Zuflucht am Rande des Abgrunds - Larissa Lorenz - E-Book

Zuflucht am Rande des Abgrunds E-Book

Larissa Lorenz

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Beschreibung

Sie sind Flüchtlinge auf der Suche nach einer Zuflucht und ihrem persönlichen Glück. Auf dieser Suche verknoten sich die Schicksale von Xenia, einer regimekritischen russischen Journalistin, die in Deutschland um ihre Anerkennung als Asylantin kämpft; von Jasmin, einer jungen Malerin, die ihrer Vergangenheit zu entkommen versucht; von Peter, einem ehemaligen Stasispitzel, der sich als Russe ausgibt, daraufhin aber in 'seine Heimat' abgeschoben wird. Ihre Wege führen ins Asylantenheim im Bayerischen Wald, in Pariser Künstlerkreise und in ein Gefängnis in Sibirien. Die Geheimnisse des deutschen Asylverfahrens und die Unwägbarkeiten der russischen Justiz vergrößern nur die Absurdität ihrer ohnehin schon scheinbar ausweglosen Situation. Schließlich zeigen den Charakteren zwischenmenschliche Höhen und Tiefen ihren Weg zum Glück, das aber nur eine Zuflucht am Rande des Abgrunds sein kann.

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www.tredition.de

Larissa Lorenz wurde 1967 in Moschga, Udmurtische Republik, Russland, geboren. Neben der regulären Schule besuchte sie acht Jahre die örtliche Musikschule und anschließend - vier Jahre das Konservatorium in Ischewsk (Hauptfach Klavier). Danach absolvierte sie das Studium der Literatur am Maxim-Gorki-Literaturinstitut für Schriftsteller in Moskau und begann als Journalistin zu arbeiten.

Aufgrund ihrer regimekritischen Publikationen während der Tätigkeit für republikanische Zeitungsverlage und TV-Sender wurde ihr nahe gelegt Russland zu verlassen. Seit 1995 lebt sie mit ihren drei Kindern in Deutschland; zuerst in Zwiesel und seit 2007 in Bayreuth. Sie unterrichtet Klavier und tritt als Pianistin auf. Ihr erstes Buch „Das Leben – ein Miststück“ wurde 2003 in Russland veröffentlicht. In deutscher Sprache hat sie bisher die Kurzgeschichte „Auf der Freitreppe“ veröffentlicht.

In der dunkelsten Stunde ist Liebe die einzige Zuflucht.

Nicholas Sparks

Larissa Lorenz

Zuflucht am Rande des

www.tredition.de

© 2014 Larissa Lorenz

Umschlaggestaltung, Illustration: Derek Peršoh

Lektorat, Korrektorat: Peter Spranger

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-7908-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Die Flucht

Die Leichtigkeit ist unfruchtbar

Jasmin

Die Kindheit

Der letzte Tanz

Der Vater

Vladimir Petro-o-vich

Die Vase

Lusja

Leb wohl, Russland!

Anstelle eines Vorwortes

Zwiesel

Der kahlköpfige Liebling

Im Asylantenheim können weder Apostel noch Propheten sein

Der Neuling mit den Augen

Symphonie des siebten Himmels

Das hirnlose Mädchen

Die Enthüllung

Peter Kreuzberg

Der adlige Nachkömmling

Das Russenschwein

Unerwartete Wende

Immer noch Paris?

Das Krankenhaus

Also, Asyl

Der Sohn

Der Vampir mit Gewissen

Die Diebesbrigade

Die unglaubliche Geschichte

Warum glaubt mir keiner?

Ein Deutscher soll abgeschoben werden

Bekannte Musik

Die in Briefform verfassten Aufzeichnungen eines Adligen im Ausland

Die Fakten des Herrn Grant

Kleine Mysterien

Wenn es in den Wolken eng wird

Kleine Mysterien

Pariser Überraschungen

Sibirien

Das Läuten der Seele

Die wundersame Berührung

Das fahle Licht der Zelle 106

Das Erwachen

Eine lange Beichtrunde

Was wohl zu erwarten war

Das vorhergesehene Treffen

Kleine Mysterien

Asyl: wie lange noch?

Im Winkel der Unendlichkeit

Von der Autorin

Anstelle eines Epilogs

Die Flucht

Es war eine schwere und dennoch schöne Flucht. Sie durfte auf Anraten der Ärzte nicht mehr als drei Kilo heben. Die Tasche aber hatte die reglementierte Norm doch übertroffen, weshalb sie ihre Last vorsichtig trug, wie ein krankes Kind, heftige Bewegungen in den Kurven meidend.

Ein nebliger Moskauer Morgen, das trüb werdende Grau bekannter Straßen, mit dem man Mitte Oktober rechnen muss – jetzt war ihr alles angenehm, alles munterte sie auf. Egal worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenkte, worauf auch immer ihr zerstreuter Blick fiel, in ihrem Kopf klopfte unaufhörlich und unveränderlich: Ein letztes Mal, ein letztes Mal. Gefährliches, vieldeutiges „letztes Mal”: Der Weg? Die Wendung? Der Atemzug? …

Irgendein aufdringliches Leitmotiv des Abschieds, mit einem Anflug von erhabener Tragik. Der Kuss auf die kalte, doch immer noch sehr nahe stehende Stirn des verstorbenen Verwandten. Nun war ganz Moskau wie verstummt und rechnete nicht damit, Xenia Berger je wieder zu sehen. Wie selbstverständlich sie doch zu diesen Straßen gehörte, harmonisch mit dem Tverskoy Boulevard zusammengewachsen. Wie sie in stillen Winternächten stundenlang mit dem versteinerten, vom Schnee alternden Dichter Puschkin gesprochen hatte.

Im Bus, der Xenia zum Flughafen brachte, hatte man sie stürmisch mit jemandem verwechselt. Eine betagte Frau mit Brille und Oma-Dutt, die an der Bushaltestelle stand, ließ ihre Lackhandschuhe fallen und stürzte, ohne Notiz von den übrigen Passagieren zu nehmen, durch die zum Leben erweckten Taschen in den Bus: „Nina, was für ein Zufall!”, schrie sie erstaunt. Aber, als sie Xenias verschütteten Blick erfasste, verstummte sie, senkte beschämt den Kopf und wäre beinahe vom Trittbrett des Busses gefallen.

Xenia hob die wie ein quecksilberfarbener Fleck glänzenden Handschuhe vom Asphalt auf, wollte die Frau einholen, doch sie hatte sie schon im Strom der mechanisch dahingleitenden Menschen verloren. An der Flugzeugtreppe zuckte Xenia von den heftigen Bewegungen ihrer Zwillinge im Bauch zusammen. Sie blieb stehen und zog die Handschuhe reflexartig über ihre rot gewordenen Finger. Die Leute überholten sie eilig und gefühllos.

Das monotone Getöse des Flughafens, verstärkt durch den ruckartig-heiseren Atem des Windes, riss sie augenblicklich aus der Starre. Sie wandte sich heftig um und blickte zu dem Flughafengebäude hinüber, in der Erwartung, Moskau zu sehen und es zu guter Letzt im Gedächtnis zu bewahren: das Abschiedslächeln der stillen Ahorn-Alleen; die bunten Hinterhöfe mit auf den Leinen baumelnder Wäsche, versteckt vor fremden Blicken. Aber außer dem rabenschwarzen Federkleid der Wolken, zerzaust vom Wind, war nichts zu sehen. Da war nur dieses vieläugig und vielmündig lachende Untier: das Flughafengebäude. Es erinnerte an einen aufgeregten Ameisenhaufen, in dessen Durcheinander eine gut überlegte Gleichmäßigkeit, sogar Durchdachtheit zu spüren war.

Xenias Augen wurden feucht von nahenden Tränen. Sie stieg die Flugzeugtreppe hinauf und als sie die schlanken Reihen einladender Sessel sah, fühlte sie sich erleichtert. Sie hatte keine Lust, aus dem winzigen Flugzeugfenster zu schauen. Und die Kinder (sie war sich sicher – Buben) rückten irgendwie näher an ihr Herz. Nach wie vor den Blick nach außen meidend – furchtbar war es schon, nur darüber nachzudenken, wovor sie weglief – holte Xenia ihren Notizblock aus der Handtasche, und der Kugelschreiber setzte sich, fein auffahrend, in Bewegung.

Die Leichtigkeit ist unfruchtbar

„Ich glaube nicht, dass hiermit mein Russland für mich geendet hat“, schrieb Xenia eilig, verärgert über die Fettflecken unbekannter Herkunft auf den Seiten des Notizblocks. „Mein Gott, wie viele Kräfte wurden verschwendet für diesen sinnlosen, von Anfang an verlorenen Kampf mit dem ziemlich angerosteten, aber immer noch funktionierenden staatlichen Mechanismus. Über die Rechte des Menschen nur zu schreiben, um den Menschen zu zeigen, dass sie noch nicht endgültig vergessen und zerdrückt sind. Dass sie noch Menschen sind. Und dass es noch solche Idioten-Journalisten wie mich gibt, denen es erlaubt worden war, „das Gesetz - für alle“ zu schreien! Auf dem Stadtplatz vor dem Regierungsgebäude eine Protestaktion gegen polizeiliche Willkür zu veranstalten, mit Hungerstreik, Plakaten und Transparenten.

Eine kräftezehrende Woche der Lauferei mit dem Mikrofon bis in die Morgendämmerung. Zweimal am Tag – die Extrasendung „Kontraste“, wo alles „schwarz auf weiß“ und so deutlich war, dass einem der Kopf anschwoll!

Danach – eine langwierige Lungenentzündung und einige Scheinbewegungen des oben genannten Mechanismus: „Zufällig sind wir hinaus an die frische Luft gekommen und schaut nur, was es hier alles gibt – ein Zelt! Na? Hungert ihr? Unglaublich, die ganze Woche ohne ein Stück Brot! Sofort muss Abhilfe geschaffen werden: Fleisch und Auberginen hierher, und gutes Bier in Massen! Ach, wozu denn der ganze Lärm, der große Volksauslauf? Was, liebe Genos…ähem Herren – habt ihr etwa die heimische Miliz satt? Ja, es ist an der Zeit, Ordnung zu schaffen. Die Ordnungshüter überspannen nun wirklich den Bogen: Sie schießen betrunken in die Bürgermenge, manchmal ohne jeglichen Grund, nur aus der Stimmung heraus! Aber was nur tun? Sie verfügen einfach über zu viele Bögen. Sie wissen gar nicht, wohin zuerst mit den verfluchten Knüppeln!“

Alles war geendet wie üblich: Man hatte eine Untersuchung versprochen, eine Verstärkung der Maßnahmen zur Kontrolle… Doch die Knüppel blieben nach wie vor entlang der Schenkel hängen wie eine nahezu intime Last, eine sorgfältig gehütete Schraube, die nach ihrer Mutter lechzt.

Da haben wir ihn wieder, den Orkan, der einen zu den Auswüchsen der Vergangenheit fortweht. Wahrscheinlich kann man ihn genauso wenig bekämpfen wie eine unheilbare Krankheit. Alles in meinem Leben läuft nach einem Plan, der sich nicht planen lässt. Nicht immer und nicht alles fällt einem leicht in den Schoß, aber die Leichtigkeit ist unfruchtbar und bleibt selten in Erinnerung.

Ringsumher – Belebung, leise Gespräche, begleitet von melodischem Klirren der Kaffeetassen, das servierte Mittagessen mit Sekt und Kognak und eine unglaubliche Schwerelosigkeit im Fluggastraum. Alle sind bereit einander abzuküssen, weil sie nach Paris fliegen – in die Vorbildstadt, die Stadt der revolutionären Romantik und der weltweiten kulturellen Erschütterungen.

Und draußen, jenseits des Fensters, scheint alles wie aus Wachs, schon lange tot zu sein: Die Wolken, der Himmel sind nur eine Dekoration, die sorgfältig erdacht wurde von einem der begabtesten Szenenbildner.

Meine lieben, unvergänglichen Kontraste! Ob ihr selber wisst, dass sich unsere wahnsinnige Welt noch an euch festhält?!”

Jasmin

Die Stadt glich einem verwöhnten Königskind, das mit schläfrigen Augen still in die Morgendämmerung blickte, deren Frische allem – den Menschen, Häusern und Straßen – eine eigenartige, tief verborgene Nachdenklichkeit verlieh. Paris, das Xenia gestern noch als ein schöner Wunschtraum erschienen war, war heute ein Teil ihres Lebens.

Xenia ließ sich in einem erschwinglichen, gemütlichen Hotel auf der Avenue du Maine nieder. Die Fenster ihres Zimmers gingen in den engen Hof, der zur Hälfte von wuchernden alten Linden verdeckt war, durch deren buntes wogendes Laub sich die grauen Wände eines Kindergartens zeigten.

Tagsüber streifte sie durch die Straßen auf der Suche nach Pariser Sehenswürdigkeiten. Gegen Abend, kaum noch imstande, sich auf den geschwollenen Beinen zu halten, fiel sie ins Bett mit der zart quietschenden Matratze, und schon blieben keine Wünsche mehr offen, außer die Augen zu schließen. Den Kopf mitsamt dem Körper vollständig auszuschalten und sich unter die Decke zu verkriechen, ins monotone und plötzlich unwichtig gewordene Ticken des Herzens. Nur schlafen, nichts fürchten, über nichts nachdenken und diese fremde Nachtstille um das Hotel einatmen. Einfach unter dem Schutz des gastfreundlichen Pariser Herbstes leben, in lang ersehnter, heilsamer Ruhe, voller Freude über entzückend neue Erfahrungen, in denen sich wie in einer riesigen Touristentasche kostbare Eindrücke von Museen, Parks, Domen und Schlössern sammelten.

In Xenias Seele wurde es plötzlich still, sogar ein bisschen leer, aber diese Leere war keine Last, eher im Gegenteil. Sie erlaubte ihr endlich in sich einzukehren und sich auf den nächsten, ziemlich unklaren Tag zu konzentrieren. Das heillose Durcheinander in der Heimat – die skandalösen, die Menschenrechte verteidigenden Artikel und Sendungen, die Drohungen und Gerichtsklagen der Machthaber, sowie die Auseinandersetzungen mit Mafiastrukturen – war vorbei. Auch die tägliche unterbewusste Angst vor Fehltritten trat zurück. Jetzt gab es nur Paris mit dem angenehm neuen Duft der Blumen; die riesige Kastanienwelt Europas, eifrig bemüht, den Geist des gelobten Altertums zu bewahren; die erstaunlich feingliedrigen Bauwerke in grotesk engen Gassen, die in der bunten Pracht der Balkonpflanzen versanken.

Gerade in dieser Farbenvielfalt, in einer der vielen Gassen Montmartres, die zum Museum Salvador Dalis führte, begegnete Xenia Berger einem Mädchen – nein, sie stieß buchstäblich mit ihm zusammen! Sie kannten sich nicht. Dennoch hatte Xenia sich sofort erinnert, wann und wo sie dieses sonnengebräunte Gesicht mit erstaunlich glatter Haut schon gesehen hatte, diese leicht gelockten Haare in der leuchtenden Farbe von Wiesenhonig.

Die Fremde, die ihr doch irgendwie bekannt vorkam, senkte schnell ihre rehartigen, samtblauen, zu den Schläfen gezogenen Augen, in der Hoffnung, an Xenia schnell wie möglich vorbei zu gehen. Jedoch statt ihrem Wunsch nachzugeben, sagte Xenia einfach „Sdrawstwuj“ (Guten Tag) zu ihr und in derselben Sekunde wurde sie mit einem verwirrten, Nofretete ähnlichen Lächeln belohnt. Die auferstandene – oder niemals gestorbene? – Königin schaute Xenia mit ihren aquamarinfarbenen, augenblicklich verdunkelten Augen an und entgegnete verwundert, mit ein wenig geöffneten Lippen:

„Aber… Wie haben Sie erraten, dass ich Russin bin?“

„Wir trafen uns schon einmal, vor etwa zehn Jahren, im Ischewsker Trolleybus № 5.“

Sie schwieg, als würde sie nicht verstehen, worüber diese seltsame schwangere Frau sprach, ob sie überhaupt bei Sinnen ist? Dabei wurden ihre Augen noch dunkler und weiteten sich noch etwas mehr.

„Aber ich war damals ein Kind!“ Der Einwand klang unsicher, auch etwas unsanft.

Ja, und was für ein Kind!

… Damals war Xenia auch von ihrer außergewöhnlichen, nicht ganz irdischen und schon gar nicht russischen Art der Schönheit überwältigt gewesen. Sie war schon nicht mehr ein Mädchen, wohl auch noch nicht ein Fräulein, im bunt geblümten Sommerkleidchen mit Trägern, braungebrannt, viel zu ernst für ihr Alter, mit träumerischem, aber überzeugendem Blick, in eine warme, bekannte Ferne gerichtet. Dabei strahlte sie, ganz von dieser fernen Wärme durchdrungen, wie ein kleines sonniges Nymphchen. Zugleich war in ihrem Gesicht etwas altertümliches, etwas von den steinernen ägyptischen Göttinnen, von der Sonne selbst beseelt.

„Dein kindliches Gesicht brannte sich für immer in mein Gedächtnis ein. Ich bin überzeugt, dass es kein Zweites in der Natur geben kann. Das ist genauso klar wie die Tatsache, dass ein Kugelschreiber kein Feuerzeug ist.“

Sie lachten beide auf. Aus irgendeinem Grund wussten sie schon, dass sie einander vertrauen konnten. Dass die zusammen verbrachten Stunden (oder Minuten?) unvergesslich bleiben würden.

„Also, heute war mein Arbeitstag beendet, bevor er richtig begonnen hatte“, sagte Jasmin. Ihr seidiges Haar wogte kurz über dem Rücken: „Gehen wir ein bisschen spazieren, ich wohne nicht weit weg von hier. Sie haben es doch nicht eilig?“

„Nein. Allerdings auch deshalb, weil ich in Europa bleibe und mich sehr freue, dich getroffen zu haben. Und lass uns bitte das „Sie“ vergessen.“

Bald plauderten sie, als wären sie schon Ewigkeit befreundet. Einmal in der Woche kam Jasmin auf den Place du Tertre, um zu „handwerkeln“: die gaffenden Touristen sowie gelangweilten Einheimischen mit ihrem eigenen Abbild zu beglücken. Mittlerweile konnte sie den Wunsch, gemalt zu werden, in den Augen vorbei schlendernder Passanten lesen. Es waren ziemlich oberflächliche, in Eile gezeichnete Entwürfe, die dennoch die Bezeichnung Porträt beanspruchen konnten.

Jasmin… Welch ungewöhnlicher, wohlklingender, ihrem Wesen entsprechender Name! Aber… Etwas fehlte jetzt, etwas wurde rücksichtslos rausgeholt aus der Tiefe der strahlenden Helligkeit, die einst ihre rehartigen, zu einer leisen Anbetung geschaffenen Augen verhüllte.

Halt! – besann sich plötzlich Xenia. Es gab auch noch die Mutter, in demselben, in den Kurven quietschenden Trolleybus, auf der Sitzbank neben ihr! Jene anziehende, in der Blüte ihrer Weiblichkeit stehende Mami, die nur so ein sorgloses, von der Sonne verhätscheltes Teufelchen haben konnte!

„Ja, meine bewundernswerte Mama mit ihren gescheiterten Versuchen, das Schicksal zu betrügen, es an der Nase herumzuführen.“ Plötzlich schwieg sie, den Blick auf die trockenen Hagebuttenfrüchte gerichtet, als ob sie die Pause verlängern wollte, als ob man in diesem kurzen Augenblick das verändern oder verhindern könnte, was schon passiert war: „Meine Mama lebt nicht mehr. Aber bitte nicht jetzt…“

Sie blieb stehen und, lange das beinahe leere Feuerzeug quälend, zündete sie sich geistesabwesend eine Zigarette an. Als Antwort murmelte Xenia etwas Entschuldigendes, etwas Abgedroschenes, das in solchen Situationen einfach unerträglich war.

Sie kamen zu einem gelben zweistöckigen, etwas heruntergekommenen Haus, das Blumen in allerlei Farben und Formen ergiebig, jedoch geschmacklos umwickelten.

„Nun ja, in diesem Bastkörbchen lebe ich.“

Hinter ihrem übertrieben lebhaften Auftreten verbarg sich irgendein Ärger, über dessen Gründe Xenia nur rätseln konnte: die Einwanderungsstrapazen, eine misslungene Liebe, der Tod der Mutter?

Von innen sah das Blumenkörbchen einfacher, gemütlicher aus. Die Pflanzen fielen nun nicht mehr übereinander her, mit ihrer natürlichen Vollkommenheit prahlend. Sie standen bescheiden auf den engen hohen Fensterbrettern, hingen von den Wandtöpfen herab wie ergebene grüne Schleppen, gut mit den dunkelroten sperrigen Möbeln harmonierend.

Jasmin begann sofort, Ordnung zu schaffen und die überall im Zimmer ausgebreiteten Utensilien in die Ecken und Schränke zu stopfen. Gleichzeitig deckte sie ihren multifunktionalen Tisch, der, je nach Situation, einmal Küchentisch, das andermal eine Arbeitsunterlage war. Und nur an besonderen Tagen, anlässlich der Ankunft seltener Gäste, schmückte ihn eine weiße Spitzendecke.

„Na dann, trinken wir mal zusammen! Was darf es sein – Gorbatschow, Napoleon oder was Bescheideneres?”, fragte Jasmin.

„Was Bescheideneres und, wenn’s geht, rot.“

„Kaum bist du weg, schon sehnst du dich nach der fröhlichsten Farbe der Heimat!“

„Nein, das wohl nicht, aber ich bin ja schwanger“, erwiderte Xenia und zum ersten Mal beschlich sie ein unerklärliches Gefühl der Unruhe. Sie fühlte sich wirklich wohl in diesem gemütlichen Blumenhäuschen und trotzdem…

„Ach ja, entschuldige! Und wie hast du dich dennoch entschlossen, noch dazu mit den Zwillingen?“

Xenia zögerte mit der Antwort.

„Ich weiß, ich weiß“, kam Jasmin ihr mit schuldigem Unterton zuvor: „Eine lange Geschichte, komplizierte Zwangslage und so weiter und so fort. Nur die Zwei tun mir Leid“, dabei warf sie ihren Blick auf Xenias schiefen Bauch, der sofort und bedingungslos den zentralen Platz auf dem Sofa eingenommen hatte.

„Leid kam gar nicht in Frage: ich musste zwischen Sein oder Nichtsein wählen.“

Anstatt sich zu entschuldigen, schwieg Jasmin mit gnadenloser Höflichkeit: spottete sie oder glaubte sie ihr nicht?

Eine Zeitlang lauschten sie stumm in die langsam zunehmende Abenddämmerung. Die Hitze ließ allmählich nach, und die Kühle legte sich, voller geheimer Schatten, auf die noch Wärme bewahrenden Wände des Bastblumenhäuschens gegenüber. Und schon flüsterte eine frische Brise mit dem Laub der alten Kastanienbäume, die augenblicklich belebt und ermutigt zu ihrer täglichen Beichte waren.

„Ach, was soll’s! Eigentlich ist das Leben nicht so düster, wie es uns manchmal erscheint. Lassen wir die Förmlichkeiten, die nicht ausgesprochenen Gedanken und Versuche, etwas glatt zu bügeln, lieber beiseite. Übrigens, ich habe immer noch kein Bügeleisen. Na los!“, Jasmin nahm die einsame, zwischen Schalen mit Früchten und Gebäck wartende und bereits beschlagene Flasche portugiesischen Rosé-Wein, füllte vorsichtig die Gläser voll: „Auf uns, nasdorowje! Es kommt selten vor, dass sich in Paris zwei Frauen aus Ischewsk begegnen!“

Natürlich hatte sie Recht. Aber was konnte in diesen Jahren mit ihr geschehen sein? Mein Gott, alles mögliche! Und da, anstelle des unvergesslichen magnetischen Glanzes – eine absolut graue, bekannt aus den Albträumen und kalten Schweißausbrüchen, mit nichts auffüllbare Leere.

„Leider kann ich dir nicht vieles über Frankreich und Paris erzählen. Ich bin ja selber erst ein halbes Jahr hier.“ Sie sah, wie Xenias Augenbrauen verlegen nach oben krochen, zu der einzigen, sich klar abzeichnenden Stirnfalte. Jasmin lachte kurz auf: „Ja, du hast dich nicht verhört: die ersten zwei Auslandsjahre haben wir in Deutschland gelebt, nein, eher überlebt. Dann ging es los, eins nach dem anderen. Ein Teufelskreis. Obwohl gerade dort“, für einen, sofort wieder entglittenen Augenblick, war sie verändert: Das Verlorene flammte auf, ließ sie von innen aufleuchten, aufblühen, „gerade dort bin ich, wenn auch kurz, richtig glücklich gewesen.“

Kopf hoch, Mädchen, das ganze Leben liegt ja noch vor dir! Und mit der Zeit gewinnen sowohl Glück als auch Unglück an neuen, tieferen und bisher nicht wahrnehmbaren Nuancen der Ewigkeit…

„Nun bin ich in Paris, in absoluter Einsamkeit. Warum? Wozu war das alles nötig gewesen?“

Xenia wusste schon, dass jede von ihr erlebte Geschichte nicht nur spannend sein wird. Es wird die Geschichte eines Schicksals sein, das bisher weder von einem Schriftsteller beschrieben, noch von einem Regisseur verfilmt wurde. Schließlich wird es das Schicksal von ihr sein: einem sonnigen Kind mit einmalig zu den Schläfen gezogenen Augen.

Etwas beschämt über ihre Empfindlichkeit bat Xenia Jasmin, von ihrer Kindheit zu erzählen, an die noch ihr Lächeln erinnerte. Von jener sorglosen Kindheit eines Mädchens, das mit vollen Lungen der sonnigen Kinderseele das Leben im Industrie- und Rüstungszentrum des Vorurals einatmete. In einer Stadt, in der noch immer ein nebliger, schwarz-rosa Smog über dem künstlichen See hängt, und in den Kurven, mit elektrischen Fühlern zuckend, die alten Trolleybusse mit himbeerfarbenen Sitzbänken quietschen.

„Wofür brauchst du das alles?“, wunderte sich Jasmin.

„Ich weiß es nicht. Aber eins ist mir klar: es ist sehr wichtig für mich. Nicht aus bloßer Neugier, deine kindliche Gestalt prägte sich damals tief in mein Gedächtnis ein. Denn nicht von ungefähr habe ich dich sofort erkannt – nach zehn Jahren. Zehn Höhen und Tiefen. Zehn Leben.“

Die Kindheit

Das Haus war eine gewöhnliche „Chruschowka“, ein fünfstöckiger Plattenbau mit staubigen vergilbten Akazien und abgenutzten Bänken entlang der Eingänge. An langen Sommerabenden wurden die Bänke zu einem Ort öffentlicher Belebung. Dort fanden unendliche Gespräche alter Frauen statt, die sich ewig über Krankheiten und den Mangel an Zeit beklagten und kein gutes Haar an den Nachbarn und Bekannten ließen. Womöglich konnten diese betagten Frauen – die wichtigste Schicht der sowjetischen Bevölkerung – eher als „Chruschowka“ bezeichnet werden, als das Haus, in dem sie lebten.

Der Weg zur Schule führte durch quadratische, sich erstaunlich ähnelnde Höfe. Jasmin gefiel ihre tägliche und nie lästig werdende Strecke. Das Angenehmste war, als die Tür mit dem englischen Schloss zuklappte, über die Treppenstufen zu springen – über eine, über zwei, rhythmisch, leicht, schwungvoll. Und danach – das konzentrierte Hüpfen auf der Stelle, fest ans lackierte Geländer geklammert, vor dem riskanten letzten Sprung gleich über drei Stufen, wobei der Schulranzen schmerzhaft auf ihre spitz herausstehenden Schulterblätter schlug.

Überwiegend äußerten sich die Lehrer positiv über die Schülerin Jasmin Lestanova: intelligent, aufmerksam, schrecklich nett, obwohl nicht ohne Seltsamkeiten, mit Ausbrüchen unerklärlicher Melancholie.

Es war eine erstaunlich helle Empfindung – irgendein zeitweiliges Ausfallen oder ein in eine andere Welt Hineinfallen. In diesen Minuten schien Jasmin, als wäre sie aufgelöst in einer kaum merklichen Sonnenströmung, die durch die Fenster des Klassenzimmers eindrang und sich auf die Wände und Schulbänke legte, auf die Gesichter und Finger der Mitschüler, die auf einmal begannen, auf eine neue Weise zu strahlen und sich zu bewegen – warm, gesegnet…

Sie konnte lange Zeit ganz weit oben, im Spiel der regenbogenfarbenen Funken sein: Hals über Kopf auf ein ausgewähltes Birkenblatt herabfallen, das, von der Sonne geblendet, im Nu seine Farbe verlor. Oder in süßer Mattigkeit eine alte Kiefer herunter gleiten und dabei jeden noch so kleinen Riss in der Rinde erwärmen, vom Gipfel bis zum Fuß, um dort die verkrümmten Wurzeln mit einem sonnigen Tränchen zu trösten. Die Wurzeln, geschaffen nur für eines: sich ohne jedes Sonnenlicht in der Erde festzuklammern und um jeden Preis den Stamm festzuhalten, der einst hoffnungsvoll emporschossen und mit der Nähe des Himmels betrogen worden war.

Trotz vieler Unerklärbarkeiten galt sie als fröhliches, aufgewecktes Mädchen. Mit acht Jahren wurde sie in die Musikschule geschickt, alle ihre Freundinnen spielten schon Klavier! Aber gegen Ende des zweiten Jahres langweilten sie die Etüden und Tonleitern, mit deren geistloser Monotonie sie sich nicht abfinden konnte. Sie wollte tanzen! Die Geschmeidigkeit des Körpers, der aufeinander abgestimmten Beine spüren, die das luftige Ballettröckchen dazu bringen, im Takt der Bewegungen zusammenzufahren, zu zittern, zu atmen; einfach schwerelos und weiß – engelsgleich sein!

Die ersten Ballettstunden fielen Jasmin leicht. Ein besonderes Vergnügen bereitete ihr das fein vom Lehrer gesprochene „Plie!“ (eine leichte Kniebeuge in der ersten Position), dem ein aufforderndes, lautes „Releve!“ folgte. Und wie es ihr gelang, sich – ohne den Po hervorzustrecken, mit schön eingezogenem Bauch und graziösem Kinn – tief zu beugen, unter dem zustimmenden: „Ausgezeichnet, Jasmin!“

Die goldblonde Schülerin, die zu großen Hoffnungen berechtigte, fing schon ernsthaft an, über die Karriere einer Balletttänzerin nachzudenken. Doch plötzlich drehte sich das Leben mit seinem verfaulten, gänzlich von Würmern zerfressenen Gesicht zu ihr um. In den Ballettsaal, wo Jasmin begeistert das „Tendu“ übte, stürzte, ohne zu klopfen, das Nachbarsmädchen Mascha und schrie – keuchend, mit doppelt so großen Augen – voller Entsetzen: „Jessy, Jessy, schnell, dein Vater hat deine Großmutter mit der Axt niedergemetzelt!“

Und sofort, in der Luft erstarrend, starb im letzten Atemzug der kristallklare H-Dur-Akkord. Sodass der zur Seite gestreckte und schön auf die Spitze gestellte Fuß jenes unbarmherzig erschlagene und für immer entstellte „Tendu“ niemals beenden konnte.

Danach – ein stummes Rennen! Eine Flucht vor dem unsichtbaren Bösen, mit vor Schreck erstarrtem Herzen und heftig klopfenden Schläfen. Mascha, die ihr kaum nachkam, erzählte etwas, hektisch, zusammenhanglos, doch Jasmin hörte sie nicht. Wie sehr hasste sie, zum ersten Mal, ihren Weg nach Hause: die erzwungene Rückkehr, das Hineinstoßen – denn sie wollte es nicht! – dorthin, wo gestern noch ihr Zuhause war. Wenn auch nicht immer aufgeräumt – abends, als Nebenverdienst, arbeitete die Mutter als Putzfrau in der Schule, wenn auch zuweilen mit ärgerlichen Stimmen gefüllt – der Vater, der betriebsbedingt gekündigt wurde, trank immer öfter, dennoch war es bis heute ihr gemeinsames Zuhause. Jener Ort, wohin es angenehm war, ermüdet zurückzukehren und die vertrauten, durch staubiges Lächeln auflebenden Gegenstände zu begrüßen.

Sie zögerte lange einzutreten, nur immer fester drückte sie ihre Stirn gegen den kalten Türbezug aus schwarzem Kunstleder. Von innen, von der Seite des Grauens, hörte man gedämpfte rhythmische Bewegungen. Die Stimmen – halblaut, eintönig, geschlechtslos.

Sie versuchte sich nicht vorzustellen, was dort geschehen konnte. Doch die hässlichen blutigen Bilder wechselten sich eins nach dem anderen ab. Man wollte weglaufen, aber man wusste nicht wohin. Man wollte weinen, aber die vor Schreck gelähmten Tränen änderten ihre Richtung und flossen nach innen, sammelten sich beim Herzen, um dort ein eigenes, scharfes und absolut unerträgliches Brennen hervorzurufen.

Der Vater war schon verschwunden. Die elend aussehende Mutter, mit roten Flecken auf dem Gesicht und geschwollenen Augen, schluchzte in die Schulter ihrer Freundin Tatjana. Ihr dicker Mann Nikolai Iwanovich eilte von einer Ecke zur anderen wie ein riesiger unpassender Tintenklecks. Die Großmutter, deren Kopf ein weißes Handtuch bedeckte, lag regungslos auf dem Sofa. Außerdem zwei dunkelrote Flecken, die wie hässliche Monsterspinnen über dem beigefarbenen Teppich auseinander krochen.

Keine Miliz, kein Krankenwagen – nur diese schreckliche, trügerische Ruhe! Ihr kindliches Gespür ließ sie erkennen, dass der unerträglichste offizielle Akt der Tragödie bereits vollendet war. Sie stürzte sich zu der Mutter, blieb an ihrem Hals hängen und plötzlich bekam sie Krämpfe. Sie drückte sich mit solcher Kraft an sie, als wenn sie sich zurücksehnte in die warme Feuchte des Mutterleibes – das einzige, was sie vor allen Schmerzen beschützen konnte. Was sie noch retten konnte.

Tatjana versuchte, ein paar Tropfen Baldrian ins Glas zu geben. Doch das Glas entglitt ihren zitternden Fingern und es kam nichts heraus. Der mächtige Nikolai Iwanovich bekam einen lauten und abermals unpassenden Schluckauf.

„Bringen wir sie zu uns, zu Konstantia, vielleicht spielen sie zusammen. Bald beginnt der Trickfilm…“, kam es unsicher, halbflüsternd, von einem der Ehegatten.

Jasmin blickte wild mit verengten Augen zu ihnen hinüber und in einer Sekunde hörte sie mit ihrer Hysterie auf. Es wurde sofort leise, so menschenleer und totenstill, dass der Dicke, der vor lauter Angst seinen Schluckauf vergaß, schnell und röchelnd zu atmen begann. Dabei bemühte er sich so sehr, nicht gehört zu werden, dass sein Röcheln sich in ein gluckerndes Pfeifen steigerte.

Niemand beruhigte Jasmin. Niemand hinderte sie daran, das weiße Handtuch von Omas entstelltem Gesicht zu nehmen und jene Stelle zu küssen, wo früher die Stirn war. Die Totenstille nahm bedrohlich zu, doch sie interessierte Jasmin nicht mehr. Begleitet von drei Paar entsetzten, sich merkwürdig ähnelnden Augen, ging sie ins Schlafzimmer der Eltern, legte sich ins Bett auf die Seite des Vaters und verbarg ihr Gesicht in die Kissen.

Kurz danach erlitt die Mutter einen Herzanfall. Tatjana machte sich um die Kranke zu schaffen. Der Dicke sah sich bemüßigt, die Pflichten des Wächters zu übernehmen. Die ganze Nacht saß er im Sessel neben Jasmin, genauer gesagt, neben dem Haufen sich bewegender und mit ihrer Stimme stöhnender Kissen. Ihm schien es, als würde er schlafen. Aber es war ein schweres Hinabsinken, begleitet von ungesundem Schnarchen und bösen Vorahnungen, in die vertraute, dunkle und sehr geschmeidige Tiefe.

Der letzte Tanz

Von jenem Tage an lebte in ihrer Wohnung eine Tote: nicht die Großmutter, sondern eine lebendige, nie wegbleibende Gestalt jener Totenstille, die sich jedem so heftig bemächtigt hatte, der sie einst vernahm. Ohrenbetäubend, eiskalt herrschte sie ungeteilt über jeden häuslichen Gegenstand. Sie hüpfte von Ton zu Ton, versteckte sich in den Ritzen zwischen den Klaviertasten. Sie sprang aus den Schubladen des Schreibtisches und, mit ihrem glitschigen Schwänzchen wedelnd, fand Unterkunft im Chaos von Jasmins Schulbüchern. Sie drang mit einer für sie typischen Frechheit in die Fotos von den Verwandten ein und rollte sich, einem stacheligen Spiralfederchen gleich, in der Tiefe ihrer Pupillen zusammen, die noch vor kurzem von solch beruhigender Klarheit erfüllt gewesen waren.

Nach dem Infarkt war Ludmila Vasilevna sehr schwach geworden. Die Arbeit als Stenotypistin im Konstruktionsbüro brachte nur ein bescheidenes Einkommen. Es reichte kaum für die Miete und das Essen. Von einem Nebenjob als Putzfrau konnte keine Rede mehr sein. Deshalb musste Jasmin das Ballett ein für allemal vergessen: und ob es ihn wirklich gab, den Rausch der entzückenden Elastizität ihres Körpers? Jedoch machte sie der Mutter keinen noch so geringen Vorwurf wegen ihrer finanziellen Schieflage.

Heimlich packte Jasmin die Choreographiebücher, die federleichten Ballettschuhe und das weiße Kleidchen mit Rüschen an den Hüften, aus dem sie schon herausgewachsen war, in den Schulranzen und brachte ihren Schatz auf die außerhalb der Stadt gelegene Müllhalde.

Das Bild der grellen, über das ganze Müllfeld verstreuten Feuerzungen erschütterte sie zutiefst. Es brannten Dinge, die Menschen früher brauchten, mit denen sie ihren frohen sowie bitteren Alltag teilten. Jetzt schrien sie, sterbend, dass es in diesem zerstörenden Feuer keine Wahrheit, nach der sich die Menschheit sehnt, gibt und geben kann.

Jasmin zögerte. Sie wusste, dass sie unbarmherzig handelte. Selbst ihre Anwesenheit hier konnte keine Rechtfertigung sein, für diese gut gehütete, seit Ewigkeit existierende Unbarmherzigkeit. Sie kauerte sich neben einem schwach brennenden, vor Feuchtigkeit schwarz gewordenen Nachttisch und schaute sich um. Der Friedhof der Dinge. Das riesige Feld einer grausamen, noch nie von ihr gesehenen Hinrichtung.

Ja, zuerst töten Menschen die Dinge, in deren kleinsten Partikeln sich ihre menschliche Seele verbirgt, ihr bescheidenes, dennoch unabhängiges Leben lebt. Danach töten Menschen einander und landen auch auf dem Friedhof, um mit den ihnen treu ergebenen und von ihnen ermordeten Dingen endgültig zusammenzufließen.

„Kann ich auch eine Mörderin sein?“ Jasmin kniete sich auf die schwarze, klebrige, durch Hochwasser aufgeweichte Erde nieder und fing an zu weinen: Aus Kränkung durch die dummen Erwachsenen, durch die eigene kindliche – welch eine schreiende Ungerechtigkeit! – Hilflosigkeit. Und schaute wie versteinert dem knisternden, frech tanzenden, sie auslachenden Feuer zu.

Erst dann wurde ihr klar, dass in manchen Situationen der gute menschliche Wille kraftlos und stumm, sklavisch werden sein kann! Mehr noch, dass der Mensch ihn bewusst, mit unglaublich schlechtem Gewissen verliert, indem er der Macht des absurden Unterdrückers nachgibt, den man weder sehen noch berühren kann.

Sie wollte ihren Schatz nicht verbrennen. Sie wusste sogar, dass es schmerzhaft werden könnte. Und dennoch warf sie die Sachen in den gierigen Schlund des unersättlich lachenden Flammenmonsters. Sie schloss die Augen, drückte sie mit den schmutzigen, nach Müllfäule riechenden Händen zu und hörte, leicht taumelnd, wie die Bücher mit trockenem Knistern brannten. Wie ihr geliebtes Kleidchen mit den durchsichtigen Rüschen-Flügeln immer greller aufleuchtete und schließlich vom Feuer gänzlich erfasst wurde.

Plötzlich prasselte in Strömen ein warmer Regen herab. Spielend leicht löschte er das Feuer und ebenso plötzlich und mühelos hörte er auf.

Der Weg zurück im Dunkeln kam ihr unendlich vor. In der nassen Kleidung zitterte sie. Besonders unerträglich war es, als der Gegenwind mit stürmischen Böen über sie herfiel. Und sofort erwachten die schwarzen Bäume am Straßenrand geräuschvoll zum Leben, neigten sich zu ihr im aufgeregten warnenden Flüstern des Laubes.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“, fragte Ludmila Vasilevna nur, die sich stark zurückhalten musste, um nicht in Schluchzen auszubrechen. Sie hatte schon alle Bekannten nach Jasmin gefragt, ihr blieb nur noch ein letzter Anruf – bei der Miliz, zu dem sie sich aber nicht entscheiden konnte.

Jasmin antwortete nicht. Sie bat die Mutter um Verzeihung und schloss sich im Badezimmer ein – wirklich, sie roch wie ein Landstreicher! Eine dunkle, immer weiter steigende Unruhe ließ sie nicht einschlafen. Sie beobachtete die vertrauten Silhouetten der häuslichen Gegenstände: den durchsichtigen, immer traurig wirkenden Vorhang, den hervorstehenden unteren Teil der Kommode, besetzt von drei reckenhaften Bären sowie das schwarz glänzende Klavier mit dem hoffnungslos riesigen Brustansatz der Klaviatur – alles lauschte mit geschärften Sinnen der sanften Anwesenheit des Mondes im Zimmer. Doch jetzt sah Jasmin das alles auf eine neue Art und Weise. Etwas musste sich in der Schwärze der Silhouetten und auch im Oval des abnehmenden Mondes verändert haben. Sie erneuerten ihren Umgang miteinander, unauffällig schnell auf die nächste geheime Stufe gekommen, wo für Jasmin kein Platz mehr war.

Sie ging zum Fenster. Der Mond, durchdringend und leicht hochmütig, sah sie entfremdet an, als ob er mit Jasmin nichts mehr zu tun haben wollte. Es hatte den Anschein, als schämte er sich seiner Entfernung von den Menschen. Gleichzeitig war in seinem Blick ein klarer, fast menschlicher Vorwurf zu erkennen.

Jasmin setzte sich an den Schreibtisch. Die Lehrbücher, Hefte, Stummel der von beiden Seiten angespitzten Bleistifte und die weißen Zeichenblätter lagen gemütlich verstreut auf dem Tisch herum, als warteten sie nur auf sie. Genau in dieser Minute war jenes unvergessliche Ereignis geschehen. Jasmin begann zu malen – schnell, besessen, wie in einer blitzartigen Erleuchtung.

Sie sah es nicht nur wie in Wirklichkeit, sie schaffte es, das Müllfeld wie in Wirklichkeit darzustellen. Aufgetürmte, ausgediente Möbel, alte Zeitschriften, Briefe, zerbrochenes Geschirr, löchrige Teppiche und Berge leerer Alkoholflaschen – die menschlichen Überreste, die nun zu ihren Händen, Augen und Seelen geworden waren – all das war nicht nur eilig auf das große Zeichenblatt skizziert worden, nein, es begann zu sprechen, zu leben. Und die feinen, sich schlängelnden Feuerzungen, die über ihren Opfern hängen blieben, wurden nicht nur zu einem Flammenmeer, sondern zu Leuchttürmen des Todes, magnetisch heranziehend und zerstörend.

Jasmin wurde von der Angst erfasst, das Bild, das sich ihr darbot und vom Feuer verzehrt zu werden drohte, nicht schnell genug zu Papier bringen zu können. Ihr Zeichnen wurde eiliger, um auch wirklich kein einziges Detail dem Vergessen anheim fallen zu lassen.

Das Bild war fertig, doch ein unausgesprochenes Etwas bedrückte sie immer noch. Plötzlich fiel es ihr ein – die Ballerina! Über dem Feld, über dem wie besessen lachenden Feuer sollte ein weißes, engelsgleiches, bezaubernd tanzendes Mädchen sein, das die Verbrennung und den Gestank segnet: All das, was zum Tode verurteilt ist, jedoch durch Schönheit gerettet werden kann.

Und erst als die kleine Tänzerin, in die Lüfte gesprungen, über dem Müllfeld mit flehend gen Himmel gestreckten Händen erstarrte, spürte Jasmin, wie todmüde sie war. Die Müdigkeit drang durch das dämmrige Fenster, durch den sich wie ein zauberhafter Fächer bewegenden Vorhang. Sie umhüllte Jasmin und schaltete sie sofort ab, direkt am Schreibtisch. Jetzt konnte ihr egal sein, was morgen, im nächsten Jahr oder in Ewigkeit geschehen würde: Sie hatte ihren letzten Tanz, der von allen der vollkommenste war, vollführt.

Der Vater

Am nächsten Tag stand ihr ein anderes, nicht weniger wichtiges Ereignis bevor: das erste Wiedersehen mit dem Vater. Es war schon mehr als ein halbes Jahr vergangen, seitdem er weg war, doch dieses Thema – das Thema des Vaters – wurde weiter sorgsam verschwiegen. Wie sich herausstellte, hatten die Häftlinge das Recht, ihre Kinder alle drei Monate zu sehen.

Ludmila Vasilevna, die ihre persönliche Anwesenheit dabei energisch ablehnte, erwartete einen nicht weniger heftigen Protest ihrer Tochter. Doch die Tochter, deren aquamarinfarbene, in der vergangenen Nacht seltsam veränderte Augen sich vor Freude erhellten, hatte Ja gesagt. Sie kleide sich nur dem Wetter nach passend um, es war Regen angekündigt, und in fünf Minuten würde sie bereit sein.

Bereit sein – wofür? Was bedeutete dieser fiebrige Glanz in ihren Augen? Konnte sie ihm wirklich verzeihen?

„Ich hoffe, du verstehst den Grund, warum ich ihn nicht sehen will“, sagte die Mutter, als sie in den neuen Lada des dicken Nikolai Iwanovich stieg. Jasmin nickte zurückhaltend. „Nur deinetwegen fahre ich hin“, – ergänzte Ludmila Vasilevna unwiderruflich.

Natürlich verstand Jasmin alles und hoffte, dass ihre Mutter auch verstehen würde, warum dieses Wiedersehen für sie so wünschenswert war? Warum sie nie danach gefragt hatte, wie es geschehen war und was den Vater zu seiner Tat bewogen hatte?

Auf dem Weg zur Haftanstalt hatten die Erwachsenen nur lustlos ein paar nichtige Worte gewechselt. Als ob es ein gewöhnlicher Ausflug in die Natur wäre, der sie sowieso keine Beachtung schenkten. Und die Natur ringsumher – die Meteorologen hatten sich schwer geirrt – war unaussprechlich schön, selbst durch die staubigen Autoscheiben betrachtet. Freigebig strahlte die nach dem langen Winter endgültig erwachte Sonne. Das babyzarte Grün der Birken sonderte sich unschuldig ab von den kalten, immer gleich dunklen Nadeln der Fichten und Kiefern. Überall zwitscherten die durch die Wärme verrückt gewordenen Vögel ihre vielstimmigen Werke. Verschämt, wie unvermutet entblößten sich aufgetaute Stellen am Waldrand, von tadellos-blauen, redseligen Rinnsalen umflossen. Alles wirkte so friedlich, als hätte es den gestrigen stürmisch-regnerischen Tag nie gegeben!

Die „Zone“ – ein stacheliges Wort der Erwachsenen – sah nicht so aus, wie Jasmin sie kannte, aus Filmen und jenen kurzen ausweichenden Erwiderungen, die manchmal in ihrer leblosen Wohnung doch zu vernehmen waren. Die Gefangenen hatten normale, keine gestreifte Kleidung an. Sie bewegten sich frei und fröhlich auf ihrem, vom Stacheldraht umzäunten Territorium. Sie spielten sogar Fußball! Manche saßen, nicht weit von den Spielern entfernt, auf einem knorrigen Balken, rauchten selbst gedrehte Zigaretten und spuckten häufig auf den Boden. Manche trieben sich schläfrig und abseits von den anderen herum, die unrasierten Gesichter in die brennende Sonne haltend.

Einige Minuten standen sie zu viert vor dem Zaun und suchten mit den Augen nach dem Vater, bemüht, den neugierigen Wächter in seiner Glaskabine nicht anzuschauen. Nikolai Iwanovich rauchte. In gespannter Erwartung betrachtete er das durch den Stacheldraht in kleine Kästchen-Rhomben aufgeteilte und ebenso stachelige, jedoch friedliche Bild eines Gefängnissamstages.

„Ich werde mit Tatjana im Auto warten“, sagte die Mutter entschlossen und der beleibte Nikolai Iwanovich wurde nervös. Er warf eilig seine nicht zu Ende gerauchte Zigarette weg, wollte sie löschen, indem er hektisch versuchte, sie in die feuchte Erde einzudrücken. Dann nahm er das Päckchen, das er für den Vater vorbereitet hatte, aus der rechten Hand in die linke. Soweit Jasmin sich erinnerte, zweifelte Ludmila Vasilevna lange, ob sie ihrem Mann etwas mitbringen müsse und wie es aus moralischer und prinzipieller Sicht aussehen würde? Nikolai Iwanovich aber löste alle Diskussionen kurzerhand und wortlos: Er kaufte eine Stange Belomorkanal Zigaretten, drei Tafeln Schokolade Moskau und zwei Paar dünne, strahlend weiße Socken.

„Also los, gehen wir“, immer noch aufgeregt nahm er Jasmins feine Finger in seine üppige Hand. Die warme Feuchtigkeit seiner Handfläche war ihr unangenehm, aber der Dicke wusste ganz genau, was er tat – es war nicht einmal daran zu denken, sich aus dieser herrischen Umklammerung zu befreien.

Schon traten sie ein, bald würde Jasmin ihren Vater sehen. Sie schritten bereits über den seidigen Rasen der Haftanstalt, im Visier von interessiert zusammengekniffenen Augen der Knackis, als Jasmin plötzlich begriff, wie schwer es sein würde, ihn erst zu sehen und dann noch etwas zu sagen. Ihre Beine zitterten, knickten ihr ein. Auf einmal war wieder die panische Angst da, wie an jenem verhassten Abend, als sie vor ihrer Wohnungstür stand, die Stirn an den kalten Kunstlederbezug gedrückt.

Jasmin dachte die ganze Zeit darüber nach, war irgendwo anders, während der offizielle Teil des Besuchs verlief. Dabei antwortete Nikolai Iwanovich weich und gehorsam auf alle Fragen und zeigte die erforderlichen Dokumente vor. Das aus der Tasche geschüttete Mitbringsel wurde einer grausam genauen Besichtigung unterzogen. Und Jasmin dachte, dachte unaufhörlich an ihren Vater, was ihre Angst nur noch verstärkte.

Im Besuchszimmer, geschmückt mit ausgebleichten Reproduktionen des Führers des internationalen Proletariats, mit antialkoholischen Losungen und Infoblättern über die Hausordnung, war es kalt. Nikolai Iwanovich redete Jasmin gut zu, dass sie sich hinsetzen und beruhigen sollte, aber sie fürchtete, dass ihr die Tränen kämen, sobald sie das tun würde. Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte ihr Vater auf.

Zuerst erkannte sie ihn nicht. Doch dann zuckten die Lippen in einem verwirrten Lächeln zusammen und Jasmin, schon nichts mehr fürchtend, nichts mehr wahrnehmend, außer einem – ihr Vater! – warf sich an seine Brust. Er senkte den Kopf, schloss die Augen und umarmte sie, sanft auf ihren mageren Rücken klopfend. Ihre Haare rochen nach Wiesenblumen.

Kurz darauf sah er endlich Nikolai Iwanovich. Sie begrüßten sich heftig. Alle drei setzten sich an den alten rauen Holztisch, kreuz und quer mit Schimpfwörtern und Liebesgeständnissen beschrieben.

„Nun, schießt los“, sagte der Vater ernst und, das Rauchverbot missachtend, nahm einen tiefen Zug von einer der mitgebrachten und so wahnsinnig gut nach Tabak riechenden Zigaretten.

Der Dicke fing tatsächlich an, ächzend etwas zu erzählen. Und Jasmin konnte immer noch nicht glauben, dass dieser Gefangene ihr Vater war, der ihre Großmutter mit einer Axt niedergemetzelt hatte: mit solch liebevollen Händen? Jemand, der zu neun Jahren dieses abscheulichen Wortes „Zone“ verurteilt worden war. Hier, neben ihr saß er, sichtlich abgemagert, ergraut, ihrem Großvater ähnlich geworden, mit einem komischen, fast aus den Nasenlöchern wachsenden Bart und dunkelblauen Augenringen.

„Und wo ist Ludmila?”, fragte der Vater plötzlich, als höre er dem Dicken gar nicht zu. Nikolai Iwanovich verlor sofort die Fassung, wodurch sich sogar sein Körperumfang zu verringern schien.

„Sie ist draußen, im Auto. So… Dann verabschiede ich mich mal…“

Er sprang hastig auf – mit Gepolter kippte der erleichterte Stuhl um – und mit einem Satz trug er seinen üppigen Körper nach draußen: dorthin, wo das junge Gras grünte und wo man frei atmen konnte. Und gleich wurde es wärmer im Besuchszimmer.

„Jetzt erzähl mir, meine Kleine, alles, wie es ist.“ Der Vater knetete nervös die Zigarettenschachtel in seinen verkrampften Händen.

Eine Zeit lang schwieg sie bestürzt. Dann, als ob sie sich erinnern würde, wo man zu beginnen hat, hastete sie fröhlich:

„Gestern hab ich ein Bild gemalt. Die halbe Nacht habe ich daran gearbeitet. Furchtbar müde war ich“, sie begann schnell das an ihrer Brust gehütete und in Folie eingewickelte Blatt Papier herauszuziehen: Wie schade, es wurde ein bisschen zerknüllt. „Übrigens, niemand hat es bisher gesehen!“

Erst lächelte er nur in den Bart. Trotz ihrer dreizehn Jahre war sie eben immer noch ein Kind. Doch plötzlich war ihm das Lachen vergangen. Wie mit einem spitzen Gegenstand stach ihn etwas ins Herz, und es begann zu stöhnen, von wachsenden Schuldgefühlen geplagt. Er sah das Bild und verstand alles, außer einem: Wie in ihrem jungen Kopf so ein schöpferischer, reifer Gedanke entstehen konnte?

„Jessy, es ist ja ein Meisterwerk! Wie bist du darauf gekommen? Soweit ich mich erinnere, hast du dich nie fürs Malen interessiert.“

Dann erzählte sie über den gestrigen Abend, wie auf dem Müllfeld ihre Lieblingssachen brannten und was danach zu Hause geschah, an ihrem Schreibtisch, der ihr so wunderbar geholfen hatte! Der Vater hörte ihr aufmerksam zu, nur immer wütender verschränkte er seine Finger und rauchte nun, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.

„Warum hast du das getan?“ Er ahnte natürlich, warum. Nur wollte er es von seiner Tochter selbst hören.

„Ich weiß nicht genau. Vielleicht aus Kränkung, oder aus Bosheit. Vielleicht bin ich ein böses Mädchen. Damals war Mama im Krankenhaus, etwas mit dem Herz. Später reichte das Geld nicht. Ich gehe nicht mehr zum Ballett.“

Mehr Bestätigung konnte es wohl nicht geben! Selbstverständlich war er das, der letzte Lump auf der Welt, der Unmensch und Säufer, der die Karriere der Tochter ruinierte, die Frau fertig machte und die verwaiste Familie in eine äußerste Notlage trieb! Dabei stellte er sich sogar den Ausdruck von Ludmilas zornig-schönen Augen vor, mit dem sie diese Worte aussprechen würde.

Plötzlich sprang er vom Stuhl auf, in dem Augenblick wusste sie nicht warum, und fing an, hin und her zu laufen, vom Tisch zum niedrigen, halb herausgefallenen Fenster und zurück.

„Jasmin, möchtest du mich etwas Bestimmtes fragen?“

Sie wurde bleich, als ob sie sich erst jetzt fasste – da vor ihr nicht nur der Vater stand, sondern auch der Mörder, der in der „Zone“ lebt, mit dem schrecklichen Bart und dem harten, sich hektisch bewegenden Adamsapfel.

Vor Wut kochend stürzte er zu Jasmin und fasste sie schmerzhaft an den Schultern, doch sie wich nicht zurück, gab keinen Laut von sich – obwohl die Angst so groß war! – nur unglaublich weit öffnete sie ihre wunderschönen Augen.

„Hör zu, mein Schatz, ich weiß nicht, was man dir ein halbes Jahr lang eingeredet hat. Du musst mir nicht glauben, du kannst gleich vergessen, was dein langsam verrückt werdender Vater zu dir gesagt hat, doch eines sollst du wissen: es ist die Wahrheit. Ich wollte es nicht, das war ein Unfall. Du verstehst doch den Unterschied zwischen absichtlich und versehentlich?“

Sie nickte eilig, schon wieder angstfrei, und schluckte schwer, unüberhörbar den angesammelten Speichel herunter.

„Ich erinnere mich an alles, als wäre es gestern gewesen. Ja, ich war völlig fertig, aber ich wusste, was ich tat. Ich habe nur eine Flasche Stolitschnaja getrunken und wollte die Zweite aus dem Kühlschrank holen. Dann kam… sie… und griff mich wieder mit ihrer Moralpredigt an.“ Man merkte, wie bedächtig er seine Worte wählte, damit sie dort, wo die Schwiegermutter gemeint war, nicht so grob klangen.

„Ich habe sie gebeten, mich in Ruhe zu lassen. Vergeblich. Ein Wort ergab das andere – wir fingen an zu schreien. Dann nahm sie die Axt, die hinter der Tür stand – du weißt doch, in den letzten Tagen habe ich Onkel Iwan geholfen, Brennholz zu machen. Die Axt hochhaltend ging sie auf mich los und forderte mich auf, den Wodka ins Waschbecken zu schütten. Ich schrie sie an – kann sein, dass ich frech war – und ging ihr entgegen. Ich wollte ihr die verfluchte Axt entreißen, aber der Stiel rutschte mir aus den Händen und der Axtnacken traf sie am Kopf. Kann aber auch sein, dass sie mit der Schneide getroffen wurde, da es viel Blut gab…”

Plötzlich ließ er den Kopf hängen und zog sich in sich zurück. Es war schwer zu glauben, dass all das mit solcher Leidenschaft Gesprochene von diesem schweigsamen finsteren Menschen ausgegangen sei.

„Hast du den Notarzt gerufen?“

„Selbstverständlich habe ich sofort angerufen, auch deine Mutter in der Arbeit. Sie sind gleichzeitig gekommen“, fügte er teilnahmslos hinzu. „Und wie immer zu spät. Obwohl, ich denke nicht, dass sie noch länger als zwei-drei Minuten gelebt hat. Danach das Übliche – Miliz, Untersuchungshaft, Gericht – also alles, was dazu gehört. Das Einzige, worüber ich mich freue, dass du bei all dem nicht dabei warst.“

Jasmins ursprüngliche Intuition sagte ihr, dass alles, was der Vater jetzt gesprochen hatte, keine Lüge war. Warum hielt ihn dann die Mutter für einen Mörder? Warum will sie ihn nicht einmal sehen?

„Weil mir niemand glaubte! Ich war ‚eine arbeitslose, alkoholabhängige, Konflikte bewusst provozierende Person‘. Weil ich wegen Totschlag unter erschwerenden Umständen verurteilt wurde. Ja, ich bin schuld, ich hätte diesen Teufelswodka ausschütten sollen, aber damals… damals war es einfach unmöglich!”

Der Vater schwieg. Er merkte, dass er Überflüssiges redete, was Jasmin noch nicht begreifen konnte. Eine Zeit lang saßen sie in der Stille, die nun nicht mehr bedrückend, sondern vertraulich war.

„Und sag deiner Mutter nichts. Salz in die Wunde – das kennen wir ja schon. Lass sie denken, dass ich ein hoffnungsloser, ausgemachter Scheißkerl bin. So wird es leichter für sie. Man kann sowieso nichts zurückdrehen oder beweisen, und neun Jahre Haft sind keine Frist – fast ein halbes Leben! Und noch was, weißt du, welcher Gedanke mir in den Sinn gekommen ist? Es war tiefe Nacht und ich lag, von Schlaflosigkeit gequält, auf meiner Pritsche, bei deren Anblick einem schon übel wird. Der Gedanke, dass man wenig Glück haben muss, um zu erkennen, was es überhaupt ist. Und ich hatte anscheinend viel zu viel davon, deswegen bemerkte ich es nicht. Ich erkannte es nicht. Danach rann mir mein Glück wie Wasser durch die Finger. Oh, wenn du es nur wüsstest, wie sehr ich dieses endgültig verwirrte Land liebe und gleichzeitig hasse! Doch wenn ich es könnte, würde ich sofort weglaufen, egal wohin. Hauptsache, so weit weg wie möglich.“

Schließlich sagte der Vater noch etwas von Vorsicht. Jasmin fing schon an, körperlich aufzublühen. Obwohl sie immer noch ein langbeiniger dünner Backfisch war, konnte man sich in diesen unproportionalen Körperlinien schon jetzt eine attraktive junge Frau vorstellen. Daher sollte sie Fremden, besonders Männern, nicht trauen, und alles, worauf sie sich einlassen würde, mit Köpfchen tun.

Sie hörte ihm zerstreut zu – war es denn überhaupt möglich, ohne Kopf etwas zu tun? – und wusste: Das Wichtigste hatte ihr Vater bereits gesagt. Und davon, von dem Wichtigsten, wurde ihr bald leichter, bald kam wieder das bedrückende Unwohlsein auf.

Im Hof nahm er Jasmin, wie ein kleines Mädchen, an die Hand, und sie stellte mit Vergnügen fest, wie angenehm es war, sich seiner, immer noch großen und liebevollen, echten Papas Hand, anzuvertrauen. Er brachte sie bis zur Glaskabine, nickte kumpelhaft dem beinahe eingeschlafenen Wächter zu. Jasmin sollte ihre Mutter bitten, zum Stacheldraht zu kommen, wo der Vater, wie ausgemacht, auf sie warten würde. Er wollte ihr unbedingt etwas mitteilen.

„Niemals“, sagte Ludmila Vasilevna, jede Silbe betonend. Das Wiedersehen mit der Tochter zog sich ohnehin verdächtig in die Länge. Sie fing schon an, sich Sorgen zu machen! Man redete ihr gut zu, die Bitte des Gefangenen zu erfüllen, doch Ludmila Vasilevna wollte nichts hören und setzte ihre wütende Verteidigung fort, indem sie sich auf Menschenrechte und die heutzutage vergessenen Vorstellungen von Ehre berief.

„Mama… Ich habe dich noch nie um etwas gebeten“, Jasmin sprach dies, als wäre sie gar nicht hier, mit einer merkwürdig veränderten Stimme, wobei sich alle zu ihr wandten. „Aber jetzt bitte ich dich – geh hin. Mein Vater wartet auf dich.“ Es war mit solch verletztem Stolz gesagt – „mein Vater“ – dass es anscheinend jene alten Saiten berührt hatte, die zwar sorgfältig versteckt und seit langem verstummt, doch immer noch nicht leblos waren: und welch entzückende Melodie ergab sich einst daraus!

Sie kam heran, mit versteinertem, ganz weißem, wie totem Gesicht, und es war sogar seltsam, dass sich ihre Beine noch bewegten. Der Vater, der sich verkrampft am Stacheldraht festhielt, ballte unwillkürlich die Fäuste, ohne dabei zu merken, wie sich die Stacheln in seine Haut bohrten und wie ihm das Blut, genauso wie sein Glück, durch die Finger rann.

„So, Lusja… Guten Tag…“, es schien, als würde sein Herzschlag seine unsichere, im Nu heiser gewordene Stimme übertönen. „Ich verstehe alles. Pass gut auf Jasmin auf – sie ist ein außergewöhnliches Kind. Und keine Verpflichtungen, hörst du? Du bist frei. Und… bleib gesund.“ Er rannte, komisch hinkend, zu seiner Baracke. Er wandte sich nicht um. Nur ihr Blick wie eine glühende eiserne Hand lag auf seinem breiten Rücken, und man konnte nichts tun, um ihm zu entkommen. Es gab einfach kein Mittel gegen dieses unerträgliche, endlose Brennen.

Auf der Rückfahrt wiederholte Jasmin immer wieder die Worte ihres Vaters – so tief hatten sie sich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Mit aller Kraft bemühte sie sich, nicht zu heulen, verärgert über die verräterischen Tränen, die ihr mitunter doch die Wangen herunterliefen. Aber die langweiligen Großen schienen so in ihre ebenfalls großen und langweiligen Gedanken vertieft, dass die Stimmung deutlich bedrückender war als auf der Hinfahrt. Zugleich spürte Jasmin eine unerklärliche Erleichterung. Sie war sogar stolz auf sich selbst – der Vater unterhielt sich mit ihr wie mit einer Erwachsenen! Und wie offenherzig lobte er ihre Müllballerina!

Kurz vorm Einschlafen erlebte sie noch einmal ihr Wiedersehen. Seinen komischen und zugleich schrecklichen Bart. Seine traurigen Augen. Seine bemerkenswerten, etwas rätselhaften Gedanken: „Man muss wenig Glück haben, um zu erkennen, was es überhaupt ist.“ Und leise, bereits im Halbschlaf, lächelte sie ihn an.

Vladimir Petro-o-vich

Nun geschahen in ihrem Zuhause langsame und sehr vorsichtige Veränderungen. Immer öfter hörte man das leise, mit freudigem Schimmer bereicherte Lachen der Mutter. Seltsam benahm sich auch die bekannte, allen auf die Nerven gehende Gestalt der Totenstille: Oh, ihre frühere Macht ging zweifellos verloren! Verwirrt, ungewaschen und ungekämmt lief sie hin und her auf der Suche nach einer neuen, zuverlässigeren Zuflucht. Aber Jasmins Finger wussten sich nun immer öfter mit schnellen Klavierpassagen zu vergnügen, die gewöhnlich mit einem jubelnden Glissando endeten, wovon die gemeine, einem Zieraffen ähnelnde Gestalt sich aus der Klaviatur klopfte, wie Staub aus dem Teppich. Alle in Zeitungspapier eingebundenen Schulbücher malte Jasmin mit wild lachenden und Zungen ausstreckenden Frätzchen aus, die an ihre Schullehrer, Nachbarn und Mamas Bekannte erinnerten. Selbst die Augen in den Porträts vertrieben das eiserne, nicht mehr aktuelle Spiralfederchen und wappneten sich mit einem spöttischen Ausdruck, der Jasmins Stimmung durchaus entsprach. Trotzdem konnte sie immer noch nicht glauben, dass diese Veränderungen, die sich in ihrem Zuhause ereigneten, eine Wende zum Besseren bringen würden.

Schließlich kam der Tag, an dem viele Unklarheiten aufgeklärt wurden. Ludmila Vasilevna, die sonst müde von der Arbeit heimkam, trat mit einem riesigen Blumenstrauß von knallroten Rosen in die Wohnung ein, dabei strahlte sie wie eine Blumenkönigin. Und gleich hinter ihr her, mit galant tanzendem Halbschritt-Halbsprung, schob sich in ihren engen Wohnraum ein Mensch im grauen Männeranzug und mit einer himbeerfarbenen Fliege.

Er war ein Damenmodemacher in einer Strickwarenfabrik und nannte sich Vladimir Petro-o-vich. Man musste unbedingt dieses ohnehin unendliche „o-o“ ausdehnen und betonen, sonst ergäbe sich ein anderer, ein simpler Vladimir Petrovich. Nicht aber dieser, der immer federnd ging, sanft über seinen seidigen Schnurrbart strich und aus seinen lyrischen Werken deklamierte. Und Ludmila Vasilevna hörte ihm mit angehaltenem Atem zu, der anscheinend von der Muse so niedergedrückt wurde, dass von ihm nur etwas völlig Zerquetschtes übrig blieb. Anschließend flüsterte sie geheimnisvoll und voller Begeisterung: „Unbeschreiblich! Wie von Tjutschew!“

„Mama“, warf Jasmin ihr vor, als der Vortragkünstler auf die Toilette hüpfte, um sein weit von jeder Poesie entferntes Geschäft zu erledigen. „Welcher Tjutschew!? Das ist doch völliger Unsinn! Ein süßes, kluges Daherreden über die Schönheit der Natur. Wenn man aber in die Tiefe geht, bleibt nichts davon übrig, keine Schönheit, nicht einmal die Natur!“

Selbstverständlich sah die Mutter in dieser unbewussten Verneinung all dessen, was Vladimir Petro-o-vich betraf, nur die Eifersucht einer heranwachsenden Rivalin, die für solche kritischen Anfechtungen nicht genügend gebildet war. Sie musste noch einiges lernen. Und überhaupt, in ihrem Alter sollte man sich bescheidener geben. Doch Jasmin hielt für das Beste, sich nicht auf weitere Diskussionen einzulassen. Sie war schon im fünfzehnten Lebensjahr und hatte viel Verständnis für ihre Mutter. Das einzige, was sie nicht begreifen konnte – warum unbedingt er, dieser komische Vladimir Petro-o-vich?

Schon bald fing die Mutter an, sich tanzend nach seiner Art zu bewegen, und ihre Sprache, bisher klar und zugänglich, wurde deklamatorisch. Auch die Gespräche über Trauringe und Geschäfte für Hochzeitsmode ließen nicht lange auf sich warten.

Jasmin fiel es unglaublich schwer, mit ihrem frischgebackenen Stiefvater zu kommunizieren. Sie war ihm gegenüber nicht grob, versuchte auch nicht, ihn in Verlegenheit zu bringen. Aber ihn jeden Morgen zu begrüßen und zusammen an einem Tisch zu frühstücken, seine süßlich- schnurrbärtigen Blicke erduldend, auch die Art, wie er die Kaffeetasse hielt, den kleinen Finger auf Damenart abspreizend, war für Jasmin eine Folter. Womöglich spürte er ihren Ekel, deswegen süßte er alles, was von ihm ausging, mit gesteigertem Eifer nach.

Nun lebte in ihrer Wohnung keine Tote mehr. Sie wurde auch von Keinem rausgetragen, sondern sie kroch von alleine fort, leise und unauffällig. Selbst sie konnte den neuen närrischen Hausherrn, dessen Knochen wie rosige Gummischläuche hindurch schimmerten, nicht ausstehen. Jetzt roch es in allen Zimmern nach seinem widerlich süßen, Übelkeit erregenden Parfüm. Und auf Schritt und Tritt stieß Jasmin auf dieses schimmernde, schnurrbärtige, gummiartige Etwas.

Es war nicht mehr denkbar, längere Zeit, gerade tagsüber, zu Hause zu bleiben, auch wenn ihr Stiefvater nicht da war. Sie gab sich wirklich Mühe, nicht an V. Po-o zu denken: Ruhe, absolute Ruhe und Ignorieren des scheußlichen Geruchs. Bald wird sie die Aquarellfarben auf den einzigen, nur für sie bestimmten Platz auftragen und das weiße, vor kurzem so naive Papierblatt wird zusammenzucken vom neuen, ihm unerwartet geschenkten Leben! Einatmen – Ausatmen: O, diese unerträgliche Clownsattrappe! Dieses aufdringliche Flattern des Schnurrbartes, und wie zwei klebrige Geleefrüchtchen, die zerquetschten, öligen, gar nicht stiefväterlichen Augen. So wird man also in den Wahnsinn getrieben…

Es gab nur einen Ausweg: Ilja Vasilevich, ihr großer Kunstlehrer mit zerstreutem Blick hinter der dunklen Hornbrille. Sein rechtes Bein war von Geburt an zwei Zentimeter kürzer als das linke, deswegen hinkte er. Und schon in diesem treuherzigen hin und her Watscheln erahnte man die, wahrscheinlich auch angeborene, Fähigkeit zum Mitfühlen. Er bot ihr ohnehin schon an, ihn irgendwann mal zu besuchen – an ihrem Talent sollte ordentlich gefeilt werden! Darauf hatte sie sich nur höflich bedankt. Denn an seiner Tür zu klopfen, so gut wie an seiner Seele, hielt sie für unanständig.

Jeder wusste, wo der Künstler Okunin wohnte. Selbst in den Vor-Perestroika-Jahren wurde er nicht als „Genosse“ angeredet, sondern als „Verehrter“ oder „Von allen geliebter“. Er war wirklich sehr beliebt in der gesamten Republik, womit er wohl die Wohnung im Dachgeschoss eines fünfstöckigen Ziegelhauses verdient hatte. Früher gehörte das Territorium den Tauben, doch mittlerweile wurde es nicht anders als „Offizielle Werkstatt des Künstlervereins“ genannt.

Als Jasmin auf seine sechste Werkstattetage hinaufstieg, fing sie wieder an zu zweifeln. Man verlangte von ihr einen entschiedenen und vernünftigen Schritt, aber sie wusste nicht recht, was sie tun sollte, damit es entschieden und zugleich vernünftig war.

Der Lehrer machte die Tür nicht gleich auf. Noch konnte sie zurückstürmen, die abgeschlagenen Treppenstufen mit gierigen Metersprüngen verschluckend. Doch die eisernen Türangeln knirschten bereits und er stand da – im karierten, frei über die Hüfte hängenden Hemd und in alten Jeans mit weißen Farbflecken und zarten Löchern an den Knien.

„Guten Tag, Ilja Vasilevich“, als sie seine Löcher erblickte, fühlte sie sich verlegen: Von wegen – vernünftig und entschieden! – jetzt war es endgültig aus damit. „Entschuldigen Sie, aber ich dachte, ich schaue doch bei Ihnen vorbei“, sagte sie und errötete bis zu den Ohren.

„Ein braves Mädchen“, antwortete er gelassen. „Es wird auch Zeit, dass ich dir die Gesetze der Proportion und Perspektive beibringe.“

Und sofort vereinfachte sich alles – sämtliche Perspektiven und alle in dieser Welt existierenden Proportionen! Sie gingen in ein großes Zimmer, das mit Bilderrahmen verschiedener Größe vollgestopft war und im Geruch der Farben förmlich zu ersticken schien.

„Ja, die Höhle, wie sie einem Bären gebührt, nur halt sonnig. Obwohl ich von der seelischen Organisation her eher ein Wolf bin, ein einsamer, in sich zurückgezogener Wolf. Ja… Und du? Hast du dich doch entschlossen mich zu besuchen? Du sollst dich unverzüglich und im Ernst an die Grafik machen. Ein Farbgefühl, wie Du es hast, verleiht unser lieber Gott nicht jedem. Räumliche Tiefe, Schattenlehre und Übereinstimmung der Linien, das brauchst du als allererstes. Denn du bist wirklich ein helles Köpfchen.“

Jasmin, weiter errötend, nickte ihm eilig zu, dabei strahlten ihre breit geöffneten Augen wie zwei spektakuläre aquamarinfarbene Lichtquellen. Wie konnte er das früher nicht bemerkt haben? Mit seiner unverändert weichen Stimme fuhr er fort, ihre Bilder zu loben, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, den eigentlichen Grund für ihren Besuch zu verraten.

„Na dann, wir können gleich anfangen. Hast du ein paar deiner letzten Schularbeiten mitgebracht?“

„Nein, darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber ich bringe sie mit, morgen!“

Sie schwiegen. Ein kleines Unbehagen nistete sich in der würzigen, mit Öllösungsmittel durchtränkten Luft ein.

Dann schoss sie los: „Ilja Vasilevich, darf ich jeden Tag zu Ihnen kommen? Es ist sehr schwer für mich, zu Hause zu bleiben, und mit Freundinnen – langweilig. Ich habe keine richtige Freundin.“

Es schien, als wunderte er sich gar nicht darüber und habe schon von vornherein Bescheid gewusst.

„Und was ist dein Hausproblem?“

„Mein Stiefvater. Ich finde ihn grässlich. Er ist irgendwie seltsam, süßlich und glitschig. Immer wenn ich ihn sehe, möchte ich einen Python malen mit glattschwarzer öliger Haut und unendlich langem Schnurrbart, der wie Kraken-Tentakel überall hinlangt.“

„Dann mal ihn doch mal! Aber, Jasmin… Im Leben ist es nicht so einfach wie auf den Bildern, er ist ja der Ehemann deiner Mutter, der nächste Mensch deines nächsten Menschen. Denn wenn man sich hineindenkt: welch fantastische, wahnsinnige Verflechtungen! Ich glaube, es gibt nichts Festeres als sie!“

„Aber er ist doch eine Missgeburt, Ilja Vasilevich! Jedes Mal, wenn er seine nichtsnutzigen Gedichtchen vorliest, streicht er sich den Schnurrbart glatt! Ein typischer ruhmsüchtiger Naseweis!“

Der Lehrer lachte herzlich auf:

„Teilweise sind wir alle Missgeburten. Vielleicht hat deine Mutter andere Eigenschaften an ihm entdeckt, die sie zu schätzen weiß. Darüber können wir nicht urteilen“.

„Ach, er ist ganz missgestaltet und ohne Eigenschaften“, wiederholte Jasmin trotzig und auf einmal, für sich selbst überraschend, brach sie in Tränen aus.