Zum Teufel mit den fiesen Friesen - Christiane Franke - E-Book
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Zum Teufel mit den fiesen Friesen E-Book

Christiane Franke

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Beschreibung

Aufregung in Neuharlingersiel: Tjark Ukena wird erschossen, als er mit seinem Motorrad unterwegs ist. Kurz darauf erwischt eine Kugel die Kitersurferin Antje. Die Polizei in Wittmund vermutet einen Irren hinter den Taten, und Dorfpolizist Rudi soll die Augen nach Verdächtigen und Fremden aufhalten. Das passt ihm gar nicht in den Kram, denn sein verschollen geglaubter Vater ist gerade auf dem Steffens-Hof angekommen. Die Familienzusammenführung muss notgedrungen warten. Unterstützt von Lehrerin Rosa und Postbote Henner macht Rudi sich auf die Suche nach dem Todesschützen – und kann gerade noch verhindern, dass es ein weiteres Opfer gibt.

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Christiane Franke • Cornelia Kuhnert

Zum Teufel mit den fiesen Friesen

Ein Ostfriesen-Krimi

Über dieses Buch

Aufregung in Neuharlingersiel: Tjark Ukena wird erschossen, als er mit seinem Motorrad unterwegs ist. Kurz darauf erwischt eine Kugel die Kitesurferin Antje. Die Polizei in Wittmund vermutet einen Irren hinter den Taten, und Dorfpolizist Rudi soll die Augen nach Verdächtigen und Fremden aufhalten. Das passt ihm gar nicht in den Kram, denn sein verschollen geglaubter Vater ist gerade auf dem Steffens-Hof angekommen. Die Familienzusammenführung muss notgedrungen warten. Unterstützt von Lehrerin Rosa und Postbote Henner macht Rudi sich auf die Suche nach dem Todesschützen – und kann gerade noch verhindern, dass es ein weiteres Opfer gibt.

Vita

Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihren gemeinsamen Projekten mit Cornelia Kuhnert schreibt sie eine weitere Krimiserie um die Wilhelmshavener Kommissarinnen Oda Wagner und Christine Cordes, die im Emons Verlag erscheint.

 

Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.

Donnerstagabend

Tjark Ukena beschleunigt sein nigelnagelneues Motorrad, als er den Kreisel bei der Jugendherberge in Neuharlingersiel hinter sich lässt. Er freut sich über die beheizten Handgriffe der Maschine. Was für ein Luxus! Die Sonne scheint zwar, aber im Fahrtwind ist es am späten Nachmittag immer noch ganz schön kalt. Er drückt einen Knopf, durch den sich die BMW nun ganz genau den Straßenverhältnissen anpasst. Ein großes Glücksgefühl durchflutet ihn. Gut, dass er sich diesen Traum erfüllt hat.

Gleich hinter Groß-Holum gibt Tjark noch mehr Gas. Die Landschaft fliegt an ihm vorbei. Er hat das Gefühl, in seinen Adern fließt Benzin. Er spürt die Elemente hautnah. Erst an der Abbiegung nach Werdum drosselt er das Tempo.

Zufrieden setzt sich Rosa Moll hinter das Steuer ihres roten Fiat 500 und macht sich auf den Heimweg. Ihre Kollegin und sie haben in Esens den Plan für den Sachkundeunterricht bis zu den Sommerferien aufgestellt, jetzt muss sie nur noch die Projektwoche mit Leben füllen, dann kann sie richtig Ferien machen.

Irgendwie liegt bereits der Frühling in der Luft. Rosa lässt das Fenster herunter und schnuppert. Schnell fährt sie die Scheibe wieder hoch. Da hat anscheinend ein Bauer Gülle verspritzt.

Der Platz hinter den Büschen ist ideal. Gut, dass das Grün um diese Jahreszeit schon ausgeschlagen hat, er wird mich nicht bemerken. So, wie er mit der Maschine heizt, muss er sich voll auf die Straße konzentrieren. Er ist kein Typ, der sich an Tempolimits hält.

Ein kurzer Blick auf die Uhr.

Es ist bereits nach fünf. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Tjarks Termin bei der Bürgerinitiative müsste längst vorbei sein.

Ich habe Zeit.

Und ausnahmsweise habe ich auch Geduld.

Schließlich geht es um alles.

Jedenfalls für mich.

Da. Aus der Ferne ist das Röhren seiner hochgezüchteten Maschine zu hören. Man kann Tjark schon von weitem erkennen. Sein neongelb-schwarzer Helm mit den schwarzen Stoppeln, die an einen Irokesenschnitt erinnern, ist sein Markenzeichen.

Konzentriert lege ich das Gewehr an und ziele. In der Kurve muss er abbremsen. Hier ist er leichter zu treffen.

Jetzt.

Ich drücke ab.

«Er gehört zu mir», singt Marianne Rosenberg ihren Asbach-Uralt-Hit auf NDR 1, als Rosa den Bauernhof in Großmargens hinter sich lässt und in den vierten Gang schaltet. Rosa schmettert gerade «wie sein Name an der Tür», als ihr ein Motorrad entgegenkommt. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Kaum wird es ein bisschen wärmer, sind die Biker wieder unterwegs. Lizenz zum Selbstmord, hat Rosa oft beim Anblick der halsbrecherischen Aktionen mancher Motorradfahrer gedacht. «Nie vergess ich unseren ersten Tag … Naaa, naa, naa, na, na, na, na …», trällert sie lauthals, als das Motorrad unvermittelt auf ihre Spur wechselt. Es schießt direkt auf sie zu. Ihr stockt der Atem.

Ohne lange zu überlegen, reißt Rosa das Steuer rum und weicht dem Geisterfahrer aus. Mit größter Mühe gelingt es ihr, den Wagen wieder auf die Spur zu bringen. Sie steigt auf die Bremse, als wolle sie das Bodenblech durchtreten. Im Rückspiegel sieht sie, wie das Motorrad ungebremst weiterrast, auf die Seite kippt und samt Fahrer in die Büsche stürzt.

Ihr ist speiübel. Um ein Haar wäre sie im Graben gelandet. Ihr Herz schlägt bis zum Anschlag, während Marianne Rosenberg ungerührt weitersingt: «Ist es wahre Liebe – uuuhhhuuuhhuuu – die nie mehr vergeht – uhuuuhuu …»

Rosa springt aus dem Auto und rennt zurück. Die chromglänzende Maschine liegt verbeult auf der Seite zwischen zwei Büschen, der Fahrer ein paar Meter weiter daneben. Er rührt sich nicht. Sie rennt zu ihm. «Hallo», ruft sie, «ist bei Ihnen alles in Ordnung?» Keine Reaktion.

Sofort greift sie in ihre Jackentasche, zieht das Handy heraus und wählt die 112. Atemlos meldet sie den Unfall und gibt ihren Standort durch.

«Schnell! Sie müssen sich beeilen! Der Motorradfahrer ist nicht ansprechbar!» Sie bekommt die Anweisung, den Unfallort abzusichern und sich nicht zu entfernen. Fahrig nickt sie, will noch etwas sagen, aber der Mann von der Notrufleitstelle hat schon aufgelegt. Eilig läuft sie zu ihrem Auto, öffnet den Kofferraum und holt das Warndreieck.

In diesem Moment kommt ihr ein Auto entgegen. Hilfesuchend schwenkt sie die Arme wie in dem Kinderreim vom kleinen Hampelmann. Der Geländewagen hält tatsächlich an, und ein hünenhafter Mann in den Sechzigern steigt aus.

«Brauchen Sie Hilfe?», fragt er besorgt.

«Ja. Nein. Ich nicht. Der Motorradfahrer. Er kam einfach auf mich zugeschossen.» Rosa deutet mit dem Finger auf den Verletzten. «Ich hab die Rettungskräfte bereits alarmiert. Aber vielleicht sollten wir auch Ihr Warndreieck und vielleicht sogar Ihr Auto nutzen, um die Unfallstelle abzusichern. Nicht dass da noch einer reinfährt.»

Der Mann mit Dreitagebart und Nickelbrille öffnet anstandslos die Heckklappe seines Fahrzeugs, drückt Rosa das Warndreieck in die Hand und steigt wieder ein. Augenblicke später steht sein Wagen quer auf der Fahrbahn, und Rosa hat sein Warndreieck ein Stück entfernt aufgestellt. Erleichtert schickt sie ein Stoßgebet gen Himmel, dankbar dafür, die Situation nicht mehr alleine meistern zu müssen.

Henner Steffens sitzt auf der Bank vor seinem Haus. Die Wand hat die frühlingshafte Aprilsonnenwärme der letzten Tage gespeichert, und da kein Wind weht, lässt es sich hier gut aushalten. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Block. Henner kaut nachdenklich auf seinem Bleistift herum. Lange hat er keinen Brief mehr geschrieben. Wem auch? Wohnen ja alle im Ort, die er kennt und mit denen er verwandt ist.

Er blickt angestrengt auf das Blatt Papier. «Liebe Maya» steht da. Und das Datum von heute. Er seufzt. Wie fängt man eigentlich einen Liebesbrief an? Man darf nicht zu aufdringlich sein, aber auch nicht zu zögerlich. Henner hat im Internet geguckt, aber da war nichts, was ihm gefiel. Er seufzt noch einmal. Dann zerknüllt er die Seite und beginnt von vorne. «Meine liebe Maya». Nein. Das ist zu anmaßend. Sie ist ja nicht «seine» Maya. Noch nicht, aber …

Ein schräges Tröten lässt ihn aufschrecken. Rudi fährt mit seinem neuen Dienstwagen vor. Einer Piaggio Ape, im Volksmund auch Dreirad genannt. Ein Zweitakter. In Silber und Blau blitzt und funkelt der Minikastenwagen mit der Aufschrift POLIZEI, in dem nur zwei Personen Platz haben. Rudi steigt aus und kommt bestens gelaunt auf ihn zu. Augenblicklich muss Henner grinsen.

«Na, was sagste? Ist das geil oder ist das geil? Ich hab ja gedacht, die fahren nur 45, aber der hier bringt es auf 60 Kilometer in der Stunde. Und hat einen Wendekreis von nur sieben Metern! Da staunst du, ne?»

«Jo.» Henner dreht den Block um. Legt den Bleistift darauf und erhebt sich. «Ist schon ein büschen kurios. Aber ein Hingucker. Das muss ich zugeben.»

«Willste ’ne Runde mitfahren? Darfst du heute ausnahmsweise. Ist doch der erste Tag für den neuen Wagen. Und wenn der hier im Bereich gut ankommt, werden in ländlichen Gebieten weitere eingesetzt, hat der Polizeipräsident gesagt. Wir könnten zum Hof deiner Eltern fahren und gucken, ob die alles für morgen vorbereitet haben.» Rudi ist ganz aufgedreht.

«Nee, lass man. In das Ding quetsch ich mich nicht rein.» Henner bemerkt Rudis enttäuschten Blick. «Na gut. Aber nur einmal reinsetzen. Ohne fahren.» Sofort hält Rudi Henner die Beifahrertür auf. Hinters Steuer würde Henner sowieso nicht passen, er ist ja viel größer und breiter als Rudi. Der setzt sich auf den Fahrersitz.

«Ist schon ein komisches Gefühl», sagt Rudi.

«Glaub ich. Wenn man sonst immer richtige Autos fährt, ist der ein büschen lütt.»

«Das meine ich nicht. Ich meine morgen. Wenn mein Vater kommt.» Rudi starrt durch die Windschutzscheibe nach draußen. Genau wie Henner.

«Kann ich verstehen. Immerhin hast du den noch nie gesehen.»

«Wie der wohl reagiert, wenn er von mir erfährt?»

«Tja.»

«Er kommt mit seinen beiden Töchtern, hat er deinen Eltern geschrieben. Also hat er keinen Sohn. Ich meine, außer mir.»

«Sieht so aus.» Henner wirft Rudi einen Seitenblick zu. «Oder der konnte nich mit.»

«Nö, das glaub ich nicht. Mein Vater hat sein Kommen doch schon im Oktober angekündigt. Hätte er einen Sohn, hätte der das auch einplanen können.» Rudi blickt Henner an. «Dann bin ich sein Stammhalter.»

«Aber du heißt doch gar nicht Manninga, sondern Bakker. Deine Mutter war ja nicht mit ihm verheiratet. Der war doch längst verschollen, ehe sie ihm überhaupt sagen konnte, dass sie schwanger ist.»

«Auch wieder wahr.» Rudi blickt erneut geradeaus. «Vielleicht adoptiert er mich jetzt. Damit ich so heiße wie er. Damit sein Name weiterlebt.»

«Weiterlebt!» Henner grunzt. «Halb Ostfriesland heißt Manninga. Die haben sich damals ganz schön rumgetrieben, diese ostfriesischen Häuptlinge.»

«Spielverderber.»

«Außerdem, Sven heißt doch wie du ‹Bakker›. Müsstest du dann Sven adoptieren, nachdem dein Vater dich adoptiert hat, oder geht das automatisch?»

In diese verzwickte Frage hinein ertönt die Fanfare von Rudis Handy. «Ja, Rosa? … Unfall? … Wo bist du? … Ich komme sofort.» Rudi steckt das Telefon zurück in seine Uniformtasche. «Du musst aussteigen. Rosa ist in einen schweren Unfall verwickelt worden.»

«Um Himmels willen! Ist ihr was passiert?»

«Nee. Ihr nicht, aber einem Motorradfahrer.»

Rudi drückt das Gaspedal durch und schaltet die Sirene ein. Die Leute am Straßenrand starren dem ungewöhnlichen Polizeifahrzeug nach, als Rudi mit Blaulicht, Tatütata und 60 Stundenkilometern an ihnen vorbeibraust.

Nach wenigen Minuten erreicht er die Unfallstelle. Ein Geländewagen steht quer auf der Straße, davor ein Warndreieck. Dahinter der Wagen der Rettungswache. Gott sei Dank sind die schon da. Die können allerdings auch deutlich schneller fahren als er. Es quietscht, als er in die Bremsen steigt und die Ape am Straßenrand zum Stehen kommt. Schnell rennt er zu den Sanitätern, die gerade dabei sind, sich um den Verletzten zu kümmern. Rudi stellt sich neben Rosa. Sie ist blass und steht neben einem Hünen.

«Was ist passiert?»

«Der kam plötzlich auf mich zugerast. Ich hab im letzten Moment das Lenkrad rumreißen können, sonst wäre der voll in mich hineingeknallt. Aber es hat nichts genützt, er hat die Maschine nicht mehr unter Kontrolle gekriegt.» Rosa lässt beim Reden die Rettungskräfte keinen Moment aus den Augen.

Behutsam lösen sie zu zweit den Helm und ziehen ihn ab. Vorsichtig legt der eine den Kopf des Mannes auf den Boden, während der andere sofort mit der Versorgung beginnt.

Der Verletzte kommt Rudi bekannt vor. Natürlich! Das ist doch Tjark, sein Tankwart aus Esens. Von weitem hören sie ein Martinshorn.

«Ich parke besser mal um.» Der Hüne setzt sich in seinen Geländewagen und fährt ihn an den Rand. Dann steigt er wieder aus. Rudi geht auf ihn zu.

«Haben Sie gesehen, wie es zu dem Unfall gekommen ist?», fragt er ihn.

Der Mann schüttelt den Kopf. «Ich habe gar nichts gesehen. Nur die Frau», er zeigt auf Rosa, «die hat wild mit den Händen gestikuliert.»

«Geben Sie mir bitte trotzdem Ihre Personalien.»

«Sicher. Tillmann Tannhäuser. Hier ist meine Visitenkarte.»

Rudi wirft einen Blick darauf und steckt die Karte des Architekten ein. Schade, dass der nichts gesehen hat. Das macht Rosa zur einzigen Zeugin.

Nachdem Rudi mit Blaulicht losgebraust ist, setzt Henner sich wieder an den Tisch. Es nützt nichts. Vom Hinauszögern ist noch kein Brief geschrieben worden. Er greift zum Bleistift und beginnt zu schreiben.

Liebe Maya,

Du wunderst Dich bestimmt, dass ich Dir schreibe. Aber es gibt einen Grund, und reden kann ich darüber nicht. Das ist mir peinlich. Nein, es hat nichts mit Deinem Yoga-Unterricht zu tun.

Sondern mit Dir.

Du bist eine ganz tolle Frau. Wenn ich in Deiner Nähe bin, wird mir ganz warm, und ich fühle mich sehr wohl. Vor allem, wenn wir morgens allein in Deinem Studio sind und zusammen Tee trinken. Normalerweise mag ich solche Tees ja nicht, aber Deiner schmeckt mir immer ganz besonders gut.

Fühlst Du Dich auch so wohl, wenn ich da bin?

Das würde mich sehr glücklich machen.

Stopp, so darf er es nicht formulieren. Glücklich machen. Damit ist ja sofort klar, dass er sich bis über beide Ohren in Maya verliebt hat. Da könnte sie sich bedrängt fühlen. Mit forschen Strichen streicht er den Satz und ersetzt ihn durch:

Das würde mich sehr freuen. Vielleicht hast Du Lust, mal abends mit mir essen zu gehen? Das muss ja nicht in Neuharlingersiel sein, wir können auch nach Esens fahren. Oder nach Carolinensiel.

 

Viele Grüße,

Henner Steffens

 

PS: Zur Sicherheit noch einmal meine Handynummer.

Er nimmt sein Telefon vom Tisch und dreht es um. Die Nummer hat er mit Tesafilm auf die Rückseite geklebt.

Rudi ist völlig erledigt, als er die Haustür aufschließt, obwohl die Zeugenbefragung eigentlich schnell vonstattengegangen ist. Rosa hat nichts weiter gesehen. Nur das Motorrad, das auf sie zugeschossen ist. Seltsam, dass Tjark Ukena die Kontrolle über seine Maschine verloren hat. Keinerlei Bremsspur war zu sehen. Das fanden auch die Kollegen der Unfallforschung eigenartig, mit denen er vor Ort den Hergang zu rekonstruieren versucht hat. Sie haben alles genauestens vermessen und das Motorrad zur eingehenden Überprüfung mitgenommen. Zum Glück hat Bernie Bütefisch, sein Kollege aus Esens, Tjarks Ehefrau über den Unfall informiert. Rudi kann sich schließlich nicht zerreißen.

Gähnend geht er in den Hühnerstall. Er knipst das Licht an. Alle Hühner sitzen eng aneinandergedrückt auf der Stange. Bestens. Er verriegelt die Tür. Nicht dass der Marder sich heute Nacht wieder welche von seinen treuen Eierlegern schnappt.

Zehn Minuten später putzt Rudi sich die Zähne. Aber seine Gedanken kreisen immer noch um den Unfall. Ob Tjark Ukena mit der neuen Maschine überfordert gewesen ist? Hoffentlich ist er morgen vernehmungsfähig und kann seine Aussage machen. Rudi schlüpft in seinen Schlafanzug und schlurft ins Wohnzimmer. Noch eine halbe Stunde vorm Fernseher abhängen und dann ab ins Bett. Der Tag morgen wird anstrengend.

Freitag

Rosa hat schlecht geschlafen. Immer wieder sind ihr in der Nacht die Bilder vom Unfall durch den Kopf gegeistert. Wie es dem Fahrer wohl geht? Sie muss Rudi nachher unbedingt anrufen. Wie eine Rakete ist das Motorrad auf sie zugeschossen. Hätte sie nicht so geistesgegenwärtig reagiert, wäre das ihr Todesurteil gewesen. So groß ist die Knautschzone ihres Fiat nun auch wieder nicht. Ein Schauer läuft bei diesem Gedanken über ihren Rücken. Vielleicht sollte sie heute im Bett liegen bleiben. Da kann ihr wenigstens nichts passieren. Und die Verabredung heute Nachmittag sollte sie absagen. Nach Autofahren ist ihr im Moment gar nicht.

Das Telefon in der Polizeistation Esens klingelt. Rudis Kollege Helmut Schnepel aus Wittmund ist am anderen Ende der Leitung.

«Moin Rudi. Schlechte Nachrichten. Wir haben gerade einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommen. Dein Verletzter hat leider nicht überlebt. Er ist in den frühen Morgenstunden verstorben.»

Diese Nachricht haut Rudi um. Was für ein beschissener Start in das Familienwochenende. Er hat so gehofft, dass Tjark alles gut übersteht und eine Aussage machen kann.

«Schiete. Armer Kerl.»

«Na ja, ob der so arm war, lassen wir mal dahingestellt sein bei diesem Motorrad», erwidert Schnepel trocken. «Auf jeden Fall ist der nicht einfach grundlos von der Maschine gefallen. Im Krankenhaus haben sie eine Schusswunde entdeckt. Die Kugel ist durch den Arm in den Oberkörper eingedrungen und hat die Lunge verletzt. Der Mann hätte auch ohne den Sturz kaum Chancen gehabt zu überleben. Pikanterweise war es dann aber ein Genickbruch, der ihn noch vor den anderen Verletzungen das Leben gekostet hat.»

«Is nicht wahr! Ein Schuss?» Rudi ist entsetzt. «Was soll das denn heißen?»

«Ja, das müssen wir rausfinden. Wie es aussieht, wurde mit einem Gewehr auf ihn geschossen. Hat deine Zeugin eigentlich was gesehen, das uns helfen könnte?»

«Nö, ganz bestimmt nicht. Wenn Rosa gesehen hätte, wie jemand mit einem Gewehr geschossen hätte, wäre das das Erste gewesen, was sie mir gesagt hätte.» Da ist sich Rudi absolut sicher.

«Hat Haueisen sich auch gedacht. Er meint, wir sollen uns mal mit der Frau des Motorradfahrers unterhalten.»

«Weiß die schon, dass ihr Mann tot ist?»

«Ja, sie war wohl dabei im Krankenhaus. Nur von dem Schuss hat ihr noch niemand etwas gesagt. Das wollten sie der Polizei überlassen. Also uns. Da die Ukenas in Esens wohnen, komme ich zu dir in die Polizeistation.»

«Wir können ja dann mit meinem neuen Dienstwagen weiterfahren.»

«Du und dein Spielzeug … meinetwegen.» Oberkommissar Schnepel lacht hämisch auf, und für einen Moment vergeht Rudi fast der Spaß an der Ape.

Es herrscht Hochbetrieb, als Rosa den Frisörsalon betritt. Der Mischlingshund von Henners Schwester Gudrun stürmt auf sie zu.

«Schecki, aus!», ruft Gudrun in der unverzagten, aber stets vergeblichen Hoffnung, der Hund würde irgendwann einmal auf sie hören. «Moin Rosa! Was für eine Überraschung! Du warst doch erst vor anderthalb Wochen hier. Was dürfen wir denn heute für dich machen?»

Rosa zieht Zeigefinger und Daumen nur wenige Millimeter weit auseinander. «Nur ein bisschen Spitzen am Pony schneiden.»

Gudrun zwinkert ihr zu und zeigt auf einen freien Frisörstuhl. «Musst aber ein büschen Zeit einplanen, siehst ja, wie voll das ist.»

Zufrieden nimmt Rosa Platz. An der anderen Wandseite sitzt Gisela Frerichs neben Sigrid Twenge, beide unterhalten sich mit einer Frau um die fünfzig, die Rosa hier noch nie gesehen hat. Die strahlend weißen Zähne wären ihr aufgefallen. Wie aus der Werbung!

«Das müsst ihr euch mal vorstellen», sagt die Frau aufgebracht. «Als er auf Toilette war, ploppt auf dem Display seines Handys eine Nachricht auf. Da hab ich automatisch draufgeschaut. Hab mir nichts dabei gedacht. Aber als ich dann sah, was da stand, hab ich gedacht, ich trau meinen Augen nicht.»

«Was stand denn da?», fragt Gisela neugierig.

«Ich vermisse dich so, mein Liebster, rufst du nachher noch an? Kuss Marie.»

«Ach du grüne Neune. Der hat ’ne Geliebte», ruft Gisela, offensichtlich begeistert darüber, dass endlich mal wieder was los ist im Ort.

«Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dass du da entsetzt warst!», entrüstet sich Sigrid. «Ich würde Ludwig die Hammelbeine langziehen, wenn ich so was bei dem auf’m Handy lesen würde.»

«Natürlich hab ich Nobbi gleich zur Rede gestellt, als er wieder ins Wohnzimmer kam. Aber er hat alles abgestritten. Hat gesagt, er kennt keine Marie, das muss ein Versehen sein. Ich hab ihm natürlich kein Wort geglaubt. Vor allem, weil er seit ein paar Monaten sein Handy nicht mehr einfach so im Flur liegen lässt. Er schleppt es immer mit sich rum und hütet es wie seinen Augapfel. Nur dieses eine Mal hat er es vergessen, weil er so nötig aufs Klo musste.»

«Männer», schnaubt Sigrid und zeigt auf die geöffnete Sektflasche. «Gudrun, schenkst du Beatrix und uns auf diesen Schrecken noch ein Gläschen ein?»

Henner trägt den Brief für Maya in der Innentasche seiner Postbotenjacke. Zweimal schon ist er an ihrem Yogastudio vorbeigefahren, ohne ihr die Post hochzubringen. Kommt Zeit, kommt Rat. Jetzt radelt er erst einmal zum Hof seiner Eltern. Vielleicht kann er seine Mutter abfangen und in Ruhe mit ihr sprechen. Garantiert weiß sie, was zu tun ist, schließlich hat sie mit ihren acht Töchtern jede Menge Erfahrung in Liebesdingen.

Als er den Steffens-Hof erreicht, ist dort alles in wilder Hektik. Seine Mutter steht in ihrer Kittelschürze am Herd und kocht Labskaus, Adelheid packt frisch zubereitete Bratheringe in den Kühlschrank. Mitten in der Küche warten Kisten von Bier, Wein und Mineralwasser darauf, in den Vorratsraum geschleppt zu werden. Der große Tisch ist bereits gedeckt, in zwei Vasen bringen bunte Tulpen Farbe ins Bild. Henner staunt, wie viel Gerda und Heinrich der Besuch des alten Freundes bedeutet, von dem sie bis vor kurzem dachten, er sei tot. Ertrunken beim Untergang des Frachters, auf dem er damals angeheuert hatte.

Nein, sieht Henner ein, seine Mutter hat momentan keinen Kopf dafür, sich mit seinen Problemen zu befassen. Und Probleme sind es ja auch irgendwie nicht. Mit einem schon wieder ziemlich zufriedenen Lächeln verpieselt sich Henner und setzt sich zu seinem Vater auf die Bank vorm Haus. Der alte Heinrich schmökt dort in Ruhe eine Zigarette.

«Na, min Jung, bist ja früh dran heut.»

«Jo.» Henner streckt die Füße von sich. «Wollte Muddern was fragen.»

«Aber?»

«Die is beschäftigt.»

«Jo.» Heinrich Steffens steht auf, drückt die Selbstgedrehte an einem Kantstein der Rabatte aus und steckt sich den Stummel in die Tasche seiner Cordhose. Dann setzt er sich wieder.

«Sach mal, Vadder …»

Keine Antwort. Nur ein schräger Seitenblick.

«Wenn man einen Brief geschrieben hat, sollte man den auch abgeben. Oder?»

Der Hofhund Butscher nähert sich mit langsamen Schritten und lässt sich zu Heinrichs Füßen nieder. Kurz streichelt der Alte den Hund. «Wenn es wichtig ist, schon.»

«Jo.» Henner grinst. Dann steht er auf. «Danke.»

«Dafür nich.»

Beschwingt schnappt Henner sich sein Postfahrrad. Er weiß jetzt, was er zu tun hat.

Rudi parkt die Ape direkt vor dem Reihenhaus im Neubauviertel.

«Von der Größe her passt der echt gut zu dir», sagt Schnepel, als er die Beifahrertür zuschlägt und hämisch grinst.

Rudi verkneift sich eine Erwiderung. Hätte er bloß nicht vorgeschlagen, mit seinem neuen Dienstwagen zu fahren, dann hätte er sich Schnepels dumme Sprüche erspart.

Ein schmaler Pflasterweg führt durch den Vorgarten der Ukenas. Hier blühen blaue Perlhyazinthen und weiße Tulpen, dazwischen stehen ein paar mit Moos umwickelte Osterhasen, wie Henners Schwester Adelheid sie in ihrem Andenkenlädchen in Neuharlingersiel verkauft. Rudi klingelt. Dreimal.

«Seltsam, niemand zu Hause», sagt er.

In diesem Moment öffnet sich die Tür des Nachbarhauses.

«Die Petra ist in der Tanke», sagt eine ältere Frau. «Schrecklich, schrecklich ist das mit Tjark.» Sie seufzt, dabei hebt und senkt sich ihre große Brust. «Der war bestimmt wieder viel zu schnell unterwegs. Der kannte ja kein Tempolimit, wenn der auf seiner Maschine saß. Petra hat immer Angst davor gehabt, dass er mal einen Unfall baut. Aber dass das nun gleich so schlimm kommt …» Sie guckt betroffen und verschwindet wieder im Inneren des Hauses.

Schweigend fahren Rudi und Schnepel zur Tankstelle am Ortsrand, die Tjark Ukena und seine Frau in zweiter Generation betreiben. Petra Ukena steht hinter der Ladentheke und reicht einem Kunden die Tankquittung. Der steckt sie ein und verschwindet mit einem knappen Gruß. Die Witwe ist blass und sieht übernächtigt aus. Dunkle Ringe liegen unter ihren Augen. Als sie die beiden Polizisten erblickt, wischt sie sich die herablaufenden Tränen von der Wange.

«Mein Beileid, Frau Ukena», kondoliert Rudi. Er kennt das Ehepaar seit Jahren, weil er gern an dieser unabhängigen Tankstelle tankt. Und da der TÜV auch die angeschlossene Werkstatt betreut, hat seine Ente hier schon mehrmals das neue Siegel erhalten.

«Danke. Sie wundern sich bestimmt, dass ich hier stehe. Aber ich hab auf die Schnelle keine Vertretung für den Laden gefunden.» Petra Ukena zieht die Nase hoch. «Und der Betrieb muss doch weiterlaufen. Zwei Kunden holen gleich ihre Autos ab. Tjark hat sie gestern Morgen noch repariert.» Sie schnieft. «Dieses verdammte Motorradfahren. Ich war von Anfang an dagegen, dass er sich wieder so einen Bock kauft. Denk an die Kinder, habe ich ihm gesagt. Die brauchen dich noch. Aber Tjark hat das weggewischt: ‹Die neue Technik ist sicher. Auf Knopfdruck passt sich die Maschine der Straßenlage an.› Alles Schwachsinn, wenn Sie mich fragen.»

«Wo sind Ihre Kinder denn jetzt?», fragt Rudi behutsam.

«Bei meinen Eltern. Sind ja Ferien. Ich hab denen noch gar nicht gesagt, dass ihr Papa … dieses verdammte Motorrad! Diese verdammte Raserei!» Jetzt beginnt sie hemmungslos zu weinen. Rudi tritt einen Schritt auf sie zu, unsicher, was er jetzt machen soll.

Schnepel hingegen bleibt ungerührt. «Wie es nach dem aktuellen Ermittlungsstand aussieht, ist Ihr Mann nicht wegen zu hoher Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen, Frau Ukena. Auf ihn wurde geschossen.»

Ungläubig wandert ihr Blick von einem Polizisten zum anderen. «Auf Tjark wurde geschossen?»

«Alles deutet darauf hin, dass er während der Fahrt angeschossen wurde, auch wenn die Schussverletzung nicht tödlich war. Erst durch den Sturz hat er sich das Genick gebrochen. Das war dann sozusagen die Folge des Schusses.»

Petra Ukena lehnt sich an das Zigarettenregal hinter ihr und schließt die Augen. Sie ist noch blasser geworden. Kein Wunder! Schnepel hat sich mal wieder wie der Elefant im Porzellanladen benommen. Der Chef sollte ihn in solch sensiblen Angelegenheiten nicht mehr einsetzen. Schnepel kann schlechte Nachrichten einfach nicht einfühlsam überbringen.

Rudi macht einen Schritt auf Tjarks Frau zu und faltet die Hände unbeholfen auf der Theke. Nicht dass die jetzt noch in Ohnmacht fällt!

«Geht’s?», fragt er.

«Muss ja.» Petra Ukena setzt sich auf den Hocker hinter der Kasse.

«Hatte Ihr Mann Feinde?», fragt Schnepel ungerührt weiter, kaum dass die Frau sitzt.

«Feinde?», flüstert sie und schüttelt ungläubig den Kopf. «Tjark ist ein Automechaniker. Kein Ganove. Nur weil eine alte Karre trotz Reparatur nicht durch den TÜV kommt, schießt doch keiner auf ihn.»

«Und sonst? Denken Sie nach», drängt Schnepel. «Es müsste jemand sein, der gut mit einem Gewehr umgehen kann.»

«Gewehr?», murmelt sie. «Wir sind beide im Schützenverein, aber da gibt es keinen, mit dem Tjark Streit hatte.»

«Sicher?»

Schnepels Frage geht Rudi durch Mark und Bein. Auch Petra Ukena scheint der lauernde Unterton aufgefallen zu sein.

«Ganz sicher. Im Schützenverein ist Tjark sehr beliebt.» Sie streckt selbstbewusst ihr Kinn vor. Doch im nächsten Moment legt sie nachdenklich die Stirn in Falten. «Seit er allerdings der Fraktionsvorsitzende der ‹Frechen Friesen› ist, gibt es durchaus mal den einen oder anderen Ärger.»

«Dazu würden wir gerne ein bisschen mehr erfahren. Los, Rudi, schreib mit!» Schnepel reibt sich die Hände. Jetzt ist er ganz in seinem Element.

Nach dem Frisörbesuch fühlt Rosa sich deutlich besser und für den Tag gewappnet. Auch sieht sie keinerlei Grund mehr, ihre Verabredung mit dem Historiker zu verschieben. Es ist sowieso ein Glücksfall, dass sie auf die Schnelle jemanden gefunden hat, der sich so gut mit der ostfriesischen Geschichte auskennt wie Wilko Onneken. Er gilt als der Experte für das Häuptlingswesen in Ostfriesland. Als das Thema für die Projektwoche vor den Osterferien verkündet wurde, hatte sie gestutzt. Häuptlinge kannte Rosa bislang nur bei den Indianern. In der Gegend von Hannover, wo sie herkommt, hat es Herzöge, Fürsten, ja sogar Könige gegeben. Jeder von ihnen wäre über die Bezeichnung «Häuptling» beleidigt gewesen.

Ob es schon etwas Neues über den Unfall gibt? Vielleicht ruft sie Rudi einfach an. Sie zögert. Lieber nicht. In letzter Zeit reagiert er immer so verärgert, wenn sie ihn bei der Arbeit stört. Seit er weiß, dass sein Vater noch lebt, ist der irgendwie völlig durch den Wind.

Von der Tankstelle aus fahren Rudi und Schnepel direkt zum Vorsitzenden des Schützenvereins. Sie treffen Otto Landwehr in seinem Büro an.

«Furchtbar, das Ganze. Einfach nur furchtbar. Die arme Petra! Ich weiß gar nicht, wie sie das alleine schaffen will. Die Tankstelle. Und die Kinder.»

«Hatte Tjark Ukena Streit mit jemandem aus dem Verein?», fragt Schnepel.

«Nein. Er kam eigentlich mit jedem gut aus. Hat stets mitgeholfen, unsere Feiern zu organisieren, und ist bei der letzten Boßelpartie sogar Kohlkönig geworden. Kohlkönigin war Antje-Marie Plumhoff.» Otto Landwehr hält inne. Nach einem Moment des Nachdenkens sagt er: «Klar gab es den einen oder anderen, der mit der Politik der ‹Frechen Friesen› nicht einverstanden war, wir haben ja auch Mitglieder von anderen Parteien in unserem Verein. Da kommt es schon mal vereinzelt zu kleinen Wortgefechten, aber meistens lassen wir die Politik außen vor.»

«Gibt es denn jemanden, mit dem Ukena sich besonders gestritten hat?», hakt Schnepel sofort nach.

«Nee. Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Tut mir leid. Da fragen Sie man lieber seine Frau.»

«Das haben wir schon», gibt Schnepel zu.

«Na dann …» Landwehr guckt zur Tür.

Diesen Wink versteht selbst Schnepel.

 

«Okay. Dann fahre ich jetzt nach Wittmund und erstatte Haueisen Bericht», sagt Schnepel, kaum dass sie wieder in der Ape sitzen und zurück zur Polizeidienststelle fahren. Als Rudi von der Straße auf den Parkplatz abbiegt, wird Schnepel hektisch.

«Diebstahl! Man hat meinen Wagen geklaut!», brüllt er. Und tatsächlich: keine Spur von Schnepels Auto.

«Das gibt’s ja nicht», sagt Rudi verblüfft. «Wer klaut denn einen Einsatzwagen direkt vor der Polizei? Da gibt’s bestimmt eine plausible Erklärung.» Er steigt aus, läuft auf die Tür der Station zu und grinst. Bernie hat das Pappschild aufgehängt, auf dem die Notfalltelefonnummer steht, die man anrufen kann, wenn gerade niemand da ist. «Haste deinen Autoschlüssel in der Tasche?», fragt Rudi ins Blaue.

«Quatsch. Der beult doch nur die Hose aus. Den hab ich auf deinen Schreibtisch gelegt», antwortet Schnepel schroff.

«Na, dann haben wir des Rätsels Lösung.» Rudi schließt die Dienststelle auf, nimmt das Pappschild ab, hängt es wieder an den Haken links neben der Glastür und betritt die Station. Ein Din-A4-Zettel liegt auf seinem Schreibtisch. Bin zu einem Auffahrunfall gerufen worden. Hab Schnepels Auto genommen, der Schlüssel lag ja hier.

Verschmitzt hält Rudi das Blatt Papier hoch. «Siehste, is nich geklaut. Da is Bernie mit unterwegs.»

Erbost schnaubt Schnepel. «Was fällt dem ein?! Na, der wird mich noch kennenlernen! Ruf den an. Der soll auf der Stelle zurückkommen.»

Rudi zuckt mit den Schultern und wählt Bernies Handynummer. Doch der geht nicht dran.

«Und wie komme ich jetzt nach Wittmund?», fragt Schnepel sauer.

«Ich fahre dich. Mit der Ape.»

Widerstrebend stimmt Schnepel zu. «Nützt ja nichts. Aber wehe, wenn der Bütefisch mir das nächste Mal in die Finger kommt!»

Sie sind gerade losgefahren, da hat Rudi eine Idee. «Wollen wir noch einmal an der Unfallstelle vorbeifahren und schauen, ob wir da was entdecken können?»

Schnepel schüttelt genervt den Kopf. «Tsss. Rudi, die Spusi wird uns was husten, wenn wir da rumlaufen und Spuren vernichten!»

Als wenn Rudi da rumtrampeln würde. Er hätte es einfach nur interessant gefunden, die Unfallstelle mit eigenen Augen noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Jetzt, wo feststeht, dass das Motorrad nicht wegen eines Fahrfehlers von der Straße abgekommen ist. Und wenn man einfach nur auf dem Asphalt steht, vernichtet man doch keine Spuren. Aber er hält lieber den Mund. Schnepel legt das dann doch nur wieder falsch aus.

 

Hauptkommissar Haueisen erwartet Rudi und Schnepel in seinem Büro im Kommissariat in Wittmund.

«Mit dem Spielzeugauto dauert es eben», nörgelt Schnepel, der immer noch sauer auf Bernie Bütefisch ist.

Haueisen übergeht Schnepels Bemerkung.

«Also, gibt es irgendetwas, was wir der Presse präsentieren können? Die sitzt mir natürlich im Nacken, wie Sie sich vorstellen können. Immerhin handelt es sich bei dem Toten um den Fraktionsvorsitzenden der ‹Frechen Friesen›.»

«Ja, Chef», beeilt sich Schnepel zu sagen. «Seine Frau sollten wir auf jeden Fall im Auge behalten. Sie ist Mitglied im Schützenverein und hat eine Waffe. Zur Tatzeit war sie mit ihren kleinen Kindern alleine. Sagt sie. Aber vielleicht hat sie die auch nur vor einem Video geparkt, und die Lütten haben nicht mal mitbekommen, dass sie eine halbe Stunde nicht im Haus war.»

Haueisen runzelt die Stirn. «Meinetwegen, behalten Sie sie im Auge. Und überprüfen Sie die Waffe. Aber in meinen Ohren hört sich das gelinde gesagt ein wenig dürftig an.»

«Außerdem hat sie davon gesprochen, dass ihr Mann in den letzten Wochen darüber geklagt hat, dass er wegen der politischen Ansichten der Wählergemeinschaft verbal attackiert wurde. Und nicht nur einmal. Rudi, hol deinen Notizblock raus und lies vor, was sie uns gesagt hat.»

«Einer hat ihren Mann als Ewiggestrigen bezeichnet, der lieber wieder zurück zu seinem Stammtisch gehen soll», fasst Rudi den ersten Notizpunkt zusammen. «Das finde ich noch vergleichsweise harmlos. Letzte Woche gab es einen Facebook-Eintrag, den sie uns gezeigt hat: ‹Überleg dir gut, wie du nächste Woche abstimmst. Wir wissen, wo du wohnst. Ohne dich und deine Wählergemeinschaft war das Klima in den Ratssitzungen besser.›»

«Interessant», murmelt Haueisen. «Andererseits … Politik lebt vom verbalen Schlagabtausch. Sehen Sie sich nur die Diskussionen in den Talkshows im Fernsehen an.» Er schaut durchs Fenster seines Büros auf den Park vor dem Kommissariat und scheint nachzudenken.

«Na ja, aber zwischen verbalem Schlagabtausch und persönlichen Bedrohungen gibt es schon einen Unterschied», wendet Rudi ein, kaum dass Haueisen seinen Blick wieder auf Schnepel und ihn richtet. «Dann war da noch die Drohung, ihm die Hütte anzuzünden. Das klingt nicht ganz so harmlos. Und die Schraubenzieherkratzer an der Fahrertür seines Autos sind ja auch nicht ohne. Frau Ukena hat sich immer noch maßlos darüber aufgeregt, als sie uns davon erzählt hat. Vor vier Wochen ist das passiert.»

«Dafür hat man aber niemanden belangen können», wirft Schnepel schnell ein. «Das kann genauso gut ein Böser-Jungen-Streich gewesen sein. Mir hat man auch mal den Kotflügel zerkratzt und den Beifahrerspiegel abgetreten. Und ich bin kein Politiker.»

Nö, aber ein Blödmann, denkt Rudi und schaut auf seine Notizen. «Neben den Pöbeleien in den sozialen Netzwerken wurde zudem in der Mitmachzeitung gegen die Politik der ‹Frechen Friesen› gewettert.» Rudi hebt die Stimme. «Ich denke, wenn diese Wählergemeinschaft von allen Seiten unter Feuer genommen wurde, sollten wir mal mit dem Vorsitzenden der Gruppe reden. Vielleicht weiß der etwas.»

«Gute Idee, Bakker!» Haueisen nickt ihm eifrig zu. «Fassen wir also zusammen, was wir wissen. Erstens: Bei dem Unfall gab es keine Bremsspuren, obwohl das Motorrad technisch in Ordnung war, wie mir die Kollegen von der KTU vorhin mitgeteilt haben. Zweitens: Auf Tjark Ukena wurde geschossen. Vermutlich aus größerer Entfernung. Die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung liegen zwar noch nicht vor, aber es handelt sich mit größter Wahrscheinlichkeit um eine Langwaffe.»

«Mit dem Vorsitzenden des Schützenvereins haben wir bereits gesprochen. Wir haben ihn gleich nach dem Gespräch mit der Witwe aufgesucht. Tjark und Petra Ukena sind dort nämlich Mitglieder», sagt Schnepel diensteifrig. «Beide …»

«Tjark war dort sehr beliebt», unterbricht Rudi ihn, damit kein falscher Zungenschlag in das Gespräch kommt. «Er war mit allen gut Freund.»

«Behauptet der Vorsitzende zumindest. Aber ich habe da so meine Zweifel. Vielleicht stecken die alle unter einer Decke.»

Rudi runzelt die Stirn. Unter einer Decke stecken? Wobei? Schließlich ist Tjark erschossen worden. Schnepels Verschwörungstheorien gehen ihm jetzt schon wieder gehörig auf den Keks. Haueisen ignoriert Schnepels Vorstoß zum Glück auch.

«Lassen Sie uns gemeinsam nachdenken. Warum wurde auf das Opfer geschossen? Könnte es der Querschläger eines Jägers gewesen sein, war alles ein unglücklicher Zufall? Oder war es Absicht? Aber wo liegt dann das Motiv?» Haueisen trommelt mit den Fingerspitzen nervös auf seiner Schreibtischplatte herum.

«Ein Querschläger bei der Jagd kommt kaum in Frage», widerspricht Schnepel, «es ist Schonzeit. Wenn, dann war es ein Wilderer.» Er schlägt die Arme vor der Brust übereinander und nimmt die Pose Wichtigtuer ein.

«Die Schonzeit gilt nicht für Schwarzwild», belehrt Haueisen Schnepel nun seinerseits. «Die wurde wegen der Bedrohung durch die Afrikanische Schweinepest aufgehoben.»

«Meinetwegen. Vielleicht hat da jemand legal oder illegal gejagt, und es gab tatsächlich einen Querschläger, aber der Jäger möchte natürlich nicht, dass man ihn drankriegt.» Schnepel verharrt in seiner Lieblingspose. So schnell gibt er nicht auf.

«Lassen wir die Sache mit dem zufälligen Querschläger einfach mal so im Raum stehen. Von wo wurde geschossen? Das ist die entscheidende Frage. Aufgrund der neuen Sachlage habe ich die Spurensicherung zum Unfallort geschickt. Hoffentlich finden die etwas, was auf den Täter hinweist.» Er hebt seine Augenbrauen und sieht Schnepel und Rudi schulmeisterlich an. «Sie waren doch nicht etwa noch einmal vor Ort und haben Spuren zertrampelt?»

Glück gehabt. Rudi wirft Schnepel einen schnellen Blick von der Seite zu.

«Natürlich nicht», sagt Schnepel.

«Außerdem muss der Schütze ja etwas weiter weg gestanden haben, also nicht an der Unfallstelle, da hätten wir ohnehin keine Spuren zerstört», redet Rudi schnell weiter, damit Schnepel nicht noch auf die Idee kommt, auszuplaudern, dass Rudi eigentlich genau dort hat hinfahren wollen. «Die Zeugin hat nichts von einem Schuss gesagt und von jemandem mit einem Gewehr auch nicht.»

«Die Zeugin … Sagen Sie doch gleich: Frau Moll. Es wundert mich übrigens schon gar nicht mehr, dass gerade sie die Zeugin ist. Egal, was in Neuharlingersiel los ist, überall hat sie ihre Finger im Spiel.» Haueisen macht keinen Hehl daraus, dass er Rosa nicht unbedingt mag.

«Sie kann ja nun nichts dafür, dass der Motorradfahrer den Unfall hatte, als sie die Straße entlangfuhr», empört sich Rudi.

«Du kannst es drehen und wenden, wie du willst: Wo diese Frau auftaucht, ist für Ärger gesorgt», stößt Schnepel ins gleiche Horn wie Haueisen.

«Das tut jetzt nichts zur Sache», beendet Haueisen Schnepels Tirade. «Nehmen Sie sich den Vorsitzenden dieser Friesenpartei vor. Wenn es Anfeindungen gegeben hat, wird Ukena mit ihm darüber gesprochen haben. Wäre ja nicht das erste Mal, dass ein politisches Motiv hinter einer Tat steckt. Wie heißt der?»

«Thomas Sackschewsky», antwortet Rudi wie aus der Pistole geschossen. Schließlich verfolgt er sehr genau die politischen Geschehnisse in der Region. Vor allem seit Henners Schwager und Ina, Henners jüngste Schwester, da kräftig mitmischen.

«Wenigstens einer, der sich mit politischen Parteien auskennt», sagt Haueisen mit einem Seitenhieb auf Schnepel. «Gut, dann kümmern Sie sich mal, meine Herren. Aber flott!»

Der Häuptlingsexperte Wilko Onneken wohnt in einem kleinen Bauernhaus aus roten Ziegeln, zwei Kilometer außerhalb von Neuharlingersiel. Der renovierungsbedürftige Resthof liegt etwas abseits. Rosa hat keine Mühe, mit Hilfe des Navigationsgeräts den Zufahrtsweg zu finden. Die schmale Straße windet sich an Büschen und schief gewachsenen Bäumen vorbei und endet auf dem Hof, direkt neben einem Schuppen. An der Stirnseite des Gebäudes hängt ein Betonschild: Gerd Onneken und Mathilde Onneken geb. Tönnjes. Erbaut 1934.

Die Holztür erweckt den Eindruck, als habe man sie seit damals nicht repariert, und der Putz der seitlich daneben stehenden Garage blättert ab. Nun denn. Sie ist ja nicht hier, weil sie Fotos für ein Lifestyle-Magazin machen will. Beherzt schmeißt sie die Autotür zu und läuft zum Eingang. Ehe sie klingeln kann, wird ihr bereits geöffnet, und ein blonder Mann streckt ihr seine Hand entgegen.

«Moin, Frau Moll. Ich hab Sie kommen sehen. Herein in die gute Stube. Der Tee ist frisch aufgegossen.» Der Mann in den Vierzigern lächelt sie an. Die Grübchenfalten auf seinen Wangen sehen irgendwie süß aus. Überhaupt ist er eine richtig stattliche Erscheinung. Davon hat Henners Schwester gar nichts gesagt, als sie ihr den Kontakt vermittelt hat. Ob er verheiratet ist? Rosa schielt auf seine Hand, während sie ihm durch die Diele in die Küche folgt. Sie kann keinen Ring an seinem Finger entdecken.

Vom Küchenfenster aus hat man einen freien Blick auf die Felder, die sich bis zum Horizont erstrecken.

«Schön haben Sie es hier, Herr Onneken», sagt Rosa und bewundert den alten Kachelofen und das geschnitzte Küchenbüfett. Innen macht das Haus einen wesentlich gepflegteren Eindruck als von außen. «Ihre Frau scheint ein Händchen für die Einrichtung zu haben.»

«Nein, nein», lacht er. «Eine Frau gibt es nicht. Das ist noch die Einrichtung meiner Eltern. Als die vor zwei Jahren kurz hintereinander gestorben sind, bin ich wieder hierhergezogen und habe alles so gelassen, wie es ist. Mein jüngerer Bruder würde ja am liebsten verkaufen und den Erlös aufteilen, aber zum Glück bin ich der Ältere und habe das Sagen.» Wilko Onneken grinst breit.

Vermutlich geht es wieder um dieses ostfriesische Höferecht, kombiniert Rosa. Eine Besonderheit dieses Landstrichs, die sie nach wie vor merkwürdig findet.

«Es ist sehr nett, dass Sie sich Zeit für mich nehmen», sagt Rosa und lächelt, während der Gastgeber ihr Kandis in die Tasse schaufelt und dann den Tee darübergießt. Eigentlich nimmt sie ja keinen Zucker, ostfriesische Teezeremonie hin oder her. Aber besser, sie hält einfach die Klappe. «Keine Frau» hört sich nämlich schon mal sehr gut an.

«Ich habe schon ein paar Unterlagen für Sie herausgesucht.» Wilko Onneken zeigt auf ein altes Buch und ein paar Scherben, die in Ziplockbeuteln danebenliegen. «Bevor wir aber in die Geschichte der Häuptlingsfamilien einsteigen, muss ich Ihnen meinen neuesten Fund zeigen.»

Thomas Sackschewsky staunt nicht schlecht, dass Rudi in Begleitung von Schnepel vor seinem Büro auf dem Campingplatz steht.

«Rudi, was machst du denn hier?», wundert er sich. «Ist was passiert?»

«Nein, alles in Butter. Wir kommen wegen des Unfalls gestern», sagt Rudi. Schnepel ist ausnahmsweise still. Bei quasi Familienangehörigen hält er sich tunlichst zurück. Das ist abgemachte Sache.

«Schlimm, das mit Tjark.» Sacky, wie er im Familien- und Freundeskreis genannt wird, ist sichtlich betroffen. «Aber der ist auch immer richtig geheizt. Dennoch. Mensch, das tut mir für Petra und die Lütten so leid.» Dann scheint ihm zu dämmern, dass es einen Grund geben muss, weshalb die Polizei mit ihm reden will, wo er doch weder verwandt noch verschwägert mit Tjark ist. «Wie kann ich euch denn helfen?»

«Ihr Parteifreund wurde quasi vom Motorrad geschossen», eröffnet Schnepel das Gespräch.

Sacky wird blass.

«Uns interessiert, wie massiv die Anfeindungen und Attacken tatsächlich waren, von denen Petra Ukena berichtet hat. Sie sagte, sie wüsste nicht, ob ihr Mann in diesem Zusammenhang auch Post, also tatsächliche Drohbriefe, bekommen hätte, sie habe davon nur immer mal am Rand etwas mitbekommen, weil er sie wohl nicht beunruhigen wollte.»

«Sie meinen, man hat es bewusst auf Tjark abgesehen?», fragt Henners Schwager, seine Stimme klingt plötzlich belegt.

«Wir ermitteln in alle Richtungen.» Rudi bemüht sich, einen beruhigenden Ton in die Befragung zu bekommen. «Es könnte natürlich auch der Querschläger eines Jägers gewesen sein. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass Tjark für die Politik der ‹Frechen Friesen› heftig attackiert worden ist. Es ist nicht auszuschließen, dass dort ein Motiv für die Tat liegen könnte. Weißt du mehr darüber?»

Sacky sieht sie nachdenklich an. «Das mit den verbalen Angriffen stimmt. Gar nicht zu reden von Facebook und so. Die Leute schalten auf stur und wollen uns einfach nicht verstehen. Das gilt sowohl für das geplante Logistik-Zentrum als auch für den Windpark. Natürlich muss man alternative Energiequellen finden, aber deshalb dürfen die vielen Windparks unsere schöne Landschaft nicht einfach verschandeln. Geht doch nur mal rüber auf die Ostfriesischen Inseln. Von dort hat man einen prächtigen Blick auf die ganzen Propeller, mit denen die Küste vom Jadebusen bis zum Dollart vollgepfropft ist. Nein, das ist kein schöner Anblick, das verstümmelt unsere Natur! Ihr werdet verstehen, dass gerade ich als Leiter des Campingplatzes das nicht gutheißen kann. Deswegen bin ich in diese Wählergemeinschaft eingetreten. Weil dort alle so denken wie ich. Das kam natürlich bei den etablierten Parteien nicht gut an. Die wollen Windparks auf Teufel komm raus, um die Subventionen zu bekommen – und sich frei nach dem Motto «Ostfriesland zuerst» die Vorreiterrolle in Sachen Windenergie-Anlagen sichern. Aber das sehen nicht alle so. Wir bekommen jede Menge Rückmeldungen von Menschen, die im Bereich dieser Anlagen leben. Sie sprechen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Ventilationsgeräusche, durch Schlagschatten, der die Fenster ihrer Häuser im Sekundentakt verdunkelt …» Sacky redet sich richtig in Rage, und seine Augen blitzen vor Zorn.

Schnepel unterbricht ihn mitten in seinem Wortschwall. «Gibt es jemanden, dem Ihr Widerstand gegen diese Anlagen ganz besonders bitter aufstößt?»

«Und ob!» Sacky schnaubt. «Da muss ich nicht lange nachdenken. Frido Freiherr von Ihlow! Der feine Herr hat schon versucht, uns zu bestechen, damit wir im Rat für seine Bürgerenergiegesellschaft stimmen. Verstehen kann ich’s, immerhin sind wir das Zünglein an der Waage im Rat. Ob wir den Daumen heben oder senken, ist überlebenswichtig für Ihlows Projekt.»

Hoyko Manninga steht am Fenster seines Hotelapartments und beobachtet das muntere Treiben rund um das Neuharlingersieler Hafenbecken. Früher ist hier lange nicht so viel los gewesen. Dafür haben mehr richtige Krabbenkutter im Hafenbecken gelegen, jetzt dient ein Teil der Flotte nur noch dazu, Ausflugsfahrten für Touristen anzubieten. Man muss sich eben dem Wandel der Zeit stellen. Das hat er genauso gemacht. Auch Hoyko verdient inzwischen sein Geld in Kanada mit Urlaubern.

Sein Blick bleibt am Café Störmhuus hängen. Auf der Dachterrasse muss er unbedingt mit seinen Töchtern eine Rumflockentorte essen. Dazu ein Kännchen Tee. Auf dem Stövchen serviert. Mit dickem Kandis. Seine damalige Freundin hat die Rumflockentorte für ihr Leben gern gegessen. Was Helga wohl heute macht? Ob sie geheiratet und Kinder bekommen hat? Ob sie noch im Ort wohnt? Er wird Heinrich und Gerda nach ihr fragen, die beiden wissen bestimmt, was aus ihr geworden ist. Schließlich hat sie als Magd auf dem Steffens-Hof gearbeitet.

Ein bisschen regt sich sein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken an Helga schon. Aber auf dem Meer vergisst man die Daheimgebliebenen schnell. So viele neue Eindrücke. Ein anderes Leben. Frei, nur dem Wind und den Wellen ausgeliefert. «Seemann, deine Heimat ist das Meer», summt er vor sich hin. «Deine Freunde sind die Sterne, über Rio und Shanghai …»

Im Badezimmer des Apartments rauscht der Föhn und erinnert an einen aufbrausenden Sturm.

«Seid ihr bald so weit?», ruft Hoyko seinen beiden Töchtern zu. Himmel, was das immer dauert, bis die ausgehfertig sind. Ava, die Ältere, streckt ihren Kopf heraus. «Wir sind gleich fertig, Dad.» Sie haucht ihm einen Luftkuss entgegen. «Livia weiß nur noch nicht, was sie anziehen soll.»