Zum Greifen nah - Tilman Allert - E-Book

Zum Greifen nah E-Book

Tilman Allert

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Beschreibung

»Wer nicht hören will, muss fühlen« – so lautet das Motto schwarzer Pädagogik. Was als zynische Handlungsanweisung gedacht war, kann aber auch anders verstanden werden. Denn erst das Fühlen und Greifen mit den Händen eröffnet Menschen den eigenen Zugang zur Welt. Bereits in den ersten Lebensmonaten dient die Hand dazu, die unmittelbare Umgebung zu erkunden. Sie bewegt sich auf das Wahrgenommene zu, um es zu spüren, festzuhalten oder zu formen. Die sensomotorische Eroberung setzt den individuellen Erkenntnisprozess in Gang. Wie erfährt die Hand die Berührung mit dem Anderen, mit den Eisblumen am Fenster, den Murmeln aus Ton, den Flügeln eines Schmetterlings, der papiernen Haut der Schlange oder einem brummenden Maikäfer? Wie sucht sie Halt beim Klettern, was schmeichelt ihr, wovor schreckt sie zurück? Tilman Allert zeichnet in seinen einfühlsamen Miniaturen frühe Eindrücke des tastenden Ausgreifens in die Welt nach.

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Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie in Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Als Gastdozent lehrt er in Berlin, Tiflis und Eriwan. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Tageszeitungen (u. a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Neue Zürcher Zeitung«, »Die Welt«). Bei zu Klampen ist zuletzt von ihm erschienen: »Der Mund ist aufgegangen. Vom Geschmack der Kindheit« (2016).

TILMAN ALLERT

Zum Greifen nah

Von den Anfängen des Denkens

zu Klampen

»Das Maß des Wunderbaren sind wir.«

Georg Christoph Lichtenberg

Inhalt

Cover

Titel

Hand aufs Herz

Fingerspitzengefühl

Klicker

Unterschrift – bitte hier

Und er sah, dass es gut war

Anders als Diogenes

»Oh wüsst ich doch den Weg zurück!«

Kettenkarussell

Seepferdchen

Là ci darem la mano

Intermezzo

Das Geheimnis der Anderen

Tanzstunde

Muskelreiten

Und raus bist Du

Gespensterjagd

Mutterseelenallein

Zeus zu Besuch

Von der Gelehrigkeit

Hand in Hand

Impressum

Hand aufs Herz

Alles Erkennen hat eine Vorgeschichte. In Mythen und Märchen bewegen wir uns, wenn wir auf die Welt aufmerksam werden. Das liegt nicht an den Dingen, sondern an der Eigenart unseres geistigen Vermögens. In der frühen Kindheit kann von einem Ich nicht die Rede sein, ebensowenig von der Welt als einem Gegenüber. Jahre vergehen, bis wir in der Lage sind, in das Getümmel um uns herum einen roten Faden zu legen, ein Gestern von einem Heute zu unterscheiden, uns selbst von Anderen. Die Welt erschließt sich im Kontinuum ihrer Erscheinungen, die Einbildungskraft findet Gefallen an den Kostümen, in denen die Dinge ihre Aufwartung machen. Sie bevorzugt das Außen vor dem Innen, verliebt sich ins Detail und berauscht sich an den Illuminationen der Oberfläche. Bevor es gelingt, sich einen Reim auf das zu machen, was uns widerfährt, gehorchen wir der Wahrnehmung, angespornt von den »obskuren Wesen, die unsere Organe sind« (Marcel Proust).

Auf Wegen und Umwegen durchstreifen wir ein Wunderland von Eindrücken. Im Anfang geschieht vieles gleichzeitig. Neugier zieht uns von diesem zum Nächsten wie Schmetterlinge von Blüte zu Blüte. Die Kindheit ist die goldene Zeit der Synthesis, der hohen affektiven Intensität. Paul Cézanne spricht von »sensations colorantes«. Die Ohren hören den Klang der Farben, und den Augen ist zum Singen zumute. Unsere Sinne tauschen sich aus, drängeln sich vor dem Unbekannten oder kommen sich am Ort des Geschehens ins Gehege. Sie lieben die Übertreibung, bekräftigen, übertönen sich bis zur Sabotage, ja zum schmerzhaften Einspruch. Auf ihrem langen Weg zu den Dingen werden sie von diesen umspielt oder versinken in Konturen, von Farbmischungen trunken. Von der Atmosphäre, die Duft und Geräusche mit eigenen Zutaten bereichert, lassen sie sich anlocken. Gern folgen sie Spuren, auf die die Ohren aufmerksam wurden, und sie genießen, dem Augenschein nachzugehen – wenn jemand zu Hilfe kommt.

Allen voran die Hand. Sie nimmt sich vor, was zum Greifen nah ist. Sie beglaubigt Vorläufiges. Menschheitsgeschichtlich bedeutet die Freisetzung der Hand eine folgenreiche Sensation – ein Schritt, der der theoretischen Neugier Richtung und Schwung gibt und in dessen Folge die Ingenieurleistungen des Menschen stehen, aber auch die Wege zum Sprechen gelegt werden. Im individuellen Leben spielt sich Vergleichbares ab. Ehe der aufrechte Gang es ermöglicht, in weite Horizonte aufzubrechen, ist die Hand schon unterwegs und gräbt nach Schätzen. Aktiv ist sie von Beginn an, greifend meldet sie sich aus der Wiege. Sie ruft stumm, sie dirigiert, tastend macht sie die Honneurs, wenn sich Augen und Welt zum Rendezvous verabreden. Dem Mund, dem sie unermüdlich ergeben ist, schickt sie die Dinge zur Prüfung, sie schwebt und tanzt vor den Augen. Zart und weich nimmt sie Maß, wenn sie über Gesicht und Lippen fährt, kühn lungert sie im Gaumen herum und lädt die Zunge zum Schmecken ein. Die eifrige Zofe der Königin Neugier genießt Ansehen und Ehre. Vor verbotenen Früchten schreckt sie, wie es heißt, nicht zurück. Sie hält inne, wenn sich die Dinge dagegen sträuben, sich vereinnahmen zu lassen, zu umschließen, festzuhalten oder wegzustoßen.

Im Wort »Begreifen« schwingt Bewunderung mit für das, was wir der Hand verdanken. Dabei ist die Hand weitaus mehr als ein Werkzeug. Sie ist die Außenstation des Leibes, sie ist der Anker, den wir werfen, wenn der Boden wankt. Sie ist die Botin des Gemüts, das Herz, das spricht. Vors Gesicht halten wir sie, wenn die Welt über uns hereinbricht. Neben den vielen Wundern, von denen wir umgeben sind, macht sie erste Bekanntschaften mit dem Wunder, das wir selbst sind. Die Hand findet den Weg zur geliebten Person, winkt sie herbei und nimmt die Wärme des Gegenübers in sich auf. Unschätzbar sind ihre Dienste als Übersetzerin. Lautlos plaudernd überbrückt sie die Stille, wenn sie im Tanz der Finger denen zu Hilfe kommt, die nicht hören oder nicht sprechen können.

In der gesteigerten Aufmerksamkeit auf die Dinge um uns herum durchwandern wir die Landschaften des beginnenden Lebens, versunken und situationsvernarrt, gutgläubig, jederzeit auf dem Sprung zur Parodie und anfällig für jede Form von Träumerei, für Gespenster wie für Bizarres. Ungefährlich sind die frühen Begegnungen nie. An den Kreuzungen stehen keine Ampeln. Nicht immer gelingt es, Wagemut und Vorsicht, Furcht und Ehrfurcht in Balance zu halten, von bleibenden Narben der Entmutigung und Verzagtheit bezeugt. Auch von Phasen einer wohlgeordneten Abfolge, so wie der Tag auf die Nacht folgt und die Nacht auf den Tag, kann nicht die Rede sein. Im anfänglichen Kunterbunt erfahren wir vieles im Modus der Zyklizität, nichts sehnlicher wünschen wir uns als das »Noch einmal«. Die Wiederkehr des Gleichen kennt keine Eile und beharrt auf ihrer eigenen Zeit. Schon das erste Lallen lebt vom Entzücken an allem, das sich wiederholen lässt, Keime des Vermögens, das Jahre später im Aufsagen von Reimen und Versen zur Blüte gelangt. Noch das Sammeln, das Horten ergötzt sich an der Fülle, an dem, was wiederkehrt. Es bekräftigt ein Lebensgefühl, das auf die Dauer setzt.

Eltern sind die willkommenen Boten der Dauer. Staunend und nicht selten nostalgisch begleiten sie die Unternehmungen des Kindes, entdecken dabei Verborgenes aus ihrer eigenen Kindheit, von dem sie sich gern überraschen lassen. Sie sind Reporter, eine Art Streckenwacht. Ihr »Schon« oder ihr »Noch nicht« fügen Erlebtes, zum Greifen Nahes, in ein Kontinuum ein. Zum Abenteuer der selbständigen Aneignung dringen sie zwar nicht vor, doch ist unersetzlich, was sie hinzutun: die haltende Hand. Ihre unerschütterliche Zuversicht und bedingungslose Liebe schaffen einen Rahmen. In ihre Hand legen wir die unsere. Unbekümmert brechen wir auf, geleitet von der bergenden Liturgie täglich wiederkehrender Akte, die die verstreichende Zeit mit Episoden und Zäsuren versehen. Das Wiederholen versichert uns eigener Personalität, gestützt auf eine Kraft, die wir Jahre später im Alter der Pubertät als eine Zumutung beklagen. Zur Welt gedeiht eine eigene Beziehung, ohne ihr Geheimnis preiszugeben, das Leben mit anderen, das uns im Schwierigsten schult, in der Liebe zu dem, was wir nicht besitzen. Vom sinnlichen Zauber früher Erfahrungen bleiben Spuren, auf bewahrt in einem Märchen von der Einzigartigkeit, das wir unverwechselbar in uns tragen. Gewachsen in der Zeit unerschöpflicher Talentiertheit, begleitet es in dem, was uns widerfährt. Wir werden von ihm erzählen, von der Schönheit seiner Verzierungen, die sich im Nirgendwo des offenen Lebens verlaufen oder die sich bündeln zu dem, was man dereinst einen Charakter nennen wird.

Wer Spuren des Erfahrenen ausschreibt, spart die Zeitgenossenschaft nicht aus. Unverkennbar entstammt das Folgende einem historischen Raum. Kinder nach dem Krieg wurden geboren in eine große Hoffnung. Sie waren ihrer Eltern ein und alles. Ohne eigene Erfahrung des Verspielten fanden sie für die Wünsche des Kindes kaum eine Sprache. Über dem Alltag, umgeben von Trümmern, lag der Schatten einer moralischen Selbstpreisgabe, die unheilvoll mit der Indienstnahme der Hand zu einer gespenstischen Geste begonnen und in einem Rausch der Zerstörung ihr Ende gefunden hatte. Zum Grüßen musste die gute Hand gereicht werden. Kind durfte man eigentlich nicht sein. Dem widerspricht nicht, dass im Vergleich zum Heute die Kinder ohne Not sich selbst überlassen waren. Es ist nicht frivol, darin zwei Seiten desselben zu vermuten. Die Erwachsenen erwarteten alles von der Arbeit, in die sie sich wie benommen stürzten. Kataloge blätternd, träumten sie von einer Zukunft, von einer Leichtigkeit wie in Italien. Auf der Straße wurden, mit der Zigarette im Mundwinkel, die neuesten Modelle von Borgward bestaunt.

Ein Protokoll von den Anfängen des Denkens hat niemand geschrieben. Doch der Anfang ist etwas, zu dem wir gern zurückkehren. Die Kunst ruft das Verlorene zurück und öffnet den Weg zu Erinnerungsspuren, die wir aus Gewohnheit oder Nachlässigkeit haben verkümmern lassen, gehobene Schätze von den verlassenen Orten unseres Lebens. In sinnlich erfahrenen ästhetischen Objekten, einer Melodie, einem Reim, in einem Stilleben, scheint das Erlebte wieder auf. Wenn es gelingt, sich von ihnen bezaubern zu lassen, funkeln sie in frischem Glanz wie Juwelen. Die folgenden Seiten legen dazu einen Versuch vor. Von der momentanen Lebendigkeit des Kindes handelt das Buch. Was es an Begebenheiten ans Tageslicht holt, Erfahrungen der Angst und Geborgenheit, Bemächtigung und Ohnmacht, des Zorns und des Jubels, der List und des Mutes, verschiedenen Stationen des Heranwachsens entnommen, erinnert Archetypisches.

Vom sensorischen Taumel, dem aufregenden Entdecken der Reziprozität sowie vom Rätsel der Freundschaft, dem unschätzbaren Resonanzraum des eigenen Werdens, ist die Rede. Aus einem Meer verschlossener Wahrnehmungen holen wir einige Funde hervor, die wiederzubeleben Vergnügen bereitet. Manchen mögen die Miniaturen anmuten wie Tafelbilder, die wechselnden Kostüme der Kindheit, das Exzentrische, Kantige, Geistreiche wie Zärtliche, in dekorativen Kulissen ausgestellt. Hingegen von Museumsstücken, die nostalgisch auf listen, was wir glauben verloren zu haben, ist nicht die Rede. Vielmehr ruft das Buch Bilder zu Farben und Gerüchen wach, zu Geschehnissen und Empfindungen, die vielleicht verblasst, doch nicht vergessen sind. Es übt in der Kunst, sich der suggestiven Schönheit eines »ungreif baren Besitzes, unirdischer Immobilien« hingeben zu können, »als vorzügliche Übung, spätere Verluste zu ertragen« (Vladimir Nabokov): eine Wunderkammer, weder Systematisches noch Chronologisches, auch kein Bildungsroman, eher Nachdenkliches zur Lust am Entdecken, ein Aufschluss über uns selbst.

Fingerspitzengefühl

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