schule besucht, er hatte nie einen Job, höchstens mal als Tagelöhner. Er und die Seinen sind notgedrungen Selbstversorger, sie autark zu nennen, wäre zynisch. Sie leben mehr schlecht als recht von dem, was das Stückchen Land hergibt, das sie bewirtschaften. Sie kommen eben so durch.

Sie fahren kein Auto, haben nie ein Flugzeug aus der Nähe gesehen, kennen keinen Supermarkt und verfügen weder über Radio noch Laptop. Ihnen fehlen die Mittel, größeren Schaden anzurichten. Ihre Treibhausgasbilanz ist praktisch null. Ökologischer Fußabdruck dito. Würden alle Menschen auf der Welt so leben, gäbe es keinen menschengemachten Klimawandel, keine havarierten Öltanker, keine internationalen Müllexporte, keine Plastikstrudel in den Ozeanen.

Aber ist diese Bilanz korrekt? Schon die Generation von Tesfayes Kindern kann dieses Leben nicht mehr führen. Dazu fehlt das Land, um sie und ihre Familien zu ernähren. Sie sitzen in der Falle der armen Subsistenzbauern. Sie haben kaum genug zum Leben, sind aber reich an Kindern. Für sie bedeutet Kinderreichtum Armut – und umgekehrt. Sie haben nicht das Wissen, produktiver zu wirtschaften, kein Kapital, um sich gutes Saatgut oder gar eine einfache Landmaschine zu kaufen. Spielt das Wetter nicht mit und bleibt der Regen aus, fehlt jede Reserve, um die Krise zu überstehen. Die Perspektiven für Tesfayes Kinder sind schlecht. Die Armut pflanzt sich fort und trifft in der nächsten Generation noch mehr Menschen. Und Tesfaye gehört zu den besonders armen.

Tesfaye hätte gerne mehr Kinder. »Wo es keine ökonomische Sicherheit gibt, bedeuten Kinder Sicherheit, Status und Prestige«, sagt die amerikanische Anthropologin Nina Jablonski von der Pennsylvania State University, »und die zeigt man gerne vor. Genau wie der Börsenhändler in New York seine zwei Ferraris gerne vorzeigt«1. Für Tesfaye sind Kinder das Einzige, was er hat: »Wer soll sonst bei der Ernte helfen?« Aber die ist so dürftig, dass sie sich auch mit halb so vielen Händen einbringen ließe. Warum so viel Nachwuchs, der vor allem den Frauen zu schaffen macht? »Sie werden mich im Alter versorgen. Und wenn ich einmal sterbe, sollen viele an meinem Grab stehen.«

Meine Begegnung mit Tesfaye ist ein paar Jahre her. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Kaum eines der Kinder dürfte je zur Schule gegangen sein, sie werden irgendwann in die nächste Stadt abgewandert sein, um dort ihr Glück zu suchen. Die wenigsten jungen Menschen in Afrika lassen sich noch für das Leben eines armen Subsistenzbauern begeistern. Sie haben am eigenen Leib erlebt, was das bedeutet. Und sie haben von Alternativen gehört. Gerade in Äthiopien, einem Land, das zwar noch immer zu den ärmsten der Welt gehört, sich aber in den letzten Jahren besser entwickelt hat als die meisten anderen in Afrika. Ob die Kinder je zurückkommen werden, wenn der Vater einmal das Zeitliche segnet, ob sie überhaupt jemals von seinem Tod erfahren?

Tesfaye ist ein Beispiel für Überbevölkerung. Sein Verhalten trägt dazu bei, dass in Äthiopien mehr Menschen heranwachsen, als ausreichend versorgt werden können. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Perspektiven, an Potenzialen für ein menschenwürdiges Dasein. Die vielen Menschen überschreiten die Tragfähigkeit der regionalen Naturräume. Der einstige Urwald schwindet weiter, die landwirtschaftlichen Böden werden überstrapaziert.

Annette aus Bielefeld

Annette* lebt in einer 75-Quadratmeter-Altbauwohnung in Bielefeld, minimalistisch eingerichtet, eine große Ahornplatte auf Stahlgestell als Tisch, schwarze Thonet-Freischwinger, weiße, hohe Wände. Die 38-jährige Wirtschaftsjuristin arbeitet in einer Anwaltskanzlei, verdient gut, hat ein Abo im Flower-Fitnessstudio für Yoga und Pilates, ist Stammkundin im Biomarkt und würde nie einen Kaffee im Pappbecher kaufen, geschweige denn ihn nach Gebrauch in die Natur schmeißen. Annette wählt die Grünen, wie elf Prozent der Bielefelder bei der letzten Bundestagswahl 2017. Sie braucht selten ein Auto, und wenn, dann findet sie schnell einen sparsamen Elektroflitzer bei Share Now. Ihren Partner, einen Software-Entwickler, der im 80Kilometer entfernten Münster wohnt, sieht sie öfter mal am Abend oder am Wochenende. Mit dem Zug sind es 62Minuten dorthin. Oft kochen sie zusammen, meistens vegetarisch, auch wenn sie der Meinung ist, vegan sei nachhaltiger, aber auf Käse möchte sie nicht verzichten. Urlaub, na ja, machen sie schon einmal, am liebsten Städtereisen, Barcelona, Lissabon oder London. Auch New York und Sydney haben sie schon besucht.

*Name wurde geändert

Annette will keine Kinder. Der Umwelt zuliebe. Sie mag Kinder, kümmert sich manchmal um den Nachwuchs ihrer Schwester, aber in ihrer Lebensplanung finden eigene Kinder keinen Platz. Die Ökosysteme sind überlastet, das Klima spielt verrückt, der Regenwald geht vor die Hunde und jetzt noch Corona. Von allem viel zu viel, vor allem an Menschen.

Das sagt auch Verena Brunschweiger, eine Gymnasiallehrerin aus Regensburg, gut 40Jahre alt, nach eigenem Bekunden Antinatalistin und Radikalfeministin.2 Sie findet Familien mit sechs Kindern »nicht besonders ökologisch« und hat gegen die »Fortpflanzungswut« der Menschen zwei Bücher geschrieben.3 Darin führt sie ethische Argumente für eine Nachwuchsverweigerung auf.4 Die Entscheidung für ein Kind in der Welt, in der wir heute leben, sei faktisch nicht mehr mit gutem Gewissen zu unterstützen. Ein Kind bedeute pro Jahr 58,6Tonnen mehr Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre, und dieses Zeug sei schließlich hauptverantwortlich für den menschengemachten oder anthropogenen Klimawandel. Deshalb sollte man jeder Frau, die kein Kind bekommt, zu ihrem 50. Geburtstag zur Belohnung 50000 Euro in die Hand drücken. Ein Kind sei das Schlimmste, was man der Umwelt antun könne. Kinder zu bekommen, sei »egoistisch« und entspringe nur dem Wunsch, sich in der Welt zu verewigen, wenn man das mit anderen Mitteln nicht geschafft habe.

Brunschweiger ist nicht allein mit ihrer Vorstellung: Unter dem Hashtag #BirthStrike erklären Frauen und ein paar Männer, warum sie eine Elternschaft aus Gewissensgründen wegen der drohenden Klimakatastrophe ablehnen. Darunter Blythe Pepino, Frontfrau der britischen Band Mesadorm, die als »Erfinderin« der Bewegung BirthStrike gilt.5

Die Autorin Brunschweiger baut ihre These vom zusätzlichen Kind als Umweltkiller auf einer Studie von Kimberly A. Nicholas von der schwedischen Universität Lund und Seth Wynes von der Universität von British Columbia in Kanada auf, die eine ganze Bandbreite von Lebensstilen und klimarelevanten Handlungen auf ihren Treibhausgasausstoß hin untersucht haben. Sie kamen zu dem Schluss, dass der Verzicht auf ein Kind in einem weit entwickelten Land wie Deutschland im Schnitt 58,6Tonnen CO2-Äquivalente* pro Jahr einspart. Ein Leben ohne Auto vermeidet 2,4 Tonnen, ein Verzicht auf einen Transatlantikflug hin und zurück 1,6 Tonnen, das Umstellen auf fleischfreie Ernährung 0,8 Tonnen pro Jahr, und wer seine Wäsche zum Trocknen im Freien aufhängt, anstatt sie in den elektrischen Trockner zu stecken, spart 0,21Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr ein. Daraus konnte man schließen: Wer die Welt retten wolle, sollte ein Kind weniger oder am besten gar keins haben. Und ob er oder sie den Wäschetrockner boykottiert, ist ziemlich egal.6

*Zu dem Treibhauseffekt tragen verschiedene Gase bei: Kohlendioxid, Methan, Distickstoffmonoxid (Lachgas) oder fluorierte Kohlenwasserstoffe. Kohlendioxid ist das mit Abstand wichtigste, aber die anderen Treibhausgase bedeuten pro Molekül zum Teil deutlich mehr Treibhauseffekt. Um den Gesamteinfluss der menschengemachten Emissionen zu beziffern und um länderspezifische Unterschiede zu berücksichtigen, rechnet die Wissenschaft die Wirkung aller Gase in sogenannte Kohlendioxid-Äquivalente um.

Doch Vorsicht mit der Interpretation von Studien, beziehungsweise mit Zweitverwerterinnen, die nicht so genau wissen, was sie eigentlich zitieren. Denn Wynes und Nicholas hantieren mit nicht ganz seriösen Zahlen. So liefert ein kurzer Blick in die Datenbank der EU-Statistikbehörde Eurostat die Erkenntnis, dass ein Durchschnittsmensch in Deutschland im Jahr 2018 keine 58,6 Tonnen CO2-Äquivalente (ein Kind schon lange nicht) emittierte, sondern lediglich 10,7 Tonnen, davon 9,1 Tonnen als CO2.7 Nicht mal ein Mensch in den USA oder in Katar, dem Land, das mit fast 40Tonnen Pro-Kopf-CO2-Emissionen den Weltrekord an Klimaschädigung hält, kommt auf den Wert eines vermeintlichen kindlichen Klimakillers. Und nur zum Vergleich: Ein Äthiopier oder eine Äthiopierin, ob Kind oder Greis, ist pro Jahr für 0,1 Tonnen CO2 verantwortlich.8 Allerdings bekommen die Frauen dort im Schnitt 4,3Kinder.9

Aber auch die über 10Tonnen CO2-Äquivalente auf dem Konto eines Durchschnittsdeutschen sind deutlich zu viel. Rund 2 Tonnen dürfte ein Erdenbürger im Schnitt pro Jahr emittieren, sollte die Konzentration der Treibhausgase nicht noch weiter zunehmen. So viel können die natürlichen Kreisläufe derzeit in einem Jahr wieder aus der Lufthülle der Erde herausschaffen. Weil der heutige CO2-Gehalt in der Atmosphäre aber bereits viel zu hoch ist, um den Klimawandel zu bändigen, müssen die Emissionen in naher Zukunft sogar runter Richtung null.

Wie aber erklärt sich die offensichtliche Fehleinschätzung von Wynes und Nicholas? Die Autoren hatten in ihrer Untersuchung nicht nur den CO2-Ausstoß eines neuen Erdenbürgers berücksichtigt, sondern auch dessen reproduktive Folgen. Weil sich die meisten Neugeborenen in fortgeschrittenem Alter irgendwann einmal selbst vermehren, also Kinder zeugen und diese wiederum Kindeskinder in die Welt setzen, haben die Wissenschaftler einem heute Geborenen gleich noch die künftigen Emissionen seiner potenziellen Nachkommen aufs Konto geschlagen, und zwar bis ins Jahr 2400. Eine ziemlich abenteuerliche Kalkulation, denn kein Mensch weiß, wie viel die Menschen in 380Jahren überhaupt noch emittieren. Mit Sicherheit nicht so viel wie heutzutage, denn dann würden sie das Jahr 2400 kaum in größerer Zahl erleben. Die Möglichkeit, dass künftige Generationen klimafreundlicher wirtschaften als heutige, fällt in der Untersuchung unter den Tisch. Ebenso die Möglichkeit, dass die Menschheit nicht ewig weiterwächst, sondern irgendwann anfängt zu schrumpfen.

Trotzdem: Sicher ist, dass ein Kind weniger auf Erden einen Konsumenten und Emittenten weniger bedeutet. Weniger Menschen machen weniger Dreck, diese Gleichung ist nicht falsch. Und eine wachsende Weltbevölkerung, die immer mehr Rohstoffe benötigt, stößt irgendwann an ihre Grenzen. Wenn sie diese nicht bereits überschritten hat.

Vor allem aber gilt in dieser Diskussion die alte Gleichung des amerikanischen Biologen Paul Ehrlich und des Physikers John Holdren aus den 1970er Jahren: »IPxAxT«. Sie beschreibt, dass sich die Wirkung des Menschen auf die Umwelt (Impact) aus der Zahl der Menschen (Population) mal deren Wohlstand (Affluence) mal die verfügbare Technik (Technology) errechnet.10 Weniger wissenschaftlich ausgedrückt bedeutet das: Viele Menschen können zum Umweltproblem werden, insbesondere dann, wenn ihr Wohlstand für einen hohen Umsatz an Ressourcen sorgt. Und es kommt darauf an, welche Technik sie nutzen, etwa um sich fortzubewegen – zu Fuß, mit dem Auto oder dem Flugzeug.

Mit dieser Gleichung im Kopf lohnt es sich, die Umweltbilanz von Menschen unter verschiedenen Lebensbedingungen zu betrachten, etwa die eines armen Bauern in Äthiopien oder von Annette aus Bielefeld, die in einem hoch entwickelten Land wie Deutschland lebt und bewusst auf Kinder verzichtet. Bei Tesfaye ist die Bilanz schnell berechnet – sie ist irrelevant. Berücksichtigt man allerdings, dass er den Wald abholzt, um Hirse und Mais anzubauen, ohne dass anderswo neue Bäume nachwachsen können, wird auch sein ökologischer Fußabdruck größer.

Aber schauen wir uns den Alltag von Annette an: Morgens früh, die Sonne kriecht über den Horizont, die halbe Stadt schläft noch, lautlos summen die Maschinen. Der Kühlschrank kühlt, ein paar stumpfgrüne Lämpchen leuchten am Drucker, am Laptop, am Ladegerät für die elektrische Zahnbürste und dem Router für das WLAN. Das Smartphone hängt am Kabel und wartet auf seinen Weckeinsatz. Die Zeitschaltuhr im Keller bringt die Heizkörper auf Temperatur. Der Boiler im Badezimmer hält das Wasser auf 60 Grad. Das ist zwar viel zu heiß zum Duschen, aber aus Hygienegründen geboten. Bei niedrigeren Temperaturen können sich Legionellen im Wasser vermehren, Bakterien, die grippeähnliche Symptome bis hin zu schweren Lungenentzündungen auslösen können. Die hohe Lebenserwartung in Deutschland ist ein hohes Gut, aber es gibt sie nicht zum Nulltarif.

Bevor Annette erwacht, hat sie bereits mehr kommerzielle Energie verbraucht als die 28-köpfige Familie von Tesfaye an einem Tag. Was immer sie in den nächsten 24Stunden unternimmt, es addiert sich auf dem Energie- wie auch auf dem CO2-Konto. Wohnung, Beleuchtung, Heizung, hin und wieder im Auto unterwegs, Zug fahren, Bus fahren, ab und zu eine Dienstreise, Urlaub, Hotelübernachtungen, Ernährung, Kleidung, Elektrogeräte, Sportgeräte, Kino- und Theaterbesuche, Geschenke für Freunde und Verwandte, Blumen für das Wohnzimmer und so weiter. Wenn Annette am Abend vor dem Plasmabildschirm entspannt, eine Serienfolge muss es sein, und weil sie so spannend ist, noch eine zweite, insgesamt 80 Minuten Netflix, läuft der Stromzähler heiß. Weniger ihr eigener, sondern der des Netflix-Servers, der so viel Elektrizität schluckt, dass er sich dabei gefährlich aufheizt und aufwendig heruntergekühlt werden muss. So kommt der Fernsehabend auf geschätzte sechs Kilogramm Kohlendioxid, das Glas Weißwein nicht mitgerechnet, manchmal sind es auch zwei.11

Annette hat einmal aus Interesse den CO2-Rechner des Umweltbundesamts angeklickt und im Detail ihre persönliche Bilanz ermittelt. Sie kam auf 17,2 Tonnen Kohlendioxid im Jahr und konnte es nicht fassen: 6 Tonnen mehr als der deutsche Durchschnitt!12 Und sie hielt sich für aufgeklärt und umweltbewusst. Aber sie ist, ob sie es will oder nicht, Teil der Megawattmaschine Deutschland. Sie verdient gut, und was hereinkommt, landet zu einem guten Teil wieder im Wirtschaftskreislauf. Und das bedeutet notgedrungen Verbrauch und Emissionen. Annette müsste 98 Prozent ihres Geldes verbrennen und von dem Rest in eremitischer Bescheidenheit leben, wollte sie sich klimaneutral verhalten. Arme Menschen sind nun mal umweltfreundlicher als reiche. Besonders Reiche sind die Pest für die Umwelt, selbst wenn sie sich eigentlich für die Rettung der Welt einsetzen: Schwedische Wissenschaftler haben anhand der Social-Media-Profile von Prominenten deren CO2-Fußabdruck allein durch Flugreisen für das Jahr 2017 untersucht. Platz 1 nimmt der Software-Milliardär und Philanthrop Bill Gates ein, der bei 343000 Flugkilometern (überwiegend im Privatjet) auf 1600 Tonnen CO2 kam, das ist ungefähr 150-mal mehr als ein Durchschnittdeutscher über alle seine Aktivitäten in zwölf Monaten emittiert.13

Annette ist, obwohl kinderlos, geradezu der Inbegriff von Überbevölkerung. Sie verursacht mehr Treibhausgase als Tesfayes gesamte Großfamilie. Sie hat das gute Recht, auf Kinder zu verzichten, aber an ihrem Dasein als Bewohnerin eines reichen und hochgradig klimaverändernden Landes ändert das wenig. Genauso hat Tesfaye das Recht auf 24Kinder. Beide verhalten sich aus ihrer persönlichen Sicht rational – aus globaler Sicht aber katastrophal.

Erst mal vor der eigenen Haustür kehren

Das soll keine Anklage gegen Annette und Tesfaye sein, denn dann würde ich, im Glashaus sitzend, mit Steinen werfen. Ich habe für mich selbst vor 25Jahren einmal eine Energie- und CO2-Bilanz gezogen, und sie war genauso erschütternd wie die von Annette. Auch ich hielt mich für umweltbewusst, benutzte lieber öffentliche Verkehrsmittel als das Auto und war nicht gerade konsumverliebt. Aber ich kam damals sogar auf 21Tonnen Kohlendioxid im Jahr und hatte keine Kinder.

Mittlerweile habe ich zwei, habe viel über globale Umweltveränderungen und Bevölkerungswachstum gelernt, geforscht und geschrieben und 17Jahre lang ein Institut geleitet, das sich mit solchen Fragen beschäftigt. Ich esse Obst und Gemüse vorzugsweise aus dem eigenen Garten, fahre lieber Fahrrad als Auto, beziehe meinen Strom vom Ökoanbieter, lebe in einem Haus aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz, das fantastisch isoliert ist und sich im Wesentlichen mit der Kraft der Sonne heizt.

Meine CO2-Bilanz ist zwar besser als vor 25Jahren, aber sie liegt immer noch jenseits von Gut und Böse. Weil ich in den letzten 12 Monaten vor der Corona-Pandemie rund 12000Kilometer mit der Bahn gefahren bin (0,6Tonnen CO2), weil ich zweimal per Flugzeug in Südafrika war (4,9Tonnen CO2), einmal auf einer Konferenz in Marokko (1,6 Tonnen CO2) und 4000Kilometer im Auto saß (0,8 Tonnen CO2). Alles beruflich, sagen Vielreisende für gewöhnlich, um sich reinzuwaschen, aber das kratzt das Klima herzlich wenig.

Auch die Elektrizität vom Ökostromversorger zu beziehen, hilft nur bedingt. Denn aus der Steckdose kommt der ganz gewöhnliche deutsche Strom-Mix, der zu 13,7Prozent aus Kernkraft stammt, zu 29,3Prozent aus Kohle, zu 10,5Prozent aus Erdgas und zu 46Prozent aus erneuerbaren Quellen.14 Dieser Cocktail ist je Kilowattstunde für die Emission von 401Gramm Kohlendioxid verantwortlich. In unserem Haushalt trage ich für 1500Kilowattstunden pro Jahr Verantwortung und bin damit ein typischer Durchschnittsdeutscher, der auf diesem Weg 0,6 Tonnen CO2 im Jahr in die Atmosphäre pustet.15 Aber ich habe auch viel Zeit im Büro verbracht und in Hotels, wenn ich unterwegs war. Das kommt alles obendrauf. Rechnet man die gesamte Stromerzeugung in Deutschland, für Haushalte, Verkehr, Industrie, Verwaltung und Gewerbe auf eine Person herunter, so steht diese im Schnitt für 2,6Tonnen pro Jahr.16

Dass ich »grünen Strom« beziehe, aber zu 54 Prozent Elektrizität aus Kernspaltung, Erdgas und Kohle bekomme, hat einen guten Grund: Es gibt nur ein Stromnetz und kein separates für Ökostrom. Jeder Stromproduzent, ob Atommeiler oder Windkraftanlage, speist in dieses Netz ein, das man sich wie einen großen See vorstellen muss, in dem Elektronen herumschwimmen. Diese negativ geladenen Teilchen unterscheiden sich nicht nach ihrem Herkunftsort. Wenn ich meinen Backofen anheize, zieht er die nächstbesten Elektronen aus dem Netz, im Schnitt entsprechen sie der Zusammensetzung des deutschen Strom-Mixes. Als Ökostromnutzer habe ich nur einen Effekt: Ich zwinge meinen Energieversorger dazu, Ökostrom einzukaufen oder herzustellen, der dann in dem großen Elektronensee landet. Erst wenn das alle Konsumenten täten (was sie nicht tun), fänden Atom-, Erdgas- und Kohlestrom keine Abnehmer mehr und würden vom Markt verschwinden.

Natürlich sind alle Geräte und Leuchten bei uns im Haushalt stromsparender als ihre technischen Vorgänger – Kühlschrank, Staubsauger, Spülmaschine, Waschmaschine, Küchenmaschine, Kühltruhe, Kaffeemaschine, Mixer, Bohrmaschine, Stichsäge, Schleifgerät, Radiogerät, Fernseher, Rasierapparat und so weiter. Haben Sie mal durchgezählt, wie viele technische Geräte bei Ihnen herumstehen? Aber Bosch und Co. mussten all diese Geräte einmal aus Rohstoffen und mit Energieeinsatz herstellen. Zudem kaufen wir uns irgendwann neue Geräte, wenn die alten ihren Geist aufgeben oder wenn bessere und noch sparsamere auf den Markt kommen. Selbst mein Hang zum Fahrradfahren hat seine Schattenseiten. Denn wer erst einmal ambitioniert in die Pedale tritt, hat gerne auch ein zweites oder drittes Rad im Keller oder in der Garage stehen. Die sind nicht ganz billig, bestehen aus feinsten Materialien und haben einen ordentlichen Material- und Energieverbrauch hinter sich, bevor man sich darauf abgasfrei fortbewegen kann.

Mein Textil- und Schuhkonsum hält sich in Grenzen, aber seien wir ehrlich und gehen mal zum Kleiderschrank, oder besser: zu den Kleiderschränken, Garderoben und Schuhregalen mit all der Sommer-, Winter-, Sport- und Freizeitkleidung und summieren die Zahl der Gegenstände. Ich habe bei 200 aufgehört zu zählen, auch wenn ich am liebsten in alten Jeans, T-Shirt und, wenn nötig, Pullover herumlaufe. Die Ökobilanz von Kleidung schenken wir uns an dieser Stelle. Hier nur die Erinnerung, dass die Rohstoffe für ein Paar Jeans ein paar Weltreisen hinter sich haben, bis aus usbekischer Baumwolle, blauem Farbstoff aus China, Garn aus der Türkei, Nieten aus Italien und der tatkräftigen Hilfe schlecht bezahlter Näherinnen aus Bangladesch Hosen werden, die man sich bei Amazon bestellen kann.

Wie alle Menschen muss auch ich etwas essen und trinken. Abgesehen von dem, was einigermaßen klimaneutral aus dem eigenen Garten kommt, trägt der Rest einen ziemlichen CO2-Rucksack mit sich herum. Zwar ist Nahrungsenergie, von der wir pro Tag in Deutschland im Schnitt 3600Kilokalorien17 verzehren (weniger wäre gesünder), im Prinzip gespeicherte Sonnenenergie, denn Pflanzen leben von Licht, Kohlendioxid aus der Luft, Wasser und ein paar löslichen Substanzen aus dem Boden. Und tierische Nahrung entsteht, wenn Tiere Pflanzen fressen. Aber direkt aus der Natur ernährt sich heute kaum mehr ein Mensch. Unsere Lebensmittel stammen in der Regel aus hochproduktivem Anbau, für den Maschinen, Beregnungsanlagen, Gewächshäuser, Dünge- und Pflanzenschutzmittel nötig sind. Wir essen zudem nicht direkt vom Acker, sondern auf dem Umweg über die High-tech-Aussaat, die maschinelle Ernte, die Verarbeitung von Rohstoffen zu markttauglichen Lebensmitteln, Papier-, Kunststoff-, Glas- und Metallverpackung, Transport, Trocknung, Kühlung und Zubereitung im Haushalt oder in der Gastronomie. Deshalb liegen auf unserem Teller neben den 3600Kilokalorien reiner Nahrung jeden Tag durchschnittlich 10000Kilokalorien überwiegend fossiler Energie. Das entspricht etwa einem Liter Dieselöl pro Tag, aus dem 2,6Kilo CO2 werden. Berücksichtigt man auch die anderen Treibhausgase, die in der Landwirtschaft entstehen, werden daraus 4,7Kilo CO2-Äquivalente, macht 1,7 Tonnen im Jahr.18 Weil die Berechnung der Emissionen aus dem Agrarsektor, der Veredelung der Rohprodukte und der Verarbeitung durch die Endkunden eine ziemlich komplexe Angelegenheit ist, kommen verschiedene Untersuchungen zu abweichenden, aber nicht grundsätzlich anderen Ergebnissen. Demnach könnten die jährlichen CO2-Äquivalents-Emissionen eines sich ernährenden Durchschnittsdeutschen auch bei bis zu 2,5Tonnen im Jahr liegen.19

Vegetarier produzieren weniger CO2 als Fleischesser, Veganer weniger als Vegetarier. Ein Veganer ist, was seine Ernährung angeht, etwa halb so klimaschädlich wie ein Fleischesser. Frauen in Deutschland ernähren sich um 30Prozent klimafreundlicher als Männer.20 Biolebensmittel verursachen weniger Treibhausgase als herkömmliche, allerdings ist der Unterschied mit 10 bis 20Prozent geringer, als sich die Konsumenten gemeinhin vorstellen. Das liegt etwa beim Biofleisch daran, dass die freundlich behandelten Tiere länger leben und deshalb mehr fressen und Rinder dadurch mehr von dem klimaschädlichen Methan absondern.21 Der Apfel vom Bauern in der Nähe verletzt das Klima je Kilo 40-mal weniger als die Flugmango aus Ecuador.22 Aber ganz ohne Umweltschäden können wir uns kaum ernähren.

Fast unmöglich: nachhaltiges Leben im Wohlstand

Ob es um Essen, Wohnen, Mobilität oder Freizeit geht: Es ist gar nicht so einfach, sich in einem Wohlstandswunderland wie Deutschland dem ganz alltäglichen Hochverbrauchswahn zu entziehen. Und es wird deutlich, dass »Überbevölkerung« zwei Gesichter hat. Das eine wird sichtbar in den Ländern, wo das starke Bevölkerungswachstum an die Grenzen der Versorgungsmöglichkeiten stößt und im schlimmsten Fall die Menschen immer ärmer macht. Das andere zeigt sich in den wohlhabenden, weit entwickelten Ländern. Dort wächst die Bevölkerung zwar kaum noch oder gar nicht mehr, aber die Menschen leben weit über ihre ökologisch verträglichen Verhältnisse: Wenn Klimawissenschaftler ausrechnen, dass ein Durchschnittserdenbürger nur noch sehr wenige Treibhausgase ausstoßen darf, um die Atmosphäre nicht entgleisen zu lassen, der Durchschnittdeutsche aber auf 10,7Tonnen Kohlendioxid-Äquivalente im Jahr kommt, dann ist das Land nach dieser Kalkulation vielfach überbevölkert.

Wir haben es also mit einer doppelten Überbevölkerung zu tun. Sie lässt sich einerseits an dem Zuwachs an Menschen festmachen und andererseits an ihren Konsumansprüchen und deren Auswirkungen auf die Ökosysteme: am Klimawandel, der Übernutzung der Ackerböden, dem Biodiversitätsverlust oder der Ozeanverschmutzung. All das sind Folgen einer Überbeanspruchung der Naturhaushalte. Die Einsicht, dass beide Phänomene, Überbevölkerung und Überkonsum, Probleme bereiten und dringend zu lösen sind, ist in den jeweils betroffenen Regionen nur mäßig verbreitet.

So registrieren nur wenige der armen Länder, dass ihr Bevölkerungswachstum die Entwicklungschancen erschwert. Yoweri Museveni, der Präsident von Uganda, hält die junge Bevölkerung seines Landes für »das größte Vermögen«, ungeachtet der Tatsache, dass die meisten jungen Menschen sich mit Gelegenheitsjobs herumschlagen müssen.23 Und der tansanische Präsident John Magufuli ruft seine weibliche Bevölkerung auf, »ihre Eierstöcke freizulassen« und mehr Kinder zu bekommen, damit die Wirtschaft wachse.24 In beiden Ländern dürfte sich die Zahl der Menschen bis 2050 mehr als verdoppeln.

Umgekehrt ist in den reichen Ländern die Überbevölkerung aufgrund des exorbitanten Konsums kein Thema. Dort stellen nationalistische und populistische Kreise, die in den vergangenen Jahren einigen Zulauf erfahren haben, die Realität sogar auf den Kopf. Die Alternative für Deutschland (AfD) etwa hält die »Bevölkerungsexplosion in Afrika für die größte Herausforderung unserer Zeit«.25 Gleichzeitig leugnet sie einen menschlichen Einfluss auf den Klimawandel und fordert, »aus allen nationalen und internationalen Verpflichtungen zum Klimaschutz auszusteigen«.26

Beide Probleme der Überbevölkerung haben wenig miteinander zu tun, weshalb es keinen Sinn ergibt, die Schuld der Reichen und der Armen gegeneinander auszuspielen. Oder mit dem Finger auf Afrika zu zeigen, weil dort im Schnitt noch 5 Kinder je Frau zur Welt kommen und weiteres Bevölkerungswachstum programmiert ist. Das eine Problem ist eine Art anhaltende Bevölkerungsexplosion, das andere eine nicht enden wollende Konsumexplosion. Beides ist auf einem begrenzten Planeten nicht dauerhaft tragbar. Gelöst werden können beide Probleme nur unabhängig voneinander. Denn weder bekommen Frauen in Mali weniger Nachwuchs, wenn die Deutschen weniger Flugreisen unternehmen oder die Amerikaner aufhören, Rindfleisch zu essen, noch stellen die Schweizer ihre Wäschetrockner auf den Schrott, wenn die Frauen in Angola nur noch zwei oder weniger Kinder in die Welt setzen.

Vom Kleptoparasiten zum ersten Bauern

Wie aber sind wir in diese zweifache Krise geraten? In diese doppelte Dominanz über die Ökosysteme, die uns zum Verhängnis werden kann? Immerhin sind unsere nächsten Verwandten, die Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans, über Jahrmillionen in ihrer Zahl und ihrem Einfluss auf die lebenswichtigen Erdsysteme relativ unbedeutend geblieben. Auch unsere direkten hominiden Vorfahren, die verschiedenen Vertreter der Gattung Australopithecus oder später des Homo erectus, blieben in ihrer Auswirkung begrenzt. Sie zogen durch die Lande, lebten von dem, was sie in ihrer Umwelt fanden, Beeren, Grassamen, Früchte, Baumrinde, Wurzeln und Knollen. Fleisch gab es anfangs nur, wenn ein großes Raubtier etwas von seiner Beute zurückgelassen hatte. Bevor die Frühmenschen zu Jägern wurden, waren sie Sammler und Aasfresser, die kräftigeren Raubtieren etwas von ihrer Beute abjagen konnten. Kleptoparasit, »Nahrungsklauer«, lautet der wenig schmeichelhafte Fachbegriff für derartige Kreaturen.

Unsere frühen Vorfahren der Gattung Homo erectus konnten sich immerhin über weite Teile des Planeten ausbreiten, auch wenn sie dafür ein paar hunderttausend Jahre brauchten. Aber sie wurden nie dominant. Ihrer Vermehrung hatte die Umwelt enge Grenzen gesetzt. Für ein starkes Bevölkerungswachstum gab es schlicht und einfach nicht genug zu essen in der damaligen Umwelt. Außerdem war sie voller Nahrungskonkurrenten, vom Warzenschwein bis zu Hyänen und Löwen, letztlich auch von anderen Frühmenschen, die Friedfertigkeit nicht zu ihren Grundeigenschaften zählten.

Bei dem Drang zur Vermehrung, der biologischen Wesen nun einmal evolutionär eingeprägt ist, unterscheiden Wissenschaftler zwei grundsätzlich unterschiedliche Strategien (und natürlich, wie immer, alle Zwischenstadien): Die eine setzt auf Masse, also möglichst viele Nachkommen in kurzer Zeit, in der Erwartung, dass genug durchkommen, um den Bestand der Art zu sichern. Der größte Teil des Nachwuchses schafft das nicht. Dieser »r-Strategie«, was für eine hohe Reproduktionsrate steht, folgen etwa Bakterien, Insekten wie Blattläuse oder Wanderheuschrecken, Frösche und die meisten Fische.

Das Gegenteil davon ist die »K-Strategie«, die sich an der Kapazitätsgrenze des Lebensraums orientiert. Zu viele Nachkommen sind da von Nachteil. K-Strategen bekommen meist nur ein oder wenige Kinder gleichzeitig, sie kümmern sich dafür aber intensiv um den Nachwuchs. Der frühe Tod eines Nachkommen bedeutet bei Elefanten einen viel größeren Verlust als bei Blattläusen. Qualität geht vor Quantität. Viele Säugetiere sind K-Strategen, auch der Mensch.27 Warum er sich aber trotz dieser Minimalreproduktion fast zu einem Acht-Milliarden-Volk vermehrt hat und sich nicht um Kapazitätsgrenzen zu scheren scheint, ist auf den ersten Blick nicht zu erklären.

Die K-Strategie zwingt zu einem sozialen Verhalten dem Nachwuchs gegenüber und zur Kooperation im Verband von Familie oder Sippe. Sie ist aber riskant, weil Ausfälle gravierende Folgen haben können. Tatsächlich war die Art des Homo über hunderttausende von Jahren durch widrige Umstände immer wieder ein Fall für die Rote Liste. Sie stand wiederholt kurz vor dem Aussterben. Sie war in relativ kleinen Gruppen über den halben Globus verstreut und ging mehrfach durch sogenannte evolutionäre Flaschenhälse, in denen ihre Population regelrecht eingekocht wurde. Einzelne Untergruppen verschwanden komplett von der Bildfläche. Erfolg sieht anders aus.

Vor 1,2Millionen Jahren, das haben Wissenschaftler an der Mutationsrate einer kurzen Gensequenz im Erbgut heute lebender Menschen ermittelt, dürfte die frühmenschliche Population vorübergehend nur noch geschätzte 18500 vermehrungsfähige Exemplare umfasst haben. Das sind weniger als die heute lebenden Schimpansen oder Gorillas, die als extrem bedroht gelten. »Unsere Geschichte ist die einer prekären Existenz«, sagt der amerikanische Humangenetiker Lynn Jorde: »Das Schicksal der meisten menschlichen Populationen endete tragisch.«28 Dass Menschen überhaupt einmal entstanden sind, war ein evolutionärer Zufall. Dass sie immer wieder überlebt haben, grenzt an ein Wunder.

Als sich vor rund 200000Jahren der Homo sapiens herausbildete, ein Wesen, das uns heutigen Menschen bereits sehr ähnlich war, dürfte es nach Schätzungen auf Basis von genetischen Mutationen zwischen 100000 und 300000 Individuen gegeben haben.29 Sie lebten als Jäger und Sammler.

Ihren ersten größeren Wachstumsschub erlebte die Menschheit vor rund 12000Jahren. Die letzte Kaltzeit, die nur von kurzen Wärmeschüben unterbrochen war und fast 100000Jahre gedauert hatte, war zu Ende gegangen. Die Gletschermassen hatten sich zurückgezogen und die Erde vor allem auf der Nordhalbkugel wieder wohnlicher gemacht. Die großen und kräftigen Neandertaler hatten die Eiszeit nicht überlebt, sie waren dem Homo sapiens unterlegen oder vermischten sich mit dessen Populationen. Letzterer konnte sich in dem milderen Klima wieder ausbreiten. Einzelne Gruppen kamen dann etwa 10000 v.Chr. an klimatisch günstigen Standorten auf die Idee, dass es einfacher wäre, Grassamen von wilden Getreidesorten und die Ahnformen von Bohnen und Erbsen in die umbrochene Erde zu stecken und sie nach ein paar Monaten zu ernten, als immer wieder sammelnd durch die Wildnis zu ziehen. Sie begannen die Natur zu domestizieren. Das Gleiche machten sie mit wilden Schafen, Ziegen und Schweinen: Einmal eingefangen und hinter Zäunen gehalten, lieferten sie tierische Nahrung ohne große Anstrengung.30

Die Frühbauern waren die ersten Züchter, ohne die dahinterstehenden genetischen Zusammenhänge zu kennen: Denn wilde Gerste, wilder Weizen oder Reis sind einjährige Pflanzen, die sich rechtzeitig vermehren müssen und deshalb schwache Stängel haben, die leicht brechen, wenn die Samenkörner reif sind. Die Samen fallen zu Boden und schon ist die nächste Generation einigermaßen gesichert. Mit solchen Pflanzen lässt sich keine Landwirtschaft betreiben.

Allerdings sorgt die Evolution dafür, dass Weizen- oder Reispflanzen spontane Mutationen erleiden und dabei Stängel entstehen, die stabiler sind und die Körner länger festhalten. In der freien Natur ergeben diese Stabilitätsanker keinen Sinn, denn die Samen fallen seltener zu Boden und die Pflanze kann sich schlechter fortpflanzen. Nun aber kam der erste Frühbauer und erntete in der Wildnis genau von jenen Samen, die länger hängen bleiben. Er oder sie säte sie aus und bescherte einer evolutionären Sackgasse ein neues Leben. Mit jeder Ernte reicherten sich die für die Natur untauglichen Festhängesamen im Saatgut an und ohne jede bewusste Züchtung wurde aus dem Wildweizen oder -reis eine Kulturform mit höheren Erträgen.31

Von diesem Moment an, mit der neolithischen oder agrarischen Revolution, die in Wirklichkeit kein plötzliches, revolutionäres Ereignis war, sondern ein über Jahrhunderte, Jahrtausende währender Prozess, konnten mehr Menschen je Flächeneinheit überleben. Für die Mehrheit von ihnen war langsam Schluss mit dem Nomadisieren. Sie wurden sesshaft. Aus Jägern und Sammlern, die lediglich Hunde als Freunde und Helfer domestiziert hatten, wurden Bauern und Dörfler, später Städter. Sie hatten mehr Nahrungsmittel zur Verfügung als ihre Wildbeuter-Vorfahren. Ihr Leben wurde planbarer. Vorratshaltung konnte Mangelphasen überbrücken. Die ersten Handelswege entstanden.

Diese Kulturen entwickelten sich unabhängig voneinander und an verschiedenen Orten in Südostasien, an Euphrat und Tigris, in Mittelamerika und entlang des Nils. Im Reich der Pharaonen, dem heutigen Ägypten, lebte damals vermutlich die Hälfte aller Afrikaner. In ein paar tausend Jahren wuchs die Menschheit auf fünf bis zehn Millionen heran. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen.32

Fortschritt war schon immer teuer erkauft

Aber schon damals galt der Spruch »There ain’t no such thing as a free lunch«, den der amerikanische Science-Fiction-Autor Robert Heinlein 1966 in seinem Roman »The Moon is a Harsh Mistress«, in der deutschen Fassung »Der Mond ist eine herbe Geliebte«, popularisiert hat und der als Akronym TANSTAAFL bekannt wurde.33 Übersetzt bedeutet er so viel wie: »Alles hat seinen Preis« oder »Nichts ist umsonst auf dieser Welt«. Denn selbst wenn etwas für ein Individuum umsonst erscheint, zeigen sich immer irgendwo versteckte Kosten für andere oder die Gesellschaft.

Die Redensart stammt ursprünglich aus den USA: Ende des 19. Jahrhunderts wurde den Gästen in den Saloons von Chicago oder Minneapolis ein kostenloser Imbiss angeboten, der so stark gesalzen war, dass sie für die notwendigen durstlöschenden Getränke eine Menge Geld hinlegen mussten. Mitte der 1970er Jahre hat der US-Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman ein ganzes Buch über TANSTAAFL geschrieben, in dem er zur Skepsis gegenüber vermeintlichen Geschenken des Staates aufruft, denn der freie Schul- oder Universitätszugang, die Straßen, die jeder kostenlos benutzen darf, die Abwrackprämie, das Kindergeld, die Arbeitslosenunterstützung, jede »öffentliche« Leistung müssen die Bürger über ihre Steuern und Abgaben letztlich selbst finanzieren.34

Für die Menschen, die vor 10000Jahren begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, lagen die versteckten Kosten in einem Rückgang der Körpergröße und in einer verkürzten Lebenserwartung, wie Skelettfunde belegen. Sie hatten zwar mehr zu essen, aber die neue Kost, überwiegend aus Getreide, war weniger gesund als die Nüsse und Beeren, der Honig und die Fische, die sie einst gesammelt und gefangen hatten. Die Frauen, die zuvor vielleicht alle vier Jahre ein Kind bekommen hatten, weil sie es jahrelang gestillt und damit einen erneuten Eisprung hormonell unterdrückt hatten, erlebten als Sesshafte eine Schwangerschaft nach der anderen und litten zudem aufgrund der neuen Ernährung unter Eisenmangel und schlechten Zähnen. Auch das belegen Ausgrabungen. Landwirtschaft bedeutete ein mühsameres Leben als zuvor, mit Arbeitsteilung und Knechtschaft. Bauern hatten plötzlich Vorräte, aber die mussten sie gegen Neider verteidigen. Die früheren Wildbeuter hatten ihre Krisen, aber insgesamt ein gechilltes Leben. Die neuen Bauern mussten sich abrackern.

Das Zusammenleben in größeren, festen Siedlungen erforderte Organisation und Hierarchien, irgendwann Fronarbeit und Soldaten zur Verteidigung der neuen Besitztümer, eine Verwaltung und ein Zwangssystem der Besteuerung. Eigentum und soziale Schichten waren die Neuerungen der damaligen Zeit. Damit war Schluss mit der Freiheit von Jägern und Sammlern, die einfach weiterzogen, wenn es ihnen irgendwo nicht mehr gefiel. Und weil die Menschen dichter aufeinander und auf engem Raum mit domestizierten Tieren zusammenlebten, konnten sich Parasiten und Erreger von Infektionskrankheiten leichter ausbreiten. Dennoch siegte die Vermehrung über die Kollateralschäden: Um die Zeitenwende war die menschliche Population auf vermutlich 200 bis 300Millionen angewachsen.35

Und sie wuchs weiter, wenngleich die Antike und das Mittelalter ihre Höhen und Tiefen hatten. Blütephasen, in denen die Bevölkerung wuchs, wie die des Römischen Reiches, des Goldenen Zeitalters des Islam, der Renaissance oder des durch Buchdruck und Reformation beförderten Aufstiegs der Städte in Deutschland, wechselten mit Hungersnöten, Kriegen und Pestepidemien, die das Wachstum bremsten oder die Menschheit vorübergehend sogar schrumpfen ließen. 1650, zwei Jahre nach Ende des verheerenden Dreißigjährigen Krieges, dürfte etwa eine halbe Milliarde Menschen gelebt haben. Die Wachstumsrate des Mittelalters war niedriger als in der Zeit von der agrarischen Revolution bis zur Zeitenwende.

Das Wachstum der Neuzeit

Erst nach den mittelalterlichen Katastrophen bereitete die Epoche der Aufklärung und der wissenschaftlich-technischen Neuerungen eine weitere demografische Wende vor. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war die Zahl der Menschen weltweit auf rund 800Millionen angestiegen, davon 100Millionen Europäer, die unter dem wachsenden Bevölkerungsdruck damit begonnen hatten, in die Neue Welt auszuwandern.36

Die Menschheit nahm eine Milliardenhürde nach der anderen, in immer kürzeren Zeitabschnitten. Um 1804, damals regierte noch Napoleon Bonaparte das französische Reich, war die Eine-Milliarde-Grenze erreicht. 1886, als der deutsche Ingenieur Carl Benz das Automobil mit Verbrennungsmotor erfand, lebten 1,5 Milliarden Menschen. 1930 gab es, ungeachtet der geschätzten 55Millionen Opfer des Ersten Weltkriegs37, zwei Milliarden. Auch die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg konnten den Zuwachs nur marginal bremsen und 1960 erblickte der dreimilliardste Erdenbürger das Licht der Welt, 1974 der vier-, 1987 der fünf-, 1999 der sechs- und 2011 der siebenmilliardste. Für 2023 hat die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen die Acht-Milliarden-Grenze im Visier.38

In den 1960er Jahren bekamen die Frauen der Welt im Schnitt fünf Kinder und die Weltbevölkerung wuchs um etwa 2,1Prozent im Jahr. Bei diesem Tempo hätte sich die Zahl der Menschen binnen 36Jahren verdoppelt – auf 7 Milliarden 2001, auf 14Milliarden 2037, auf 28Milliarden 2073. Kein Wunder, dass damals die Furcht vor einer »Bevölkerungsexplosion« grassierte. Der Biologe Paul Ehrlich schockierte die Welt mit einem gleichnamigen Buch.39 Der Club of Rome, ein elitärer Debattierclub überwiegend älterer Herren um den Italiener Aurelio Peccei und den Schotten Alexander King, sah in seinen »Grenzen des Wachstums« 1972 gleich den Kollaps der Menschheit voraus.40

Und wieder blieb er aus. Nach dem Club of Rome-Weckruf geriet die Bevölkerungsexplosion sogar weitgehend in Vergessenheit. Das lag vor allem daran, dass sich die Zahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekam, von den 1960er Jahren bis 2010 weltweit etwa halbierte. Diese sogenannte Fertilitätsrate oder Geburtenziffer liegt mittlerweile bei 2,4 und damit bereits nahe an dem bestandserhaltenden Wert von 2,1Kindern je Frau.* Auch das relative Wachstum der Weltbevölkerung ist mit etwas über einem Prozent nur noch halb so hoch wie 50Jahre zuvor. Tendenz: weiter sinkend. Auf den ersten Blick deutet somit alles auf ein mittelfristiges Ende des Bevölkerungswachstums hin.

*Für eine langfristig konstante Bevölkerungszahl muss ein Paar im Schnitt etwas mehr als zwei Kinder bekommen, weil nicht jedes neugeborene Mädchen ein Alter erreicht, in dem sie selbst Nachwuchs zur Welt bringen kann.

Doch hinter dieser Entwarnung steckt ein arithmetischer Denkfehler. Denn das gegenüber den 1960er Jahren halbierte Wachstum findet mittlerweile auf der Basis der doppelten Anzahl von Menschen statt. Und das bedeutet: Das relative Wachstum nimmt zwar ab, aber das absolute hält sich weiterhin auf dem gleichen, hohen Niveau. Tatsächlich wächst die Zahl der Menschen seit der Furcht vor einer Bevölkerungsexplosion in den 1960er Jahren kontinuierlich um 70 bis 90Millionen pro Jahr, im Schnitt um 80Millionen. 2019 hat sich die Menschheit um 81,3Millionen Häupter vermehrt, was etwa der Einwohnerzahl Deutschlands entspricht. Das ist ein Zuwachs von 220000 pro Tag, was einmal Kiel oder Erfurt bedeutet. Oder von 15Menschen in jenen sechs Sekunden, die nötig sind, um diesen kurzen Satz zu lesen.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein wuchs die Bevölkerung vor allem in den Industrienationen. Machten die Europäer 1750 noch 18 Prozent der Weltbevölkerung aus, so stellten Menschen europäischen Ursprungs 1930, zum Höhepunkt ihrer Weltdominanz, 35 Prozent. Diese lebten nicht nur auf ihrem eigentlichen Kontinent, sondern hatten sich auch in Nord- und Südamerika ausgebreitet. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts findet das Bevölkerungswachstum fast ausschließlich in den Entwicklungsländern statt. Die Bekämpfung von Krankheiten und eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln führten zunächst in Asien, bald darauf auch in Lateinamerika, im Mittleren Osten und in Nordafrika sowie schließlich im Afrika südlich der Sahara zu einem massiven Rückgang der Sterberaten. Mit einer nach wie vor hohen Geburtenrate von durchschnittlich sechs Kindern pro Frau zwischen 1960 und 1965 vermehrte sich die Bevölkerung in den Entwicklungsländern jährlich um drei Prozent. Im Jahr 1970 stellten die Entwicklungsländer 65Prozent der Weltbevölkerung, zur Jahrtausendwende 80Prozent.41

Das alles sind Zahlen, die sich zu früheren Zeiten kein Mensch vorstellen konnte. Noch im 18. Jahrhundert war die Wissenschaft stark von religiösen Vorstellungen geprägt, und die meisten Theologen dieser Epoche hielten es für ausgeschlossen, dass einmal fast acht Milliarden Menschen auf Erden leben würden, allein deshalb, weil die Materie der Erde nicht ausreiche für die leibliche Auferstehung so vieler Menschen plus jener, die schon zuvor gelebt hatten. Und das sind mittlerweile geschätzte 90 bis 110Milliarden.42

Eine Ausnahme von den Wachstumsskeptikern war ausgerechnet auch ein Geistlicher: der Preuße Johann Peter Süßmilch, nebenbei Mediziner und Jurist, der als Urvater der deutschen Demografie und Bevölkerungsstatistik gilt. Er hatte früher als andere alle Parameter der Bevölkerungsentwicklung erkannt und beschrieben. 1741 schätzte er auf Basis seines Wissens, zu dem mit Sicherheit nicht die damals aktuelle Zahl von rund 700 Millionen Menschen gehörte, und einer systematischen Analyse die theoretische Tragkraft der Erde ab. Er kam auf sieben Milliarden Menschen.43 Das ist die Zahl, die 2011 Wirklichkeit wurde. Nach Süßmilch wären wir mittlerweile jenseits dessen, was die Erde ertragen kann.

Aber immer noch stößt die Menschheit nicht an ihre Wachstumsgrenzen. Süßmilch konnte nicht ahnen, auf welche Ideen die Menschen einmal kommen würden, um einer immer größeren Zahl von ihnen ein Überleben zu sichern und Probleme zu lösen, die sich der Pastor gar nicht vorstellen konnte. Denn mehr Menschen bedeuteten nicht nur mehr Konkurrenten um begrenzte Ressourcen, sondern auch mehr Produzenten, mehr Konsumenten und mehr Innovationskräfte. Mehr Produkte, mehr technische Neuerungen und mehr Konsum bedeuteten, dass mehr Menschen ein Auskommen fanden. Das Wachstum entstand aus Wachstum und setzte sich immer weiter fort. Mit allen Folgen. Positiven wie negativen.

KAPITEL 2

Never waste a good crisis

Können wir aus Fehlern und Katastrophen lernen?

Dezember 1941: Die Nazis stehen kurz vor Moskau. Generalfeldmarschall Erwin Rommel liefert sich Gefechte mit britischen Truppen im heutigen Libyen. Der Angriff japanischer Sturzkampfbomber auf Pearl Harbour, der acht US-Schlachtschiffe auf den Meeresgrund schickt oder gefechtsuntauglich macht, zwingt die Amerikaner zur Kriegserklärung gegen Japan und macht aus einem europäischen Krieg den Zweiten Weltkrieg.

Da treffen sich Winston Churchill, der Mann, der Großbritannien als Premierminister durch den Zweiten Weltkrieg führt, und der US-Präsident George Roosevelt im Weißen Haus, um über eine anglo-amerikanische Allianz gegen Hitler zu sprechen. Und weil sie davon ausgehen, dass das Tausendjährige Reich nur eine kurze Dauer hat, sprechen sie gleich noch über die Zukunft nach dem Krieg. Die beiden älteren Herren denken an unabhängige Staaten, die miteinander frei und selbstbewusst eine neue Weltordnung aufbauen. Aber sie haben noch keinen Namen für das künftige Fundament der internationalen Zusammenarbeit.

Die Anekdote will, dass Roosevelt nach einem Geistesblitz zu später Stunde spontan zu Churchills Schlafzimmer geht und erklärt, die Organisation müsse »United Nations« heißen. Als er bemerkt, dass Churchill völlig nackt ist, entschuldigt er sich verschämt, worauf sein Gegenüber auf britische Art antwortet: »Der Premierminister von Großbritannien hat vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten nichts zu verbergen.«1

Tatsache ist, dass dieser denkwürdige Abend die Geburtsstunde der Vereinten Nationen war. Und dass Winston Churchill noch für manch weiteren Spruch berühmt wurde. Zum Beispiel für den Titel dieses Kapitels. Mitten im Krieg soll er einmal gesagt haben: »Never let a good crisis go to waste«. Dabei hatte er schon die Idee der Vereinten Nationen vor Augen, weil er solch einen Weltenbrand für die Zukunft ausschließen wollte. Frei übersetzt bedeutet das Zitat: »Wenn schon Krise, dann lass uns wenigstens etwas daraus lernen«. 60 bis 70Millionen Tote des Zweiten Weltkriegs waren ein hoher Preis für diesen Lerneffekt. Aber immerhin war daraus eine Institution entstanden, der das globale Denken in die Wiege gelegt war.

Die Frage ist, ob daraus auch ein vorausschauendes, vorsorgendes Denken erwachsen ist oder ob die Weltgemeinschaft nur vernünftig reagieren kann, wenn die Katastrophe ihren Lauf bereits genommen hat. Oder nicht einmal dann.

Lehren aus Wuhan

November/Dezember 2019: In Wuhan, einer durchschnittlichen chinesischen Megastadt mit elf Millionen Einwohnern in der Provinz Hubei, erkranken mehrere Personen an einer Lungenentzündung unbekannter Ursache. Umgehend berichten US-Geheimdienste der eigenen Regierung über die Ansteckungswelle.2 Die meisten der Infizierten haben auf dem Huanan-Großhandelsmarkt für Fische und Meeresfrüchte gearbeitet. Dort werden auch lebende Wildtiere gehandelt, einmal Brehms Tierleben rauf und runter, von Schildkröten über Schlangen und Stachelschweine bis zu Füchsen, Krokodilen und Bambusratten, die in der chinesischen Küche und der traditionellen Medizin verarbeitet werden. In den Käfigen der Märkte leben Tiere eng zusammen, die sich unter natürlichen Bedingungen nie begegnen würden. Studien zufolge ist ein Viertel der auf derartigen Märkten gehandelten Tiere in ihrem Lebensraum gefährdet, einige sind vom Aussterben bedroht und auf Roten Listen zu finden.3

Alle Tiere beherbergen Viren. Die Vermutung liegt nahe, dass ein Virus von einem der Markttiere auf den Menschen übergesprungen ist und die unbekannte Atemwegserkrankung ausgelöst hat. Es wäre nicht das erste Mal. Verdächtig ist, dass die Symptome der Wuhan-Patienten jenen des schweren akuten respiratorischen Syndroms (Sars) ähneln, das durch ein Coronavirus ausgelöst wird. Es kommt in ähnlicher Form in chinesischen Kleinsäugetieren wie der Zibetkatze und dem Waschbärhund vor. Der Sars-Epidemie waren 2002/03 vor allem in Südostasien 776 Menschen zum Opfer gefallen.4 Es sind hunderte von Coronaviren bekannt. Sie finden sich häufig in Tieren, die dem Menschen nahe kommen: in Kamelen, Hühnern, Katzen oder Fledermäusen.

Am 29.Dezember registrieren Ärzte in Wuhan vier Infektionen, die sie eindeutig mit dem Tiermarkt in Verbindung bringen können. Am 31.Dezember schaltet sich die chinesische Gesundheitsbehörde in die Untersuchungen ein. Am gleichen Tag werden die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) über einen ungewöhnlichen Anstieg von Lungenentzündungen unklarer Herkunft in der Region Wuhan informiert. Am 1. Januar 2020 schließen chinesische Behörden den Großhandelsmarkt der Stadt.

Am 12.Januar isolieren chinesische Wissenschaftler erstmals aus Atemwegszellen von Patienten das neue Virus und identifizieren es als siebtes Mitglied der Familie der Coronaviren, die Menschen befallen können. Das Internationale Komitee für die Klassifikation von Viren wird ihm am 11.Februar den Namen Sars-CoV-2 geben. Die WHO stuft die dazugehörige Krankheit als Coronavirus-Krankheit 2019 ein, kurz Covid-19.5 Erst ein Jahr später lässt China ein zehnköpfiges, internationales Team der WHO einreisen, um von unabhängiger Seite die Herkunft des neuen Virus zu untersuchen.

Am 24.Februar 2020 tritt in China ein Gesetz in Kraft, das es landesweit verbietet, »wilde, an Land lebende Tiere zu jagen, zu handeln und zu transportieren, um sie später zu verzehren«.6

Eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung von Sars-CoV-2 gilt zunächst als unwahrscheinlich, weshalb sich am 18.Januar noch zehntausende Familien in Wuhan zum chinesischen Neujahrsfest treffen beziehungsweise in andere Städte reisen, um dort zu feiern. Neun Tage später meldet China 4000 Infektionen und die Übertragung von Mensch zu Mensch ist gesichert. Am 27. Februar sind 78824 chinesische Fälle durch Laborbefunde bestätigt.7

Um diese Zeit zeigt sich das Virus unter anderem schon in Thailand, Südkorea, dem Iran und Japan. In den USA wird der erste Covid-19-Fall bereits am 20.Januar gemeldet.8 Der US-Präsident hält die Krankheit für eine Art Grippe und sagt ihr eine kurze Zukunft voraus.

Am 24.Januar liest der Mainzer Mediziner Ugur Sahin im britischen Fachmagazin The Lancet einen ersten ausführlichen Aufsatz über das neuartige Virus, in dem von einer globalen Gesundheitsbedrohung die Rede ist.9 Der Forscher ist alarmiert. Noch am Frühstückstisch beschließt er gemeinsam mit seiner Kollegin und Ehefrau Özlem Türeci, im Labor ihres damals noch weitgehend unbekannten Unternehmens Biontech, das eigentlich an der Entwicklung von Krebstherapien forscht, mit der Arbeit an einem Impfstoff gegen das Virus zu beginnen. Die Wissenschaftler wollen dabei eine neuartige Technologie nutzen, mit der sich die Vakzin-Entwicklung massiv beschleunigen lässt, und nennen ihr Projekt »Lightspeed«.10 Ende 2020 wird das Unternehmen einen Börsenwert von über 23Milliarden US-Dollar erreichen.11

Vier Tage nach dem denkwürdigen Frühstück in Mainz bestätigt sich die erste Infektion in Deutschland. Auch Frankreich, Italien und Spanien hat es bereits erwischt, auch wenn noch keine Panik herrscht. Im März schaukelt sich der Tiroler Skiort Ischgl zum Coronaparty-Hotspot hoch und streut die Infektionen durch die Lande.12 Wenig später ruht das öffentliche Leben in den meisten europäischen Ländern.

Am 10.März sagt der US