Zum Leuchtturm - Virginia Woolf - E-Book

Zum Leuchtturm E-Book

Virginia Woolf

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Beschreibung

»Wahrscheinlich habe ich für mich selbst getan, was Psychoanalytiker für ihre Patienten tun.« Virginia Woolf über ihre Arbeit am ›Zum LeuchtturmVirginia Woolf ist ein Wunder. Ganz gleich, was sie schrieb, immer schien es aus dem gleichen Kern zu kommen. An welchen Schreibtisch sie sich auch setzte, um ihre Romane, Erzählungen, Essays, Briefe oder ihr Tagebuch zu schreiben, immer war sie ganz bei sich. An keinem ihrer Romane kann man das so genau studieren als an ›Zum Leuchtturm‹. Denn zum einen gilt er als der innovativste und vollkommenste ihre Romane. Zum anderen gibt es kein Buch von ihr, in dem ihr Nachdenken über die Kindheit, ihre über alles verehrte Mutter und den unnahbaren Vater so klar Kontur gewinnt. Aus dem reichen Fundus der von Klaus Reichert herausgegebenen 30-bändigen Virginia Woolf-Gesamtausgabe werden Briefe, Erzählungen, Tagebucheinträge und Essays neben den Roman gestellt, dessen Kunst sich erst in der Vielfalt der Stimmen und Perspektiven entfaltet – die Neuentdeckung eines der größten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 546

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Virginia Woolf

Zum Leuchtturm

Die Geschichte des Romans als Geschichte ihres Lebens

Aus dem Englischen von Maria Bosse-Sporleder, Hannelore Faden, Marianne Frisch, Karin Kersten, Brigitte Walitzek und Claudia Wenner Mit einem Vorwort von Hermione Lee

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortZum LeuchtturmDie Fenstertür12345678910111213141516171819Zeit vergeht12345678910Der Leuchtturm12345678910111213Auszüge aus Tagebüchern und Briefen1925–1937Dienstag, 6. Januar 1925Donnerstag, 14. Mai 1925Sonntag, 14. Juni 1925Samstag, 27. Juni 1925Montag, 20. Juli 1925Donnerstag, 30. Juli 1925Samstag, 5. September 1925Am Mittwoch, 16. September 1925 schrieb VW an ihren Freund Roger Fry, den Maler, Kunstkritiker und Mitglied der Bloomsbury Group:Montag, 7. Dezember 1925Dienstag, 19. Januar 1926Am Dienstag, 26. Januar 1926 schrieb VW an ihre Freundin, die Schriftstellerin und Gartengestalterin Vita Sackville-West, mit der sie eine Liebesbeziehung hatte:Montag, 8. Februar 1926Am Mittwoch, 17. Februar 1926 schrieb VW an Vita Sackville-West (in Luxor, Ägypten, woher Vitas letzter Brief kam):Dienstag, 23. Februar 1926Mittwoch, 24. Februar 1926Am Dienstag, 2. März 1926 schrieb VW an Vita Sackville-West:Am Dienstag, 16. März 1926 schrieb VW an Vita Sackville-West:Sonntag, 18. April 1926Dienstag, 25. Mai 1926Mittwoch 9. Juni 1926Donnerstag, 22. Juli 1926[Samstag 31. Juli] 1926Freitag, 3. September 1926[Sonntag 5. September] 1926Montag, 13. September 1926Mittwoch, 15. September 1926Dienstag, 28. September 1926Donnerstag, 30. September 1926Am Sonntag, 3. Oktober 1926 schrieb VW an den in Spanien lebenden Schriftsteller und Hispanisten Gerald Brenan:Samstag, 30. Oktober 1926Dienstag, 23. NovemberSamstag, 11. Dezember 1926Freitag, 14. Januar 1927Sonntag, 23. Januar 1927Samstag, 12. Februar 1927Am Montag, 21. Februar 1927 schrieb VW an Vita Sackville-West:Am Sonntag, 27. Februar 1927 schrieb VW an Vita Sackville-West:Montag, 28. Februar 1927Montag, 14. März 1927Montag, 21. März 1927Sonntag, 1. Mai 1927Am Sonntag, 8. Mai 1927 schrieb VW an ihre ältere Schwester, die Malerin und Innenarchitektin Vanessa Bell:Mittwoch, 11. Mai 1927Am Freitag, 13. Mai 1927 schrieb VW an Vita Sackville-West:Am Sonntag, 15. Mai 1927 schrieb VW an Vanessa Bell:Montag, 16. Mai 1927Am Dienstag, 17. Mai 1927 schrieb VW an Charles Percy Sanger, Rechtsanwalt und regelmäßiger Besucher der donnerstäglichen Zusammenkünfte »Thursday Evenings«, einem Vorläufer der Bloomsbury Group:Am Sonntag, 22. Mai 1927 schrieb VW an Vanessa Bell:Am Freitag, 27. Mai 1927 schrieb VW an Roger Fry:Montag, 6. Juni 1927 (Pfingstmontag)Donnerstag, 23. Juni 1927Montag, 11. Juli 1927Samstag, 23. Juli 1927Mittwoch, 10. August 1927Mittwoch, 7. November 1928Mittwoch, 28. November 1928Samstag, 30. November 1929Samstag, 7. Februar 1931Dienstag, 22. September 1931Freitag, 6. Juli 1934Am Dienstag, 10. Juli 1934 schrieb VW an Stephen Spender, den englischen Dichter und Essayisten:[Mittwoch, 17. Oktober 1934]Freitag, 19. März 1937Mittwoch, 31. März 1937Auszug aus »Skizze der Vergangenheit«VorfahrenDer Mann, der seinesgleichen liebteWie sollte man ein Buch lesen?Bibliographische NotizEinzelnachweise

Vorwort

von Hermione Lee

Zum Leuchtturm ist die Geschichte einer Ehe und einer Kindheit, eine Klageschrift des Verlusts und der Trauer um einflußreiche, geliebte, tote Eltern. Virginia Woolf hätte das Buch lieber als »Elegie« (S. 288) denn als Roman bezeichnet. Auf weniger offensichtliche Weise handelt es auch von der englischen Klassengesellschaft und ihrem radikalen Bruch mit dem Viktorianismus nach dem Ersten Weltkrieg. Es bezeugt das drängende Bedürfnis nach einer Kunstform, die sich, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, an diesen Bruch anpassen und auf ihn reagieren kann. Es ist all diese Dinge gleichzeitig.

Da die erzählende Literatur weder Musik ist noch Malerei, noch Film[1] oder unausgesprochener Gedanke, erfordert sie formale Strategien, wenn sie versuchen will, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein. Diese Strategien können so komplex sein wie ein ganzes Kapitel, das aus der Perspektive der vergehenden Zeit geschrieben wird, oder so simpel wie ein Einschub in Klammern.

So zum Beispiel denkt Mr Bankes in Klammern an ein Telefongespräch. Er spricht mit Mrs Ramsay über eine Zugverbindung. Dann schaut er aus dem Fenster, »um nachzusehen, wie die Arbeiter mit dem Hotel vorankamen, das sie hinter seinem Haus bauten«. Die »Betriebsamkeit zwischen den unvollendeten Mauern« erinnert ihn an das Unpassende an ihr. Die Bauarbeiten draußen gehen innerhalb einer weiteren Klammer voran – »(sie trugen Ziegelsteine eine kleine Planke hinauf, während er sie beobachtete)« –, während er seine Version von Mrs Ramsays Idiosynkrasien ausbaut. Mehrere Dinge geschehen gleichzeitig: Was er am Telefon zu Mrs Ramsay sagt und was er gern sagen würde; was er von seinem Fenster aus sieht und was er vor seinem inneren Auge sieht; und vor seinem inneren Auge sieht er ihre Schönheit und das Unpassende an ihr. Es existieren auch mehrere Zeiten gleichzeitig: Die Zeit von Mr Bankes’ Erzählung, die unter dem Zwang steht, sich voranzubewegen (»Ja, er würde den um 10 Uhr 30 von Euston nehmen«; »Er mußte wieder an die Arbeit« [S. 74]); die Augenblicke, in denen er Mrs Ramsay vor seinem inneren Auge sieht; und, außerhalb von Mr Bankes’ Klammern, der Augenblick, in dem Mrs Ramsay an ihrem Strumpf strickt und mit James redet.

Vieles in Zum Leuchtturm spielt sich in Klammern ab: Stumme Gesten – »(sie warf ihm einen versonnenen Blick zu)« (S. 95); Identifikationen von Standpunkten – »(fand James)« (S. 46); Kommentare und Erklärungen – »(denn sie war in sie alle verliebt, in diese Welt verliebt)« (S. 66); Dinge, die sich jemand in Erinnerung ruft – »(und die Rechnung für das Gewächshaus würde sich auf fünfzig Pfund belaufen)« (S. 108); plötzliche Todesfälle; ein Weltkrieg. Der mittlere Teil, »Zeit vergeht«, liest sich wie eine lange Klammer zwischen erstem und letztem Teil. Seine eckigen Klammern umschließen die Fakten des Todes, als gehörten sie einer anderen Sprache an. Die letzten Teile von »Zeit vergeht« quellen geradezu über vor eingeklammerten Passagen über die Rückkehr von Leben ins Haus, die sich dann zum dritten Teil des Romans erweitern. Während Woolf den dritten Teil schrieb und zwischen Lily auf dem Rasen und den Ramsays im Boot hin und her pendelte, stellte sie sich vor, Lily und ihr Bild in Klammern zu Ende zu führen: »Könnte ich es in Klammern setzen? so daß der Eindruck entstünde, man würde beides gleichzeitig lesen?« (S. 301f.)

Klammern sind eine Möglichkeit, mehrere Dinge gleichzeitig geschehen zu lassen. Sie bewirken jedoch auch eine verunsichernde Zwiespältigkeit in bezug auf den Status der Ereignisse. Was ist »wichtiger«? Der Tod von Mrs Ramsay oder der Faltenfall einer grünen Stola in einem leeren Zimmer? Wenn der Roman uns an mehr als eine Sache gleichzeitig denken läßt und in mehr als einer Zeit existiert, was hat dann Vorrang? Wird das Leben der Ramsays im Garten und im Haus von der Welt umschlossen wie von Klammern, so wie der Leuchtturm vom Meer umschlossen ist? Oder sind die Ramsays das Eigentliche, und alles andere spielt sich in Klammern ab?

Oft dringt die Außenwelt in Form der alltäglichen Dinge britischen Lebens zu Anfang des 20. Jahrhunderts – U-Bahnen, Abendzeitungen, Autowerkzeuge, Bahnhofsansager, Zugfahrkarten, jene Ziegelsteine – in die Welt von Haus und Garten und Leuchtturm ein. Teils funktioniert das als historischer Gegensatz: Die viktorianische Familienszenerie ist verschwunden und zu einer Traumwelt geworden – das moderne Nachkriegsleben geht weiter. Aber Mr Bankes’ Ziegelsteine in Klammern ergeben nicht einfach nur einen Gegensatz zu seiner inneren Vision von Mrs Ramsay, die »in Galoschen über den Rasen [rennt], um eins der Kinder vor Schaden zu bewahren« (S. 74). Die Ziegelsteine und der Bau des Hotels sind wie das Unpassende an ihr – schön und geschäftig, ätherisch und zäh –, und sie sind wie die Art, wie er über sie denkt, eine Sache einer anderen gegenüberstellt, ein Bild konstruiert. Der Roman beharrt darauf, daß man seine strukturierenden Hilfsmittel bemerkt, seine Klammern und Abschnitte und Standpunktveränderungen.

Im Herbst 1925, in den Anfangsphasen der Arbeit an Zum Leuchtturm, bereitete Woolf einen Vortrag mit dem Titel »Wie sollte man ein Buch lesen?« vor (ein Auszug findet sich im Manuskript des Romans). Darin sagt sie, die zweiunddreißig Kapitel eines Romans seien »ein Versuch, etwas so Planvolles und Geformtes zu machen wie ein Gebäude; nur sind Worte ungreifbarer als Backsteine … Besinnen Sie sich also«, rät sie dem Leser, »auf irgendein Ereignis, das einen deutlichen Eindruck in Ihrem Gedächtnis hinterlassen hat … eine ganze Vision, eine in sich vollkommene Konzeption schien in jenem Augenblick enthalten … Doch wenn Sie versuchen, das innere Bild in Worten zu rekonstruieren, werden Sie finden, daß es in tausend widerstreitende Impressionen zerfällt« (S. 352).

Das klingt wie eine Notiz an sich selbst über das Verfassen ihres neuen Romans. Die Ziegelsteine werden die kleine Planke hinaufgetragen, die Bauarbeiten gehen weiter. Das Gebäude muß etwas »Planvolles und Geformtes« sein. Aber der unaufhaltsame Sog hin zu Zerbrechen und Fragmentierung – »Bilder zerfallen« – ist gewaltig. Und es wird noch schwieriger, weil sie nicht nur eine Basis der Stärke und der Struktur will, sondern auch Flüssigkeit und Transparenz. Der Roman muß folglich wie Mrs Ramsay sein, die unpassenden Dinge müssen sich in Balance halten.

Mit Hilfe von Lilys Bild baut Woolf einen Kommentar über ihre eigenen Prozesse in den Roman ein. Lilys Bilder – »Sie sah die Farbe, die auf einer Stahlkonstruktion brannte; das Licht eines Schmetterlingsflügels, das auf den Bögen einer Kathedrale liegt« (S. 95) – gehen auf Virginia Stephens Besuch von Konstantinopel zurück, als sie die Hagia Sophia zum ersten Mal erblickte. In ihrem Tagebuch für 1906 hielt sie fest: »dünn wie in runden Bögen geblasenes Glas … ebenso stattlich wie eine Pyramide«[2]. Die Kuppelform taucht im Roman in den Vorstellungen von Nancy auf und in denen von Lily, für die Mrs Ramsay »eine erhabene Gestalt, die Gestalt einer Kuppel« (S. 99) hat. Die Kuppelform, die das Solide und das Ätherische vereint, war der wesentliche Kern ihres Plans für das Buch.

 

Dieser Plan stand Woolf von Anfang an klar vor Augen. Sie formulierte ihn in Listen und Aufstellungen von Bestandteilen oder Zutaten, die – wie bei der Zubereitung eines Bœuf en Daube – genau aufeinander abgestimmt und exakt auf den Punkt gebracht werden mußten. Als der Roman im Frühjahr 1927 erschien, blickte sie zurück auf die »unerwartete Art & Weise, in der diese Dinge sich plötzlich selbst hervorbringen – eins über dem andern im Lauf von etwa einer Stunde … so habe ich The Lighthouse ausgedacht, eines Nachmittags hier im Square« (S. 314).

Mag sein, daß sich ihr die Form des Ganzen urplötzlich eröffnete (»ohne jede Vorüberlegung, soweit ich es sehe«, sagt sie in einem Brief an Vanessa [S. 316]), aber die Zutaten hatten sich über Jahre angesammelt: seit ihrer Kindheit; seit den »Reminiszenzen«, die sie 1908 über ihre Eltern geschrieben hatte; seit den Erinnerungen an »Hyde Park Gate 22«[3], die zwischen 1920 und 1921 zu Papier gebracht wurden. Schon am 17. Oktober 1924, dem Tag, an dem sie die letzten Worte von Mrs Dalloway schrieb, gibt es einen kryptischen, ahnungsvollen Eintrag in ihrem Tagebuch: »Ich sehe bereits The Old Man«[4], als sei die Figur von Mr Ramsay das nächste, womit sie sich beschäftigen müsse. Als die Veröffentlichung von Mrs Dalloway immer näher rückte, kristallisierten sich die Zutaten für Zum Leuchtturm bereits heraus. In ihrem Notizbuch (»Notizen fürs Schreiben«[5]) stellte sie sich am 6. März 1925 eine Sammlung »der Geschichten der Menschen auf Mrs D’s Gesellschaft« vor und listete eine auf als »Das Bild – ich denke ans Meer«. Am 14. März dachte sie immer noch über ein Buch von Geschichten nach und ergänzte ihre Liste durch (eckige Klammern bedeuten Streichungen):

»Die Vergangenheit basierend auf [Bildern?] Vorfahrenverehrung /, worauf dies hinausläuft & was es bedeutet. / Eine Frau in mittleren Jahren / aus guter Familie; ihre Gefühle für ihren Vater & ihre Mutter -/[uralt?]«

 

Es folgt eine Liste von acht Themen für Geschichten, und dann:

»Mir kommt der Gedanke, daß alles mit einem Bild enden könnte. / Diese Geschichten über Leute würden / das halbe Buch füllen; & dann würde diese andere Sache / sichtbar werden; & und wir würden in einen ganz / anderen Ort & ganz andere Menschen eintreten? Aber was?«

 

Auf der nächsten Seite des Notizbuches beginnen die Notizen zu Zum Leuchtturm:

»Nur Charakter – keine Sicht der Welt.

Zwei Blöcke verbunden durch einen Korridor

Themen, die aufgegriffen werden könnten:

 Wie ihre Schönheit durch den Eindruck vermittelt

werden soll, den sie auf all diese Leute

macht. Einer nach dem anderen fühlt es, ohne

genau zu wissen, was sie mit ihnen tut,

um ihren Worten Bedeutung zu verleihen.

Episode, Tansley zu einem Besuch bei den Armen mitzunehmen.

Wie diese sie sehen.

Der große Zwiespalt, in den die menschliche

Rasse geraten ist; weil die Ramsays

Mr Tansley nicht mögen.

Aber sie mochten Mr Carmichael.

Ihre Hochachtung vor Gelehrsamkeit und Malerei.

Gehemmt, nicht sehr persönlich.

Das Aussehen des Zimmers – [Geige?] und Strand[schuhe?] –

Große Photographien verdecken kahle Stellen.

Die Schönheit wird beim 2ten Mal enthüllt, da

Mr R Monolog

über Sentimentalität unterbricht.

Er zitierte The Charge of the Light Brigade (vgl. S. 273ff.)

& darüber legt sich das Bild

von Mutter und Kind.

 

Wieviel wichtiger Unterschiede zwischen

Menschen statt zwischen Ländern sind.

[Ev] Die Ursache allen Übels.

Sie versank in reine Empfindungen –

sah Dinge im Garten.

Das Brechen der Wellen. Klackern von Kricketbällen.

Das Bellen ›Wie ist der?‹

Sie redeten nicht miteinander.

Tansley abgeschüttelt

Tansley das Produkt von Universitäten mußte

die Macht seines Intellekts geltend machen.

 Sie fühlt das Glühen von Gefühlen – & wie sie sich

aus lauter unterschiedlichen Dingen zusammensetzen – (was

sie gerade getan hat) & wünscht, daß irgendeine Glocke

schlägt & sagt, das ist es. Sie schlägt.

Sie hütet ihren Augenblick.«

Am 14. Mai 1925, dem Tag, an dem Mrs Dalloway veröffentlicht wurde, schrieb Woolf in ihr Tagebuch, sie stehe jetzt »sehr unter Spannung durch den Wunsch … mit To the Lighthouse anzufangen« (S. 286). Wieder zählt sie eine Liste von Zutaten auf, allerdings andere als im Notizbuch:

»Das wird ziemlich kurz sein: Der Charakter von Vater soll darin voll dargestellt werden; & der von Mutter; & St. Ives; & die Kindheit; & alles Übliche, was ich hineinzuschreiben versuche – Leben, Tod &c. Aber die Mitte ist der Charakter des Vaters, wie er in einem Boot sitzt & We perished, each alone rezitiert, während er eine sterbende Makrele zerquetscht –« (S. 286)

Als erstes jedoch hatte sie das Gefühl, die Erzählungen schreiben zu müssen, die sie im März geplant hatte. Am 14. Juni war sie damit fertig und hatte sich in dieser Zeit »vielleicht allzu klar, To the Lighthouse ausgedacht« (S. 287). (Wieso allzu klar? Weil die Struktur, die sie sich auferlegt hatte, ihr Probleme bereitete, oder weil sie das Gefühl hatte, es handele »allzu klar« von ihren Eltern? Diese mahnende Notiz sollte die Entwicklung des Romans beeinflussen.)

Die acht Erzählungen, die die Brücke zwischen Mrs Dalloway und Zum Leuchtturm darstellen, ereignen sich alle auf Mrs Dalloways Gesellschaft, aber die Melodien von Zum Leuchtturm klingen bereits an. Mabel Waring in ihrem peinlichen neuen Kleid denkt voller Erleichterung an ihre »bezaubernden Augenblicke« am Meer zu Ostern und an »die Melodie der Wellen – ›Schsch – schsch‹, sagten sie, und die Rufe der Kinder beim Planschen«[6]. Ein Mädchen, das in die Welt der Erwachsenen mit ihrem Vorgestelltwerden und ihren Konversationen eintreten soll, hat das Gefühl, »in einen Strudel gestürzt zu werden, wo sie entweder unterginge oder aber gerettet würde«[7]. Mrs Latham, die hinter dem Haus im Garten sitzt, denkt an die Menschen im Haus als Überlebende, als ein »Trüppchen von Abenteurern, die, von Gefahren umlauert, weitersegeln«[8]. Mr Carslake betrachtet das tröstliche Bild einer Heidelandschaft und stellt sich vor, er mache einen Spaziergang; er ist verärgert, weil er dabei fast sagen möchte, daß er an Gott glaubt. »Ihm schien, als sei er den Worten auf den Leim gegangen. ›An Gott glauben.‹«[9] All diese Momente, in denen eine innere Stimme oder ein Gefühl die Charaktere aus ihrem gesellschaftlichen Kontext herauslöst, werden neuerlich in Zum Leuchtturm Verwendung finden.

Zwei Erzählungen nehmen Zum Leuchtturm noch vollständiger vorweg. In »Der Mann, der seinesgleichen liebte« (S. 342ff.) gibt es ein unerfreuliches Zusammentreffen zwischen einem Anwalt in mittleren Jahren, der stolz darauf ist, »die normalen Menschen« (S. 346) zu mögen, billigen Tabak zu rauchen und die Gesellschaft zu verachten, und einer Frau, die seinen Egoismus, seine Aggressivität und seine Faulheit verabscheut. Wegen Leuten seines Typs, so findet sie, »brachen Revolutionen aus« (S. 348). Diese Szene ist die Blaupause für den politischen und sexuellen Konflikt zwischen Lily und Charles Tansley, der noch nicht in der Zutatenliste für den Roman aufgetaucht ist.

Die andere Erzählung, »Vorfahren« (S. 338ff.), entspringt einer Notiz an sich selbst über »Vorfahrenverehrung«. Eine Frau in mittleren Jahren auf Mrs Dalloways Gesellschaft, Mrs Vallance, vergleicht die Party mit ihrem verlorenen Zuhause in Schottland. Tränen treten ihr in die Augen, als sie an ihre Eltern denkt, die alten Freunde ihres Vaters, die Blumen, die ihre Mutter liebte, die Ehrerbietung ihres Vaters Frauen gegenüber, sich selbst als Kind mit »dunklen wilden Augen« (S. 340), wie sie Steinkraut pflückt und ihrem Vater Shelleys »Ode an den Westwind« aufsagt. Die Eltern sind tot, aber wäre sie bei ihnen im Garten geblieben – wo es, wie es ihr jetzt scheint, »immer sternenhell« war, »und es war immer Sommer« (S. 341) –, wäre sie immer glücklich gewesen.

»Vorfahren« ist eine selbstmitleidige, wehleidige Geschichte und scheint für Woolf eine Warnung gewesen zu sein, als sie im Juni und Juli anfing, Zutaten aus diesen Geschichten in ihre Entwürfe für den Roman einzuarbeiten. Sie weiß inzwischen: »das Meer soll durchweg zu hören sein« (S. 288) und daß sie das Ganze lieber als »Elegie« denn als Roman bezeichnen möchte. Wieder listet sie die Zutaten auf (»Vater & Mutter & Kind im Garten: Der Tod; die Segelfahrt zum Leuchtturm«), fürchtet aber, das Thema könne »sentimental« sein. Wie es »anreichern« und »eindicken« (S. 288)? Eine weitere Liste folgt, in der, wie so oft, Themen und Prozesse vermischt werden:

»Es könnte alle Charaktere in kondensierter Form enthalten; & die Kindheit; & dann dieses Unpersönliche, zu dem mich meine Freunde immer anstacheln; das Verfliegen der Zeit, & infolgedessen den Bruch in der Geschlossenheit meines Entwurfes.« (S. 288)

Diese Ängste in Hinblick auf Sentimentalität und auf die Notwendigkeit, das Material »einzudicken«, sollten sie nie verlassen. Am Ende des ersten Entwurfs angelangt, fragte sie sich, ob das Ganze nicht vielleicht »recht dünn« (S. 302) sei, und bemerkte, sie habe »eine Heidenangst vor ›Sentimentalität‹« (S. 303). Am Tag der Publikation sorgte sie sich immer noch, die Leute könnten es ›sentimental‹ nennen, und stellte Vita Sackville-West, noch bevor die ersten Kritiken eintrudeln konnten, die Frage: »Hältst du es für sentimental?« (S. 318) Gleichzeitig interessiert sie sich für das »neue Problem«, das sie mit dem Vergehen der Zeit und dem »Bruch der Geschlossenheit« feststellt. Und sie liest Proust, der genau die Mischung aus Sensibilität und Hartnäckigkeit besitzt – »Er ist zäh wie Katzendarm & flüchtig wie Schmetterlingsstaub«[10]–, die sie für ihren Roman sucht. Im Juli schwankt sie zwischen »einem für sich stehenden & intensiven Charakterbild von Vater & einem sehr viel weiter angelegten langsameren Buch«. Es soll ruhig, aber nicht »fad« sein. Sie glaubt, sie könne »etwas in To the Lighthouse machen, um die Gefühle vollständiger voneinander zu trennen« (S. 289).

Diese Probleme von Balance und Aufbau werden im Roman erneut aufgegriffen, zum Beispiel als Mr Ramsay Walter Scott liest und sein Urteil darüber abgibt – »Das ist Mumpitz, das ist erstklassig, dachte er, indem er die Dinge nebeneinanderhielt« (S. 174) –, oder als Lily das Problem ihres Bildentwurfs diagnostiziert und damit auch das Problem, die Beziehungen zwischen den Ramsays zu verstehen:

»Aus irgendeinem Grund vermochte sie die messerscharfe Balance zwischen zwei entgegengesetzten Kräften nicht herzustellen; Mr Ramsay und dem Bild; was jedoch notwendig war. Vielleicht stimmte ja irgend etwas nicht mit dem Entwurf? … Sie lächelte ironisch, denn hatte sie, als sie anfing, nicht gemeint, ihr Problem gelöst zu haben?« (S. 255)

Ganz ähnlich löst auch Woolf nicht alle »Probleme« ihres Entwurfs im voraus. Ihre frühen Listen und Pläne scheinen weder Lily und ihr Bild noch das Dinner vorauszusehen. Sie konzentrieren sich auf den Charakter von Mrs Ramsay und die Szenerie der Fahrt und auf eine Art »Satz«, der die Erzählung »leicht« voranträgt. Sie sagen nichts über einen Leuchtturm, vom Titel einmal abgesehen, auf den sie sich, ungewöhnlich für sie, von Anfang an festlegte.

Am 6. August 1925 begann sie in Monk’s House mit dem Roman und schrieb »22 Seiten hintereinanderweg in weniger als zwei Wochen« (S. 290). Aber den ganzen Sommer über litt sie unter Ohnmachtsanfällen, Kopfschmerzen und Erschöpfung. »Kann nicht schreiben (und das mit einem ganzen neuen Roman im Kopf – es ist abscheulich)« (S. 291), klagte sie in einem Brief an Roger Fry. Statt dessen schrieb sie einen Essay, »Über das Kranksein«, und verglich die Auswirkungen einer Krankheit mit denen der Liebe: Sie »bekränzt das Gesicht Abwesender … mit neuer Bedeutsamkeit … während die ganze Lebenslandschaft fern und schön daliegt gleich der Küste, von einem Schiff weit draußen auf See gesehen«[11]. Trotzdem arbeitete sie in diesem Sommer auch ein wenig am Roman (»Ich bin für die Stornaway-Inseln«[12], schrieb sie am 29. November 1925), aber sie war niedergeschlagen und unsicher in bezug auf die »persönlichen« Aspekte des Buches (»Es wird Vater zu ähnlich sein, oder Mutter«) (S. 291), und erst im Januar machte sie sich endgültig wieder ans Werk.

Als sie es tat, vermerkte sie in ihrem Notizbuch: »Die Idee ist in der Zeit, seit ich den Anfang schrieb, gewachsen.« Inzwischen möchte sie »die Anwesenheit der 8 Kinder undifferenziert«, um »die Bedeutung des Lebens der des Schicksals entgegenzustellen – z.B. Wellen, Leuchtturm«. Sie hat sich »eine große Dinnerszene« ausgedacht und eine Verabredung danach, und daß Mrs Ramsay im Schlafzimmer zusammen mit den Kindern ihren Schmuck auswählt, daß sie die Treppe hinuntergeht und wie »alles sich zum Ende hin verdichtet; & die beiden allein zurückbleiben«. Sie spielt mit dem Gedanken der Verwendung von »Gedichten in Zitaten, um den Charakter herauszustellen«.

Einmal begonnen, wurde der erste Entwurf des Romans zwischen Januar und September 1926 in einem Tempo von etwa zwei Seiten pro Tag schnell und fließend geschrieben (»Noch nie, nie habe ich so leicht geschrieben, so reiche Vorstellungen entwickelt« [S. 294]). Neben dem Schreiben des Buches gab es in ihrem Leben Komplikationen, Ablenkungen, Verwicklungen: der Umzug von London nach Rodmell; die sich entwickelnde Beziehung zu Vita Sackville-West; gesellschaftliche Verpflichtungen (darunter ein denkwürdiger Besuch bei Thomas Hardy); die Anforderungen der Hogarth Press; der Generalstreik im Mai (in dem sich Leonard sehr engagierte und der, wie sie im nachhinein fand, die Stimmung von »Zeit vergeht« beeinflusste; Zeiten der Krankheit und im Juli dann »ein ganzer Nervenzusammenbruch in Miniatur« (S. 318).

Beim Schreiben wechselte ihr Gefühl, auf gutem Weg zu sein, mit Phasen der Beklemmung ab. Aber sie kämpfte sich voran – »annähernd 40000 Wörter in 2 Monaten … – mein Rekord« (S. 297), schrieb sie an Vita und hatte das Gefühl, sich selbst neue Ziele zu setzen. Am 9. März notierte sie, sie schreibe »das genaue Gegenteil von meinen anderen Büchern: zu Anfang sehr locker … & und werde zu guter Letzt straffen müssen … Außerdem etwa dreimal so schnell.« Die Dinnergesellschaft empfand sie als »das Beste, was ich je geschrieben habe« (S. 318). »Zeit vergeht«, der Teil, von dem sie sagt, er habe ihr »mehr Ärger gemacht als der ganze Rest des Buches zusammen«[13], gefiel ihr wegen der Strategie, »die lyrischen Partien« zu »sammeln«, so daß sie sagen kann, sie »stören den Text nicht so sehr wie sonst« (S. 302). Im letzten Teil, besonders zum Ende hin, kämpfte sie so wie Lily mit Problemen der Balance und hatte das Gefühl, das Material im Boot sei nicht so »reichhaltig wie bei Lily auf dem Rasen« (S. 303). Nachdem sie den ersten Entwurf im September fertiggestellt hatte, folgte eine Phase tiefer Depression. In dieser Stimmung, in einer eigenartigen Gemütsverfassung, sah sie »eine Flosse weit draußen vorbeiziehen« (S. 307) und »eine einsame Frau, […] die nachsinnt« (S. 309), möglicherweise ein Vorausblick auf ein nächstes Buch.

Zwischen Oktober und Januar überarbeitete sie den Roman an der Schreibmaschine, mochte ihn immer noch und fand: »daß es durchaus das beste meiner Bücher ist« (S. 309). Während der Überarbeitung verbrachten sie und Leonard einen Winterurlaub in einem Haus in der Nähe von St. Ives, und sie klagte: »All meine Fakten über Leuchttürme sind falsch.«[14] Im Januar 1927 las Leonard den Roman und nannte ihn ein »Meisterwerk« (S. 310). Zwischen Februar und März überarbeitete sie zwei Fahnensätze, die für die amerikanische und für die englische Ausgabe. Selbst während dieser mühseligen Arbeit und trotz ihrer Furcht davor, wie das Buch aufgenommen werden würde, war sie immer noch davon eingenommen:

»Du liebe Zeit, wie schön manche Stellen von The Lighthouse sind! Weich & geschmeidig, & tief, meine ich, & kein einziges falsches Wort, seitenlang manchmal.« (S. 314)

Im nachhinein sah sie es als erfolgreichen Versuch, die zwei Dinge zu tun, die sie Lily im letzten Teil des Buches tun läßt: ihre eigenen Gefühle zu verstehen und eine Struktur zu schaffen, die funktioniert – »Ich bin … bis in meine Tiefen vorgedrungen & habe Formen aneinandergefügt.« (S. 327)

 

Ihre Beschäftigung mit der Schaffung von Formen findet sich häufig auch in der Handlung des Romans wieder, angefangen beim Ausschneiden von Bildern aus dem Katalog der Army and Navy Stores auf der ersten Seite bis hin zur letzten Linie, die Lily auf der letzten Seite in der Mitte ihres Bildes zieht. Die sich wandelnden Formen des Leuchtturms, die Vorbereitung des Dinners und die Vollendung des Bildes sind die drei dominierenden Formen des Buches. Aber andere Formen, die je nach Perspektive variieren und sich verändern (»so viel hängt also, dachte sie, von der Entfernung ab« [S. 253]) tauchen in jeder Szene des Buches auf: das purpurne Dreieck von Lilys Bild; ein »keilförmiges Kerngehäuse im Dunkeln« (S. 110f.), zu dem Mrs Ramsay wird, als sie allein ist; eine »erhabene Gestalt; die Gestalt einer Kuppel« (S. 99), als die sie wahrgenommen wird; die Buchstaben des Alphabets, die sich vor Mr Ramsay bis weit in die Ferne erstrecken, die offenen Schnürsenkel und der Knoten aus Tau, der zu- oder aufgeknüpft wird; die Form des Sonetts und die Form der Insel, »so etwa wie ein auf der Spitze stehendes Blatt« (S. 250).

Diese Formen bewegen sich hin zum Symbolischen oder verharren an seinem Rand, lassen sich aber nicht vollends auflösen, wenn man sie als streng erklärbare »Symbole« liest. »Ich nutze gelegentlich das Symbolische, stelle ich fest« (S. 303), konstatiert sie trocken und argwöhnisch, als sie am Ende des ersten Entwurfs angekommen ist. Aber sie verwahrt sich sogleich gegen Roger Frys Einwurf, daß das Ankommen am Leuchtturm »eine symbolische Bedeutung hat, die mir entgeht« (S. 323).

»Ich habe mit The Lighthouse nichts gemeint. Um ein Buch zusammenzuhalten, muß man eine zentrale Linie haben, die durch seine Mitte verläuft. Ich sah, daß sich alle möglichen Arten von Gefühlen daran festmachen würden, weigerte mich jedoch, sie bis zu Ende zu denken, und vertraute darauf, daß die Menschen sie zur Lagerstatt ihrer eigenen Emotionen machen würden – was sie getan haben, da einer denkt, er bedeute eine Sache, und ein anderer eine andere. Ich kann mit Symbolismen nicht umgehen, außer auf diese vage, verallgemeinernde Art.« (S. 324)

Diese kluge Vorhersage der nächsten siebzig Jahre der Kritik an Zum Leuchtturm – nämlich daß »einer denkt, er bedeute eine Sache, und ein anderer eine andere« – könnte als Schutzbehauptung gedeutet werden. Ich betrachte sie lieber als nützliche Warnung. In ihrem autobiographischen Augenblicke des Daseins beschreibt Woolf »das Erschaffen von Szenen« als ihre »natürliche Art …, die Vergangenheit festzuhalten. Eine Szene schiebt sich immer ganz nach oben; arrangiert; repräsentativ. … Ist diese meine Anfälligkeit für das Empfangen von Szenen der Ursprung meines Schreib-Impulses?«[15] Es könnte sich um ihren Vater handeln, der in einem Boot sitzt und »we perished, each alone« (S. 286) zitiert, oder ihre Mutter, die strickend am Fenster sitzt, während die Kinder Krickett spielen. Diese Szenen sind keine Codierungen, sie stehen nicht für irgend etwas anderes. »Repräsentativ« ist nicht dasselbe wie »symbolisch«. Auf verstecktere Weise liefern sie die Formen, die der Fokus für intensive Emotionen sind. Die Erzählung besteht also aus Szenen, die so aufgebaut sind, daß sie um gewisse Formen kreisen. Daher geht es im Roman so sehr um Arten des Schauens (selbst wenn niemand zugegen ist, wird die Szene betrachtet, und die Erzählung beschäftigt sich mit Blickwinkeln und Wahrnehmungen), zum Beispiel, als Lily Mr Bankes’ »strahlenden Blick« nachvollzieht und »ihr eigenes, anderes Strahlen« (S. 96) dazugibt, oder als Mrs Ramsay Mr Carmichael beobachtet, der die Obstschale betrachtet: »Das war seine Art zu schauen, anders als ihre. Doch daß sie gemeinsam schauten, einte sie.« (S. 148) Und die Notwendigkeit, durch etwas hindurchzublicken, das Solide transparent zu machen, wird immer wieder betont. Lily verwandelt Charles Tansley in eine »Röntgenaufnahme« (S. 142) oder schmiegt sich an Mrs Ramsay und versucht, in ihre »geheimen Kammern« (S. 98) vorzudringen, oder ersehnt sich »ein heimliches Sinnesorgan« (ähnlich dem Strahl des Leuchtturms), mit dessen Hilfe »man sich durch Schlüssellöcher stehlen« (S. 260f.) kann. Wir könnten auch Zum Leuchtturm in eine Röntgenaufnahme verwandeln und Virginia Woolfs Konstruktion von Szenen und ihr »Aneinanderfügen« von Formen untersuchen, indem wir das Manuskript des Romans lesen. Viele der Szenen hatte sie von Anfang an im Sinn, oft in derselben Reihenfolge, die sie hinterher einnahmen, aber zwischen dem ersten Entwurf (es gibt kein Typoskript) und den ersten Ausgaben[16] wurde vieles in Form gebracht. Beim Umschreiben ganzer Passagen wurden bestimmte Bilder – Licht, Wellen, der Leuchtturm – entwickelt und verdickt (»um die Bedeutung des Lebens der des Schicksals entgegenzustellen«). Die Erzählperspektive ist zunächst die des allwissenden Erzählers, verschiebt sich dann aber beständig hin zur inneren Sprache einer Figur. Manche Figuren werden beträchtlich verändert: Zum Schluß werden Mrs Ramsays Unfähigkeit, sich auszudrücken, oder Lilys religiöse Überzeugungen weniger betont. Lily beginnt als Nebenfigur, als Miss Sophie Briscoe, »eine freundliche, korpulente Dame von fünfundfünfzig, die Hecken und strohgedeckte Cottages zeichnet und alle Heiratsanträge ablehnte«[17].

Sobald Sophie zu Lily geworden ist, darf sie sich im Manuskript deutlicher über ihre politischen Gefühle äußern, so wie Charles Tansley ihr und den Ramsays gegenüber offener feindselig sein darf. Im allgemeinen spielt die Politik im ersten Entwurf eine größere Rolle. Lilys Gefühl der Bedrängnis, als sie Tansley beim Essen gegenübersitzt, findet ihren Ausdruck in einer Debatte (die ausführlicher ist als »Frauen können nicht malen, Frauen können nicht schreiben« [S. 95]) und liest sich wie eine erste Version der Thesen in Ein eigenes Zimmer. Was kümmert es sie, was er denkt, fragt sie sich selbst.

»Oh, es ist Shakespeare, korrigierte sie sich – wie eine vergeßliche Person, die den [Hyde Park] Regents Park betritt, [sich vielleicht fragt wieso] & den Parkwächter drohend auf sich zukommen sieht; [sie schreiben vor, daß Hunde an der Leine geführt werden müssen]; ausrufen könnte Oh, ich weiß schon / natürlich müssen Hunde an der Leine geführt werden! So erinnerte sich Lily Briscoe, daß [jedermann] der Mann Shakespeare [hinter sich] hat; & Frauen nicht.«[18]

Aber sie möchte dieses »Entsetzen & diese Verzweiflung, Vernichtung; Nichtssein«, das er in ihr auslöst, nicht äußern, denn sie »könnte es nicht ertragen, was vielleicht geschähe, würde sie ihre Meinung aussprechen, eine Feministin genannt zu werden«[19]. Diese ganze Passage ist durchgestrichen, das Wort »Feministin« findet sich in dem Roman nicht mehr. Aber sowohl das Wort als auch Lilys Argumentation tauchen zwei Jahre später in Ein eigenes Zimmer wieder auf. Fiktion und feministische Polemik sind eng miteinander verwoben.

So wie Lilys Feminismus in Zum Leuchtturm abgemildert wird, wird auch Tansleys von Klassenbewußtsein geprägte Haltung den Ramsays gegenüber abgeschwächt: Er verabscheut diese »Frauen aus der oberen Mittelschicht«, er liest in seinem Zimmer über die Französische Revolution; er ist wütend, weil sie nicht erkennen, »daß er der Welt seinen Stempel aufdrücken würde«, er läßt Mr Bankes an die Gefahren denken, die sich ergeben, wenn »ein Reformer« aufsteht; läßt Mrs Ramsay an die Armen nicht als Individuen, sondern als »Blöcke« denken.[20] Ihr scheint es, daß seine »Menschenliebe« in direktem Zusammenhang zu seinem »Haß auf die Künste« steht.[21] Im Manuskript von »Zeit vergeht« werden einsame, am Strand entlanglaufende Beobachter als »Prediger und Wahrsager?« bezeichnet, von »der ungeheuerlichen Kanonade« des Krieges (der im Manuskript weitaus gegenwärtiger ist) zur Verzweiflung getrieben.[22] Im Manuskript (und in der letzten Fassung) von »Der Leuchtturm« erinnert sich Lily daran, wie Tansley einen Vortrag über den Frieden hält; und James hat ihn (nur im Manuskript), als einen dieser »abscheulichen« Menschen in Erinnerung – »die Atheisten, die Sozialisten, die Pazifisten« –, die sein Vater anzog.[23] Wie es scheint, wird Tansley (expliziter in der ersten Version) als einer der »Beobachter und Prediger« identifiziert – als einer der Pazifisten und Sozialisten –, die während des Krieges vergeblich versuchten, Führungsrollen zu übernehmen.

Im Manuskript liegt auch eine größere Betonung auf der Duldsamkeit der arbeitenden Bevölkerung, beispielsweise der von Mrs McNab, die während des Krieges erträgt, was die »Könige und die Kaiser« heraufbeschworen haben. Am Rand von Zum Leuchtturm existieren die »gewöhnlichen Menschen« Großbritanniens: die Kranken und Armen, die Mrs Ramsay im Ort besucht; der einarmige Plakatkleber, die Zirkustruppe, der gutaussehende, unzuverlässige Gärtner, das Schweizer Mädchen, die Köchin, die Putzfrauen, die Fischer, der Leuchtturmwärter und sein Sohn, der an Hüftgelenkstuberkulose leidet. Die Ramsays sind viktorianische Philanthropen – sie sehen die Dienstboten oder Fischer als Individuen, nicht als Klasse, und wie auch Scott bewundert und beneidet Mr Ramsay ihre Einfachheit. Aber die Dinners der Ramsays, ihr Familienleben, ihre Art der Literatur, ihre häuslichen Gepflogenheiten (in »Der Leuchtturm« scheint es keine Dienstboten im Haus zu geben) werden von den Kriegsjahren fortgeweht, und wer überlebt, ist die Klasse derer, die das Haus vor dem totalen Verfall retten: Mrs McNab und Mrs Bast und ihr Sohn George.[24] Bedauerlicherweise jedoch hat Virginia Woolf eine so große Distanz zu ihren Charakteren aus der Arbeiterklasse, daß sie sich nicht einmal erinnern kann, ob sie das Schweizer Mädchen »Marie« (S. 72) oder »Marthe« (S. 152) genannt hat. Trotzdem verkörpern Mr Ramsays Sorgen darüber, ob die Zivilisation anhand der »Masse der Durchschnittsmenschen« beurteilt werden sollte – der »Sklavenschicht« – und ob Shakespeare weniger notwendig ist als der »Fahrstuhlführer im Untergrundbahnhof« (S. 89), Virginia Woolfs eigene Sorgen: Ist der Generalstreik wichtiger als das Schreiben von Zum Leuchtturm?

Das alles wird in der Endversion des Romans abgeschwächt, trotzdem bleibt eine politische Dimension. Hinter den Ramsays steht die Geschichte des Imperialismus. Mrs Ramsays Verwandte regieren Indien, und obwohl Mr Ramsay im gesellschaftlichen Umgang exzentrisch ist und außerdem nicht gerade reich, gehört er zum Bildungs-Establishment. Zudem besitzt er seinen eigenen Herrschaftsbereich, die kleine Insel seiner Familie. Mr Ramsays metaphorische Rolle als Anführer ist zum Teil komödiantische Phantasie, andererseits aber auch ernst gemeint. Er ist heroisch, aber auch ein Tyrann. Die Mischung aus höfischer Ehrerbietung und Dominanz, mit der er seine Frau behandelt, ist nicht nur charakteristisch für ihn, sondern auch ein Produkt des patriarchalischen Systems. Napoleon, Carlyle und die Französische Revolution werden in den Gesprächen der Männer oft genug erwähnt, um klarzumachen, daß männliche Traditionen imperialistischer Willkür (die Tansleys intellektuelles Erbe sind, obwohl er Pazifist und Sozialist ist) abgelehnt werden. Von wem? Von Mrs Ramsay mit ihrer anderen, matriarchalischen Sprache; von Lily mit ihrer Malerei; von William Bankes mit seiner wissenschaftlichen Objektivität; von dem (wahrscheinlich homosexuellen) Augustus Carmichael mit Dichtung; und von den Kindern. In Augenblicke des Daseins beschreibt Virginia Woolf die Stephen-Kinder als eine »Republik«[25], die sich der Tyrannei widersetzt, und sagt, Vanessa und sie seien »beide von Natur aus Forscherinnen und Revolutionärinnen« gewesen und hätten sowohl gegen ihren Vater als auch gegen ihre Halbbrüder ankämpfen müssen, und zwar einerseits »gegen sie persönlich« und andererseits »gegen sie als Vertreter der Gesellschaft«[26]. Die Verschwörung von Cam und James gegen Tyrannei legt diesen Kampf erneut auf: Es ist ein politischer Kampf, geführt im Interesse einer freieren Gesellschaft (der Art von Gesellschaft, in der man die Heirat von Paul und Minta als Erfolg statt als Fehler sehen könnte), die die Ramsays sich weder vorstellen noch kontrollieren können. »Ihre Kinder würden hingegen einige Seltsamkeiten zu sehen bekommen« (S. 268), sagt Mr Ramsay zu Macalister.

Aber wie üblich vergrub Woolf die polemische Substanz des Buches unter Dingen, die sie mehr interessierten: intensive Gefühle, die Schaffung von Charakteren und Atmosphäre, Rhythmen der Wahrnehmung. Immer wieder werden auf dem Weg von Manuskript zu Endversion direkte Bezüge gestrichen oder verschleiert. Diese Streichungen erfolgen im Interesse des flüssigen Erzählens, und zu den hervorstechendsten und intensivsten Entwicklungen der Geschichte von der ersten bis zur letzten Version gehört die Art, wie Woolf nur grob angerissenen Ideen Form verleiht. Unfertige Sätze und nur locker formulierte Passagen werden verdichtet, lyrisiert und rhythmisch gemacht. Ein Brief an Vita Sackville-West kommentiert den Prozeß:

»Stil ist eine sehr einfache Sache, nichts als Rhythmus. Sobald man den gefunden hat, kann man keine falschen Wörter benutzen. Aber andererseits sitze ich hier nach einem halben Vormittag, vollgestopft mit Ideen, und Visionen, und so weiter, und kann sie aus Mangel am richtigen Rhythmus nicht loslösen. Das, was Rhythmus ist, ist wirklich sehr tiefgründig, und geht viel tiefer als Worte. Ein Anblick, ein Gefühl, bewirkt diese Welle im Geist; lange bevor er die dazu passenden Worte formuliert; und beim Schreiben (so lautet mein derzeitiger Glaube) muß man dies einfangen, und zum Funktionieren bringen (was allem Anschein nach nichts mit Wörtern zu tun hat) und dann, wenn sie sich im Geist bricht und überschlägt, bewirkt sie Worte, die zu ihr passen.«[27]

Der Prozeß, Worte einem wellenartigen Rhythmus anzupassen, zeigt, daß Woolfs charakteristischer fiktionaler Ton das Ergebnis eines hochgradig durchdachten Vorgehens war. Die wortlose Bewegung der Wellen, die er einfängt, mag natürlich und instinktiv sein, aber der Prozeß des Einfangens bedeutete viel harte Arbeit. In Zum Leuchtturm verlangten die am spontansten klingenden, lyrischsten Passagen allesamt viel Mühe. Nehmen wir zum Beispiel Cams Schwärmerei über ihren Vater. Im Manuskript liest sie sich so:

»Denn nichts / niemand [zog sie mehr an] übte größeren Reiz auf sie aus als dieser seltsame alte Mann. Seine Hände waren schön; & seine [kräftigen] schön geformten Füße. Seine Stimme war schön; & seine Worte. [Er] Vor allem seine Eile und seine Inbrunst; seine Schrulligkeit; seine Lachhaftigkeit; seine brennende extreme / Energie; & seine Verschlossenheit; [& seine] Was jedoch unerträglich blieb, & für alle Zeiten erkennbar sein würde, beispielsweise durch das plötzliche, ihm selbst nicht bewußte Heben eines Arms, hoch & mahnend, & und ausreichend, um die stürmischsten Leidenschaften ihres Herzens zu bezwingen, [war] seine unerträgliche [Arroganz, seine Irra] Forderung an sie, an James, an die ganze Welt vielleicht; Du hast dich mir unterzuordnen.«[28]

In der Endversion wurde der Rhythmus meisterhaft beherrscht, wurden die Worte dazu gebracht, sich an ihn anzupassen, die Textur wurde verdichtet und mit Anspielungen darauf ausgefüllt, was außerhalb von Cams innerer Stimme existiert – seine Zitate, sein Buch, der Fisch –, um den Moment »tiefer« zu machen:

»Denn niemand übte größeren Reiz auf sie aus; seine Hände waren schön für sie und seine Füße und seine Stimme und seine Worte und seine Eile und seine Launenhaftigkeit und seine Schrulligkeit und seine Leidenschaftlichkeit und daß er vor aller Ohren sagte, Wir gingen unter, jeder allein, und seine Verschlossenheit. (Er hatte sein Buch aufgeschlagen.) Was jedoch unerträglich blieb, dachte sie, während sie aufrecht dasaß und Macalisters Jungen dabei beobachtete, wie er den Haken aus den Kiemen eines anderen Fisches herauszog, war jene krasse Blindheit und seine Tyrannei, die ihr die Kindheit vergiftet und bittere Stürme ausgelöst hatten, so daß sie selbst jetzt noch zornbebend nachts aufwachte und sich irgendeines seiner Befehle erinnerte; irgendeiner Anmaßung, ›Mach dies‹, ›Mach das‹, seiner Herrschsucht; seines ›Du hast dich mir unterzuordnen.‹« (S. 230)

Oder nehmen wir das Ende von »Die Fenstertür«, das sich so wortgewandt und ruhig liest, mit dem sie aber große Mühe hatte. Hier die erste Version:

»Sie konnte nie sagen, was sie empfand. Also stand sie auf und trat mit dem rötlichbraunen Strumpf ans Fenster, immer strickend, & betrachtete das Licht des Leuchtturms. [Jetzt war es so dunkel, daß das Meer zu beiden Seiten schwarz wie Marmor aussah.] Es kam & ging; [h] direkt und seltsam, & über dem Meer, wie ein

Und sie dachte fühlte / wußte [absolut sicher, daß er] sie beobachtete, & sie wußte, daß er an sie / was er von ihr dachte, & [Die] schöner denn je, & sie wußte, daß es ihn [über die Maßen /sehr] freuen würde, könnte sie sich umdrehen & zu ihm sagen du hast mich so absolut glücklich gemacht; das hast du] war es nicht nötig, etwas zu sagen; aber nein: sie konnte es nicht [& daß es genügte, wenn sie sich mit ihrem Strickzeug umdrehte,] [am Rand: sie wußte, daß er wollte, daß sie ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte], lächelnd, weil sie gewußt hatte, daß er & sie drehte sich um, mit ihrem Strickzeug, & lächelte ihn an, weil – oh, natürlich hatte sie absolut recht; [sie] er wußte, was sie empfand & und sie mußte nur zu ihm sagen: ›Ja: morgen wird es naß werden.‹[29]

 

Noch in den Fahnen nahm sie letzte Korrekturen vor und schwankte zwischen »zum Teil, weil es ihr jetzt, während er sie beobachtete, nichts ausmachte, zum Leuchtturm zu schauen« und »zum Teil, weil sie sich erinnerte, wie schön es oft ist – das Meer bei Nacht«; zwischen »Und sie empfand sich als sehr schön« und »Und empfand sich selbst als sehr schön« (S. 177) und zwischen zwei Enden, die Mr und Mrs Ramsays Gefühle unterschiedlich betonen:

»›Ja, du hattest recht. Morgen wird es naß werden.‹ Sie hatte es nicht gesagt, doch er wußte es. Und sie schaute ihn lächelnd an. Denn wieder hatte sie den Sieg davongetragen.« (S. 178)

 

»›Ja, du hattest recht. Morgen wird es naß werden. Ihr werdet nicht fahren können.‹ Und sie schaute ihn lächelnd an. Denn wieder hatte sie den Sieg davongetragen. Sie hatte es nicht gesagt; doch er wußte es.«[30]

Das Ausformen der Endversion hatte viel damit zu tun, dem autobiographischen Material mehr Distanz zu verleihen (»Es wird Vater zu ähnlich sein, oder Mutter«). Also werden die französischen Vorfahren ihrer Mutter Julia Stephens zu Italienern (obwohl Mrs Ramsay von ihrer Großmutter ein französisches Rezept für Bœuf en Daube erbt), und ihre Leidenschaft für Walter Scott, genau so groß wie die ihres Mannes, wird gestrichen, damit Scott dazu dienen kann, Mr Ramsays Männlichkeit zu unterstreichen. Im allgemeinen wird die sachliche, effiziente Seite von Julia Stephens Charakter (sehr deutlich in ihren Ratschlägen für gute Krankenpflege, Notes from Sick Rooms, 1883) zugunsten ihrer einzelgängerischen, grüblerischen, mystischen Seite zurückgestellt. Mr Ramsay hält anders als in der ersten Version und anders als Woolfs Vater Leslie Stephen keine Vorträge mehr über Agnostik in häßlichen Hallen, und einige der schrecklichen Szenen zwischen den Ramsay-Kindern und ihrem verwitweten Vater – Szenen, die Woolfs Erinnerungen in Augenblicke des Daseins lebhaft evozieren – fallen weg.

Diese autobiographischen Bereinigungen sollten uns eine Warnung sein, Zum Leuchtturm einfach nur als wörtliche Übertragung von Virginia Stephens Kindheit zu lesen. Gewiß bezieht sich der Roman auf einige identifizierbare Quellen. Die autobiographischen »Reminiszensen« in Augenblicke des Daseins (sowohl vor als auch nach dem Roman geschrieben) kommen ihm oft sehr nahe. Wie es scheint, hat sie noch einmal das 1895 von ihrem Vater verfaßte, für seine Kinder gedachte Bekenntnis, das »Mausoleumsbuch«, gelesen, da mehrere Details seiner Gefühle für seine verstorbene Frau Julia im Roman auftauchen. Obwohl sie die Briefe ihrer Eltern im Jahr 1925 nicht noch einmal las, hatte sie sie im Herbst 1904 sorgfältig für F.W. Maitlands 1906 erschienene Biographie ihres Vaters transkribiert. Und sie griff noch einmal zu ihrem Tagebuch für 1905, das Jahr, in dem die Biographie geschrieben wurde. (Am 7. Januar 1926 schrieb sie an Vita, sie habe das Tagebuch entweder in Long Barn oder Charleston liegenlassen, folglich muß sie es gelesen haben.) Das Tagebuch enthielt einen Bericht über die Rückkehr der Stephen-Kinder nach St. Ives im Sommer 1905. Sie dachte auch an ihre Großtante, Julia Margaret Cameron, während sie die Einleitung für ein Buch mit ihren Photographien schrieb, das 1926 erschien. Camerons Porträts von Julia Duckworth waren in ihrem Haus am Gordon Square aufgehängt worden, als die Stephen-Kinder nach Bloomsbury zogen. Jetzt dachte sie erneut an diese traurigen Bilder, die eine zweifache Erinnerung heraufbeschworen: an ihre Mutter, wie sie in Virginias Kindheit war, und an die Zeit zehn Jahre nach ihrem Tod, als die Stephen-Kinder sich ohne die Eltern ein neues Leben schufen.

Aber wo »ist« Virginia in ihrer Retrospektive? Sie »ist« das Kind Rose, das im Schlafzimmer für die Mutter den Schmuck aussucht; sie »ist« die heranwachsende Nancy, die in einem Wasserloch eine ganze Welt sieht und beim Anblick der Leidenschaftlichkeit von Erwachsenen empört, entrüstet ist; sie »ist« Cam im Kinderzimmer, die von ihrer Mutter in den Schlaf gesprochen wird, und Cam im Boot, wie sie ihren Vater bewundert und hasst; sie »ist« auch Lily, die dieses Buch malt.

Aber »die Malerei-Teile« (S. 317), über die Vanessa lachen würde, wie sie fürchtete, gehen zurück auf Vanessa und auf Unterhaltungen mit Jacques Raverat und Roger Fry. Und Vanessa mit ihren Kindern, ihrer Schönheit, ihrer Schäbigkeit und ihrer Zurückhaltung »ist« gleichzeitig auch Mrs Ramsay: »Womöglich steckt ein großer Teil von dir in Mrs Ramsay.«[31] Als Virginia zu einem Vortrag von Tatjana Tolstoi geht, »ist« sie Charles Tansley, der die Oberschicht hasst und wünscht, sein »Leben Tolstoi gegenüber entschuldigen zu können«[32]. Der Tod von Prue und von Mrs Ramsay, die im weißen Kranz über die Felder geht, ist zweifellos eine Erinnerung an Julia Stephens Tod und den von Virginias Halbschwester Stella Duckworth, die so kurz nach ihrer Mutter starb. Aber im Dezember 1925 denkt Virginia Woolf wieder einmal an Katherine Mansfield, »diesen vagen Geist«[33], deren Tod im Jahr 1923 ein Bild in ihr heraufbeschwor, »von Katherine, die sich einen weißen Kranz aufsetzte & uns verließ, auf Abruf, geehrt, auserwählt«[34]. Vielleicht hat Lilys fast erotischer Wunsch nach körperlicher Nähe zu Mrs Ramsay etwas mit Virginias wachsenden Gefühlen für Vita zu tun, die sie sich während der Arbeit am Roman vorstellte als einen »Leuchtturm … sprunghaft, plötzlich, fern«[35]. Mrs Ramsays dunkle Gedanken über Einsamkeit und Tod sind auch die von Virginia und lassen sich u.a. darauf zurückführen, daß sie De Quincey las, während sie den Roman schrieb (De Quincey war der Lieblingsautor ihrer Mutter, aber daß Mrs Ramsay ihn mochte, wurde aus der Endversion gestrichen). Unter all diesen dunklen und komplizierten Verbindungen zwischen Leben und Roman ist die vielleicht überraschendste – und möglicherweise die tiefste – die zwischen Virginia Woolf und Mr Ramsay. Der komische, tyrannische, charismatische Vater wird im Roman oft als der Feind dargestellt. Aber auch Virginia Stephen deklamierte auf Spaziergängen Gedichte, genau wie Mr Ramsay. Und wenn er über die Beziehung zwischen Shakespeare und dem Fahrstuhlführer in der Untergrundbahn grübelt oder von seinem eigenen Ruhm wie besessen ist, sind es nicht nur Leslie Stephens Ängste und Egoismen, die sie heraufbeschwört. »Murry hat sich deine arme Virginia im Adelphi[36] vorgeknöpft«, schreibt sie im Februar 1926 an Vita, »und Virginias armen Tom Eliot, und all ihre Arbeiten, und hat sie zum Tode verurteilt.«[37] »Murry sagt, meine Werke werden in 10 Jahren nicht mehr gelesen werden«, vermerkt sie in ihrem Tagebuch, gleich hinter ihrem freudigem Ausruf über die Fortschritte von Zum Leuchtturm: »Noch nie, nie habe ich so leicht geschrieben« (S. 294). John Middleton Murrys Artikel über »The Classical Revival«, in der Jacobs Zimmer und T.S. Eliots Das öde Land als Fehlschläge bezeichnet werden, die in zehn oder fünfzig Jahren niemand mehr lesen wird, war ebenso Auslöser für Mr Ramsays Wunsch, den Buchstaben »R« zu erreichen, wie Leslie Stephens Klagen im »Mausoleumsbuch«.

Die simple Lesart ist allerdings auch richtig. Zum Leuchtturm handelt durchaus auch von Virginia Woolfs Kindheit, ihrer Beziehung zu ihrem Vater als Heranwachsende, ihrer unsäglichen Trauer um ihre Mutter und ihren zwiespältigen Gefühlen der Solidarität gegenüber ihren Geschwistern. Es besitzt jenes eigenartig intime, intensive Gefühl, das man bei Literatur empfindet, in der Kindheitserinnerungen offengelegt und verarbeitet werden, wie in George Eliots Die Mühle am Floss, Katherine Mansfields Prélude, Willa Cathers Meine Antonia oder James Joyce’ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Woolfs Kindheit, ihre Familie und ihre Zeit als junge Erwachsene waren für sie wesentliche Themen. Sie schrieb wiederholt über ihre toten Eltern (in Die Fahrt hinaus, Nacht und Tag, Zum Leuchtturm und Die Jahre) und ihren toten Bruder (in Jacobs Zimmer und Die Wellen). Sie wusste sehr gut, was sie für sich selbst tat, indem sie Zum Leuchtturm schrieb, und erklärte es zweimal, einmal im Tagebuch für 1928, etwa anderthalb Jahre nach Beendigung des Buches, und einmal, viele Jahre später, in der autobiographischen »Skizze der Vergangenheit«[38], die sie für ihre Freunde verfaßte. Beide Erklärungen beziehen sich auf das Schreiben des Romans als Therapeutikum, aber einmal geht es um ihren Vater, und einmal um ihre Mutter:

»Es ist absolut wahr, daß ich ungeachtet der Tatsache, daß sie starb, als ich dreizehn war, von ihr besessen war, bis ich vierundvierzig war. Und dann, als ich eines Tages um den Tavistock Square[39] spazierte, erdachte ich, so wie ich meine Bücher manchmal erdenke, To the Lighthouse; in einem großen, anscheinend unwillkürlichen Drang … ich schrieb das Buch sehr schnell; und als es geschrieben war, hörte ich auf, von meiner Mutter besessen zu sein. Ich höre ihre Stimme nicht mehr; ich sehe sie nicht mehr.

Wahrscheinlich habe ich für mich selbst getan, was Psychoanalytiker für ihre Patienten tun. Ich brachte ein sehr lange und tief empfundenes Gefühl zum Ausdruck. Und indem ich es zum Ausdruck brachte, erklärte ich es und bettete es dann zur letzten Ruhe.« (S. 335)

»In meinem Geist zur Ruhe gelegt«, »bettete es dann zur letzten Ruhe«, »Ruh, ruh, verstörter Geist!«[40] Geistern verhilft man zur letzten Ruhe; man treibt sie aus, damit sie anderen keinen Ärger mehr machen können, aber auch, damit sie selbst Ruhe und Frieden finden. Zum Leuchtturm zu schreiben war, wie Virginia Woolf sagt, fast wie sich einer Psychoanalyse unterziehen; sie erdachte sich ihre eigene Therapie – die Erzählung – und exorzierte ihre Besessenheit in bezug auf beide Elternteile. Aus den sich wiederholenden Worten, mit denen sie diesen Prozeß beschreibt, kann man auch schließen, daß sie mit dem Schreiben des Romans ihre Geister zu beschwichtigen suchte.

Zum Leuchtturm ist eine Geistergeschichte. Mrs Ramsays Dinner bezieht seine Magie aus der mythischen Ähnlichkeit mit dem dionysischen Fest für die Seelen der Toten, bei dem der Priester (in diesem Fall Mr Carmichael) am Ende des Mahls beschwichtigend auf die Geister des Ortes einspricht und sie bittet, sich zu verabschieden.[41] Die körperlosen Stimmen am Anfang von »Zeit vergeht« sind der Prolog zu einer längeren Version ihrer früheren Erzählung »Ein verwunschenes Haus«. Und Mrs Ramsay erscheint gegen Ende des Romans noch einmal als Geist (»das gehörte für Lily zu ihrer vollkommenen Güte« [S. 265]). Wie andere große modernistische Werke der betreffenden Zeit, in denen Geister in die moderne Welt einbrechen – Leopold Blooms Sohn Rudy und Stephen Dedalus’ Mutter in James Joyce’ Ulysses, der Geist von Teiresias in T.S. Eliots Das öde Land und der »vertraute Mischgeist« am Ende seiner »Vier Quartette« –, ist auch dieses Buch »ein verwunschenes Haus«.

 

Die Mutter starb; und »das Haus war verlassen; das Haus war verwaist« (S. 194). Das Haus in St. Ives, in dem die Stephen-Kinder von Geburt an alle Sommer verbracht hatten und das für Virginia Woolf mit ihren frühesten Erinnerungen verbunden war, damit »die reinste Ekstase zu fühlen, die ich mir nur vorstellen kann« (S. 333), wurde nach Julias Tod aufgegeben. Woolf verbrachte viel imaginäre Zeit damit, dahin zurückkehren zu wollen, sie wollte »ein Stadium erreichen, in dem ich so, als sei ich dort, zu beobachten scheine, wie die Dinge geschehen« (S. 333). Sie sieht ihre Kindheit als einen Zeitraum, der mit dem Tod ihrer Mutter endet: »Und St. Ives verschwand für immer.«[42] Zehn Jahre später fuhren die Stephen-Kinder noch einmal nach Cornwall und gingen am Abend ihrer Ankunft in St. Ives zum Talland House.

»Da war das Haus … da waren die Pflanzkrüge, vor dem Beet mit den hohen Blumen; soweit wir es sehen konnten, war alles so, als hätten wir es erst an diesem Morgen verlassen. Aber wir wußten nur zu gut, daß wir nicht weiter gehen konnten; wenn wir uns noch mehr näherten, würde der Bann gebrochen. Die Lichter waren nicht unsere, die Stimmen waren die Stimmen von Fremden.«[43]

 

Diese unbehausten Geister, die zu einem verlorenen Heim zurückkehren, haben etwas sehr Viktorianisches. Der Tagebucheintrag erinnert mich an Tennysons »Enoch Arden«, den schiffbrüchigen Seemann, der Jahre später nach Hause zurückkehrt, durch ein Fenster späht, einen anderen Mann mit seiner Frau und seiner Familie am Herd sitzen sieht und sich fortschleicht, »vorsichtig wie ein Dieb«.[44] »Zeit vergeht« beschäftigt sich mit dem verlassenen Haus, wie die Verse von Tennysons »In Memoriam«, die das verlorene Pfarrhaus in Somersby beklagen:

Unbeachtet verflattert im Garten die Blüte,

Und der Zweig wieget sich einsam im Winde;

Unbemerkt verdorret des Ahorns Rinde,

Und die Buche verblaßt, die golden erglühte.

 

Bis um den Garten und um die verödeten Stätten

Sich ein Netz neuer Erinn’rungen spinnt,

Die mit dem Reiz der Gewohnheit das fremde Kind

Fester der Landschaft mit jeglichem Jahre verketten;[45]

»Die Lichter waren nicht unsere; die Stimmen waren die Stimmen von Fremden«: Zum Leuchtturm besitzt die Emotionen einer Elegie, eine tennysonsche Stimmung. Einer von Mr Ramsays Ausbrüchen an Zitierwut im Manuskript gilt Matthew Arnolds »Thyrsis«, dem Trauergesang für Arthur Clough, den verstorbenen Gelehrten und Dichter. In dieser griechisch anmutenden Klage, verlegt in die Felder und Wiesen von Oxfordshire, blickt der Dichter »vom lauten, harschen, herzzerreißenden Gebrüll der Stadt« zurück auf sein Arkadien und sehnt sich nach der Sprache, in der die griechischen elegischen Dichter Persephone oder Orpheus heraufbeschwören konnten.

Auch die ganze Szenerie in Zum Leuchtturm ist ein verlorener Garten, an den Lily oder Mr Bankes in der Hölle der »großen Stadt« oft zurückdenken. Natürlich ist er voller klassischer Ausschmückungen und Anspielungen – Helena, Demeter und Persephone, Bacchus und Neptun, das Fest für die Toten und die Reise in die Unterwelt. Mr Ramsays »Büchlein« (S. 252) (im Manuskript gibt es noch mehr Hinweise darauf) ist wahrscheinlich sein Plato, und die »nicht unterschiedenen Stimmen«[46] des griechischen Chors werden imitiert von den »schweifenden Lüften« (S. 185) in »Zeit vergeht«. Aber das Griechische von Zum Leuchtturm wird durch das 19. Jahrhundert gefiltert. Mrs Ramsay und Prue ähneln Demeter und Persephone, wie Algernon Charles Swinburne oder die Präraffaeliten oder Julia Margaret Cameron sie sich vorstellten. Mr Ramsay, der beim Anblick seiner Frau und seines Sohnes »der Schönheit der Welt Tribut zollt« (S. 82), klingt wie Walter Paters Schwärmerei über die Mona Lisa in The Renaissance (mehr noch im Manuskript, wo die Mona Lisa aussieht wie »der tiefgründige Geist, der über den Wassern des Lebens brütet«[47].

Doch die Zeit viktorianischer, neoklassischer Hirtenliteratur ist vorbei: Was wir vor uns haben, ist ein »moderner« Roman des 20. Jahrhunderts. Der brutale Bruch der Erzählung in der Mitte des Buches ist, wie Lilys Strich durch die Mitte ihres Bilds, nicht nur ein Bruch mit der Kindheit, sondern auch mit der literarischen Tradition. »Zeit vergeht« war Virginia Woolfs wagemutigste Abkehr von traditioneller Darstellung; sie ängstigte und befreite sie.

»Ich verstehe es nicht so recht – da gibt es den außerordentlich schwierigen abstrakten Text – ich muß ein leeres Haus darstellen, keine menschlichen Charaktere, das Verstreichen der Zeit, alles augenlos & gesichtslos mit nichts, woran ich mich halten könnte: nun, ich stürze mich darauf & schüttele auf der Stelle zwei Seiten aus dem Ärmel. Ist es Unsinn, ist es brillant? Warum werde ich so überschwemmt von Wörtern, & bin anscheinend frei, genau das zu tun, was ich möchte?« (S. 297)

Dieser drastische Bruch kennzeichnet einen verstärkten Kampf um Form in »Zeit vergeht« und »Der Leuchtturm« (es ist auffällig, wie viel schwieriger es ist, sich in diesen Teilen an die Abläufe zu erinnern), da eine neue Art von Sprache und Gestalt für Literatur erfunden wird. Der Roman äußert sich explizit zu diesem Erfindungsprozeß: Es gibt ständige Vergleiche zwischen der Form, die die Erzählung annimmt, und den vorherigen, etablierten Formen, an denen er sich messen muß. »Sie hätte es natürlich anders machen können« (S. 95), weiß Lily sehr wohl und muß Mr Bankes gegenüber die Möglichkeit rechtfertigen, daß ein purpurnes Dreieck die Madonna mit Kind ebenso verkörpern kann wie ein Gemälde von Raffael oder Tizian. Mr Ramsays Begeisterung für »die Kraft und die geistige Gesundheit« (S. 173) von Scott und die von Mrs Ramsay für die Form des Shakespeare-Sonetts enthalten auch eine Herausforderung für diese Form der Dichtung (so wie der »furchterregende Raum« [S. 217] ihrer unerprobten Leinwand für Lily eine Herausforderung darstellt), die sich an ihren literarischen Vorgängern messen kann.

Der verlorene Zufluchtsort mit seinem Garten sind die Traditionen des Schreibens, von denen der neue Schriftsteller sich fortbewegen muß, hinaus in den furchterregenden Raum. Aber das neue Schreiben versucht, seinen Weg zurück in die Vergangenheit zu finden, so daß es im Buch eine eigenartige Spannung zwischen Experimentellem und Nostalgischem gibt. Im letzten Teil des Buches gibt es ein schmerzliches Sehnen, auf unterschiedliche Weise von Lily, James und Cam empfunden, die wahre Sprache des Gartens wiederzufinden, die sie mit Mrs Ramsay verbinden. Auf der ersten Seite sieht James die Farben und Geräusche des Gartens als seine »Geheimsprache« (S. 45). Im Boot versucht er, zum Klang des Gartens zurückzufinden, bevor das Rad über den Fuß rollte und ihn zermalmte (S. 247) und die Welt seines Vaters mit ihrem Regen und ihrem Grau die Oberhand gewann. Das tritt im Manuskript noch deutlicher zum Vorschein, wo die Welt der Sprache seiner Mutter beschrieben wird als »jener wundersame Garten … vor dem Fall der Welt (& er unterteilte die Zeit wirklich in den Raum vor der Katastrophe & den Raum danach)«[48]. In James’ ödipaler Erzählung sind Eden oder Arkadien, »jener wundersame Garten«, der vor dem Gesetz des Vaters existierte, ein Ort, wo die Menschen in normalem Ton sprachen« (S. 247), und seine Mutter »allein sagte die Wahrheit« (S. 249). Auch Cam erinnert sich, daß ihre Mutter in eine rhythmische und unsinnige Kindersprache verfiel, von Bergen und Vögeln und Gärten, damit sie einschlief, eine Sprache, die in der Welt der Erwachsenen zu einer Fremdsprache geworden ist, im Traum oder in einsamen Momenten aber wiedergefunden werden kann.[49] Die Aufgabe des Romans ist es, dafür zu sorgen, daß seine neue Sprache durch Rhythmus, Bilder und Formen jene erste, verschwundene Sprache wieder zum Leben erweckt.

Zum Leuchtturm handelt von Dingen, die enden, und enthält eine ganze Anzahl von Enden: die Geschichte, die Mrs Ramsay James erzählt (»Und das ist das Ende« [S. 110]); der letzte Band von Middlemarch, den Minta Doyle im Zug liegenläßt; das Ende von Scotts Geschichte über das Ertrinken des armen Steenie, das Mr Ramsay nach dem Dinner liest (»Nun, dann sollen sie das erst mal besser machen, dachte er, als er das Kapitel beendete« [S. 174]); das Büchlein, das er zu Ende liest, als sich die Fahrt zum Leuchtturm ihrem Ende nähert (»Mr Ramsay war mit Lesen fast fertig« [S. 266] – und wir sind es auch, wenn wir diesen Satz lesen); und Lilys »Vision« (S. 243). Zum Leuchtturm hat so viel mit Enden zu tun, weil das Thema der Tod ist. Es geht nicht nur darum, daß Menschen sterben und betrauert werden, sondern auch um die Sehnsucht nach dem Tod. »Wenn sie nur die Hälfte dessen gesagt hätte, was er sagte«, denkt Mrs Ramsay über ihren Mann, »sie hätte sich längst eine Kugel in den Kopf gejagt.« (S. 118) Bei der Dinnerparty verhält sie sich wie ein Seemann, der überdrüssig aufs neue lossegelt, dem es aber fast lieber wäre, »er hätte auf dem Meeresboden Ruhe gefunden« (S. 134). Ich nehme nicht an, daß Mrs Ramsay sich umbringt (obwohl Lily, im Manuskript, »nie gehört hatte, wie sie starb: nur ›Plötzlich‹«[50]), aber ihr tief empfundenes Gefühl der Grausamkeit und Traurigkeit des Am-Leben-Seins liegt dem ganzen Roman zugrunde.

Aber es gibt nicht nur Enden, sondern auch Wiederholungen. Mehrere Dinge ereignen sich zweimal. Es gibt zwei Dinners, das eine, an das Mrs Ramsay in »Die Fenstertür« denkt (und von dem sich ihre Söhne und Töchter davonmachen, sowie die »Mahlzeit vorbei war« [S. 254