Zum 92. Mal vier eiskalte Sommerkrimis - Alfred Bekker - E-Book

Zum 92. Mal vier eiskalte Sommerkrimis E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis von Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und die Sieben Der Fall mit den Todesbriefen Burmester jagt ein Phantom Der Armbrustmörder –––––––– image "Er nennt sich Raimer", sagte der dunkelhaarige Mann im braunen Kaschmir-Jackett, während sein Blick über die schlichte Einrichtung des Hotelzimmers ging. "Leon Raimer. Er arbeitet in einer literarischen Agentur, lebt allein, hat kaum Kontakte." Der andere Mann im Raum beugte sich gerade über das Waschbecken und schabte sich den letzten Rest Rasierschaum aus dem kantigen Gesicht und griff zum Handtuch. Dann kämmte er sich noch die schütteren hellblonden Haare nach hinten und wandte sich seinem Partner zu. "Sonst noch etwas?" "Du könntest dir wenigstens mal die Bilder ansehen, die ich gemacht habe." "Bitte!" Der Blonde sah sich die Bilder nur sehr flüchtig an und nickte dann. "Das scheint er zu sein", murmelte er. "Ich bin dafür, die Sache bald durchzuziehen", erwiderte der Mann im braunen Jackett. Davon schien der Blonde nicht sonderlich begeistert zu sein.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alfred Bekker

Zum 92. Mal vier eiskalte Sommerkrimis

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Inhaltsverzeichnis

Zum 92. Mal vier eiskalte Sommerkrimis

Copyright

Kommissar Jörgensen und die Sieben: Hamburg Krimi

Der Fall mit den Todesbriefen: Hamburg Krimi

Der Fall mit den Todesbriefen

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Burmester jagt ein Phantom: Hamburg Burmester ermittelt 1

Burmester jagt ein Phantom: Hamburg Krimi: Burmester ermittelt 1

Burmester jagt ein Phantom

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Der Armbrustmörder

landmarks

Titelseite

Cover

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

Zum 92. Mal vier eiskalte Sommerkrimis

von Alfred Bekker

Dieser Band enthält folgende Krimis

von Alfred Bekker:

Kommissar Jörgensen und die Sieben

Der Fall mit den Todesbriefen

Burmester jagt ein Phantom

Der Armbrustmörder

––––––––

"Er nennt sich Raimer", sagte der dunkelhaarige Mann im braunen Kaschmir-Jackett, während sein Blick über die schlichte Einrichtung des Hotelzimmers ging. "Leon Raimer. Er arbeitet in einer literarischen Agentur, lebt allein, hat kaum Kontakte."

Der andere Mann im Raum beugte sich gerade über das Waschbecken und schabte sich den letzten Rest Rasierschaum aus dem kantigen Gesicht und griff zum Handtuch. Dann kämmte er sich noch die schütteren hellblonden Haare nach hinten und wandte sich seinem Partner zu.

"Sonst noch etwas?"

"Du könntest dir wenigstens mal die Bilder ansehen, die ich gemacht habe."

"Bitte!"

Der Blonde sah sich die Bilder nur sehr flüchtig an und nickte dann.

"Das scheint er zu sein", murmelte er.

"Ich bin dafür, die Sache bald durchzuziehen", erwiderte der Mann im braunen Jackett.

Davon schien der Blonde nicht sonderlich begeistert zu sein.

"Die Sache darf auf keinen Fall schiefgehen", meinte er. "Ich bin dafür, Raimer noch ein bisschen zu beobachten."

"Es gibt nichts mehr über ihn herauszufinden", erwiderte der andere gelassen. "Wir kennen seinen täglichen Lebensrhythmus, wir wissen, wann er aufsteht, wann er zur Arbeit geht, mit wem er in den letzten zwei Wochen telefoniert hat und in welchen Geschäften er regelmäßig einkauft."

Der Blonde verengte die Augen wenig, während er zu seinem offenen Koffer ging und sich ein frisches Hemd herausnahm. Nachdem er es angezogen und zugeknöpft hatte, holte er noch etwas anderes: eine Pistole samt dazugehörigem Schulterholster. Als er sich die Waffe umgeschnallt hatte, fragte er: "Hast du schon einen Plan?"

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
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Kommissar Jörgensen und die Sieben: Hamburg Krimi

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Kommissar Jörgensen und die Sieben: Hamburg Krimi

von ALFRED BEKKER

Kommissar Jörgensen und die Sieben: Hamburg Krimi

Ein fesselnder Hamburg-Krimi von Alfred Bekker

Ein rätselhafter Mord erschüttert Hamburg: Der Kommunikationschef der Stadtentwicklungsbehörde wird tot auf einem Stadtmodell gefunden – mit einem Origami-Kranich und einer mysteriösen Zahlenkarte. Kommissar Uwe Jörgensen und sein Team nehmen die Ermittlungen auf und geraten in ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel. Der Täter hinterlässt an jedem Tatort neue Hinweise, Zahlen und kunstvoll gefaltete Origami-Figuren. Schnell wird klar: Es geht um mehr als nur Mord – es geht um die dunklen Seiten der Stadt, um alte Wunden und einen Täter, der die Regeln bestimmt.

Begleiten Sie Kommissar Jörgensen auf eine spannende Spurensuche durch Hamburgs Brücken, Baustellen und geheime Orte. Ein atmosphärischer Kriminalroman voller überraschender Wendungen, psychologischer Tiefe und norddeutschem Flair. Perfekt für Fans von intelligenten Krimis und Hamburg-Liebhaber!

Jetzt bestellen und in einen außergewöhnlichen Hamburg-Krimi eintauchen!

Glossar zu „Kommissar Jörgensen und die Sieben: Hamburg Krimi“ (spoilerfrei)

Personen

Uwe Jörgensen Hauptkommissar beim BKA. Nachdenklicher, erfahrener Ermittler mit einem Blick für Details und einer Schwäche für Symbolik.Roy Müller Jörgensens Kollege und Partner. Direkt, humorvoll, loyal – bringt Bodenständigkeit ins Team.Jonathan Bock Kriminaldirektor, Vorgesetzter von Jörgensen. Strukturiert, nüchtern, mit trockenem Humor.Mira Delling Kuratorin des „Forum Urbanum“. Engagiert, professionell, mit persönlicher Verbindung zu den Ereignissen.Fred LaRocca IT- und Digitalexperte im Team. Analytisch, schnell, Spezialist für digitale Spuren.Sami Oldenburger & Pascal Horster Spezialisten der Spurensicherung. Verantwortlich für die forensische Arbeit am Tatort.Dr. Claus Rechtsmediziner. Präzise, sachlich, liefert wichtige Erkenntnisse zu den Todesumständen.Karin Mahler Mutter einer Schlüsselfigur. Lebt in Harburg, hat eine bewegte Familiengeschichte.

Orte

HamburgDie Hansestadt bildet die atmosphärische Kulisse: Brücken, Hafen, Speicherstadt, Elbphilharmonie und moderne Stadtviertel spielen zentrale Rollen.Forum Urbanum Ein modernes Ausstellungs- und Veranstaltungszentrum nahe den Deichtorhallen. Dreh- und Angelpunkt der Ermittlungen.Überseequartier Großbaustelle und neues Stadtviertel in der HafenCity. Mehrfach Schauplatz wichtiger Ereignisse.Niederbaumbrücke, Köhlbrandbrücke, Rethehubbrücke Bedeutende Hamburger Brücken, die im Verlauf der Handlung eine zentrale Rolle spielen.Der Michel Die St. Michaelis Kirche, eines der Wahrzeichen Hamburgs, dient als markanter Schauplatz.Speicherstadt Historisches Lagerhausviertel, bekannt für Kanäle und Brücken, wichtiger Handlungsort.Harburg Stadtteil im Süden Hamburgs, Wohnort von Karin Mahler.

Begriffe

Origami-Kranich Gefaltete Papierfigur, die an mehreren Tatorten gefunden wird. Symbolträchtig und Teil der Spurensuche.Blindprägung Eine spezielle Drucktechnik, bei der Muster oder Zahlen ohne Farbe ins Papier geprägt werden. Dient als Markenzeichen des Täters.Bolzenschussgerät Werkzeug, das normalerweise in der Tierverarbeitung verwendet wird. Spielt eine Rolle bei den Ermittlungen.Sprosse Teil einer Leiter oder Brücke; im Roman mehrfach als Symbol und im Zusammenhang mit Sabotage verwendet.Urban Explorer Personen, die verlassene oder schwer zugängliche Orte erkunden. Im Roman ein Hinweis auf die Szene, in der sich der Täter bewegt.Karten/Zahlenkarten An den Tatorten hinterlassene, geprägte Karten mit Zahlen. Sie bilden einen rätselhaften Zahlencode.Knoten/Seemannsknoten Fachmännisch gebundene Knoten, die auf die handwerklichen Fähigkeiten des Täters hinweisen.

Kapitel 1

Es war einer dieser Anrufe, die das Wochenende in zwei Hälften schneiden. Vorher hatte ich überlegt, ob ich mir am Steinhuder Meer einen dieser motorlosen Segler ausleihen sollte – ein Witz, zugegeben, ich wäre sowieso an der Elbe gelandet. Nachher stand ich zwischen Glas, Beton und einem präzise ausgeleuchteten Stadtmodell, dessen winzige Bäume wie karamellisierte Brokkoli wirkten. Architekturleute lieben so etwas: Miniaturen, in denen keine Zigarettenkippe liegt, kein Blatt herumweht und jedes Haus auf dem Papier den perfekten Schatten wirft. Hamburg im Maßstab 1:500, gerahmt von weißen Wänden, die morgens nach kaltem Putz rochen und nachts nach nichts. Die Halle im Obergeschoss des „Forum Urbanum“ in der Nähe der Deichtorhallen war um zwei Uhr achtzehn so still, dass man die Lüftung hören konnte.

Und den Tropfen.

Nicht laut. Regelmäßig. Unangenehm, weil er das Perfekte ruinierte. Es war Wasser, das sich am Rand der umlaufenden Glasplatte sammelte, dann fiel – plitsch –, und irgendwo im Modell eine Dachkante glänzen ließ, wo keine Dachkante glänzen sollte. Der Tropfen hatte seinen Ursprung an einem Ärmel. Der Ärmel gehörte zu einem Mann, der quer über der Hansestadt lag. Im Kleinen, versteht sich. Sein Kopf lag über dem künftigen S-Bahnhof Elbbrücken, seine Beine ragten bis tief in die HafenCity hinein. Wenn er noch lebte, hätte er sich entschuldigt, nehme ich an. Tat er nicht.

„Name: Dr. Hendrik Bonefeld“, sagte die Uniformierte, die uns an der Tür in Empfang nahm. „Leiter Kommunikation der Senatsbehörde für Stadtentwicklung.“ Sie war blass, aber professionell. Ich schob das Notizbuch in die Jackentasche und nickte. Roy stand neben mir und räusperte sich, als ob er Husten unterdrücken wollte, in Wahrheit wollte er nur etwas sagen. So kenne ich ihn.

„Kommunikation“, murmelte Roy. „Sagen wir mal, er hat seine Botschaft verfehlt.“

„Feststellung des Todes um 01:53 durch Sicherheitsdienst“, fuhr die Uniformierte fort. „Zugang: Seiteneingang. Keine Aufbruchspuren.“

„Jemand hat ihn reingelassen“, sagte ich.

„Oder er hatte einen Schlüssel“, erwiderte die Uniformierte. „Seine Karte lag bei ihm.“

Ich ging um den Tisch mit dem Stadtmodell herum. Kleine Fahrräder in der Größe meiner Fingernägel standen sauber in einer Reihe. Ein Teil des Plexiglasrahmens war verschoben worden, die Auflage lag schief. An der Stirn des Toten war ein dunkler kreisrunder Fleck. Nicht groß. Präzise. Wenn man es einmal gesehen hat, kann man es nicht mehr wegsehen. Der Tropfentakt passte nicht zu dem Fleck, er passte zu etwas anderem: zu der Ungeduld, die ich spüre, wenn ich noch nicht weiß, wie es passiert ist.

„Wer hat ihn gefunden?“, fragte Roy.

„Ich. Also: wir“, meldete sich ein Mann mit grauem Wollpulli. Er trug das Logo der Security-Firma über der Brust wie eine Auszeichnung, die ihm peinlich war. „Ich heiße Tobias Schaal. Ich mache die Runde um zwei. Da hab’ ich… Ich meine, die Kamera zeigte nichts Auffälliges. Aber oben war das Licht an. Das ist nachts nicht an.“

„Schlüsselkarte?“

Er nickte und hielt uns eine Plastikkarte in die Höhe. „Damit kommen nur fünf Leute rein. Dr. Bonefeld, die Kuratorin, zwei von der Facility und ich. Die anderen brauchen einen Code von mir.“

„Haben Sie ihm die Tür geöffnet?“

„Nein. Nicht heute. Also gestern. Also…“ Er brach ab. Ich ersparte ihm das Rechnen und sah zum Glaskubus, der die Küche dieses Hauses spielen sollte. Sandwiches, die jemand vergessen hatte, standen dort in einer Vitrine. Hunger hat in so einer Nacht immer etwas Vulgäres.

„Dr. Bonefeld“, sagte ich leise und beugte mich über den Toten. Nichts an seinem Gesicht deutete darauf hin, dass er überrascht gewesen war. Eher verärgert. Sein Mund stand leicht offen, als hätte er gerade ein Wort gesucht. Das Wort lag neben ihm, sauber gefaltet.

„Das ist…“, sagte Roy.

„Ein Papierkran“, beendete ich den Satz. Wie in diesen japanischen Geschichten, bei denen tausend Kraniche etwas Gutes bewirken sollen. Ich hob den Kran nicht an, ich sah ihn nur an. Das Papier war nicht weiß. Es war die kopierte Seite einer E-Mail. Man konnte noch lesen, was die Druckerrolle nicht verschmiert hatte: „Städtebaulicher Vertrag Abschnitt C – vertraulich – …“ Und am Rand: Tintenstrich. Blass. Jemand hatte mit einem Kugelschreiber eine dreimal unterstrichene Zwei geschrieben. Mein Magen machte kurz etwas, das ich als Zweifel kenne.

„Sieht nach Inszenierung aus“, meinte Roy. „Oder nach Menschen, die zuviel Zeit haben.“

„Oder nach jemandem, der will, dass wir es merken“, sagte ich. „Wo ist die Kuratorin?“

„Hier“, sagte eine Stimme. Eine Frau mit einem Gesicht, das gebaut war, um Adjektive zu tragen – entschlossen, scharfkantig, müde. „Ich bin Dr. Mira Delling. Das ist mein Haus. Und leider auch meine Leiche.“

Ich hob die Augenbrauen. „Leider trifft es“, meinte ich. „Uwe Jörgensen, BKA. Dies ist mein Kollege Roy Müller.“ Ich hielt mein Kärtchen hoch. Sie sah nicht darauf, sie sah auf den Toten. Eine Sekunde lang glaubte ich, dass sie sich entschuldigen wollte. Vor wem? Vor ihm? Vor mir? Vor der Stadt? Schwer zu sagen.

„Wir hatten heute die Pressekonferenz“, sagte sie. „Gestern, meine ich. Zweiter Bauabschnitt Überseequartier. Es waren alle da. Senator. Investoren. Dr. Bonefeld war der Letzte, der ging. Sagt mein Team.“

„Zeit?“

„Neunzehn Uhr. Ich selbst bin um zwanzig nach gegangen. Der Caterer war noch im Foyer. Es…“ Sie atmete flach. „Es ist möglich, dass jemand geblieben ist. Wer, weiß ich nicht. Die Listen liegen unten. Ich war müde.“

„Einige schlafen zu wenig“, sagte Roy. Mira Delling nickte, als erkenne sie in Roy einen Vertrauten. Wir reden manchmal Unsinn, um zu sehen, wie die Leute reagieren. Manchmal reden wir auch, weil es genauso ist. Ich schlafe schlecht, wenn zu viele Dinge offen sind. Diese Nacht würde nicht besser werden.

„Wann können Ihre Leute—“, begann Mira Delling.

„Die Spurensicherung ist unterwegs“, sagte Roy und sah auf die Uhr. „Und Herr Dr. Claus ist informiert. Sie werden einverstanden sein, wenn wir…“

„…alles“, sagte sie und machte eine resignierte Handbewegung. „Die Presse wird es sowieso erfahren.“

„Das hält sich nie sehr lange verteckt“, sagte ich. „Im Gegenteil. Es kriecht durch jede Ritze.“

Mira Delling drehte sich um und ging, ohne noch etwas zu sagen. Ihr Rückgrat war ein Lineal. Man konnte den Weg der Linie sehen, die das Unglück in ihr gezogen hatte. Ich sah ihr nach, vielleicht zu lange. Roy rempelte mich gegen die Schulter. „Nicht dein Typ“, murmelte er.

„Wie kommst du darauf?“

„Sie hat nicht mal gelächelt, als du den Kranich betrachtet hast.“ Roy neigt dazu, Komik zu versuchen, wenn die Luft knapp wird. Ich tue das nicht, ich sammle Bilder. Der Papierkran mit der Zwei war eines davon.

Es dauerte nicht lang, bis die Spurensicherer die Treppe hochkamen. Sami Oldenburger warf mir einen Blick zu, der alles und nichts sagte. Pascal Horster folgte ihm, trug die Aluminiumkoffer wie ein Bassist sein Instrument. Wir schrubbten nicht. Wir sahen.

Das Loch an Bonefelds Stirn war kein Zufallsprodukt. Kein Sturz, keine Kante. Das war die Arbeit eines Gerätes, das der Volksmund mit einer Architektur der Gewalt bezeichnet: Bolzenschussgerät. Ich hatte so etwas in Schlachthöfen gesehen, bei Vorführungen, wo Veterinäre erklären, worauf es ankommt: dicht ran, präzise, schnell. Manchmal fällt das Tier sofort, manchmal nicht. Beim Menschen ist es, wenn richtig angesetzt, selten ein Vielleicht.

„Was spricht für…“, begann ich.

„Die Form“, sagte Sami. „Und der minimale Schmauch. Kein Schuss. Es fehlt Pulver. Und es fehlt das Projektil. Es ist kein Projektil.“ Er hielt inne. „Wenn Sie mich fragen, wurde er aus nächster Nähe getötet. Die Kleidung ist trocken mit Ausnahme des rechten Ärmels. Der Tropf kommt nicht aus ihm. Er kommt vom Kondenswasser der Lüftung. Das Rohr über ihm ist kalt, draußen ist warm. Das ergibt…“ Er deutete mit der Hand. „…das. Voraussichtliche Zeit des Todes zwischen dreiundzwanzig Uhr und null Uhr dreißig, grob. Näheres nach der Sektion.“

„Kein Bolzenschussgerät in Sicht“, sagte Roy.

„Als Trophäe nimmt man das nicht mit“, erwiderte ich.

„Man nimmt mit, was einem Probleme macht“, ergänzte Sami. „Und das macht Probleme.“

„Papierkran“, sagte Pascal von der anderen Seite des Tischs. „Dazu noch etwas. Unter dem Kran ist etwas.“

Ich trat neben ihn. Er hatte eine kleine Pinzette gezückt, aber noch nicht zugefasst. „Darf ich?“, fragte er. Ich nickte. Er hob den Kran an, nicht mehr als nötig. Darunter lag ein knappes Stück Karton, nicht größer als eine Visitenkarte. Kein Logo, keine Schrift, nur ein geprägtes Relief. Ich kniff die Augen zusammen. Reliefs im Halbdunkel sind eine Zumutung. Pascal leuchtete mit der Stiftlampe. Das Relief zeigte eine Art Welle. Oder war es eine Flamme? In der Mitte: wieder eine Zahl. Diesmal eine Eins. Nicht geschrieben. Geprägt.

„Jemand zählt“, sagte Roy. „Oder jemand will, dass wir denken, er zählt.“

„Bis wohin?“, fragte ich. „Bis Null? Oder bis wir aufhören mitzuzählen?“

„Kamera?“, wollte ich vom Security-Mann wissen.

„Ist im Flur. In der Halle selbst dürfen wir nicht wegen…“

„…Persönlichkeitsrechten“, ergänzte ich. „Das Mantra der Gegenwart.“

„Ich habe die Aufzeichnungen schon gesichert“, sagte er. „Aber… Es kommt niemand rein. Da ist niemand.“

„Wie bei einem schlechten Trickfilm“, murmelte Roy. „Und trotzdem liegt am Ende einer auf dem Tisch.“

„Oder wie bei einem guten Trickfilm“, korrigierte ich ihn. „Da ist am Ende immer etwas, das man übersehen hat.“

Ich ließ mir die Kamera zeigen. Schwarzweiß, mäßige Auflösung, ein Flur, in dem alle gleich aussehen, wenn sie ihr Gesicht senken. Auf dem Band sah man: Bonefeld betritt um 20:03 den Flur. Hinter ihm: keine. Um 20:21: Mira Delling mit einem Stapel Akten. Um 21:02: eine Reinigungskraft schiebt einen Wagen in den Flur, dreht nach rechts, verschwindet. Um 23:37: Nichts. Um 23:38: Nichts. Um 23:39: Nichts. Ich spulte vor, zurück, vor. Um 00:12 taucht der Schatten eines Menschen halb im Bild auf. Ich friere. Spule zurück. Der Schatten füllt den Bildrand, ohne den Flur zu betreten. Jemand steht nahe an der Wand. Jemand, der weiß, wo der tote Winkel ist.

„Das is’n Profi“, sagte Roy leise.

„Oder jemand, der hier arbeitet“, sagte ich.

„Die Liste“, erinnerte ich mich selbst. „Sie sagten, die Liste liegt unten.“ Ich wandte mich an Mira Delling. Sie führte mich ins Foyer. Auf dem Tresen lagen vier Klemmbretter. Namen, Telefonnummern, Unterschriften. Der Abschnitt „Externe Dienstleister – Abendveranstaltung“ war ausgefüllt. Caterer, Ton, Licht, Security. Bei „Technik“ stand „K. Mahler“. Keine Telefonnummer. Unterschrift: ein Strich.

„Wer ist das?“, fragte ich.

„Ich kenne ihn nicht“, sagte Mira Delling. „Die Technik läuft über einen Rahmenvertrag. Da kommen andere, je nach Tag. Ich kann die Nummer raussuchen.“

„Bitte“, sagte ich.

Ich rief währenddessen unseren Chef an. Kriminaldirektor Jonathan Bock klang wie immer, wenn wir ihn nachts wecken: hellwach. „Ich möchte die Liste aller, die Zugang zum Forum Urbanum haben, die Verträge mit dem Technikdienstleister und dem Caterer und den kompletten Terminkalender von Bonefeld. Und bitte den Staatsanwalt informieren, dass wir morgen früh in die Behörde müssen. Ich kann mir vorstellen, dass nicht alle begeistert sein werden.“

„Das kann ich mir sehr gut vorstellen, Herr Jörgensen“, sagte Bock. „Und ich kann mir vorstellen, dass Sie das trotzdem tun werden.“

„Ja.“

„Wie sieht’s aus?“

„Ein toter Kommunikationschef. Ein Bolzenschussgerät fehlt. Ein Papierkran. Eine geprägte Eins. Und ein Schatten, der den Flur nicht betritt.“

„Das klingt nach einem langen Morgen.“

„Es ist keiner, den ich mir wünsche.“

„Sie machen das schon.“ Das sagte Bock häufig und meist in einem Ton, der zugleich Zuspruch und Verpflichtung war. Wenn man das oft genug hört, glaubt man es irgendwann selbst.

Als ich auflegte, sah ich Roy an. Er hatte den Kran inzwischen fotografieren lassen. Pascal packte ihn in einen Beutel, den man nur mit einer Zange ein zweites Mal öffnen kann. Ich mag diese Beutel. Sie sind endgültig, in einer Welt, in der kaum etwas endgültig ist.

„Mahler“, sagte Roy. „Wie Gustav. Wie die Sinfonie der Tausend.“

„Wie der Name eines Toten, der nicht tot ist“, sagte ich. „Wenn der Mann wirklich so heißt, fresse ich deine Mütze.“

„Ich trage keine Mütze.“

„Dann fresse ich deine Klugheit.“ Roy grinste schief. Es war gegen halb vier.

Am Tresen saß eine junge Frau, die um die Zeit nur wach sein konnte, weil sie Kaffee in Blut gegossen hatte. „Ich bin nur die Aushilfe“, sagte sie, als ich fragte. „Die richtige Kollegin musste gehen, ihr Kind hatte…“ Sie winkte ab. „Können Sie verstehen.“

„Wir verstehen mehr, als uns lieb ist“, sagte ich. „War Bonefeld beliebt?“

Sie zögerte. „Er war… Er wusste, wie man redet.“ Das war ehrlich. Es heißt nicht viel. Es reicht für einen ersten Eindruck.

„Haben Sie ihn lachen sehen?“, fragte ich.

„Heute nicht.“

„Sonst?“

„Manchmal.“ Ich notierte es, so albern es klingt. Menschen, die nie lachen, sind selten in Kommunikation erfolgreich. Menschen, die immer lachen, noch seltener.

Wir ließen die Halle, als die ersten Umrisse des Morgens auf die Stadt fielen, das Leben in den Straßen der Nacht wieder lauter wurde und die Elbe roch, als wolle sie allen erklären, dass hier kein Wasser sei, sondern ein Element.

Roy fuhr. Ich lehnte den Kopf gegen die Scheibe und zählte. Eins: geprägte Karte, Welle oder Flamme. Zwei: Tinte, Kranich. Drei: keine Kamera, aber ein Schatten. Vier: fehlendes Werkzeug. Fünf: Name ohne Nummer. Sechs: eine Kuratorin, die sich entschuldigen wollte, und ein Security-Mann, der anständig war. Das ist nicht viel, aber mehr als nichts.

„Möchtest du“, sagte Roy, „darüber reden, warum du den Kranich so lange angeschaut hast?“

„Weil er falsch ist.“

„Falsch?“

„Origami-Kraniche werden sauber gefaltet. Die Kanten müssen exakt sitzen. Der Kran war gut, aber nicht ausgezeichnet. Mir fehlt der Kragen am Hals. Der Faltende hatte es eilig oder einen Schnitt an der rechten Hand.“ Roy warf mir einen Blick zu, der irgendwo zwischen Bewunderung und Verwunderung lag. Ich zuckte mit den Schultern. „Isabella“, sagte ich, und damit hatte ich mehr gesagt, als ich wollte.

„Ah.“ Roy lenkte in die linke Spur. „Die Expertin für Schriftbilder und Papier. Ich dachte, das Kapitel sei…“

„…kein Kapitel“, sagte ich. „Es ist eine Fußnote.“

„Fußnoten sind wichtig“, sagte er.

„Manchmal sind sie gefährlicher als der Text“, murmelte ich.

Am Präsidium wartete Kaffee. Und Bock. Er stand in meinem Büro, als habe er die Nacht dort verbracht. Vielleicht hatte er das. „Guten Morgen“, sagte er, ohne zu lächeln. Manche Leute glauben, das sei unhöflich. Ich mag ihn so. Er verschwendet nichts, auch keine Höflichkeit. Er setzt sie gezielt ein.

„Spur?“, fragte er.

„Ein Name ohne Nummer und ein Schatten ohne Gesicht“, sagte ich. „Und ein Kranich mit einer Eins.“

„Und wieso glauben Sie, dass das zusammenhängt?“

„Weil es muss.“ Das war nicht schlau, aber wahr. Es gibt Nächte, da ist das die schlaueste Antwort, die ich geben kann.

„Heute Nachmittag wird es eine Pressemitteilung geben“, sagte Bock und hob die Hand, als ich die Stirn runzelte. „Ich weiß, Sie mögen das nicht. Ich mag es noch weniger. Aber die Behörde wird das auf die Bühne ziehen, allein um zu zeigen, dass sie noch laufen kann. Wir werden den Namen des Toten nicht nennen. Wir werden um Hinweise bitten. Wir werden nichts über Papierkraniche sagen.“

„Gut“, sagte ich. „Wenn der Täter will, dass wir ihn sehen, wird er unruhig, wenn er nicht gesehen wird.“

„Oder er wird mutig“, sagte Bock. „Ich möchte, dass Sie Herrn Mahler finden, bevor die Presse ihn erfindet.“

„Er heißt nicht Mahler“, sagte Roy.

„Dann finden Sie heraus, wie er heißt. Und sehen Sie sich Bonefelds Kalender an. Wer trifft sich nachts in einem Museum? Liebende, Diebe, oder Leute, die lieber ohne Zeugen sprechen.“

„Oder Mörder“, sagte ich.

„Oder Mörder“, bestätigte Bock. „Suchen Sie auch in Bonefelds Privatleben. Solche Männer haben selten nur die eine Version von sich. Und nehmen Sie sich jemanden von den Digitalen. Wir brauchen die Mails.“

„Fred?“, fragte ich.

„Fred“, bestätigte Bock.

Ich nahm den Kaffee in die Hand und verbrannte mir die Zunge, ohne zu fluchen. Roy nahm sich einen Keks, biss einmal ab, legte ihn zurück, als habe er plötzlich gemerkt, dass man sich nicht leisten darf, Vergnügen zu haben, wenn jemand tot auf einem Stadtmodell liegt.

„Kommt noch was?“, fragte ich Bock.

„Ja“, sagte er. „Die Senatorin wird anrufen. Sie wird es nicht explizit sagen, aber sie wird erwarten, dass wir ihr erklären, dass dies eine Tragödie ist und keine Intrige. Tun Sie mir einen Gefallen und sagen Sie nichts, was sie beruhigt.“

„Meine Stärke“, sagte ich. Es war nicht meine Stärke. Ich kann beruhigen, wenn ich will. Aber ich wollte es nicht. Nicht in diesem Fall.

Ich war auf dem Weg in mein Zimmer, als jemand hinter mir „Herr Jörgensen?“ sagte. Ich drehte mich um. Es war Mandy, Bocks Sekretärin. Sie hielt einen großen Umschlag in der Hand. „Ist gerade für Sie abgegeben worden. Ohne Absender. Ein Bote.“

Ich sah den Umschlag an. Kein Logo, kein Name. Weiß. Ein dünner Schatten zeichnete sich ab. Ich nahm ihn, wog ihn, als wäre ich wieder ein Kind und würde erraten, was unter dem Weihnachtsbaum liegt. Ich riss ihn nicht auf. Ich schnitt ihn sauber auf mit der Klinge, die ich in der Brusttasche trage, um Dinge zu eröffnen, die man nicht wütend öffnen sollte.

Drinnen lag: ein weiteres Stück Karton. Prägung: diesmal eindeutig. Keine Welle. Kein Feuer. Eine stilisierte Brücke. Und in der Mitte: die Zwei. Ich drehte den Karton um. Auf der Rückseite stand in perfekter Druckschrift, in Tinte, die nicht verlief: „Wir sind noch nicht oben.“

„Was ist das?“, fragte Roy. Er stand hinter mir, ehe ich ihn bemerkt hatte.

„Ein Gruß“, sagte ich. „Vom Architekten.“ Ich setzte mich und spürte, wie der alte Reflex in mir klickte. All die Fälle, all die Nächte, all die Tropfen. Es gibt Momente, da weiß man: Das wird nicht mit einer Pressekonferenz enden. Das wird mit einem Satz enden, den man sich selbst sagt, wenn man nach Hause kommt und den Lichtschalter drückt. Heute sagte ich mir: Wir haben gerade erst die Treppe betreten.

Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Eins, zwei. Eins, zwei. Schon das Geräusch klang wie Wasser. Plitsch. Plitsch.

„Also?“, fragte Roy.

„Also“, sagte ich, „fangen wir an.“ Und während ich das sagte, fiel mir ein, dass ich die Frage nach dem Bolzenschussgerät nicht aus dem Kopf bekommen würde, bis ich herausgefunden hatte, wer an so etwas kommt, ohne Fragen zu beantworten. Ich griff zum Telefon und wählte Dr. Bernd Claus. Er hob nach dem zweiten Klingeln ab. „Bernd?“, sagte ich. „Ich brauche einen Gefallen. Und ein paar alte Kontakte zu Schlachtereien.“

Er seufzte. „So fangen die besten Tage an“, sagte er. „Was haben Sie da wieder?“

„Jemand, der eine Stadt tot liebt“, sagte ich. „Und der zählt.“ Ich legte auf. In meinem Kopf faltete jemand sorgfältig ein Papier. Dieses Mal ohne Fehler. Dieses Mal ganz langsam. Und ich wusste, dass die Eins und die Zwei nicht genügen würden, um ihn zu beruhigen. Manche Leute zählen bis zu einem Punkt, den sie allein kennen. Unsere Aufgabe war es, ihn vorher zu finden.

Ich stand auf, nahm den Umschlag mit, steckte den Karton in eine Klarsichthülle. Bock sah zu mir herüber, als ich an seinem Zimmer vorbeiging. Ich hob die Hand. Es war kein Gruß. Es war die Bewegung von jemandem, der einem anderen sagen will: Ich habe es verstanden. Und: Es wird schlimm.

Vor der Tür des Präsidiums war die Luft anders. Sie roch nach Brötchen und nach Regen, der nicht fallen würde. Ich ging die Stufen hinab, Roy neben mir, und dachte an den Kranich. Ich bin kein abergläubischer Mensch. Ich glaube an Spuren, an Menschen, an Fehler. Aber ich glaube auch an die Schönheit von Dingen, die nicht sein müssten und doch sind. Vielleicht ist es das, was uns rettet. Oder das, was uns tötet. Ich konnte es nicht sagen. Ich konnte nur gehen.

Der Morgen lag vor uns, flach wie die Modellstadt, und irgendwo unter der Glasplatte verrutschte eine Häuserkante um einen Millimeter. Das sieht niemand. Es sei denn, er hat es selbst getan.

„Urbanum“, sagte Roy unvermittelt, als wir ins Auto stiegen.

„Was?“

„Der Name. Urbanum. Das klingt wie ein Medikament.“

„Ist es vielleicht auch“, sagte ich. „Für Leute, die glauben, dass man die Stadt sortieren kann, wie man Bücher sortiert. Nach Farbe.“

„Und?“

„Die Wirkungsweise ist umstritten. Aber die Nebenwirkungen sind umfangreich.“ Ich schob den Sicherheitsgurt ein, und der Einrastton klang, als hätte jemand eine Eins eingeprägt. Ich lächelte. Nicht, weil es lustig war. Weil ich lebte. Manche Nächte sind so. Man erinnert sich an das Selbstverständliche.

Und dann fuhren wir los.

KAPITEL 2

Ich holte mir den zweiten Kaffee, bevor ich Fred anrief. Er ging gleich ran, was entweder bedeutete, dass er ohnehin im Büro war, oder dass er seine Nächte genauso verbrachte wie wir: in einer Zwischenzone aus Müdigkeit und Adrenalin.

„Bonefelds Account?“, fragte ich, ohne Grüße. Grußformeln sparen Zeit, wenn man sowieso weiß, mit wem man redet.

„Ich bin drin“, sagte Fred. „Er war zu ordentlich. Keine privaten Mails vom Dienstaccount, keine obskuren Newsletter. Kalender ist sauber geführt. Interessant ist das, was fehlt.“

„Was fehlt?“

„Zwischen 20:30 und 22:00 gestern Abend hat er einen Blocker gesetzt: ‚intern’. Kein Ort, keine Personen. Das tut er sonst nie. Und um 22:07 wurden drei Mails gelöscht, ohne Papierkorb.“

„Ohne Papierkorb?“

„Wenn man es richtig macht, kann man den Papierkorb umgehen“, sagte Fred trocken. „Ich hab’ das Backup angefordert. Dauert. Außerdem: Er hat am Nachmittag eine Datei bearbeitet ‚Städtebaulicher Vertrag – Abschnitt C – Entwurf v7’.“

„Kranichpapier“, sagte ich.

„Was?“

„Nichts. Hat er die Datei verschickt?“

„Nicht vom Dienstaccount. USB? Cloud? Ich suche.“

„Tu das“, sagte ich. „Und gib mir die Telefonnummern seiner letzten Kontakte.“

„Kommt.“ Er legte auf, ohne zu versprechen, sich zu beeilen. Fred musste nie versprechen, sich zu beeilen. Er machte es.

Ich wählte sofort eine andere Nummer. „Isabella?“ Ich hörte, wie sie die Luft durch die Zähne zog. Ein Geräusch wie ein Faden, der straffgezogen wird. Es war zu früh für Privatkram.

„Uwe“, sagte sie. Keine Frage, kein Vorwurf. „Du rufst mich selten ohne Grund an.“

„Ich brauche dein Auge“, sagte ich. „Papier, Prägung, Tinte.“

„Wo?“

„Bei uns. Ich bin in zehn Minuten da.“

„Ich auch“, sagte sie und legte auf.

Roy telefonierte parallel nebenan. Der Rahmenvertrag für Technik lief über eine Firma, die in einem Gewerbehof in Wilhelmsburg residierte. „Ich fahr da hin“, meinte er, den Schlüssel des Porsche schon in der Hand.

„Ich komme nach“, sagte ich. „Ich will zuerst mit Isabella auf das Papier schauen.“

„Bock will dich nachher bei der Senatorin“, warf Roy über die Schulter. „Elf Uhr.“

„Ich trage meinen besten Blick“, sagte ich. „Gib mir laufend, was du hast.“

Er nickte und war weg.

Im Labor stand Isabella schon am Tisch, als ich die Tür öffnete. Ihr Haar war nach hinten gebunden, eine lose Strähne hatte sich gelöst und lag quer. Sie ließ sie liegen. Ich legte die Klarsichthüllen mit dem Kran und der Zwei auf den Tisch, und sie zog Handschuhe an, als wären es Opernhandschuhe, die zu einer Szene gehörten, die man nicht unterbrechen darf.

„Kranich zuerst“, sagte sie. Sie roch daran. Nicht kitschig, sondern sachlich. „Kein Parfüm. Toner. Laserdruck. 120-Gramm-Papier, matt, hochweiß. Kein Billigkram, aber Supermarkt bekommt man das nicht. Tinte am Rand: Kugelschreiber, Öl-basiert, dünn. Die ‚2’ ist nicht gekritzelt, sie ist sorgfältig gezogen. Keine zitternde Hand.“

„Schnitt an der rechten Hand?“, fragte ich.

Isabella legte den Kopf schief, als hätte ich ihr eine Melodie vorgesummt. „Die Ohrkanten sind nicht sauber. Der Faltende hatte entweder Eile, oder er wollte, dass es eilig wirkt. Seht her, ich hatte keine Zeit – das ist eine Aussage.“

„Und die Prägung?“

Sie nahm die geprägte Karte und hielt sie schräg unter das Licht. „Blindprägung. Handpresse, nicht industriell. Sehr sauber. Das Motiv…“ Sie lächelte kurz. „…das ist die Niederbaumbrücke. Nicht ganz naturgetreu. Stark stilisiert. Drei Wellen darunter.“

„Welle oder Flamme?“, fragte ich.

„Welle“, sagte sie sicher. „Und zwar nicht irgendeine. Das ist exakt die Kurve, die das Marketing der Stadt seit zwei Jahren auf den Flyern hat, wenn es um ‚HafenCity – Wasser erleben’ geht. Die haben die Vektoren wahrscheinlich herumgereicht. Jeder kleine Druckladen in der Stadt könnte das als Vorlage verwenden.“

„Kennt man die Handpressen?“

„Die, die so sauber prägen, sind nicht viele. Es gibt eine Werkstatt in der Neustadt, ‚Schöner Druck’. Eine in Altona, ‚Bleisatz & Brüder’. Und die Hochschule hat im Letterpress-Labor ein paar verrückte Maschinen, aber da kommt man nachts nicht rein. Es sei denn, man hat den Schlüssel.“

„Gibst du mir die Adressen?“, fragte ich. Sie nickte. Ich schrieb sie auf.

„Noch etwas“, sagte sie und hob die Karte mit der Zwei. „Die Rückseite ist nicht einfach so beschrieben. Das ist die Schrift eines Menschen, der gelernt hat, Druckbuchstaben zu schreiben. Architekten machen das oft. Die ‚Wir sind noch nicht oben’ hat eine leichte Linksschräge, die Punkte über dem i sind akkurat gesetzt, nicht gekleckst. Das ist jemand, der seinen Stift beherrscht.“

„Der Architekt“, sagte ich. Ich hörte mich selbst und wusste, wie pathetisch es klang. Mir war es egal.

„Sei vorsichtig mit Namen“, sagte Isabella. „Manchmal hören Leute zu.“

„Das tun sie immer“, sagte ich. „Danke.“

Sie legte den Kran in den Beutel zurück, so als würde sie jemanden zudecken. „Uwe?“

„Ja?“

„Was auch immer das ist, es ist kein Spiel. Du weißt das, oder?“

„Ja“, sagte ich. „Aber der, der zählt, will, dass wir spielen. Also spielen wir. Besser als er.“

Sie zog die Strähne aus der Stirn und steckte sie hinter das Ohr. „Pass auf dich auf“, sagte sie, und damit war die Sache für den Moment erledigt.

Auf dem Weg nach Wilhelmsburg rief Fred an. „Die gelöschten Mails sind wieder da“, sagte er. „Drei Empfänger. Ein Anwalt, den der Senat öfter bucht, eine interne Adresse ‚[email protected]’ und eine private Gmail-Adresse mit dem Namen ‚kuestenkran’. In den Mails geht es um die Freigabe des Abschnitts C. Es geht um eine zusätzliche Zufahrt für die Baustelle, die man kurzfristig reinverhandeln wollte. Und …“ Er räusperte sich. „…und um eine Veranstaltung, die nicht im offiziellen Kalender steht. ‚Runder Tisch – Nachtgespräch’. Teilnehmer: Bonefeld, die Kuratorin, zwei Investorenvertreter. Ort: Forum Urbanum. Zeit: 21:00 gestern.“

„Hat Mahler geantwortet?“

„‚K. Mahler’ hat eine Empfangsbestätigung geschickt und drei Zeilen: ‚Bin da. Baue auf. Klingel nicht. Seiteneingang.’“

„War die Adresse echt?“

„Die Domain ‚forum-technik.de’ wurde vor vier Tagen registriert. Anonym.“

„Gut“, sagte ich. „Sehr gut.“

„Noch was“, sagte Fred. „Der Anwalt hat Bonefeld eine PDF geschickt. Mit einem Wasserzeichen. ‚Vertraulich – nur für Bonefeld’. Ich habe es kopiert. Ich schicke es dir.“

„Schick es Bock gleich mit“, sagte ich. „Er wird es dem Staatsanwalt geben.“ Ich legte auf, als ich auf den Hof der Technikfirma bog. Ein weißer Kastenwagen mit offenem Tor. Roy stand in der Halle, die Hände in die Hüften gestemmt, vor einem Mann mit neonoranger Weste, der aussah, als hätte er ein Leben lang Kabel getragen.

„Kein Mahler hier“, sagte Roy, bevor ich die Frage stellte. „Nie gehört, sagt er. Kein ‚K.’, kein ‚Karl’, kein ‚Kevin’. Gestern war ein Freelancer gebucht, aber der heißt Behrens und war in einem Theater am Gänsemarkt, sagt er. Seine Leute waren nicht im Forum.“

Der Mann mit der Weste nickte zustimmend. „Wir arbeiten mit Badge-System. Wenn meine Leute zu einem Ort gehen, checken sie sich in der App ein. Gestern keine Check-in im Forum. Ich kann nachschauen, ob jemand unsere Westen geklaut hat.“

„Jemand hat eure Mailadresse geklaut“, sagte ich.

„Mailadresse kann jeder klauen“, sagte er. „Meine Westen nicht so leicht. Da steht mein Name drauf.“

„Haben Sie Bolzenschussgeräte?“ fragte ich so beiläufig wie möglich. Er blinzelte. „Wofür?“

„Für Bühnen. Manchmal wollen Regisseure eine echte. Mit Attrappe.“

„Wir haben keine. Und wenn, würde ich sie nicht rausgeben. So ein Ding ist gefährlich.“

„Ja“, sagte ich. „Ist es.“

Mein Handy vibrierte. Dr. Claus. „Ich habe mit drei Schlachtereien gesprochen“, sagte er, ohne Begrüßung. „Zwei lachen. Einer nicht. Es gab vorgestern einen Einbruch in ein Nebengebäude einer mobilen Wildverarbeitung im Alten Land. Ein Bolzenschussgerät vom Typ ‚CASH Special’ fehlt. Spezialversion, für Rinder und Wild. Die Dinger sind robust, leicht, funktionieren mit Zentralfeuerpatronen. Man kann sie im Rucksack tragen.“

„Adresse?“

„Schick ich dir. Die Kollegen vor Ort sind informiert. Es wurde Anzeige erstattet, aber ohne Eile. Man denkt an Jugendliche.“

„Jugendliche, die Prägungen lieben“, sagte ich.

„Bitte?“

„Nichts, Bernd. Danke.“

Ich steckte das Telefon weg und sah Roy an. „Bolzenschussgerät aus dem Alten Land verschwunden. Vorgestern. Wir fahren nachher hin.“

„Erst die Senatorin“, sagte Roy, als wäre er mein Kalender. „Willst du, dass ich mir Bonefelds Privatwohnung vornehme?“

„Mach das“, sagte ich. „Und nimm Fred jemanden mit. Wenn Bonefeld privat war, hat er vielleicht privat gespeichert.“

„Verstanden.“

Wir teilten uns und ich fuhr zurück in die Innenstadt, zu einer Fassade aus Sandstein, die so tat, als sei sie schon immer da gewesen, obwohl jeder wusste, dass sie nach dem Krieg schnell und sauber wieder hingestellt worden war. Vorzimmer. Namen. Stille. Die Senatorin empfing mich, als wäre sie nie schlafen gegangen. Ihre Miene war so professionell wie ihre Frisur. Hinter ihr stand ein Mann, der aussah wie ein Assistent und redete wie ein Anwalt.

„Herr Jörgensen“, sagte sie. „Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell…“

„Es ist mein Job“, sagte ich. „Unser Job.“

„Dr. Bonefeld war ein geschätzter Kollege“, sagte sie. „Wir… ich… möchte, dass Sie wissen, dass die Behörde alles tun wird, um…“

„…uns nicht im Weg zu stehen“, beendete ich den Satz. „Das wäre schön.“

Sie blinzelte. Einmal, zu viel. „Ich weiß, wie Sie über Politik denken, Herr Jörgensen.“

„Sie wissen das?“, fragte ich. Sie lächelte. „Sie sind nicht sehr gut darin, es zu verstecken. Ich werde Ihnen nicht sagen, dass dies eine Tragödie ist und keine Intrige. Ich werde Ihnen sagen, dass Sie alles bekommen, was Sie brauchen. Kalender, E-Mails, die Protokolle der gestrigen Veranstaltung. Und ich werde Ihnen sagen, dass die Presse in einer Stunde eine Erklärung bekommt. Ohne Namen.“

„Gut“, sagte ich. „Ich brauche außerdem die Namen der Investoren, die gestern da waren. Und ich möchte, dass Sie mir sagen, ob jemand wollte, dass Abschnitt C durchrutscht.“

Sie sah kurz zu dem Mann hinter ihr. Er presste die Lippen zusammen. „Abschnitt C ist… war… heikel“, sagte sie. „Eile war geboten. Aber wir rutschen nichts durch.“

„Manchmal rutscht etwas auch von allein“, sagte ich. „Ich melde mich, wenn ich jemanden habe, mit dem Sie reden sollten.“

Als ich draußen war, fühlte ich die Müdigkeit wie eine Hand auf meinem Nacken. Ich ließ sie da. Es ist nicht schlecht, ab und zu zu spüren, wo der Kopf sitzt.

Im Treppenhaus vibrierte wieder das Telefon. Leitstelle. Ihre Stimme hat immer etwas von kaltem Wasser, selbst wenn sie warme Dinge sagt. „Herr Jörgensen? Es gibt eine Meldung von der Überseeallee. Baustelle Überseequartier. Ein Arbeiter hat… Sie sollten besser selbst kommen.“

„Was ist passiert?“

„Jemand hängt an einem Kran.“

„Lebt er?“

„Nein.“

Ich lief den Rest der Stufen hinunter. Draußen beschleunigte ich, als hätte ich ein Recht dazu. Roy war noch in Eppendorf bei Bonefelds Wohnung. „Überseeallee“, sagte ich. „Jetzt.“ Er brauchte nicht zu fragen. Er sagte nur: „Ich bin unterwegs“, und legte auf.

Die Baustelle war abgesperrt, aber nichts ist je so gut abgesperrt, dass nicht doch jemand darunter steht, der filmt. Blaue Lichter, orange Helme, ein Kran, der in den Himmel schrieb. Auf halber Höhe, knapp unter dem Drehkranz, hing ein Körper im Klettergurt. Zwischen Arm und Oberkörper baumelte etwas Weißes.

Ich atmete ein, als ich nah genug war, das Weiße zu erkennen. Es war kein Tuch. Es war Papier. Viele Papiere, zusammengeschnürt. Kraniche. Dutzende. Sie schlugen nicht mit den Flügeln, sie hingen. Ich sah nach oben, blinzelte gegen das Licht. Ein Feuerwehrmann hatte sich schon auf den Weg gemacht. Ich zeigte meine Marke, und er nickte. „Wir holen ihn runter.“

„Lasst die Papiere so, wie sie sind“, sagte ich. „Bitte.“

„Er ist tot“, sagte der Feuerwehrmann, ohne Pathos. „Kein Zweifel.“

„Ich habe selten Zweifel, wenn jemand so hängt“, sagte ich. „Trotzdem danke.“

Auf dem Beton standen zwei Männer in Arbeitskleidung, einer zitterte. Der andere redete, um das Zittern zu überreden, aufzuhören. „Ich hab’ um sechs die Kranhaken kontrolliert“, sagte der Redende, als ich mich näherte. „War nichts. Um halb sieben kommt der Polier, da…“ Er brach ab. Ich wartete. „Da hing er da.“

„Name?“

„Giorgi Mchedlishvili“, sagte er. „Georgier. Guter Mann. Kletterte immer. Sagte, er hat keine Angst.“ Er schluckte. „Er… das da…“ Er deutete nach oben. „Das hat er nicht selbst gemacht.“

„Wer war nachts auf der Baustelle?“ fragte ich. Der Redende sah zum Zittrigen. Der hob die Schultern. „Ist keiner hier nachts. Nur die Security. Und der Hund.“

„Der Hund bellt, wenn jemand kommt?“

„Der Hund bellt immer“, sagte der Redende. „Außer wenn er frisst.“

Die Feuerwehr brachte den Körper runter. Er war jung. Jünger als Bonefeld. Er hatte den Blick eines, der dabei war, eine Leiter hochzusteigen und darüber vergessen hatte, dass man auch wieder runter muss. An seinem Klettergurt war ein weiterer Karton festgebunden. Geprägt. Brücke. Drei Wellen. In der Mitte: die Drei.

Ich sah zu Bock hinüber, der neben mir aufgetaucht war, als wäre er schon immer da gewesen. Er nahm keinen Kaffee, er nahm den Karton. Er sah ihn an, so lange, bis klar war, dass er nichts anderes sehen wollte.

„Er zählt“, sagte Bock.

„Ja“, sagte ich. „Und er hat es eilig.“

„Oder er hat einen Plan, der versucht, uns den Takt vorzugeben“, sagte er. „Lassen Sie ihn nicht dirigieren.“

Ich nickte. Es war guter Rat. Er war schwer zu befolgen.

Roy kam durch das Band, atmete zu schnell. „Bonefelds Privatwohnung“, sagte er zwischen zwei Atemzügen. „Sauber. Zu sauber. Es gibt eine Holzkiste, die aussieht wie vom Antiquitätenmarkt. Innen: Origami-Papier. Japanisch. Kein Kran.“

„Und?“

„Und auf dem Küchentisch lag ein Spickzettel. ‚Wie falte ich einen Kran’. Auf Japanisch. Daneben: ein Blutstropfen. Frisch genug, dass er nicht von Bonefeld sein kann.“ Er hielt inne, sah nach oben zum Kran. „Uwe?“

„Ja?“

„Wir sollten den Schatten finden, bevor er die Vier sucht.“ Er hatte Recht. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen ich das laut sagte. „Ja“, sagte ich. „Sollten wir.“

Ich kniete mich hin, denn ich tue das gern, wenn alles zu groß wird. Am Beton haftete feiner Staub. Darin Spuren von Schuhen, von Rädern, von einem Hund. Und zwei tiefe, parallele Furchen, die vom Kran zum Zaun führten, als hätte jemand etwas Schweres über den Boden gezogen. Bolzenschussgeräte machen keine Furchen. Kisten machen Furchen. Kranichkisten.

Ich sah mir die Knoten an, mit denen die Papiere am Gurt befestigt waren. Sie waren keine improvisierten. Es waren Seemannsknoten. Sauber, ohne Schnickschnack. Ich nahm den Karton mit der Drei aus Bocks Hand, wog ihn. Er wog nichts. Und doch wog er alles.

„Wir brauchen“, sagte ich leise, „jemanden, der Brücken prägt, Knoten kann, Origami faltet, drucken lässt, Klettergurte benutzt, Sicherheitspläne lesen kann und nachts weiß, wo die Kameras blind sind.“

„Also jeden zweiten in dieser Stadt“, sagte Roy.

„Oder genau einen“, sagte ich. „Find ihn.“

Ich stand auf, wischte mir den Staub von der Hose, blickte noch einmal nach oben in den Himmel, der tat, als sei nichts. Manche Tage sind so. Man kann nur dagegen anarbeiten. Ich ging auf den Polier zu. „Wer hat den Kran heute Morgen zuerst gesehen?“, fragte ich.

Er zeigte auf einen Jungen mit zu großen Händen, der in seinen Helm starrte. „Ich“, sagte er, ohne aufzusehen.

„Hast du etwas gehört?“

Er schüttelte den Kopf. „Nur den Hund. Der hat nicht gebellt.“

„Was hat er gemacht?“

„Gefressen“, sagte der Junge.

Ich nickte. „Danke.“

Auf dem Weg zum Zaun vibrierte mein Telefon. Fred. „Die Gmail-Adresse ‚kuestenkran’ führt über einen alten Blog. Immer noch online. Vier Leser. Ein Autor: ‚K. Mahler’. Er schreibt über Krane. Kletterei. ‚Die Stadt von oben’. Fotos. Aber die Exif-Daten…“ Er lachte kurz, ohne Humor. „…er war gut. Alles rausgenommen. Ein Hinweis: Er hat vor einem Jahr einen Kommentar bekommen von ‚Mira.D’.“

„Die Kuratorin?“, fragte ich.

„Möglich. Oder jemand, der ihren Namen mag.“

Ich sah die Baustelle. Ich sah die Papiere. Ich sah mir Bocks Gesicht an. Ich sah mir meine Hände an.

„Wir sind noch nicht oben“, hatte die Karte gesagt. Ich glaubte es ihm. Noch nicht. Aber wir waren unterwegs. Und wenn ich eines gelernt hatte in diesem Beruf, dann, dass es manchmal hilft, die Stufen zu zählen, laut, damit die Schritte den Takt nicht verlieren.

Eins, zwei, drei.

„Vier“, sagte ich. „Bevor er es tut.“ Ich steckte den Karton in die Hülle und wusste, dass ich Isabella wieder sehen würde. Und den Mann vom Schlachthof. Und Mira Delling. Und irgendjemanden, der so gut klettern konnte, dass er die Stadt nicht mehr brauchte, wenn er einmal oben war. Manchmal sind Mörder die konsequentesten Romantiker. Und manchmal sind Romantiker die effizientesten Mörder.

Ich hoffte, dass dieser Fall nicht beide Sätze wahr machte. Ich hoffte es sehr. Aber hoffen ist kein Werkzeug. Arbeiten ist eines. Also arbeitete ich.

KAPITEL 3

Die Furchen im Staub ließen mich nicht los, als ich den Zaun zur Straße hin passierte. Seemannsknoten, ein Hund, der frisst, statt zu bellen, ein Karton mit der Drei. Manchmal ist ein Bild so sauber, dass man ihm misstrauen muss. Aber manchmal ist es schlicht sauber, weil einer saubere Arbeit macht. Und ich hatte das Gefühl, dass dieser jemand es gewohnt war, dass man seine Arbeit nicht sieht. Industriekletterer. Brückenwartung. Kranmontage. Leute, die sichtbar werden, wenn alle schlafen.

Ich rief Mira Delling auf dem Weg zum Wagen an. Sie ging sofort ran, als hätte sie darauf gewartet.

„Ihr Kommentar auf ‚Küstenkran’“, sagte ich, ohne Gruß. „Vor einem Jahr.“

Stille.

„Sie waren da als ‚Mira.D’ unterwegs. Was haben Sie kommentiert?“

„Das war… eine Ausstellungsidee“, sagte sie schließlich. „‚Stadt von oben’. Eine Reihe mit Fotografien von Kletterern, die auf Kränen standen, auf Brückenbogen. Ich habe Leute gesucht, die das können – mit Bewilligungen, versteht sich. Ich bin über den Blog gestolpert. Wir haben geschrieben. Dann habe ich mit der Versicherung gesprochen.“

„Die Versicherung sagte nein.“

„Die Versicherung schrie nein“, korrigierte sie. „Ich habe abgesagt. Er hat nicht geschrien. Er hat nur ‚Schade’ zurückgeschrieben. Keine Drohung, nichts.“

„Aber Sie haben seinen Ton gehört“, sagte ich. „Wie klang er?“

„Wie jemand, der sich etwas nimmt, wenn man es ihm nicht gibt“, sagte sie leise. „Und bevor Sie fragen: Ich habe ihn nie getroffen.“

„Und Bonefeld?“

„Er wusste von der Idee. Er fand sie ‚interessant’ und sagte mir, ich solle es auf später verschieben. Er war gut darin, Dinge aufzuschieben. Er sah nicht so gerne nach oben.“

„Jemand anderes aus dem Kreis? Ein Investor, ein Brückenmensch?“

„Ich schicke Ihnen die Liste der Gäste von gestern. Und die Namen aus dem Runden Tisch. Aber wenn Sie mich fragen —“ Sie unterbrach sich. „— würden Sie nicht hören, was ich denke.“

„Ich höre alles. Manches später.“

„Er ist kein Killer aus Rache“, sagte sie dann. „Er ist jemand, der uns zeigt, wie man Dinge macht.“

„Das ist fast dasselbe“, sagte ich und legte auf.

Ich traf Roy auf der Max-Brauer-Allee, vor „Bleisatz & Brüder“. Altes Backsteinhaus, das nach frischem Kaffee roch, weil unten ein Café war, und nach Druckfarbe, weil oben ein paar Menschen nicht loslassen wollten, was die Welt als überholt erklärt hatte. Eine Glocke klingelte. Der Mann hinter der Presse war fünfzig, hatte Hände, die anders alt waren als sein Gesicht, und sah mich an, als wüsste er, dass ich seine Zeit stehlen würde.

„Die Prägung“, sagte ich und legte die Karte auf den Tisch. Er nahm sie, hielt sie wie Isabella, schräg ins Licht, nickte einmal und sagte: „Messingklischee. Niederbaumbrücke. Den Auftrag habe ich vor drei Tagen gemacht. Fünfzig Stück, blind, 600-Gramm-Karton, Baumwolle. Bezahlt bar. Zwei Sätze Ziffern prägen wir nicht mit, der Kunde hatte Stempel.“

„Der Kunde? Name?“

„Mahler“, sagte er. „K. Mahler. Er brachte das Klischee mit. ‚Ich brauche das für eine Präsentation’, hat er gesagt. Er war freundlich. Er roch nach…“ Er hielt inne. „…Sägemehl? Nein. Metall. Diese Mischung aus Seil und Stahl.“

„War er allein?“

„Ja.“

„Kommen Ihnen Seemannsknoten bekannt vor?“

„Ich binde seit zwanzig Jahren Papierballen“, sagte er. „Wenn ich Knoten sehe, denke ich an Bänder. Wenn ich die Knoten an seinem Rucksack gesehen hätte, hätte ich vielleicht an Seeleute gedacht. Habe ich aber nicht.“

„Wie sah er aus?“

„Mitte dreißig, schlank, sehr ruhig. Hände ohne Risse, dabei doch Arbeitshände. Keine Tattoos. Wenn ich raten müsste: linkshändig.“ Er sah mich an. „Er hat die Karte so gehalten, wie Linkshänder Dinge halten, wenn sie die rechte Hand frei haben wollen.“

„Kamera?“, fragte ich.

„Nein“, sagte er. „Ich fotografiere nur Papier.“

„Die Datei für die Brücke – hat er Ihnen die geschickt?“

„Auf einem Stick. Hat er wieder mitgenommen. Ich habe mir eine Kopie gemacht, weil ich…“ Er sah auf die Hände. „…weil ich ein ordentlicher Mensch bin. Will die jemand?“

„Ja“, sagte ich. „Das wollen wir.“

Er gab mir einen Umschlag. Ich gab ihm meine Karte. „Wenn er wiederkommt, rufen Sie mich an, bevor Sie die Presse anwerfen“, sagte ich. Er nickte. Manchmal ist Vertrauen ein Handschlag. Im Drucksaal war es ein Nicken.

„‚Schöner Druck’ kennt ihn auch“, sagte Roy, als wir wieder auf der Straße standen. „Die haben ihm die Ziffernstempel verkauft. 1–5, lateinisch, serifenlos, 24 Punkt. Wenn er methodisch ist, haben wir noch zwei Karten. Vier und fünf. Vielleicht gibt es eine Null. Vielleicht gibt es einen Abschluss.“

„Wir sind noch nicht oben“, murmelte ich. „Was ist oben?“

„Elphi“, sagte Roy.

„Zu bewacht. Zu viel Kamera. Zu viele Menschen mit Handys.“

„Köhlbrandbrücke“, sagte er. „Nachts ist sie wie ein Wal im Nebel. Niemand sieht, wohin er schwimmt.“

„Oder die Niederbaumbrücke selbst“, sagte ich. „Er prägt, was er liebt. Und dann benutzt er es, um zu töten.“

Ich rief die HPA an. Die Hafenbehörde. „Wir brauchen die Namen der Industriekletterer mit Zugang zu Köhlbrand, Niederbaum und den Kränen im Überseequartier“, sagte ich. „Und wir brauchen sie jetzt.“

„Datenschutz“, sagte der Mann am anderen Ende. Ich hörte die Floskel und sah zugleich den Körper am Kran vor mir.

„Stellen Sie die Namen zusammen“, sagte ich ruhig. „Kriminaldirektor Bock ruft Sie gleich an und erklärt Ihnen, warum jetzt ein schlechter Moment ist, um sich auf Datenschutz zu berufen.“

Eine Minute später klingelte mein Telefon. Bock. „Die Liste kommt“, sagte er. „Und noch was: Der Hund an der Baustelle frisst Nassfutter von einer Marke, die man nur in einem Laden in der Koreastraße bekommt. Die Security hat’s mir gesagt. Der Ladenbesitzer erinnert sich an einen Kunden, der gestern Abend drei Dosen gekauft hat. ‚Für einen Diensthund’, hat er gesagt. Der Kunde trug einen Klettergurt über der Jacke. Weil er ihn vergessen hat abzunehmen. Oder weil er wollte, dass jemand ihn sieht. Er fuhr einen dunklen Kombi, altes Modell. Kennzeichen haben wir nicht.“

„Mahler will gesehen werden“, sagte ich. „Aber nur, wo er möchte.“

„Das tun Sie auch, Herr Jörgensen“, sagte Bock. „Der Unterschied ist: Sie haben mehr Leute, die Sie halten, wenn Sie fallen.“

Ich schwieg. Ich mochte es nicht, wenn er recht hatte.

Die Liste der HPA kam per Mail. Zwei Dutzend Namen. Firmen, Subunternehmer, Freie. Ich fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. „Behrens Klettertechnik GmbH. Jirsa Höhenmontage. K. Mahler – frei.“ Keine Adresse. Keine Telefonnummer. Nur ein Vermerk: „Einsatzweise über ‚Nordlicht Seiltechnik’“.

Ich rief Nordlicht an. Eine Frau mit rauer Stimme nahm ab. „Mahler?“, sagte sie. „War gut. War zuverlässig. War unauffindbar, seit einem halben Jahr. Er hat sein Handy weggeworfen und seine Rechnung kam mit Postfach. Wenn das die Polizei ist: Ich sage Ihnen das nicht, weil ich plaudern will. Ich sage es, weil es mich wütend macht, dass er uns den Ruf ruiniert.“

„Haben Sie ein Bild?“

„Ja“, sagte sie nach einem kurzen Zögern. „Ich hab’ eins, auf dem er mit Helm in der Sonne hockt und so tut, als würde er die Stadt umarmen. Ich schicke es.“

Das Bild kam. Er sah darauf jünger aus als die dreißig, die ich ihm gegeben hatte. Der Helm machte ein anderes Gesicht aus ihm. Man hätte an einen Studenten denken können, der in die Berge fährt, um sich selbst zu suchen. Und vielleicht hatte er sich gefunden. Einfach oben.

„Stell’s in die Systeme“, sagte ich zu Max, der uns inzwischen in jeden Polizeicomputer des Landes einblenden konnte, wenn er wollte. „Nicht öffentlich. Nur intern. Verdächtiger im Zusammenhang mit zwei Morden und einem Tötungsdelikt auf einer Baustelle. Industriekletterer. Kann verschwinden, wo wir glauben, dass es keine Türen gibt.“

„Schon drin“, sagte Max.

„Und setz bitte eine Abfrage auf die Gmail-Adresse“, sagte ich. „Vielleicht hat unser Freund irgendwo aus Versehen etwas gelassen.“

„Er hat nichts aus Versehen“, sagte Max. „Aber ich probiere es.“

Gegen vier war die Luft überm Hafen milchig. Ich fuhr die Niederbaumbrücke an, ohne zu blinken. Blaulicht würde hier nur stören. Ich rief Roy, er sollte die anderen Posten besetzen. Zivil. Keine Uniform. Keine Hunde, die frisst. Isabella schickte mir die Adresse der Letterpress-Werkstatt in der Neustadt mit einem Smiley. Ich antwortete nicht.

Ich stellte den Wagen so ab, dass ich die Bögen der Brücke sehen konnte, die Seile wie gezeichnete Linien. Ich kenne diese Stellen. Ich kenne die Löcher im Zaun. Ich kenne die Leiter, die offen steht, weil jemand heute Morgen vergessen hat, sie an den Haken zu hängen. Ich kenne die Plattform unter dem Gehweg, die nur dafür da ist, dass jemand dort arbeiten kann, wenn es sein muss. Ich kenne die dunklen Stellen, die nie ganz trocken werden. Ich kenne sie, weil ich einmal dort oben stand, als Teenager, dichter am Wasser als am Himmel, und überlegte, ob ich etwas beweisen muss, und es nicht tat. Ich weiß, wie laut die Stadt ist, wenn man über ihr steht.

„Uwe?“ Roys Stimme im Ohr. „Ich bin an der Ostseite. Jürgen und Olli sind beim Zollkanal. Carlos steht an den Magellan-Terrassen. Keine Uniformen. Keine Helme. Nur Augen.“

„Gut“, sagte ich. „Und ruhig.“

Auf der Brücke lag ein Geruch wie kalte Münzen. Ich ging langsam. Keine Schritte zählen. Hören. Der Fluss kann Stimmen verraten, wenn man seine eigene ruhig hält.

Ich sah ihn nicht. Ich sah seine Arbeit. Der Zaun war an einer Stelle sauber aufgeschnitten und wieder zusammengeklemmt. Ein Klettergurt hing, akkurat geworfen, an einer Querstange. Kein Mensch wirft so, der nicht tausendmal geworfen hat. Auf der Plattform lag – ein Karton. Er lag, als hätte jemand ihn gestern vergessen. Ich ging in die Hocke. Brücke. Wellen. In der Mitte: die Vier.

„Er war hier“, sagte ich leise. „Und er ist entweder weg. Oder er wartet, dass wir hingucken.“

„Wenn er wartet, wartet er wo?“, fragte Roy.

„Oben“, sagte ich und hob den Kopf. Ich sah nichts. Ich sah alles. Einen Schatten, der keiner sein konnte, weil die Sonne nicht so stand. Einen Reflex, den es nicht geben durfte, weil kein Glas da war. Eine Bewegung, die so klein war, dass ich sie erfunden haben könnte. Ich hob die Hand.

„Nicht bewegen“, sagte eine Stimme über mir. Sie war ruhig. Sie war nah. Sie war überall, wo Stahl ist. „Das wäre schade.“

Ich fragte mich, ob er die Waffe hatte. Ein Bolzenschussgerät funktioniert nicht auf Distanz. Eine Pistole tut es. Ein Messer tut es, wenn man schnell ist. Aber er sagte nicht „Wir spielen“, er sagte „Schade“. Kein Mann, der droht. Ein Mann, der disponiert.

„Sie sind pünktlich“, sagte ich. „Mahler.“

„Das bin ich nicht“, sagte er. „Aber Sie können mich so nennen, bis Sie einen besseren Namen haben.“

„Warum die Eins?“, fragte ich. „Warum die Zwei? Warum zählen Sie, wie Kinder?“

„Damit Sie wissen, wann Sie zu spät sind“, sagte er.

„Und damit Sie wissen, wann Sie zu weit gegangen sind“, sagte ich.

Er lachte leise. „Ich bin immer zu weit gegangen. Sonst sieht man es nicht.“

Ich musste ihn sehen. Ich veränderte den Winkel meines Kopfes um einen halben Grad. Es reichte. Er hockte zwei Querträger weiter, die Beine angewinkelt wie ein Vogel. Der Helm war grau, keine Aufschrift. Die Brille spiegelte. Er hielt keine Waffe. Er hielt nichts. Das war gefährlicher, als wenn er etwas gehalten hätte.

„Warum Bonefeld?“, fragte ich.

„Weil er redete“, sagte er. „Und weil Worte Beton sind, wenn man sie in den falschen Hals bekommt.“

„Warum Giorgi?“

„Weil er keine Angst hatte“, sagte Mahler. „Und weil Menschen glauben, dass Mut etwas ist, das sie schützt. Ich wollte Ihnen zeigen, dass Mut ein Werkzeug ist. Kein Schutz.“

„Warum ich?“, fragte ich, ohne zu wissen, warum ich das fragte.

„Weil Sie nach oben sehen“, sagte er. „Ich habe Ihr Gesicht gesehen, als Sie den Kranich betrachteten. Sie haben verstanden, dass er falsch war. Viele sehen so etwas nicht. Sie sehen Listen.“ Er machte eine kleine Handbewegung, die sehr geübt war. „Sie sollten jetzt gehen, Herr Jörgensen. Die Vier ist gelegt. Sie werden sie finden. Aber nicht mich.“

„Warum sagen Sie mir das?“

„Weil mir auffällt, wenn jemand höflich ist“, sagte er. „Und weil ich nicht will, dass Sie heute sterben.“ Er sprang. Nicht in den Fluss. In den Schatten. Er verschwand, ohne zu verschwinden. Ich lief nicht. Ich rief auch nicht. Ich atmete und sah in den Raum, in dem er gerade noch gewesen war. Stahl ist nicht nur hart. Er ist elastisch. Er schwingt. Wenige Millimeter. Die man nur sieht, wenn man weiß, wohin man blickt.

„Uwe?“, flüsterte Roy in meinem Ohr. „Ich habe nichts.“

„Ich schon“, sagte ich. „Er ist hier gewesen. Er ist weg. Und er hat die Vier dagelassen.“

Ich stand wieder, nahm die Karte, packte sie ein. „Stell Posten an die Köhlbrand“, sagte ich. „Und an die Elphi. Und an fünf weitere Orte, die er wählen würde, wenn er ästhetisch ist.“

„Er ist ästhetisch“, sagte Roy.

„Ja“, sagte ich. „Und effizient.“

Ich fuhr zurück. Ich rief Bock. Ich rief Fred. Ich rief Mira. Ich rief Isabella nicht. Es hatte keinen Sinn, ihr zu sagen, dass jemand ein Spiel mit uns spielte, das er selbst entworfen hatte. Sie wusste es. Ich wusste es. Ich hatte den Eindruck, als hätte ich nebenbei etwas anderes begriffen. Ein überflüssiges, gefährliches Gefühl. Ich ignorierte es.

Im Büro lag die Datei aus dem Druckladen auf dem Tisch. Ich steckte sie in Freds Laptop. Die Vektorgrafik der Niederbaumbrücke öffnete sich. Sauber, reduktionistisch, fast elegant. Fred zoomte hinein. „Warte“, sagte er. „Da.“

In einer Ecke der Grafik, so klein, dass man es auf Papier nie gesehen hätte, stand eine Signatur in Pfaden, nicht als Text. Drei Buchstaben, ineinander verschlungen, wie ein Monogramm aus einer Zeit, in der man noch Monogramme stickte.

K M H.

„Mahler“, sagte Fred.

„Und H?“

„Klettern macht hungrig“, meinte Roy hinter mir. Ich lächelte, ohne es zu wollen. „Hol‘ mir die Liste der Mitarbeiter einer Firma mit diesen Initialen“, sagte ich. „Kletterer mit H. Oder Menschen mit Humor.“

Bock trat herein, in der Hand eine Mappe. Er legte sie hin, sah nicht hin. „Die Senatorin will Ergebnisse“, sagte er. „Ich will Namen.“

„Ich gebe Ihnen einen“, sagte ich. „Kevin Mahler. Oder Karl. Oder keiner von beiden. Aber K. M. H. stehen auf seiner Brücke. Und wenn Leute etwas signieren, wollen sie, dass es jemand liest.“

„Dann lesen Sie schnell“, sagte Bock. „Die Stadt geht heute früher schlafen.“ Er sah mich an. „Und Sie nicht.“

„Ich doch nie“, sagte ich.

Draußen fing es an zu regnen, als hätte jemand die Sprinkler im Himmel aufgedreht. Ich mag Regen. Er macht Geräusche, die ehrlich sind. Er spült nichts weg, aber er zeigt, was bleibt. Auf dem Fensterbrett tropfte es unregelmäßig. Nicht wie am Nachtmodell. Mehr wie eine Warnung.

Ich klappte das Notizbuch auf und schrieb groß eine Vier. Darunter: Brücke. Kran. Dog. Knoten. Darunter: Mahler – Kletterer – Prägung. Darunter: Mira Delling – Blog – abgesagte Ausstellung. Darunter: Bonefeld – Vertrag C – Runder Tisch – Anwalt.

„Wir sind noch nicht oben“, stand auf der Karte. Ich schrieb daneben: „Wir gehen Treppe“. Und ich wusste, dass das, was ich jetzt brauchte, keine Inspiration war. Es war eine Leiter. Eine gute. Ohne wackelige Sprosse.

„Uwe?“, sagte Roy von der Tür her. „Er hat dir was gelassen.“

„Was?“

Roy hielt etwas hoch. Es war ein Stück Papier. Kein Karton. Dünn. Und gefaltet. Es war kein Kranich. Es war eine Leiter. Wer Origami kann, kann Leitern. Ich nahm sie. Auf einer der Sprossen stand, mit feinster Tinte: „Falsche Sprosse.“

Ich lachte. Kurz. Lautlos. Es war komisch. Es war nicht lustig.

„Er will, dass wir fallen“, sagte ich.

„Er will, dass wir aufpassen“, sagte Roy.

„Dann tun wir ihm den Gefallen“, sagte ich, stand auf, nahm den Mantel und den Karton mit der Vier und ging wieder los. Ich hatte noch nie so wenig Lust, wieder loszugehen. Ich ging trotzdem. Ich gehe immer. Das ist mein Job. Und: Ich will wissen, wie es ausgeht. Auch wenn ich mir manchmal wünsche, ich wüsste es nicht.

KAPITEL 3A

Ich stand noch mit der Origami-Leiter in der Hand, als mein Telefon vibrierte. HPA. Der Mann von eben, diesmal ohne Floskel.

„Wir haben Ihre Anweisung weitergegeben. Brückenwart kommt in fünf Minuten an die Niederbaum. Köhlbrand braucht länger. Wir schicken zusätzlich zwei Industriekletterer raus. Ihre ‚Liste’ hat geholfen.“

„Sagen Sie den Leuten, sie sollen nichts anfassen, was aussieht, als habe es jemand angefasst“, sagte ich. „Und schicken Sie mir den, der die Wartung heute eigentlich hätte machen sollen.“

„Das war Herr Westermann“, sagte er. „Seit zehn Jahren dabei. Der stand in der Früh schon vor geschlossener Tür. Er…“

„…lebt?“

„Ja. Er hat Bauchschmerzen und will heute nicht mehr rauf.“

„Guter Instinkt“, sagte ich. „Halten Sie ihn fest, bis ich da bin.“

Roy blickte auf die Papierleiter, als ich auflegte. „Falsche Sprosse“, sagte er. „Er meint nicht uns. Er meint die echte Sprosse. Sabotage.“

„Und er meint: Du trittst rein, du fällst“, sagte ich und spürte, wie mein Nacken wieder dieses Gewicht bekam. „Lass Jürgen und Olli zur Niederbaum. Ich fahre voraus.“

Ich war schneller als die normale Zeit erlaubt. Ich war nicht schneller als die Physik. Das reicht selten. Als ich die Niederbaum erreichte, stand Westermann mit verschränkten Armen im Niesel, ein Mann Ende Fünfzig, der aussah, als hätte er alle Winter der Stadt an einem Stück erlebt. Zwei Kletterer in Firmenjacken warteten neben ihm; die Gurte hingen sauber wie in einem Lehrbuch.

„Herr Westermann?“, sagte ich.

Er nickte, sah zur Brücke hoch. „Da oben hab’ ich nie Angst gehabt“, sagte er, ohne dass ich gefragt hätte. „Aber heute Morgen hab’ ich sie in den Bauch bekommen, ’ne Hand, die dreht. Das hatte ich seit zwanzig Jahren nicht.“

„Heute ist ein guter Tag, auf seinen Bauch zu hören“, sagte ich. „Zeigen Sie mir die Leiter.“

Wir gingen am Geländer entlang zu einer unscheinbaren Klappe, innen der Einstieg zur Wartungsplattform. Stahl, alt, gleichmäßig narbig. Westermann legte die Hand an die Strebe, als wolle er sehen, ob das Metall kalt genug war, um wirklich von hier zu sein. Er öffnete, die Kletterer stiegen zuerst. Ich folgte. Es roch nach Fluss und nach altem Seil.

Die Sprossen waren verschraubte Winkel, die über Jahrzehnte gehalten hatten. Auf halber Höhe hielt der vordere Kletterer an. „Hier“, rief er leise runter. Ich stieg zu ihm auf. Eine Sprosse, die von unten aussah wie die anderen, war es nicht: Eine Schweißnaht, nachgezogen, aber nur an zwei Punkten. Dazwischen eine Sollbruchstelle, sauber angeritzt, wie von jemandem, der Metalle liebt und genau weiß, wie viel man ihnen nehmen darf, damit sie beim nächsten Schritt nachgeben.

Ich hob die Sprosse vorsichtig an. Sie hielt. Der Kletterer ließ eine Lampe leuchten. Auf der Unterseite klebte mit zwei Tropfen transparentem Kleber ein schmaler Streifen Karton. Blindprägung, diesmal ohne Brücke. Nur eine Ziffer. Sehr klein. Vier.

„Er wollte, dass Sie sie finden“, murmelte der Kletterer. „Oder dass wir sie finden.“

„Er wollte, dass wir glauben, wir hätten die Vier“, sagte ich. „Vielleicht haben wir sie. Vielleicht nicht.“ Ich nickte den beiden zu. „Nehmen Sie die Sprosse raus. Ersetzen Sie sie. Fotografieren Sie alles. Und sagen Sie Ihrer Zunft, dass heute niemand allein klettert. Nicht in dieser Stadt.“

Westermann stand unten und atmete langsamer, als wir wieder auftauchten. „Ich hab’ nicht gedacht, dass man an so ’ne Sprosse denkt“, sagte er. „Man denkt nie an die Sprosse, auf der man steht.“

„Man denkt an die nächste“, sagte ich. „Und genau das nutzt er.“

Jürgen und Olli kamen, und ich ließ ihnen die Fotos und die Sprosse. „Pascal soll sich das mit dem Metall ansehen“, sagte ich. „Und Sami die Klebereste. Vielleicht hat er einen Tick. Vielleicht nimmt er immer denselben Kleber.“

„Menschen sind Gewohnheitstiere“, sagte Jürgen.

„Auch die, die glauben, sie seien keine“, erwiderte ich.

Als ich wieder im Wagen saß, schickte Fred mir eine WhatsApp. Kein Text, nur ein Screenshot. Absender: „kuestenkran“. Empfänger: ettliche BCCs, die wir nicht sehen konnten. Betreff: „5“. Inhalt: Koordinaten. Ein Zeitstempel: 18:00 Uhr. Darunter ein Bild: eine Leiter, gezeichnet, diesmal nicht gefaltet. Eine Sprosse fehlte.

Ich rief ihn an. „Ist das echt?“

„Er hat es an eine Adresse geschickt, die wir auf Bonefelds Backup gefunden haben. Ein Verein der ‚Urban Explorer’. Offene Mailingliste, schlecht moderiert. Der Post ist gestern Nacht raus. Er will Publikum.“

„Und die Koordinate?“

Fred las sie vor. Ich ließ sie mir vom Navigationssystem übersetzen. Es sagte: „Köhlbrandbrücke, Pylon Südost, Wartungssteg.“

„Er möchte, dass wir dort sind“, sagte ich. „Oder dass wir glauben, dass wir dort sein sollen.“

„Oder beides“, sagte Fred.

Ich fuhr los. Roy rief währenddessen Mira an. „Bleiben Sie heute Abend nicht in Ihrer Ausstellung“, sagte ich, als er auflegte. „Und nehmen Sie keinen Weg, den Sie immer nehmen.“

„Sie glauben, ich bin…“

„Ich glaube, Mahler mag Sie als Publikum“, sagte ich. „Und das reicht mir.“

Ich ließ die Köhlbrand im Rückspiegel wachsen. Es ist eine Brücke, die jeden, der sie nicht täglich fährt, dazu bringt, leisere Musik zu hören. Man kann sie weder ignorieren noch genau ansehen, ohne dass sie einem etwas über Maßstab erzählt.

Die HPA hatte Wort gehalten. Zwei Fahrzeuge standen am Randstreifen, Männer in Warnwesten sperrten die Auffahrt zum Wartungssteg. Ich zeigte die Marke und ging durch. Die Luft drückte. Der Regen, der eben noch so getan hatte, als sei er nur da, um die Straßen zu putzen, war in eine Pause gegangen, als wüsste er, dass wir ihn brauchen könnten.

Der Wartungssteg war schmal, Gitterrost, der das Wasser unter einem sprechen ließ. Ich trat drauf, als hätte ich nie etwas anderes getan. Es gibt Geräusche, die ich kenne. Das Klingen von nassen Schuhen auf Eisen gehört dazu.

Auf halbem Weg sah ich sie: eine weitere Sprosse, diesmal nicht an einer Leiter. Jemand hatte am Geländer eine zusätzliche Stufe montiert, eine Einladung, über das Geländer zu steigen. Wer das tut, ist verloren. Man sieht, wie leicht es wäre, und vergisst, dass man die Hände braucht. Am Geländer klebte eine Karte, die im Wind zitterte. Vier. Noch einmal vier. Daneben: ein schmaler Strich, als hätte jemand die fünf schon anfangen wollen und sich erinnert, dass er ja Publikum wollte.

„Er macht uns nervös“, sagte Roy. Er war mir nach. Ich hatte nicht bemerkt, wann er gekommen war.