Zumindest für eine gewisse Zeit - Hans Heesen - E-Book

Zumindest für eine gewisse Zeit E-Book

Hans Heesen

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sommer 1974 in einer niederländischen Kleinstadt. Seit dem Tod seiner Schwester, ergreift der 15-jährige Erzähler jede Gelegenheit, der erstickenden Atmosphäre seines Zuhauses zu entfliehen. Er entdeckt das Lesen, jobbt in einer Buchhandlung und lernt dort den Betreiber eines Archivs des Verschwindens kennen, dem er bei Recherchen zur Hand geht. Währenddessen schwärmen am Gymnasium plötzlich alle Mädchen davon, Mutter zu werden. Nur eine ist wirklich schwanger – Frida, in die der Erzähler heimlich verliebt ist. Er freundet sich mit ihrem Bruder Nico an, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, denn Frida wird zu den Großeltern aufs Land geschickt. Um die Schwangerschaft zu verheimlichen, erfinden ihre Eltern eine komplizierte Geschichte, in der sie sich am Ende heillos verstricken. Schließlich kommt Frida nach Hause zurück und die Wahrheit ans Licht. Und die Frage nach dem Vater des Kindes gibt dem Roman am Schluss eine überraschende Wendung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 129

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Heesen

Zumindest für eine gewisse Zeit

Aus dem Niederländischen von Evelyne Wehrens

   

Hans Heesen: Zumindest für eine gewisse Zeit

Deutsche Erstausgabe

© schruf & stipetic GbR, Berlin 2024

www.schruf-stipetic.de

Übersetzt von Evelyne Wehrens

ISBN 978-3-944359-80-9

Titel der Originalausgabe: Tenminste voor een bepaalde tijd

© 2023 Uitgeverij Ijzer, Utrecht / Hans Heesen

Layout und Covergestaltung: JBC

unter Verwendung eines Bilds von cf2, iStock

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der schruf & stipetic GbR

Inhalt

Widmung

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Über den Autor

Für Marja † und Evelyn, meine Schwestern

Meiner Erfahrung nach kann man sich der Wahrheit nur aus der entgegengesetzten Richtung nähern, denn die Existenz ist eine Wirklichkeit, die aus dem Kampf zweier Ströme hervorgeht, eines positiven und eines negativen.

Frigyes Karinthy

1

Zu Fuß waren es zweieinhalb Stunden bis Klarenbeek. Warum Nico mich gefragt hatte, ob ich mitkommen wolle, wusste ich nicht. Wir hatten die Tour vorher schon ein paar Mal gemacht, aber das letzte Mal war schon zwei Jahre her. Ich hatte wegen Frida zugesagt.

Mit dem Schreiben dieser Geschichte löse ich ein Versprechen ein, das ich ihr gegeben habe, wenn auch unausgesprochen. Denn durch Frida trat das Leben – mein Leben jedenfalls ganz sicher – für einen Moment aus seiner erstickenden Begrenzung.

Das Erstickende ist, wie ich heute, als ich hier herumlief, gemerkt habe, nach so vielen Jahren immer noch da. Wie ein Foto in einem Album, das man tief im Schrank auf dem Dachboden verstaut hat, um es nicht mehr zu sehen.

Das Leben in der Stadt, die damals noch Hauptstadt einer kleinen Region war, entsprang an dem Fluss, der sich malerisch durch die Landschaft schlängelte und an dem sich ein paar mittelalterliche Städtchen aneinanderreihten. Der Kai, heute eine Promenade, diente früher schlicht als Parkplatz. Geladen und gelöscht wurde hier nichts; die Frachtschiffe fuhren vorbei. Die einzigen Zeichen von Gastfreundschaft waren die achteckige Hütte, in der sich ein provisorisches Café mit kleiner Karte befand, und ein Stück weiter der Pavillon am Fuß der Brücke, wo Schnitzel mit Bratkartoffeln und Erbsen aus der Dose serviert wurden. Die Brücke selbst, eine stählerne Bogenkonstruktion mit einem Hebeteil aus den 1860er Jahren, war in fünf verschiedenen Farben gestrichen, als hätte man die Lagerreste eines bankrotten Farbgeschäfts dafür aufgebraucht. Auf der anderen Seite des Flusses vertrieben sich pubertierende Jugendliche die Langeweile im hochgeschossenen Ufergras. Die Jahreszeiten, eine überzeugender als die andere, hüllten das Städtchen alle drei Monate in eine andere Tracht, Eleganz und Flair allerdings – weit gefehlt. Die winterliche Schneedecke wurde ihm am ehesten gerecht, als wollte sie deutlich machen, dass es sich hier leichter starb als lebte.

Touristen kamen hierher keine, höchstens mal Passagiere der J. Henry Dunant, eines Urlaubsschiffs des Roten Kreuzes für chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung, das in regelmäßigen Abständen anlegte. Diesem Ereignis wurde dann jeweils durch den Besuch einer Pfadfindergruppe oder des Hausfrauenbundes Glanz verliehen, gegebenenfalls auch begleitet von munteren Akkordeonklängen, für die ein Altsprachenlehrer des städtischen Lyzeums sorgte.

Wir nannten den Fluss IJssel im Scherz „Eizelle”, aber auf eine Befruchtung konnten wir schon lange nicht mehr hoffen. Die Stadt hatte ihr Gesicht der Vergangenheit zugewandt. Wer leben wollte, musste gehen. Wer weg wollte, aber, wie wir, noch nicht konnte, übte sich in Eskapismus. Wer blieb, fügte sich und akzeptierte den Fluss als Horizont.

Wir hatten uns vor dem Bahnhof verabredet. Nico grinste. Ich grinste zurück, versuchte seine Verlegenheit zu ignorieren, um meine zu verbergen.

Schweigend setzten wir uns in Bewegung. Über den Auen hingen Wolken. Wir überquerten die Brücke auf dem schmalen Gehweg zwischen Fahrbahn und Gleisen. Unsere Tritte klangen hohl auf dem Metall. Das aufregende Gefühl, wenn ein Zug in nächster Nähe an einem vorbeifährt, blieb aus. Nico ging vor mir. Dünne, sehnige Waden ragten aus Socken, die seine Mutter gestrickt hatte. Ein Kind, noch immer, als ob die Zeit für ihn nicht existierte. Ich war einen Kopf größer. Warum er zu allem Überfluss auch noch kurze Hosen trug, verstand ich nicht. Es verstärkte das Gefühl, dass ich ihm entwachsen war. Körperlich und geistig.

Am anderen Flussufer folgten wir dem Weg unter den Gleisen hindurch aus der Ortschaft hinaus. Wir gingen stumm nebeneinanderher. Den Weg kannten wir. Erst bei Empe musste man überlegen: rechts oder links. Aber auch diese Entscheidung wurde wortlos getroffen. Nico bog rechts in die Breestraße, ich folgte ihm.

Die Landschaft, die früher unsere Kinderfantasie angeregt hatte, präsentierte sich jetzt in prosaischer Eintönigkeit. Weiden und Äcker lagen träge da. Die Zeit, in der wir uns täglich gesehen und keine Worte gebraucht hatten, war längst vorbei. Aber Nico sagte nichts, und ich wartete geduldig ab, da ich annahm, dass er mich aus einem bestimmten Grund gefragt hatte, ob ich mitkäme, und dass ich diesen schon irgendwann erfahren würde. Die Sonne warf unsere Schatten langgezogen vor uns. Um den Größenunterschied auszugleichen, blieb ich einen halben Schritt zurück.

Der umgebaute Bauernhof von Nicos Großeltern war ein Kinderparadies gewesen. Nicos Opa war eigentlich ein großes Kind, und ich konnte mir leicht vorstellen, dass Nico später auch so sein würde. Auf der Tenne war das „Universum von Meijer” aufgebaut, wie auf einem Holzbrett zu lesen war. Wer dieser Meijer war, habe ich nie erfahren, aber in seinem Universum drehte sich alles um die Illusion der Bewegung. Phenakistiskopen und Zootropen, die größtenteils Nicos Opa gebaut hatte, zahlreiche Zauberlaternen und Projektionsgeräte, Bücher, Poster und Objekte, alles aus der Zeit des Stummfilms. Slapstick-Filme auf 8, 16 und 35 Millimetern, die er von sonst wo herhatte. Filme von vergessenen Komikern: Rigadin, das dänische Duo Pat und Patachon, der Italiener Fringuelli.

Ich hatte gehört, dass Nicos Opa vor einem halben Jahr krank geworden war, und es hieß, dass er sich nicht mehr erholen würde. Vor ein, zwei Monaten hatte sich außerdem Nicos Oma bei einem unglücklichen Sturz einen Arm und ein Bein gebrochen, und seitdem wohnte Frida dort, einstweilen, wie es hieß, um zu helfen.

Wir erreichten Klein Amsterdam, was bedeutete, dass wir zwei Drittel des Wegs hinter uns hatten. Früher hatten wir hier eine kurze Rast eingelegt und einen Apfel gegessen. Der Apfel war passé. Stattdessen zog Nico eine Päckchen Bastos aus der Hosentasche, das erste Anzeichen dafür, dass er nicht mehr zwölf war. Er tat so, als ob es für ihn die normalste Sache der Welt wäre, Zigaretten dabeizuhaben, aber ich hatte doch den Eindruck, dass er sie extra für mich mitgebracht hatte. Ich lehnte dankend ab, worauf er das Päckchen wieder wegsteckte.

„Wie geht es deiner Oma?”, brach ich unser Schweigen.

„Gut”, antwortete Nico und verhinderte mit diesem einen Wort, dass aus dem Wortwechsel ein Gespräch werden konnte.

„Und Frida?”

Er wich meiner Frage aus. „Sollen wir weitergehen?”

Ich war nun so alt wie meine Schwester, als sie starb. Nicht mehr lange, und ich hätte sie überholt. Dann hätte ich sie wenigstens in diesem Punkt übertroffen. Seit ihrem Unfall war ich zu Hause das älteste Kind. Der Tod hatte mich isoliert, eine unüberbrückbare Distanz zu meinen Altersgenossen geschaffen, wie etwas, das nur zu mir gehörte, ich nicht mit anderen teilte. Ein Schicksal, dass ich zu akzeptieren hatte und das dazu führte, dass ich andere mied. Dass Nico und ich uns plötzlich, nach zwei Jahren, wiedersahen, fühlte sich an, als würde ein Film, der erstarrt war – ein unbeabsichtigtes Freeze Frame, verursacht durch ein Stocken des Projektors – wieder anlaufen, wenn auch etwas schwerfällig.

Nico und Frida Ondrekac waren nachträglich in unsere Nachbarschaft gezogen. Ihre Oma väterlicherseits war Tschechin. Sie war mit einem Niederländer verheiratet, aber ihr Sohn, Nicos und Fridas Vater, hatte den Namen seiner Mutter angenommen. Nico kam in meine fünfte Klasse. Er hatte so etwas trocken Besserwisserisches an sich und machte gleich am ersten Tag Eindruck, indem er den Lehrer korrigierte. Der hatte behauptet, dass die Erde aus soundso viel Prozent Land und soundso viel Prozent Wasser bestehe. Worauf Nico sich in aller Form meldete, um zu sagen, dass das nicht stimme: Überall sei Land, nur stehe ein Teil davon unter Wasser.

Mein Interesse für Nico war durch Frida inspiriert, die in eine Klasse über uns ging. Die Freundschaft mit ihm war der Zugang zu ihr. Ich schwärmte für sie, traute mich aber nicht, es zu zeigen. Frida ignorierte mich. Für sie war ich ein Freund ihres kleinen Bruders und daher uninteressant. Aber solange sie nicht nur mich, sondern alle Jungs ignorierte, war noch alles möglich, redete ich mir ein, auch wenn es für diese Fantasie keinerlei realistischen Anhaltspunkt gab. Jungs existierten für Frida nicht. Mein Funken Hoffnung gründete darauf, dass umgekehrt auch Frida für die Jungs nicht existierte. Sie war nicht die Sorte Mädchen, mit denen sie sich beschäftigten. Nur ich sah, wie besonders sie war, und das verschaffte mir einen Vorteil, der allerdings wertlos war, angesichts nicht existenter Konkurrenten.

Während Nico und ich unter der sanften Brandung rauschender Bäume weitergingen, fiel mir Jessie Keizer ein. Jessie hatte uns das Küssen beigebracht. Wir waren damals zwölf. Jessie war ein Jahr älter, aber in unseren Augen bereits eine Frau. Sie besuchte eine andere Schule, was uns nur recht war. Es ging um eine rein technische Übung, und was uns betraf, musste davon niemand etwas erfahren. Jessie würde uns einweihen. Ich sah es als meine Chance, den Altersunterschied zwischen Frida und mir zu verringern.

Jessie hatte die Stelle ausgewählt: ein Kornfeld am Ostende der Stadt. Wir trafen sie dort nach der Schule. Reihum dürften wir mit ihr ins Kornfeld gehen. Damit die jeweils drei Wartenden bei Erwachsenen, die vielleicht vorbeikämen, keinen Argwohn weckten, hatte Erik ein kleines Transistorradio mitgebracht. So konnten wir so tun, als ob wir ganz entspannt Musik hörten. Außerdem würde das Radio mögliche Geräusche aus dem Kornfeld übertönen.

Erik ließ uns Streichhölzer ziehen, um die Reihenfolge zu bestimmen. Er hielt drei Hölzchen in der Hand, die Köpfchen nach außen. Drei reichten. Er selbst durfte als Erster, weil er die Sache eingefädelt hatte. Niemand protestierte. Wim, Peter und ich fanden es sogar ganz gut, nicht Erster zu sein. Es war auch so schon aufregend genug.

Jessie sah geduldig zu, wie wir das Streichholzritual erledigten. Dann sagte sie resolut: „So”, und lief, gefolgt von Erik, ins Kornfeld.

Wir sahen ihnen nach, bis sie sich nach ungefähr zwanzig Metern hinlegten und damit unseren Blicken entzogen. Dann setzten wir uns hin und sahen auf die Uhr. Es vergingen fünf Minuten, zehn Minuten, mehr. Ein Song nach dem anderen lief: Tumblin’ Dice, Sylvia’s Mother, Give up your Guns, Buddy Joe. Unruhig standen wir auf – vielleicht war etwas zu sehen? – trauten uns aber nicht, ins Feld hineinzulaufen.

Endlich bewegte sich etwas und wir sahen erleichtert, dass Erik aufstand. Mit erhitztem Gesicht kam er auf uns zu.

„So!”, sagte er mit einem Grinsen, und zu mir: „Du kannst.”

Unsicher folgte ich der Spur der flachgetretenen Halme. Erik war fast eine Viertelstunde weg gewesen. Das bedeutete, dass ich, wenn ich ihm nicht unterlegen sein wollte, mindestens genauso lange durchhalten musste.

Jessie lag auf der Seite, auf einen Ellbogen gestützt. Sie sah mich freundlich an und sagte ermunternd: „Na, komm.” Ich legte mich neben sie und wurde überwältigt vom warmen Geruch des Korns und dem noch wärmeren Geruch von Jessies Körper.

„Ich lege mich auf dich”, sagte sie. „Aber wir küssen nur.”

Jetzt überwältigte mich ihre Weichheit.

„Lippen auseinander”, befahl sie, „und mach die Augen zu, dann geht es besser.”

Eher ängstlich als gierig, aber eigentlich vor allem gehorsam ließ ich geschehen, was geschah. Jessie schob mir ihre Zunge in den Mund und bewegte sie hin und her. Es fühlte sich merkwürdig an. Nach einer Minute hörte sie damit auf.

„Du musst schon mitmachen”, sagte sie. „Mach dasselbe bei mir, wie ich bei dir.”

Ich begann energisch zurückzuzüngeln.

Jessie unterbrach mich wieder: „Nicht so wild. Mach langsam.”

Ich tat, was sie sagte, und zu meinem Glück schien sie jetzt zufrieden zu sein. Wie von selbst legte ich meine Hände, die die ganze Zeit untätig neben mir auf dem Boden gelegen hatten, auf Jessies unteren Rücken, worauf sie sofort aufhörte zu küssen und mich böse ansah.

„Nur küssen, habe ich gesagt. Jetzt geh mal.” Sie stand auf. Es waren höchstens fünf Minuten gewesen.

Ich fühlte mich wie ein Versager, aber Jessie war unerbittlich und machte es noch schlimmer, indem sie sagte: „Erik kann’s besser.”

Ich ließ mir Zeit beim Zurückgehen, um unterwegs meine Fassung wiederzugewinnen. Ich fühlte mich abgewiesen, aber auch stolz. Der Stolz obsiegte. Wie auch immer, ich wusste jetzt Bescheid. Mein erster Zungenkuss, und dann auch noch mit Jessie Keizer, einem älteren Mädchen, dem die sechzehn-, siebzehnjährigen Jungs hechelnd hinterherliefen.

„Du bist dran”, sagte ich zu Wim, der daraufhin zögernd im Korn verschwand.

„Das ging aber schnell”, sagte Erik.

Es gelang mir irgendwie, ihm zuzuzwinkern, womit ich mein Fiasko zu überspielen hoffte. Aber so einfach ließ Erik nicht locker.

„Nur ein Zungenkuss?”, wollte er wissen. „Oder auch äh …?”

„Ich habe ihren Hintern angefasst”, log ich.

Er grinste, ging aber glücklicherweise nicht weiter darauf ein. Zu Peter sagte er: „Tja, Peterchen, du musst dich noch gedulden, aber du wirst sehen, es lohnt sich.”

Erik hatte einen Riecher für wunde Punkte, über die er sich dann lustig machte. Er sprach zum Beispiel Wildfremde an mit: „Du siehst aber schlecht aus? Warst du krank?”, um gleich darauf mit einem Grinsen wieder zurückzurudern. Wenn er so den Macker machte, konnte er empfindliche Leute schon einschüchtern.

Ich sah, dass Peter verunsichert war. Er versuchte, es zu überspielen, indem er schnell am Radio drehte, als Vicky Leandros kam.

„Ich dachte, du findest Vicky Leandros gut”, sagte Erik. „Oder war es Peter Maffay?”

„Sehr witzig”, sagte Peter verhalten.

Wim kam zum Glück genauso schnell aus dem Feld zurück wie ich. Mit rotem Kopf und Brille in der Hand trat er zu uns. „Du darfst jetzt, Peter.”

Aber Peter wollte nicht mehr.

„Traust du dich nicht?”, triezte Erik.

Peter sagte nichts.

Wir riefen Jessie zu uns. Sie richtete ihre Kleidung, klopfte die Spuren des Kornfelds ab und drehte sich um.

„Schaut mal. Ist da noch was?”

Ich zog ihr eine Ähre aus den Haaren. Dann nahm sie ihr Fahrrad und fuhr davon. Wir sahen ihr voller Bewunderung nach. Wir hatten noch keine Ahnung vom Leben. Das hatte Jessie uns gerade klar gemacht.

Als wir am nächsten Tag auf dem Schulhof wieder zusammentrafen, sonderten wir uns gleich von den anderen ab. Unsere gemeinsame neue Lebenserfahrung einte uns, wir fühlten uns dadurch unseren Klassenkameraden überlegen. Peter kam nicht zu uns. Er spürte nur zu gut, dass er nicht mehr dazugehörte. Wir hatten uns getraut, wozu er zu feige (dachte ich damals) oder zu anständig (überlegte ich später) gewesen war. Dafür zahlte er jetzt den Preis.

Auch ich zahlte einen Preis. Erik erzählte, dass er während des Küssens an Marion gedacht hatte. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er uns das nicht ohne Hintergedanken gestand. Es war ein Köder, den er auswarf, um zu sehen, ob Wim und ich anbeißen würden. Er wollte hören, in wen wir verliebt waren, und dadurch, dass er selbst Marion nannte, ein Mädchen aus unserer Klasse, das wusste, wie hübsch sie war, war er auf der sicheren Seite.

Wim gestand, dass er an Marga gedacht hatte. Marga war das netteste Mädchen in der Klasse, also auch eine sichere Wahl.