Zuber - Josef Oberhollenzer - E-Book

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Josef Oberhollenzer

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Beschreibung

Erinnerung an ein totgeborenes Kind in den Wirren der 1920er-Jahre im Südtiroler Aibeln. Im Zentrum von Zuber stehen polizeiliche Willkürmaßnahmen aus der Zeit des Faschismus, die wie eine Naturkatastrophe über den kleinen Südtiroler Ort Aibeln hereinbrechen. Die Ereignisse wirken traumatisch nach. Man redet nicht über die eigene Scham, die Ohnmacht, die hilflosen Versuche, sich zu wehren. Es bleibt ein Stachel im Gedächtnis des Dorfes. Das Buch handelt aber auch davon, wie das Schweigen gebrochen werden kann – durch Freundschaft. Josef Oberhollenzer geht in seinem neuen Roman über das fiktive Aibeln und dessen großen Schriftsteller Vitus Sültzrather zurück in die Zeit zwischen den Kriegen, zurück in die Kindheit Sültzrathers und die Zeit vor seiner Geburt. Erst nach und nach setzen sich die Puzzleteile zu einem Bild zusammen – eine ungewöhnliche Erkundung der jüngeren Südtiroler Geschichte.

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Seitenzahl: 256

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JOSEF OBERHOLLENZER

ZUBER

ODER

WAS WERDEN WIR UNS ZU ERZÄHLEN HABEN

ROMAN

Vitus Sültzrather, 9. juni 1931 in Aibeln – 22. mai 2001 in Aibeln

18. mai 1959: in Garn sturz vom baugerüst; danach querschnittgelähmt

29. juni 1959: in Aibeln meterhohe schlamm- und steinlawine

Thekla Sültzrather geb. Fink, mutter; 15. oktober 1899 – 10. april 1977

Jakob Sültzrather, vater; 9. juni 1900 – 21. november 1973

Vitus Sültzrather, lieblings- und taufpatenonkel, vaters lieblingsbruder; 10. august 1895 – 2. märz 1932

Ignaz Sültzrather, ein nach Kanada (Vancouver) ausgewanderter onkel Vitus Sültzrathers

Cato, sein (langjähriger) hund; schwarzer neufundländer

Thea, Fips, seine kindheitshunde

Lora, seine (langjährige) katze; weiße deutsch langhaar

Genovefa, jüngste schwester; geb. november 1933

Kassian Jobstraibizer, deren mann; maurer

Roland, beider einziges kind; 13.–29. juli 1959

Zuber (Kajetan/Kunigunde), einziger bruder; tot geboren am 1. mai 1929

Veronika, mittlere der schwestern; geb. oktober 1927

Sebastian Pfeissinger, deren mann; staplerfahrer

Agnes, beider älteste tochter

Cäcilia, älteste schwester; geb. februar 1924

Konrad Schrott, deren mann; obstbauer

Franziska, beider älteste tochter

Leonhard, beider jüngster sohn; vater von Isidor Sültzrather

Isidor Sültzrather (tatsächlich:

Isidor Schrott), beider enkel

Prantner Kaspar, knecht auf dem Kalberhof, erfinder („Human Lightning Rod“)

der alte Walcher, ein aibelner bauer

Notburga T., Vitus Sültzrathers zugehfrau (vom Schilcherhof)

Rut Thinnebach, deren tochter; geb. 1975

Filomena Z., latzfonser kusine der Notburga T.

Kohlhaus Klaus, Vitus Sültzrathers kindheitsfreund; 11. juli 1931 – 26. juli 1987

die alte Kohlhausmutter, dessen mutter

Max Vergeiner, Vitus Sültzrathers (langjähriger) freund; geb. 1946

Annett, dessen frau

Lukas, beider sohn; geb. 1957

Kreszenz Jaist (Blaaser Kreszenz, Zenzi), Vitus Sültzrathers nachbarin (und liebhaberin); geb. 1957

Julia, deren tochter

Jonas, deren sohn

Tante L., Jonas’ kindergartentante

Blasegger Bonifaz, wie Vitus Sültzrather (einige stunden vor ihm) geb. am 9. juni 1931 in Aibeln; einbeinig, guter kletterer; tödlicher absturz in den Hohen Tauern („in seinen geliebten Bergen“) am 1. september 1955

Staller Georg, beinahe schlachtopfer des Blasegger Bonifaz

Brunner Zenz, Vitus Sültzrathers zimmerermeister

die junge Kerschbaumerin (später: die alte Kerschbaumerin), eine aibelnerin

Susanna Gafriller, zugeheiratete klausnerin

Senn Franz, deren mann

Senn David, dessen vater

Joachim Kantioler, der lehrer

Martha Hasler, die lehrerin

Annemarie Spisser, die junge Thalhoferin; mutter von zwillingen

Dr. Hieronymus von Lutz, Vitus Sültzrathers totenbeschauer

Dr. Thaddäus von Lutz, dessen großvater; gemeindearzt von Klausen

Marianna Delueg, seine frau

F.

die alte Mühleggerin, eine von F.s friedhofsbekanntschaften

f. Nina, f. Moritz

„Das Wort ‚erzählen‘ ist mein liebstes,

mein schönstes, mein kostbarstes deutsches Wort.

Wenn ich selbst zu erzählen beginne,

dränge ich mich mit ‚hätte‘ und ‚wäre‘

in die entferntesten Möglichkeitswelten.

In meinem Erzählen ändere ich die Wirklichkeit,

mäandernde Sätze schärfen meinen Sinn für das Neue:“

Ludwig Harig, Meine Siebensachen

„‚Da liegt doch eure Vergangenheit, schaut ihr

beim Wachsen zu!‘ predigte Albin Flierscher von der Kanzel herab.

‚Unablässig geht ihr der Zukunft entgegen, aber noch

seht ihr sie nicht, noch liegt sie hinter euch.‘“

Vitus Sültzrather, Traumschleifer

„Denn wer weiß schon,

wie die Wörter reisen, Franz!“

Felice Bauer, Briefe an Franz Kafka

„Into the sewer they threw the dead horse.

What birth does this foretell? I think

he’ll write a novel bye and bye.“

William Carlos Williams, Paterson

Inhalt

„Von allem Anfang an der Beginn.“

(oder: Der Zuber träumt nicht mehr)

„Was werden wir uns zu erzählen haben, Klaus“

oder: Die kindheit ein paradies

und Zuber (oder: Was vorher geschah)

Die geschichte von Kajetan dem zellhaufen

Immer schön unterm teppich bleiben

oder: Dem sei nichts hinzuzufügen

Anhang

„Von allem Anfang an der Beginn.“

(oder: Der Zuber träumt nicht mehr)

„Phantomschmerz: Kajetan. –

Wann hab ich dich Zuber getauft? –

Von allem Anfang an der Beginn.“

(Vitus Sültzrather, Vermischte Erinnerungen)1

Aibeln, heißt es, liege abseits der geschichte, die es zu erzählen gilt; da sei kaum etwas, nein, da sei jahrhunderte nichts geschehn, was einem im gedächtnis geblieben sei und was einem andern als einem solchen zu erzählen gewesen wär: Kaum habe man außerhalb seiner grenzen von der anwesenheit dieses dorfes gewußt. Da sei man morgens aufgestanden, da sei man abends ins bett gegangen, da habe man in die zukunft hinein gelebt, als ob sie die vergangenheit wär: Wer geboren worden sei, der würde einmal sterben, so oder so, sagt F., und nur selten auf eine weise, die anders gewesen wäre als die übliche; davon jedoch habe man auf dem friedhof sich dann noch nach jahren erzählt. Bis in den frühling 1929 hinein sei die zeit nicht vom fleck gekommen, habe die welt sich von einer jahreszeit in eine andere gedreht, als ob nichts gewesen wäre als das, was immer schon gewesen sei: ein baum manchmal, der einen holzknecht erschlägt .. oder eine schneelawine in eine schlafkammer hinein und durch die stube hinaus .. oder einer, der durchs futterloch hinunter auf den stallboden stürzt .. oder eine schlamm- und steinlawine einmal, die habe die räume zwischen den häusern gefüllt2 .. oder ein kind, das starb früher als ein anderes kind. „Aber auf dem Prennhof“, habe Vitus Sültzrathers älteste schwester, die Kalber Cäcilia, gesagt, „da haben nach dem ersten großen krieg achtzehn kinder die kindheit überlebt“, jetzt lebe keines mehr. Doch das sei eine andere geschichte als die, die es zu erzählen gelte, sagt F., nämlich den einbruch der geschichte in die geschichten der aibelner und in die aibelnsche zeit an jenem letzten montag des neunundzwanzigerjahrs, am 29. april. „Von da an ist alles anders gewesen“, habe ihm die Kalber Cäcilia gesagt, schon mehr als neunzigjährig, sagt F.; da sei der Vitus ja noch nicht einmal auf der welt gewesen – und doch habe jener tag oder vielmehr der mittwoch danach, wenn sie jetzt in seinem geschriebenen stöbere oder in den vergilbten zeitungsausschnitten, die sie in der küchentischschublade des von ihrem „großen kleinen bruder“, mit dem sie sonst ja kaum einen kontakt gehabt habe in seinen letzten jahrzehnten, ja vollkommen heruntergewirtschafteten Kalberhofs3 gefunden habe nach seinem tod am tag der heiligen Rita von Cascia und der heiligen Julia von Korsika – Ach wie lang sei das schon wieder her! – – und doch habe jener erste mittwoch im mai neunundzwanzig, als Kajetan, „mein großer bruder“, den der Vitus dann Zuber getauft habe, „wie ich nun weiß .. und seit kurzem erst“, habe die Kalber Cäcilia gesagt, aus der mutter heraus in die welt gestürzt sei, beim melken, im stall: aus dem träumen gefallen, noch nicht zum wachen bereit: Wie müsse es der mutter da „eng ums herz“ gewesen sein! – – – und doch habe jener 1. mai 1929, „der ein mittwoch gewesen ist“, Vitus’ leben schon umgekrempelt wie sonst nur noch sein sturz vom baugerüst in seinem achtundzwanzigsten jahr. Aber sie habe nie davon erzählt, sie habe nie geredet davon, „nein“; soweit sie sich erinnere, auf jeden fall, habe die Kalber Cäcilia gesagt. Denn an alles, was „ganz früher“ gewesen sei, da erinnere sie sich genau, da wisse sie alles noch, als ob’s „erst gestern“ gewesen wäre; aber was gestern gewesen sei, davon wisse sie das meiste nicht mehr, seit langem schon; auch was sie gestern gegessen habe, „da weiß ich jetzt nichts“, habe die Kalber Cäcilia gesagt. Weil ja, was erst gewesen sei, nicht so wichtig sei, habe sie gesagt; wichtig sei das längst vergangene, denn in der kindheit „wird alles, wie es dann ist“; das sei geschichte und: „von allem der kern und die frucht“4 – und also, sagt F., erinnerns- und erzählenswert. Denn das habe sie schon in der schule gelernt, auch wenn es ja bloß die italienische und die faschistische gewesen sei, daß geschichte „ganz lang her“ sein müsse, daß alles andere noch lang nicht eine geschichte sei –: „Etwas mehr als fünf jahre war ich, als das alles gewesen ist“, habe die Kalber Cäcilia gesagt. Und dann, sagt F., habe sie ein paar blätter aus ihrer schwarzen handtasche heraus, kopien, habe er gesehn, und ihm überreicht: „Die originale geb ich nicht aus der hand“, habe sie gesagt, sagt F., und die paar blätter, ja, die habe sie in der küchentischschublade gefunden, als sie, „vielleicht ein paar tage nach Vitus’ tod“, nach etwas „gekramt“ habe, was man für gewöhnlich, in ihrer gegend auf jeden fall, halt in küchentischschubladen finde; das wisse sie noch, habe sie gesagt, aber sie wisse nicht mehr was: „Das liegt auch in meinem schwarzen loch.“ – Sie sei nicht neugierig, nein, „längstnichtmehrnimmermehr“, ja, nimmermehr, wie man in den märchen sage, sie habe die märchen ja geliebt ihr ganzes leben hindurch, nein, die neugier habe sie sich schon in den ersten ehejahren abgewöhnt, aber sie sage jetzt nicht warum, das gehe keinen etwas an, „einen henndreck geht das einen an!“ – aber da seien zwischen den vergilbten und über und über mit fettflecken übersäten blättern – wie oft müsse der Vitus die in den händen gehabt haben .. und vielleicht habe er sie in die küchentischschublade getan, um sie gleich bei der hand zu haben .. und sie habe ja die meiste zeit ihres lebens im bett und in der küche zugebracht .. und manchmal habe sie sich ja statt dem Konrad einen rollstuhl gewünscht .. und wie wohl der Vitus geträumt habe, habe sie sich oft gefragt, und ob er da auch im rollstuhl .. „oder ob er da noch rennen konnte?“ –, zwischen den vergilbten blättern seien da auch eine menge vergißmeinnicht gelegen, getrocknet und plattgepreßt .. und daß der Vitus vergißmeinnicht geliebt habe, das habe sie auch nicht gewußt. Sie habe ja vieles nicht gewußt, was sie, in seinem schreiben stöbernd, erst erfahren habe nach seinem tod. Aber sie wolle ihn, habe sie lächelnd gesagt, „ich will dich nicht aufhalten im lesen“; denn sie sehe ja, wie neugierig er sei auf das, „was der Vitus da aus den zeitungen kreuz und quer zusammengeklebt hat“ über jenen neunundzwanzigerfrühling, der nie vergessen sei .. und an den sie sich genau erinnere, ja, „ganz genau“, auch wenn sie damals erst etwas mehr als fünf gewesen sei. Was das für ein aufruhr gewesen sei nach dem mord „an diesen drei italienern“, zwei carabinieri seien das gewesen und ein lehrer .. und den vater habe man ja sofort verhaftet und in den brixner kerker gesteckt, obwohl der doch im bett gewesen sei, „in der oberstube im bett“ .. das habe die mutter immer und immer betont, daß der vater ja im bett gewesen sei mit ihr. Was das für ein aufruhr gewesen sei, habe die Kalber Cäcilia gesagt, als man die leute, „noch in ihren hemden und nachthemden zu gang“, auf jenem anger hinterm Pfarrwirt, der damals schon in thalhoferschem besitz gewesen sei, zusammengetrieben und dann nichts als schikaniert habe den ganzen tag! Was für ein geschrei, was für ein gebrülle und gejammere sei das gewesen, was für eine aufgeregtheit und erregung, bei den uniformierten auch, was für ein entsetzliches durcheinander! Und man habe den leuten ja nichts zu trinken und zu essen gegeben, nur immer wieder geschlagen und angeschrien habe man sie .. und dann und wann habe man den einen oder anderen in ketten gelegt und weggebracht .. „wie dann den vater, ja“ .. und ein uniformierter habe sogar geschrien – auch daran erinnere sie sich, als wäre es erst gestern gewesen, sie habe zwar nicht verstanden, damals, was es geheißen habe, sie habe ja kein italienisch gekonnt, aber sie habe sofort gewußt, daß es etwas schreckliches sein müsse, schon die stimme, dieser ton, und wie die leute zusammengezuckt seien, wie sie erstarrt seien plötzlich, sie habe die angst richtig riechen können, sie rieche diese angst heute noch, wenn sie vorbeigehe an diesem anger hinterm Pfarrwirt, wo der Vitus noch vor seiner geburt geworden sei, was er schließlich geworden ist – und einer von den uniformierten, der müsse wohl „ein höherer“ gewesen sein, der habe sogar gebrüllt: „Mettili al muro e fucilali! Mettili al muro e fucilali!“ In der schule habe sie dann gelernt, was das geheißen habe, das sei ihr nicht mehr aus dem kopf, nie mehr: „Mettili al muro e fucilali! Mettili al muro e fucilali!“5 Auch wenn sie vieles vergessen habe, das sei ihr wie ins gedächtnis eingebrannt, eingeschnitzt, eingestemmt. Daß da die mutter, daß da der Kajetan, daß der Zuber da –. Ja, doch, sie habe das alles vom dachbodenfenster herunter gesehen .. „und bis heute träume ich das“ .. sie wolle aber jetzt nicht mehr reden davon, sie sei jetzt müd. Und dann, sagt F., „dann hat die Kalber Cäcilia zu mir ‚Auf wiedersehen‘ gesagt und: ‚Gehen Sie jetzt, gehen Sie .. und lesen Sie, ja, lesen Sie.‘“

Die Qualen der Südtiroler.6 / Seit Wochen ist das Thinnetal in Aufruhr und ganz Südtirol steht unter dem Druck faschistischer Gewalt. Unzählig sind die vorgenommenen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, ungeheuer die Zahl der Verwandten und unter Polizeiaufsicht Gestellten. Die Italiener haben noch in der Nacht, da die Mordtat geschah, harmlose und unbeteiligte Menschen aus ihren Betten gezerrt, Frauen von ihren kleinen Kindern weg verhaftet; Häuser und halbe Dörfer waren wie ausgestorben und niemand durfte bleiben, der sich um die Kinder, den Hof und das Vieh im Stall hätte kümmern können. Nicht genug damit, daß man über 20 Unschuldige gefesselt ins Tribunal nach Bozen geschleppt, sie durch Wochen gefangen gehalten und sie in einer Art behandelt hat, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit Hohn spricht.7 Die Italiener sind soweit gegangen, vier Deutsche öffentlich als Mörder zu bezeichnen, die jedoch einwandfrei ihr Alibi nachweisen können und auch ihrer Mentalität nach nie als Mörder in Frage kämen. Es hat sich unzweifelhaft herausgestellt, daß die Täter unter den Italienern selbst zu suchen sind, daß drei Faschisten in Haß und persönlicher Feindschaft die Tat begingen.

Während man in Südtirol gespannt wartete, wie sich der Fall Malfertheiner gestalten werde, fielen nun Ende April im Thinnetal scharfe Schüsse. Zwei Karabinieri und ein italienischer Lehrer wurden dadurch zur Nachtzeit getötet. Niemand weiß heute, wer die Schützen waren. Die Italiener behaupten, es seien Deutsche gewesen, die Einheimischen vermuten, daß der Mord von Italienern begangen wurde. Wir können dazu heute nicht Stellung nehmen. Waren die Italiener die Mörder, dann ist die ganze Fülle von Peinigungen, die in der Folge auf die Thinnetaler losgelassen wurde,8

Die Drangsalierung des Thinnetales. / Man ging so weit, die Uebermalung der treuherzigen deutschen Sprüche auf den Marterln im Tale zu verlangen. Auch sonst durfte nirgends mehr ein deutsches Wort zu lesen sein und als an einem Sonntag in Schnauders eine Feuerwehrübung an der Gemeindetafel in deutscher Sprache einberufen wurde (von der Feuerwehrmannschaft verstand niemand italienisch), drangen die Karabinieri während des Gottesdienstes in die Kirche ein, um den Feuerwehrhauptmann zur Rede zu stellen. Er wurde unter ungeheurer Aufregung der Bevölkerung vor die Kirche gezerrt, dort als verhaftet erklärt und mit den Schließketten blutig geschlagen. In dem Tumult, der dabei entstand, erlitt eine Bäuerin eine Frühgeburt. / In ganz ähnlicher Weise drangen einige Zeit später in Schrambach am Feste des dortigen Kirchenpatrones faschistische Milizsoldaten in die Kirche ein und forderten einer Reihe von Leuten die Identitätskarten ab. Drei alte Männer, wovon zwei über siebzig und einer fast blind und mehr als achtzig Jahre alt, wurden verhaftet abgeführt. Auf Wegen und Stegen gab es Gewalttätigkeiten gegen jung und alt.

Die Antwort auf den Mord. / Da wurden in der Nacht auf 29. April die drei Italiener in Aibeln getötet. Nun holten die Behörden zum entscheidenden Schlage aus. Einen besseren Vorwand zur gänzlichen Niederwerfung der Bevölkerung konnte es gar nicht geben. Dutzende und immer neue Dutzende von Thinnetalern wurden verhaftet. Unter einer Fülle von grausamen Mißhandlungen mußte ein Teil davon wochenlang im Gefängnisse warten, bis ihre Unschuld feststand und nur mehr vier Männer als verdächtig zurückbehalten wurden. Indes ging es auch über die daheim Gebliebenen her. Als die Leichen der Ermordeten durch das Thinnetal zur Bestattung nach Brixen gebracht wurden, mußte der Kondukt durch Ueberfälle auf die ahnungslos in den Wiesen arbeitenden Bauern noch besonders geehrt werden.

Dr. Thaddäus von Lutz.9 / Jetzt aber galt es noch den Arzt Dr. Thaddäus von Lutz unschädlich zu machen. Er war eine der angesehensten Persönlichkeiten im Tale, geachtet und geliebt wegen der Selbstlosigkeit, womit er besonders auch armen Leuten seine Dienste leistete und weil er seine italienischen Sprachkenntnisse dazu benützte, um der Bevölkerung auch außerhalb des Berufes im Verkehr mit den italienischen Behörden behilflich zu sein. Als rechter Arzt von tiefem Pflichtgefühl behandelte er auch mit der gleichen Sorgfalt italienische Patienten, die den tüchtigen Mann sogar mit Vorliebe zu Rate zogen. Dennoch war er den Italienern verdächtig. / Aber man konnte Dr. von Lutz nichts anhaben. Er hatte sich nie die geringste Verfehlung zuschulden kommen lassen. So versuchte man vorerst seine Frau zu treffen. Sie war noch vor einem Jahr deutsche Lehrerin in Aibeln gewesen. Als bekannt wurde, daß sie enthoben werde, erfaßte die Kinder eine derartige Wut, daß sie die italienische Nachfolgerin in der Schule überfielen und nur mit Mühe von ihr fortgerissen werden konnten. Man verdächtigte damals Frl. Marianna Delueg, die jetzige Frau Dr. von Lutz, diesen Ueberfall angestiftet zu haben. Aber der Richter mußte sie freisprechen. Nunmehr nach der Ermordung der Karabinieri in Aibeln ordnete die Behörde die Wiederaufnahme des Strafverfahrens an und Frau Dr. von Lutz wurde, trotzdem der Staatsanwalt wiederum ihren Freispruch beantragte, offenbar aus Gefälligkeit gegenüber der politischen Behörde, zu drei Monaten und sieben Tagen Gefängnis verurteilt. / Noch war aber Dr. von Lutz nicht erledigt. Man konnte ihn doch nicht ohne weiteres für das büßen lassen, was man nun glücklich gegen seine Frau aufgebaut hatte. So wurde nun noch Material gegen ihn selbst zusammengetragen: er habe einer faschistischen Familie, bei welcher ein Scharlach-fall vorlag, den Besuch einer öffentlichen Tanzveranstaltung verboten und damit eine antiitalienische Gesinnung verraten; er sabotiere die italienische Schule, indem er einzelnen Kindern eine ärztliche Bestätigung ihres geschwächten Gesundheitszustandes ausgestellt habe, damit sie der italienischen Schule fernbleiben konnten; er sei ein Alldeutscher, denn er habe, als im Jahre 1926 die deutschen Tageszeitungen von Bozen eingestellt wurden, die „Münchner Neuesten Nachrichten“ bestellt. / Dieses Material genügte. Dr. von Lutz wurde von der Konfinierungskommission in Bozen aufgrund dieses Tatbestandes als gefährliches Individuum bezeichnet und drei Jahre Verbannung über ihn verhängt. Mussolini hatte das Urteil bestätigt und gestern ist Dr. von Lutz von Bozen fortgeschleppt worden; er soll auf der Insel Ponza in der Nähe der Pontinischen Sümpfe dafür büßen, daß das Thinnetal

Neues zum Mord im Thinnetal. / Zu den Vorfällen im Thinnetal erhielten wir noch folgende Mitteilungen, die ein bezeichnendes Licht auf die Italiener werfen. Es ist erwiesen, daß unter den im Tal befindlichen Faschisten schon seit längerem heftige Konflikte bestanden. So hat sich besonders der erschossene Brigadier Palla / Am Schlusse des Gelages, welches der Mordtat vorausging, kam es unter den Faschisten zu lebhaften Streitereien. Als nachher der eine Karabiniere sein im nahen Gasthause eingestelltes Fahrrad zurückverlangte, rief er in höchster Aufregung: „Rasch, rasch, sonst geschieht ein Unglück!“ / Auch das Verhalten der unverletzten Italiener unmittelbar nach dem Unglück war einigermaßen eigentümlich. Die Bewohner eines dem Tatort nahegelegenen Hauses sprangen, durch die Schüsse aus dem Schlafe geweckt, ans Fenster und sahen, wie ein Mann die Straße hinauf, ein anderer in entgegengesetzter Richtung lief, die sich noch einige italienische Worte zuriefen. Es scheint also doch mehr als ein Italiener die Ermordeten begleitet zu haben. Das Auffallende der Tatsache, daß der Karabiniere Moßna, der als einzig Ueberlebender gilt, am Hause des Doktors vorbei und zum Gemeindesekretär lief, ist ja bereits in früheren Berichten hervorgehoben worden. Moßna, der sich vom Anfang an bis heute auf freiem Fuß befand, und niemals in Untersuchungshaft oder wenigstens in Verwahrung genommen worden war, wird jetzt als irrsinnig bezeichnet.

Die Thinnetaler Opfer immer noch in Haft. / Die vier Thinnetaler, die von den Italienern ungerechterweise des Mordes an den beiden Karabinieri und dem italienischen Lehrer bezichtigt werden, sind seit mehr als fünf Monaten in Haft. Einmal schien es, als hätten die Italiener selbst den Wunsch nach einer Möglichkeit, sie mit einer großmütigen Geste freilassen zu können,

Frau Dr. von Lutz nach Ponza abgereist. / Nach vielem Drängen hat Frau Dr. von Lutz endlich die Erlaubnis erhalten, zu ihrem auf der Insel Ponza konfinierten Mann zu reisen. Da sie noch eine Rekursverhandlung in einem Verfahren, das gegen sie als ehemalige deutsche Lehrerin wegen angeblicher Verleitung von Schulkindern zu Tätlichkeiten gegen eine italienische Lehrerin nach mehr als Jahresfrist angestrengt wurde, abzuwarten hatte, gab man ihr die Reisegenehmigung bisher nicht. / Das Befinden Dr. von Lutz’ in seiner Verbannung ist leidlich gut. Die Art und Weise des Vorgehens gegen ihn wurde wieder verschärft; so muß er z.B. über Befehl des Konfinierungslagerkommandos die Nacht wieder mit anderen Konfinierten in der Baracke zubringen, während er einige Zeit hindurch ein Einzelzimmer hatte.

1Tagebucheintrag Vitus Sültzrathers aus dem jahr 1969, datiert mit „Montag, 19. Mai“, überschrieben mit „Vermischte Erinnerungen (1)“; zitiert nach: Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather, Tagebücher 2, Klausen 2016, S. 68. – In den veröffentlichten tagebüchern Vitus Sültzrathers – manches scheine nämlich zu fehlen, es könne nur darüber spekuliert werden, warum, sagt F. – gebe es insgesamt 21 solcher mit „Vermischte Erinnerungen“ überschriebene ausgedehntere „erinnerungsblöcke“.

2Und aber noch ein zweites mal, nämlich am peterundpaultag des jahres neunundfünzig, an einem 29. juni also, würde eine meterhohe schlamm- und steinlawine sich durch Aibeln wälzen und noch einmal die räume zwischen den häusern füllen, 42 tage nach Vitus Sültzrathers sturz von einem baugerüst im nachbarsdorf Garn.

3In Aibeln, sagt F., habe er kaum je etwas gegenteiliges gehört; nur immer wieder den satz: Der Kalberhof sei ja zugrunde gegangen wegen dem, der habe die weingärten ja vollkommen verkommen und verwildern lassen und nichts als geschrieben die ganze zeit – „oder was“; immer am ende dieses hinterhergeworfene „oder was“, sagt F., „diesen letzten tritt“.

4Vgl. Karl Philipp Moritz, Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit, in: Gnothi Seauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz. Ersten Bandes erstes Stück, Berlin 1783, S. 65 f.: „Die allerersten Eindrücke, welche wir in unsrer frühesten Kindheit bekommen, sind gewiß nicht so unwichtig, daß sie nicht vorzüglich bemerkt zu werden verdienten. Diese Eindrücke machen doch gewissermaßen die Grundlage aller folgenden aus; sie mischen sich oft unmerklich unter unsre übrigen Ideen, und geben denselben eine Richtung, die sie sonst vielleicht nicht würden genommen haben. [..] Sollten vielleicht gar die Kindheitsideen das feine unmerkliche Band seyn, welches unsern gegenwärtigen Zustand an den vergangnen knüpft, wenn anders dasjenige, was jetzt unser Ich ausmacht, schon einmal, in andern Verhältnissen, da war?“

5„Stell sie an die wand! Stell sie an die wand und erschieße sie! Knall sie ab!“

6Soweit er das beurteilen könne, sagt F., dürften die einzelnen zeitungsausschnitte „doch einigermaßen chronologisch“ aufgeklebt worden sein, auch wenn nicht immer klar sei, ob der darunter- oder danebengeklebte ausschnitt der folgende sei. Es seien zwar handschriftlich datumsangaben dazugefügt worden – „15. Juni 29“, „1. Juli 29“ und „1. November 29“ –, eine exakte zuordnung traue er sich „aber noch nicht“ zu, da habe er noch zu recherchieren, was aber heutzutage – die meisten deutschsprachigen zeitungen des tirolischen raums seien mittlerweile ja in der Landesbibliothek Teßmann digital abrufbar – ein leichtes sein sollte. Aufgrund der deutlich antiitalienischen einstellung des schreibers oder der schreiber käme ja sowieso nur eine im österreichischen Tirol erscheinende zeitung in frage, wahrscheinlich, so nehme er es jedenfalls im augenblick aufgrund des gleich bleibenden schriftbilds an, eine einzige, nämlich Der Südtiroler, der damals halbmonatlich in Innsbruck erschienen sei.

7Die unterstreichungen – in welcher farbe, sagt F., sei auf der kopie natürlich nicht auszumachen – „sind sicher vom Sültzrather“.

8Immer wieder habe Vitus Sültzrather – denn daß dieser die zeitungsartikel ausgeschnitten und zusammengefügt habe, daran könne wohl kein zweifel sein – die einzelnen „vielfach doch sehr einseitig berichtenden berichte“, so F., nicht vollständig oder als ein ganzes aneinandergefügt, sondern habe mitten im artikel und sogar mitten in einem satz den schnitt gemacht: Er habe sie sich zurechtgeschnitten, „ja“, aber was er weggeschnitten, was er weggelassen habe, „danach gehe ich in den nächsten wochen auf die jagd“.

9Großvater von Dr. Hieronymus von Lutz, dem totenbeschauer Vitus Sültzrathers.

„Was werden wir uns zu erzählen haben, Klaus“

oder: Die kindheit ein paradies10

„Glück ist, wenn gräsergleich dich Erinnerung

Streift an den Schläfen. Wenn diese erste Welt

Der Blicke und der Benennungen wiederkehrt“

(Durs Grünbein, Die Jahre im Zoo)11

„Nichts ist mehr, was es war. Und deshalb sind auch wir

nicht mehr, was wir einst waren; wir müssen inzwischen etwas völlig

anderes geworden sein, aber wir wissen nicht genau, was.“

(W. G. Sebald, Echos aus der Vergangenheit)12

1

„Dann fangen wir an“, sagt F. und ist dann eine weile still; als überlegte er, wie er anfangen soll. – „Es ist ein schöner tag, ich habe meine schwester nicht getötet“, habe der Kalber Vitus wie zu sich selbst vor sich hingeredet13, als sie sich das erste mal zu ihm hinübergetraut habe, habe ihm die Jaist Kreszenz vom Blaaserhof erzählt, sagt F., denn, habe sie gesagt, es habe ja immer geheißen „Der spinnt!“ und „Dem ist nicht zu traun!“ und „Wie der schon dreinschaut!“ und „Es ist ja nichts geworden aus dem!“ und „Wie es die Schilcher Notburga nur aushält bei dem!“ und „Wenn der nicht im rollstuhl säße, wer weiß ..“. Hinterm Kalberhof im kalberschen obstgarten sei das gewesen, die apfelbäume hätten gerade geblüht14, sie habe die abkürzung in den friedhof hinauf durch eben diesen kalberschen garten genommen, wie es früher, als sie noch ein kind gewesen sei, „der Kalber Vitus, müssen Sie wissen, war ja mehr als zwanzig jahre älter als ich“, wie es früher halt überall üblich gewesen sei, da habe sich niemand um grenzen geschert – außer beim ackern und mähn, da sei nichts zugesperrt worden „wie heut“, bei dem einen oder dem anderen habe man sogar ohne zu fragen vom wenigen obst, das auf diesen mehr als tausend metern meereshöhe noch vor dem winter gereift sei, oder von den johannisbeeren15 essen können. Nur einmal, „das muß ich Ihnen jetzt erzählen“, habe die Blaaser Kreszenz an dieser stelle gesagt, sagt F., als der Kalber Vitus und der Blasegger Bonifaz auf den walcherschen kirschbaum hinauf seien, da sei der alte Walcher mit einem heustecken auf sie los – und auf den einbeinigen, den holzprothesenbehinderten Blasegger Bonifaz habe er derart eingedroschen, mit einer solchen wut, daß er ganz rot, kirschrot beinah geworden sei im gesicht und man schließlich den arzt habe holen müssen, nicht nur für den Blasegger Bonifaz. – „Es ist ein schöner tag, ich habe meine schwester nicht getötet“ –: Ja, da sei sie vielleicht siebzehn oder achtzehn gewesen, als der Kalber Vitus – „mit diesen beiden sätzen!“ – eine nur immer stärker werdende anziehungskraft auszuüben begonnen habe auf sie. „Nein, sechzehn“, habe sich die Blaaser Kreszenz korrigiert, denn es sei im dreiundsiebzigerjahr gewesen, als der Kalber Vitus „diese alles anfangenden obstgartensätze“ gesagt habe, „im mai, ja“, da erinnere sie sich genau; denn damals habe sie sich in Bozen – „in der Electronia“ – ihre erste musikkassette gekauft: The Dark Side of the Moon von Pink Floyd; den tag vergesse sie nie. Und am nächsten oder übernächsten tag sei sie eben, und sie wisse nicht, was der auslöser gewesen sei für ihren mut, die abkürzung durch den kalberschen obstgarten zu nehmen, vielleicht sei sie einfach gedankenlos, nein, eher wohl „voller Pink Floyd“, über den speltenzaun und, noch nicht mit beiden beinen auf kalberschem grund und boden, habe der Kalber Vitus –: „Mit diesen beiden obstgartensätzen hat er mich aufgetan.“ Drum sei dann schließlich zwischen ihnen geschehen, „was halt so geschieht zwischen mann und frau“, wenngleich seine querschnittlähmung – „Mein gott!, Mein gott!“ – –: „Ach was ist alles dies, was wir vor köstlich achten“, habe der Andreas Gryphius einmal, „so ungefähr!“, in einem gedicht gesagt; mehr sage sie dazu nicht, habe sie gesagt, sagt F.; und eine art monalisalächeln habe sich in ihr gesicht gelegt. – „Vielleicht an einem anderen tag ja einmal mehr.“

2

„Dann fangen wir an“, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz im bozner Wirtshaus Vögele gesagt, wo sie sich, „wie aus alter gewohnheit?“16, verabredet hätten am letzten junidonnerstag in jenem achtzehnerjahr, das sie immer wieder im weiteren verlauf jenes ersten treffens als „sültzratherauferstehungsjahr“ bezeichnet habe bei jeder sich nur irgendwie ergebenden gelegenheit, und dann nach dem kellner gerufen und sich, vielleicht ja aufgrund des umstands, daß sie eben noch den sommer für sommer prallvollen marillenbaum an der friedhofzugewandten mauer des Kalberhofes im mund gehabt habe, als nachtisch die Marillen-Knödel mit Zimt-Mandelbrösel17 bestellt anstelle des als „sommerfrisch“ beworbenen Zitronenthymian-Honig-Halbgefrorenen mit geschmorten Kirschen „Rotwandterhof“, von dem sie bis zum eintreffen des kellners wie von etwas sehnsüchtig zu entdeckendem geschwärmt habe. Und er, „längst ungeduldig“, so F., die Blaaser Kreszenz endlich nicht in bloßen andeutungen und immer bloß satz- und ansatzweise und zwischen dem einen kauen und dem anderen kauen davon reden zu hören, was ihr der Vitus Sültzrather in jenen „sehnsuchtsstunden“, wie sie ihre gemeinsame zeit vorzugsweise genannt habe, „verraten“ habe, habe sich den nächsten Montenegro mit eis bringen lassen. Sie erzähle nur nach, habe sie dann, noch bevor der kellner das bestellte an den tisch gebracht habe, gesagt: „Ich erzähle nur nach“ – und, wie wenn endlich jemand einen erzählmotor angeworfen hätte in ihr, manchmal das andre vor das eine stellend, das ihr erzählte erzählt, zuerst aber noch einmal wiederholt und also aus den erinnerungskellern heraufgeholt, wie sie in den kalberschen obstgarten hinein sei, ihn nur durchqueren wollend, und wie dies nun die „initiation“ der verflechtungen ihrer beider geschichten zu der einen, gemeinsamen geschichte gewesen sei, von der sie aber nur am rande erzählen wolle. Denn zuerst müsse „in die nacht oder an den tag“ – „Halten Sie’s, wie Sie’s wollen!“ –, was der Vitus ihr anvertraut: Davon wisse, bisher, nämlich nur sie. – Jener obstgarten, im übrigen, in den sie im fernen mai dreiundsiebzig erstmals „eingedrungen“ sei18 – bei diesem wort habe sie sich, sagt F., zu ihm hingeneigt und mit einem augenzwinkernden lächeln leise gesagt: „wie aber der Kalber Vitus ja doch niemals in mich“ –, jener obstgarten, in dem die bäume tatsächlich noch bäume und die früchte noch nicht „unfehlbar und makellos“ gewesen seien und den der Vitus immer als seinen „kindheitsgarten“ bezeichnet habe, wenn sie dann, später, das wort „kindergarten“ danebengestellt habe19, von den kindergartenerfahrungen ihrer beiden kinder, ihrem Jonas und ihrer Julia20, erzählen wollend, habe sich kaum verändert mit den jahren, habe er erzählt, so seine kindheit aufbewahrend als eine, die dem neunzehnten jahrhundert in wirklichkeit näher gewesen sei21