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Francis Seeck

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Beschreibung

Eine Frage der Klasse: wie Klassismus unsere Gesellschaft spaltet. Die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Position bestimmt unsere Gesellschaft grundlegend. Klassismus wirkt schon vor der Geburt und bis über den Tod hinaus. So ist etwa der Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung davon geprägt, und selbst die Art, wie wir bestattet werden. Klassismus kann sogar lebensbedrohlich werden. Und die längerfristige gesellschaftliche Entwicklung verschärft die sozialen Unterschiede, die Schere zwischen Arm und Reich geht seit Jahren immer weiter auseinander, die Schranken zwischen den Klassen verfestigen sich. Trotzdem wurde Klassismus bislang kaum beachtet. Das muss sich dringend ändern! Denn nur wenn wir uns mit Klassismus auseinandersetzen, ist eine sozial gerechte Gesellschaft möglich.

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Seitenzahl: 121

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Francis Seek

Zugang verwehrt

Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert

© by Atrium Verlag AG, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 Francis Seeck

Covergestaltung: Annemike Werth, Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-197-5

 

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Einleitung

»Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können.« Mit diesen Worten warnte Friedrich Merz im September 2020 in einem Interview.[1] Er befürchtete, dass Menschen, die während der Coronapandemie ihre Lohnarbeit verloren haben, keine Lust mehr auf Arbeit hätten. Damit rief er ein Bild auf, das nicht neu ist: das Bild der faulen und arbeitsunwilligen Erwerbslosen. Das sogenannte Unterschichten-TV zum Beispiel lebt von solchen Klischees. Erwerbslose werden als dumm, faul, frech und ungepflegt dargestellt, und es wird der Eindruck erweckt, sie seien selbst schuld an ihrer Situation. Es herrscht die Vorstellung, arme Menschen seien materialistisch, könnten nicht sparen und würden das Geld zum Fenster rauswerfen – Geld, das ihnen nicht einmal gehöre, da sie es vom Staat beziehen. Als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter ist mir dieses Vorurteil immer wieder begegnet. Ein Beispiel aus meiner Schulzeit fällt mir ein: Am Wochenende hatten meine Mutter und ich einen schönen Abend miteinander verbracht, wir waren in einer Pizzeria essen gewesen. Am Montagmorgen sprach mich eine Erzieherin an.

»Ich habe dich am Wochenende mit deiner Mutter in der Pizzeria am Zickenplatz gesehen«, bemerkte sie.

»Ja«, antwortete ich fröhlich.

Sie musterte mich kritisch. »Wie könnt ihr euch das leisten? Ihr bezieht doch Sozialhilfe. Ihr kriegt vom Staat alles zugeschoben.«

Mich überkam eine Welle von Scham. Der Kommentar der Erzieherin gab mir das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben. »Deine Mutter ist faul, und ein schöner Abend in der Pizzeria steht euch nicht zu«, das war es, was sie eigentlich hatte sagen wollen, das verstand ich sehr wohl. Offenbar standen wir unter Beobachtung: Wenn man erwerbslos war, sollte man leiden und sich nichts gönnen, denn schuld an der Erwerbslosigkeit sei man selbst. Erst Jahrzehnte später sollte ich begreifen, dass ich an jenem Montag Klassismus erfahren hatte: Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft. Endlich fand ich einen Begriff für die Abwertungen, die bereits meine früheste Kindheit geprägt hatten.[2]

Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft und Klassenzugehörigkeit passiert ständig, und nicht nur in Form von Vorurteilen gegenüber Erwerbslosen. Klassismus durchzieht unser ganzes Leben: Er beginnt schon vor der Geburt und reicht bis über den Tod hinaus. Klassismus zeigt sich auf dem Wohnungsmarkt und äußert sich bei Fragen der Gesundheit. Klassismus lädt Menschen aus dem Kulturbereich aus und prägt politische Debatten, zum Beispiel wenn diese »übersehen«, dass vielen Familien der Platz fehlt, um Kindern beim coronabedingten Homeschooling ein eigenes Arbeitszimmer zur Verfügung zu stellen. Er ist an der Schule zu finden, wenn Mitschüler:innen Vornamen wie Kevin oder Chantal lustig finden oder Lehrkräfte gegenüber Kindern mit einem solchen Namen Vorurteile hegen. Klassismus liegt auch in unserer Sprache. Begriffe wie »bildungsfern«, »sozial schwach«, »prollig« oder »einfache Leute« spiegeln wider, wie auf Menschen aus der Arbeiter:innen- oder Armutsklasse herabgeschaut wird. Mit Worten wie »arbeitsscheu« oder »asozial« wurden schon im Nationalsozialismus jene Menschen für minderwertig erklärt, die im Rahmen der sogenannten Aktion »Arbeitsscheu Reich« in Konzentrationslager eingewiesen und systematisch ermordet wurden. Trotzdem werden die Begriffe noch heute verwendet. Klassismus zeigt sich auch darin, dass die nationalsozialistische Verfolgung von Sexarbeiter:innen, Bettler:innen, Jugendlichen aus Heimen sowie Menschen, die sich nicht in das Lohnarbeitssystem einfügten, bis heute kaum aufgearbeitet ist.[3] Nach wie vor gibt es für diese Opfergruppe keine offizielle Gedenkstätte.

Und auch das Vorurteil, dass arme Menschen selbst an ihrer Situation schuld seien, ist Klassismus. Die Vorstellung wälzt ein gesamtgesellschaftliches Problem auf einzelne Personen ab. Sie ignoriert unter anderem eine Entwicklung, die tief in den Strukturen unserer Gesellschaft liegt: Seit Jahrzehnten wächst die soziale Ungleichheit. Die Schere zwischen Arm und Reich geht stetig weiter auseinander, während sozialer Aufstieg immer schwieriger wird. Wer arm geboren wird, bleibt meist arm, und wer reich geboren wird, bleibt reich, dies betont eine Studie der OECD. In Deutschland dauert es durchschnittlich sechs Generationen, bis Personen aus einkommensarmen Familien das Durchschnittseinkommen erreichen.[4]

Der Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aus dem Jahr 2020 zeigt: In Deutschland verfügt das reichste Zehntel über 65 Prozent des Gesamtvermögens, während die untere Hälfte nur 1 Prozent des Gesamtvermögens besitzt. Von diesen unteren 50 Prozent wiederum haben 20 Prozent überhaupt kein Vermögen oder sind sogar verschuldet. Auch in der Schweiz ist die Verteilung äußerst ungleich: Das reichste Prozent besitzt 40 Prozent des Gesamtvermögens.[5] Dies gilt ebenso für Österreich. Dort besitzen die einkommensärmeren 50 Prozent der Haushalte gemeinsam nur 2,5 Prozent des Gesamtvermögens.[6]

Die bestehende Ungleichheit wird weltweit verschärft durch die Klimakrise: Die zehn reichsten Prozent der Menschheit verursachen ein Drittel der Emissionen. Am stärksten betroffen, am verletzlichsten für die Auswirkungen der Klimakrise – Fluten und Nahrungsmittelknappheit, Dürren und Brände – sind demgegenüber arme Menschen und Bevölkerungsgruppen im Globalen Süden.[7] Diese Entwicklungen sind Ergebnis eines unsichtbaren Kampfes, der in unserer Gesellschaft ausgefochten wird, eines Kampfes um die Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien haben dies erkannt, sie vereinnahmen das Thema soziale Gerechtigkeit[8] und schüren Ängste. Sie spielen die benachteiligten Gruppen gegeneinander aus und treiben so die Spaltung unserer Gesellschaft voran. Die tatsächlichen Gründe für die Ungleichheit ignorieren sie jedoch.

 

Fakt ist: Wir leben in einer Klassengesellschaft. Für viele aus der Mittelklasse mag diese unsichtbar sein. Aber »unten«, wo Armut, Ausbeutung und klassenbezogene Abwertung vorherrschen, ist sie spürbar. Uns wurde jahrzehntelang erzählt, Deutschland sei keine Klassengesellschaft, das sei ein altmodischer Begriff. Alle, die hart arbeiten, könnten es in der sogenannten Leistungsgesellschaft nach oben schaffen. Doch Studien zeigen, dass gesellschaftlicher Aufstieg immer schwerer wird und Menschen nach Kategorien wie Job und Bildungsniveau in Hierarchien eingeteilt werden; Hierarchien, die sich entlang des Klassenbegriffs bewegen. Diejenigen, die sich unten in der Hierarchie befinden, werden abgewertet, ökonomisch ausgebeutet und ihnen werden Zugänge verwehrt.

Klassismus stellt eine ernstzunehmende Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft dar.[9] Menschenverachtende Einstellungen gegenüber langzeiterwerbslosen und obdachlosen Menschen nehmen enorm zu.[10] Auch mehren sich die Angriffe von rechts gegen wohnungslose und erwerbslose Menschen. Klassismus als Ideologie dient dazu, vorhandene Klassenverhältnisse – und damit Machtverhältnisse – aufrechtzuerhalten.[11] Um Ungleichheit und Diskriminierung aufzudecken und dagegen vorgehen zu können, ist es deshalb unumgänglich, dass wir uns der Diskriminierungsform Klassismus zuwenden, denn Klassismus verwehrt Zugänge, Klassismus fördert soziale Ungleichheit. Wenn wir eine gerechte Gesellschaft erreichen wollen, müssen wir uns dem entgegenstellen.

Kapitel 1:Klassismus: Die ignorierte Diskriminierungsform

Der Begriff Klassismus bezeichnet die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Klassismus ist also eine gesellschaftliche Unterdrückungsform, so wie etwa Rassismus und Sexismus.[12] Diese Unterdrückungsform richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel einkommensarme, erwerbslose oder wohnungslose Menschen. Sie trifft aber auch Arbeiter:innenkinder und richtet sich außerdem gegen Menschen bestimmter nicht-akademischer, körperlicher oder praktischer Berufe, etwa gegen Bäuer:innen oder Handwerker:innen. Klassismus dient der Abwertung, Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen und der Aufrechterhaltung und Legitimierung von sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft. Er hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Teilhabe, Anerkennung, Netzwerken, Macht und Geld. Klassismus führt dazu, dass Menschen entlang von ihrem Einkommen, ihrem Beruf und ihren Bildungsabschlüssen hierarchisiert werden.[13]

Bei Klassismus geht es also nicht zuletzt um Hierarchie und Zugang zu Macht. Folglich gibt es in unserer Gesellschaft auch keinen Klassismus gegen reiche Menschen oder die Mittelklasse – ebenso wie es keinen Rassismus gegen weiße Menschen gibt.[14] Denn Personen, die gesellschaftlich Macht innehaben, können strukturelle Diskriminierung ausüben, andersherum ist das nicht möglich. Vorurteile gibt es gegen alle Klassen, aber das Unterdrückungsverhältnis Klassismus funktioniert nur von oben nach unten.

Dazu gehört nicht nur, dass bestimmte Gruppen von Benachteiligung betroffen sind, sondern auch, dass andere Gruppen Vorteile genießen: Klassenprivilegien sind das Gegenstück zu klassistischer Diskriminierung, und sie sollten in der Debatte um Klassismus gleichermaßen thematisiert werden. »Geld ist nicht so wichtig«? »Geld ist nicht alles«? Sich über Geld wenig oder keine Gedanken machen und beim Einkaufen nicht auf den Preis achten zu müssen, ist ein Klassenprivileg. Sich nie Sorgen machen zu müssen, wie man die eigene Miete bezahlen kann, ist ebenfalls Ausdruck klassenbezogener Privilegien. Es ist ein Privileg, entscheiden zu können, wann man einen Job annimmt und wie lange man ihn ausüben möchte. In Urlaub fahren zu können. Nie aus Kostengründen eine Mahlzeit ausfallen lassen zu müssen. Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Ein eigenes Zimmer zur Verfügung zu haben. Oder eine eigene Wohnung. Ein eigenes Haus oder gar mehrere. Immer ein eigenes Zuhause gehabt zu haben. Sich in der Nachbarschaft sicher zu fühlen. Etwas unkompliziert ersetzen zu können, wenn es kaputtgeht. Jemanden anderes anstellen zu können, um das eigene Zuhause sauber zu machen.

Es ist auch ein Privileg, politisch von Menschen vertreten zu werden, die ähnliche Erfahrungen und Lebenswege haben: Im Bundestag gibt es nur wenige Abgeordnete, die nicht studiert haben. Oder die eigenen Lebensumstände in Literatur oder im Film gespiegelt zu bekommen: In den meisten TV-Serien und Filmen haben sämtliche Familien große Häuser und gut bezahlte Jobs. Der Grund für diese Privilegien ist: Die Mittelklasse stellt in dieser Gesellschaft die Norm dar – das heißt, sie gilt als normal –, während Personen aus der Arbeiter:innenklasse als Abweichung behandelt werden.

 

Die sozialen Unterschiede unserer Gesellschaft hat uns die Coronapandemie auf unübersehbare Weise vor Augen geführt. Erwerbslosigkeit und unsichere Beschäftigungsverhältnisse nahmen zu. Einige wenige wurden reicher, und Klassenprivilegien wurden offensichtlicher. Die einen konnten es sich zu Hause gemütlich machen, im Homeoffice arbeiten, sich Essen nach Hause bestellen und sich durch Rückzug vor dem Virus schützen; die anderen mussten sich beispielsweise als Pfleger:innen oder Verkäufer:innen weiter gering entlohnt dem Virus aussetzen. Die einen verbrachten den Lockdown in komfortablen, lichtdurchfluteten Häusern mit eigenem Garten. Die anderen saßen in engen und dunklen Wohnungen fest oder hatten als Wohnungslose gar keinen Ort, an dem sie in Sicherheit waren. Die Journalistin und Autorin Nelli Tügel stellt fest, dass vor dem Coronavirus nicht alle gleich sind:

»Wer etwa in beengten räumlichen Verhältnissen lebt, ist verletzlicher als Personen, die sich in ihre großzügigen Häuser zurückziehen können. Wer darauf angewiesen ist, mit dem öffentlichen Nahverkehr zum Ort der Lohnarbeit zu fahren, ist wesentlich anfälliger für eine Ansteckung als andere. Gerade auch unter den besonders vulnerablen alten Menschen sind viele, die arbeiten gehen müssen, um ihre Rente aufzustocken.«[15]

Die soziale Ungleichheit ist enorm: Die acht reichsten Menschen weltweit besitzen ein Vermögen von 426,2 Milliarden US-Dollar, sie besitzen damit so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.[16] Während der Coronapandemie hat sie sich zusätzlich weiter verschärft. Seit März 2020 wurden in Deutschland mehr als 600000 Menschen erwerbslos. Im April waren rund sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit, mehr als in der Finanzkrise 2008 und 2009, ein Rekord. Die Armutsquote ist mit 15,9 Prozent in Deutschland laut Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes so hoch wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.[17] Auch in der Schweiz ist nahezu jede sechste Person von Armut bedroht.[18] In Österreich sind 17,5 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet.[19] Auf der anderen Seite wächst das Vermögen der Milliardär:innen seit Beginn der Coronapandemie weiter, in Deutschland und weltweit. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher schreibt dazu: »Während die Wirtschaft eingebrochen ist, haben die 2700 Milliardäre weltweit im Corona-Jahr ihr Vermögen um 60 Prozent gesteigert. Was für eine perverse Entwicklung«.[20] Als Gründe benennt er die boomenden Aktienmärkte, die Annahme staatlicher Hilfen und Kurzarbeit der Arbeiter:innen bei gleichzeitiger Ausschüttung der Dividenden an die Aktionär:innen.[21] Auch die zehn reichsten Deutschen verbuchten Ende des Jahres 2020 eine Steigerung ihres Vermögens um 35 Prozent gegenüber Februar 2019.

 

Klassismus wurde als Thema lange ignoriert, obwohl er äußerst wirkmächtig ist. Anders als die Diskriminierungsformen Sexismus und Rassismus war Klassismus bis vor Kurzem beinahe unbekannt.

Nachdem Andreas Kemper und Heike Weinbach vor über zehn Jahren das Buch Klassismus. Eine Einführung veröffentlicht hatten, geschah zunächst wenig. Dies ändert sich nun. Jüngst erschienen in Deutschland mehrere literarische und autobiografische Bücher, die sich mit dem Thema Klasse auseinandersetzen. Bekannt wurden insbesondere Christian Barons Ein Mann seiner Klasse, Anna Mayrs Die Elenden, Daniela Dröschers Zeige deine Klasse und Deniz Ohdes Streulicht. Vorausgegangen waren vielbeachtete Übersetzungen aus dem Französischen: Rückkehr nach Reims von Didier Eribon, Das Ende von Eddy von Édouard Louis, Die Jahre von Annie Ernaux. Auch im Bereich Sachbuch tut sich etwas: Im Jahr 2021 wurden kurz nacheinander die Sammelbände Solidarisch gegen Klassismus, herausgegeben von Brigitte Theißl und mir, sowie Klasse und Kampf, herausgegeben von Christian Baron und Maria Barankow, veröffentlicht.

Es wird immer deutlicher: Wir müssen über unsere Klassengesellschaft und über Klassismus reden. Ich selbst arbeite beruflich zu Klassismus. Bei meiner Tätigkeit als Antidiskriminierungstrainer:in erlebe ich, wie notwendig und unsichtbar zugleich das Thema in der Antidiskriminierungsarbeit ist. Als Wissenschaftler:in gehe ich dem Thema forschend nach. Mit diesem Buch zeige ich nun, wie Klassismus unsere Gesellschaft grundlegend prägt und warum wir uns dagegenstellen müssen. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die vergessenen und ignorierten Debatten aus feministischen, queeren und Schwarzen Bewegungen, außerdem auf Analysen jener, die nicht sozial aufgestiegen sind. Denn Klassismus ist kein Begriff, der von weißen Männern am Schreibtisch erfunden wurde, auch wenn innerhalb der Debatte bisweilen dieser Eindruck entstehen kann.

Die Wurzeln der Klassismusdebatte liegen in feministischen und lesbischen Bewegungen vergangener Jahrzehnte.[22]US-amerikanische (lesbische) Feministinnen setzten sich bereits in den 1970er-Jahren mit Klassenunterschieden und Klassismus auseinander.[23] Der Begriff Klassismus, oder »classism«, tauchte nach aktuellem Forschungsstand erstmals 1974 in Sozialen Bewegungen auf, nämlich bei der US-amerikanischen lesbischen Gruppe The Furies; die Beteiligten wiesen damit auf Klassenunterschiede in der Frauenbewegung hin.[24] Schwarze Feministinnen wie bell hooks machten früh darauf aufmerksam, dass die verschiedenen Unterdrückungskategorien zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen und im Zusammenspiel auch eigene Formen der Diskriminierung entstehen lassen. Sie haben etwa gezeigt, dass Klassismus und Rassismus aufs Engste miteinander verwoben sind.[25]

In (West-)Deutschland organisierten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren Arbeiter:innentöchter an Hochschulen und machten auf Klassismus im Bildungskontext und auf seine Verschränkung mit Sexismus aufmerksam.[26] Ab den späten 1980ern gründeten sich im Umfeld der Frauenbewegung Proll-Lesbengruppen, in denen sich Lesben aus der Arbeiter:innen- und Armutsklasse organisierten und gegen Klassismus kämpften. Sie entwarfen Strategien gegen soziale Ungleichheit und richteten ein Umverteilungskonto ein.[27]1988 wurde die Publikation Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus