Zurück auf Los! - Renate Dorrestein - E-Book

Zurück auf Los! E-Book

Renate Dorrestein

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Glück ist völlig normal für Franka und Phinus Vanmeer. Solange alles in Ordnung ist, ergänzen sie sich gut. Vor allem Phinus geht in seiner Vaterrolle auf. Jem ist ein strahlender Junge, der mit seinen Eltern vieles teilt. Da sehen sie gerne über so kleine Details wie die unverzichtbare Baseballkappe – natürlich mit Schirm im Nacken – hinweg. Die brauchen offensichtlich alle Fünfzehnjährigen. Doch Glück kann durch eine sinnlose Tat zerstört werden: Jem wird bei seinem ersten Diskobesuch von einem Jugendlichen erschossen. Einfach so, weil der betrunken ist und wütend über ein verlorenes Baseballspiel. Dieser Zufall platzt wie eine Bombe in das Leben der Eltern, die sich in der Folge fremd werden. Während Phinus geradezu besessen die Bestrafung des Täters verfolgt, will Franka trauern, will die Erinnerung an Jem pflegen. Erdrückt von Schuldgefühlen, kann Phinus nicht erkennen, dass die Spielregeln, denen er das Leben zu unterwerfen gewohnt ist, nicht mehr greifen. Immer tiefer verstrickt er sich und Franka in ein Labyrinth der Missverständnisse, in dem Glück und Trauer, Wut, Hass und Liebe oft nahe beieinander liegen. Dabei könnte alles einfacher sein: wenn Phinus nur den selbstkritischen Blick in den Spiegel wagte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 307

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Renate Dorrestein

Zurück auf Los!

Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Glück ist völlig normal für Franka und Phinus Vanmeer. Solange alles in Ordnung ist, ergänzen sie sich gut. Vor allem Phinus geht in seiner Vaterrolle auf. Jem ist ein strahlender Junge, der mit seinen Eltern vieles teilt. Da sehen sie gerne über so kleine Details wie die unverzichtbare Baseballkappe – natürlich mit Schirm im Nacken – hinweg. Die brauchen offensichtlich alle Fünfzehnjährigen.

 

Doch Glück kann durch eine sinnlose Tat zerstört werden: Jem wird bei seinem ersten Diskobesuch von einem Jugendlichen erschossen. Einfach so, weil der betrunken ist und wütend über ein verlorenes Baseballspiel. Dieser Zufall platzt wie eine Bombe in das Leben der Eltern, die sich in der Folge fremd werden. Während Phinus geradezu besessen die Bestrafung des Täters verfolgt, will Franka trauern, will die Erinnerung an Jem pflegen.

 

Über Renate Dorrestein

Renate Dorrestein, 1954 in Amsterdam geboren, ist eine niederländische Autorin, Journalistin und Feministin.

Inhaltsübersicht

Für Frans – für ...Erster Teil · SchachmattWas Jem immer sagteWas Franka verlorWas Phinus verschweigtWas Geld nach Phinus’ Ansicht vermagWas das Schicksal fertig bringtZweiter Teil · MemoryWas Franka folgertWas den Täter bewogDritter Teil · Zurück auf Los!Was Phinus zurücklässtWas Sanne möchteWas Phinus erreicht

Für Frans – für jetzt,und für Elisabeth und Barbara – für später

Erster Teil Schachmatt

Was Jem immer sagte

«Papa, jetzt sei doch mal ernst!», sagte Jem. «Wie viele Finger halt ich hoch?»

«Elf?», sagte er. «Glaub mir, ich kann wirklich nichts sehen.»

Jem lief um ihn herum und zog den Knoten der Augenbinde noch einmal fester zu. Seine nackten Füße patschten über den Küchenfußboden. Man hörte das Zischen einer Sprudelflasche, die geöffnet wurde. Und wie etwas in ein Glas gluckerte.

Es war Sonntagmorgen, sieben Uhr. Sogar mit verbundenen Augen wusste man, dass der Garten draußen in voller Blüte stand und das Sonnenlicht schon in den Felgen des Kinderrades funkelte, das ins Gras geworfen worden war, neben einen umgedrehten Eimer und einen Tennisball. Es war Hochsommer. Und über allem lag diese spezielle Stille, die nur dann herrscht, wenn die Erwachsenen fast alle noch schlafen. Nicht mehr lange, und es würde wieder losgehen mit dem Reden, Analysieren und Organisieren, es würden wieder Beschlüsse gefasst und Fragen angeschnitten werden, die keinen Aufschub duldeten, es würden Pläne gemacht und Aufgaben verteilt werden. Aber jetzt noch nicht.

Mit einem Knall landeten zwei Gläser auf dem Tisch, und Phinus drehte das Gesicht in die Richtung, in der er Jem vermutete. Er fragte: «Hast du dir gemerkt, was du in welches Glas getan hast?»

«Ja, Coca in Bert und Pepsi in Ernie.»

«Okay, ich bin bereit.» Er streckte die rechte Hand aus.

Doch sofort schlossen sich Jems Finger um sein Handgelenk. «Warte. Um was wetten wir? Heute Nachmittag ins Schwimmbad?»

«Schon wieder?»

«Ja, und diesmal nicht gleich wieder aus dem Wasser raus. Du musst zehnmal ganz auf und ab. Sonst lernst du’s nie, und dann ertrinkst du eines Tages.»

«Ich neige von Haus aus nicht dazu, ins kalte Wasser zu springen, Jemmie. Und außerdem ist deine Mutter eine hervorragende Rettungsschwimmerin.»

«Dich schafft Mama nie und nimmer.»

«Mama schon.»

Jem ließ das Thema fallen. «Na los, probier!»

Phinus langte nach den Gläsern, und für einen kurzen, desorientierten Moment schwebten seine Hände im Leeren. Dann klammerten sie sich an der Tischkante fest wie am rettenden Ufer. Sonntagmorgen, zehn nach sieben, und auf einmal wurde ihm mit Bestürzung der natürliche Lauf der Dinge bewusst: Jem würde ihn eines Tages verlieren, Jem würde selbstverständlich sowohl ihn als auch Franka überleben. Wo und bei wem konnte man genügend Zeit dafür erbitten, ein Kind behütet großzuziehen? Aber wann waren sie groß? Wenn sie keine Apfelsinenschalengebisse mehr machten oder wenn sie …

«Du traust dich nicht!», rief Jem.

«Ich konzentriere mich.»

Jem prustete vor Lachen. «Ich zähle bis drei.»

Sonntagmorgen, zwölf nach sieben. Er nahm ein Glas. Kohlensäure sprudelte ihm an die Nase. Er stellte das Glas hin und griff zu dem anderen. Noch viel mehr Bläschen. Fade Bläschen. Lasche Bläschen. Ein wenig fettig auch.

Neben ihm atmete Jem vor Aufregung stoßweise ein und aus.

Zusehends animierter trank er mal aus dem einen, mal aus dem anderen Glas. Süßer? Weniger süß? Geschmacklich war der Unterschied minimal. Die Kohlensäure gab den Ausschlag. «Ha!», sagte er. «Soll ich dir was sagen?» Er setzte sich auf. «Das hier hat das markantere Prickeln. Explosiv, aber dennoch stetig, ein Sprudel mit Persönlichkeit, distinguiert und prägnant, ein ausgeklügeltes Produkt. Während das hier» – er fand das andere Glas – «viel muffiger ist, mit einem labbrigen Schlaffisprudel ohne Sex-Appeal. Jem, mein Junge: Ich wette alles drauf, dass das erste Coca ist und das zweite Pepsi.»

«Oh! Du hast gelinst!» Jem ging mit trommelnden Fäusten auf ihn los.

Phinus nahm die Schläge willig hin, während er sich die Augenbinde herunterzog. «Bert! Ich hab gewonnen!»

Hinter ihm erklang Frankas verschlafene Stimme. «Na, Männer, was führt ihr denn im Schilde?»

«Nur ein Spielchen», sagte er, sich umdrehend.

Sie stand blinzelnd in der Küchentür, in einem alten T-Shirt von ihm, das ihr bis zu den Oberschenkeln hinunterreichte. Ihre Blicke kreuzten sich, und sie lächelte kurz. Sie fragte Jem: «Und, hat Phinus dich in die Tasche gesteckt?»

«Jetzt du, Mama! Du musst raten, wo Schlaffisprudel drin ist, in Pepsi oder in Coca. Mach die Augen zu.»

«Das ist kinderleicht.» Phinus erhob sich und drückte ihr einen Kuss auf das zerzauste Haar. Dann ging er an den Kühlschrank und nahm Eier, Speck und Butter heraus. Er stellte schon einmal die Pfanne auf den Herd und begann, leise vor sich hin pfeifend, Apfelsinen zu halbieren.

«Was ist denn Schlaffisprudel?», fragte Franka.

«Der ist nicht sexy!», rief Jem aus.

«Sehr gut», sagte Phinus zufrieden. Unterscheidungsvermögen, darauf kam es im Leben an. Zügig presste er die Apfelsinen aus. Dann kehrte er die letzte Schale mit der Innenseite nach außen und griff, in sich hineinkichernd, zu einem Messer.

«Nicht sexy?», sagte Franka. Sie hatte sich zu Jem an den Tisch gesetzt. Durch die selten geputzten Fenster fiel in breiten Bahnen staubiges Sonnenlicht auf sie. «Und was ist deiner Meinung nach denn wohl sexy, mein kleiner Experte? Ein nackter Popo?»

Ernst sagte Jem: «Nein, wenn ihre Haare so sind.» Er beschrieb eine Wellenlinie.

«Ja, das ist hübsch.»

Phinus mit seinem Apfelsinengebiss stand jetzt direkt hinter ihnen. Gleich würden sie sich kringeln vor Lachen.

Franka fragte: «Und was würden sie an dir sexy finden?» Dann sah sie über ihre Schulter. «Was hickst du denn so, Phinus? Möchtest du einen Schluck Cola?»

 

Es muss durch den roten Coca-Cola-Laster gekommen sein, der gerade vorbeigefahren ist. Der kleinste Auslöser genügt, der harmloseste Anblick, der alltäglichste Gegenstand. Die Welt ist zu einem Minenfeld geworden: Überall lauern Erinnerungen, die jeden Moment hervorspringen können. Seine Hände krampfen sich um das Lenkrad.

«Was für ein Seufzer!», sagt Franka neben ihm. Sie berührt sein Knie. «Soll ich das Steuer übernehmen?»

«Nein, nein.» Er blickt in den Rückspiegel. Es ist nicht viel Verkehr auf der Straße.

«Lass uns gleich mal eben bei dem Café auf dem Abschlussdeich halten.»

Er legt eine Hand auf die ihre und drückt sie kurz.

Sie passieren die Schleusen. Vor ihnen erstrecken sich dutzende Kilometer Deich, quer durch das Meer, das Meer, das gibt und nimmt, wie es in diversen Balladen besungen wird. Es ist Freitagnachmittag. Es ist fast Ostern.

Auf dem Parkplatz weht der Wind so heftig, dass sie, jeder auf seiner Seite, kurz mit den Autotüren zu kämpfen haben. Auf den glatten Eingangsstufen zum Café fasst Phinus Franka beim Arm. Ihr leichter Regenmantel flattert ihr um die Beine, ihm stehen die Haare senkrecht vom Kopf ab: In der Spiegelung der Glastür sehen sie aus wie jedes andere windzerzauste Ehepaar.

Drinnen hängen an allen Wänden – und sogar über der Theke mit den Kakaofläschchen, den marzipangefüllten Kuchen und den Würstchen in Blätterteig – gerahmte Schwarzweißfotos, auf denen schnurrbärtige Männer abgelichtet sind, die in Ölzeug heroisch die Elemente bezwingen. «Ein Volk, das lebt, baut an seiner Zukunft.» Vor und nach jedem Wochenende auf Terschelling oder Vlieland haben sie hier kurz Rast gemacht, in diesem unansehnlichen Lokal, das kaum größer ist als ein Schuhkarton, um sich diese Fotos anzuschauen, diese entschlossenen Baggerer und Baumeister, die zu ihren Kindern sagen konnten: «Ich habe das Meer Mores gelehrt, ich habe Ufer verbunden, ferne Provinzen erschlossen und die Entstehung neuen Landes möglich gemacht. Ich habe aus Chaos Ordnung geschaffen.»

Franka hat sich an einen Tisch am Fenster gesetzt, hinter dem das IJsselmeer in der Frühlingssonne glitzert.

Schnell geht er mit einem Tablett an den Fleischsalaten, den abgepackten Sandwiches und dem Schild «Brötchen mit warmem Kochschinken und Soße» vorüber. Er bestellt einen Cappuccino und einen Espresso.

«Was mag das wohl für eine Soße sein, die es zum Kochschinken gibt?», fragt er, als er den Kaffee vor Franka auf den Tisch stellt.

«Senf, meinst du nicht?» Sie hört sich müde an.

«Dann würden sie ja wohl Senf schreiben.»

«Hast du etwa Hunger?»

«Nein, du? Vielleicht meinen sie …»

Sie beugt sich vor. Milde, beinahe amüsiert sagt sie: «Warum fragst du nicht einfach?» Sie hat das Kinn in die Hände gebettet.

Er schaut auf die feuerroten Striemen an ihren Fingerspitzen. Was, wenn sie ihre Nägel eines Tages aufgegessen hat? Wird sie unermüdlich weiternagen, Nacht für schlaflose Nacht, zuerst an ihren Fingern, dann an den Handknöcheln? Wird sie weitermachen, über die Handgelenke zu den Ellbogen, zu den Schultern, bis sie ihre leeren Arme nicht mehr spürt, weil sie dann einfach keine Arme mehr hat?

Sie steht auf. «Kurz aufs Klo.» Ihr Blick lässt nicht von ihm ab, und ihre Augenbrauen heben sich. «Was guckst du so?»

«Ich muss gerade denken, wie sehr ich dich liebe.»

Sie lacht. «So groß und doch so sentimental.»

Während sie sich umdreht, zupft sie den kurzen Rock ihres gelben Kostüms zurecht. Sie hat sich für diesen Ausflug sichtlich Mühe gegeben: kein Jogginganzug, kein schlabbriger Pullover. Irgendwo in den Tiefen ihres Bewusstseins beziehungsweise ihres Kleiderschranks hat sie dieses Kleidungsstück gefunden und gedacht: Darin sieht Phinus mich gern.

Der Rock spannt ums Gesäß. Sie ist dicker geworden, ein gutes Zeichen. Jetzt muss sie nur noch zusehen, dass sie wieder schläft.

Er hat von jeher über einen gesunden Schlaf verfügt. Er braucht nur sein Kopfkissen zu sehen, und schon ist er weg. Stundenlanges Schwanken zwischen Lorazepam, Dalmadorm (15 oder 30 mg?) oder einem doppelten Whisky («Was hab ich denn gestern noch genommen, Phinus?») kennt er nicht. Schlaflose behaupten, dass es ein großer Unterschied ist, ob man um ein Uhr nachts wach liegt oder um fünf, oder ob man nicht einschlafen oder nicht durchschlafen kann, und dass warme Milch eine ganz andere Wirkung hat als Kräutertee. Sie stellen mitten in der Nacht den Fernseher an oder starren verdrossen zu Mond, Sternen und Planeten hinauf. Sie lesen Akten, die ohnehin gelesen werden müssen. Sie stochern in der kalten Asche des Kamins herum. Sie warten auf Erlösung, manchmal ergeben, manchmal verzweifelt. Sie kennen eine Seite des Lebens, von der die Schlafenden keine Ahnung haben. Sie kennen die Nacht, jene acht der vierundzwanzig Stunden, die so einsam, schrecklich und zum Verrücktwerden sind und in denen alle Rädchen von Schuld und Scham so unfehlbar ineinander greifen, dass dem Menschen sehr daran gelegen ist, dem entkommen zu dürfen: Nach sechzehn Stunden Aktivität verlangsamt sich der Herzschlag, die Körpertemperatur sinkt, man muss die Zähne zusammenpressen, um ein Gähnen zu unterdrücken, und mit dem Denken beginnt es zu hapern. Nicht mehr lange, und das Bewusstsein entschwindet, und man ist geborgen im Königreich der Schlafenden, gleichsam wie von selbst.

Nicht so Franka. Seit sechs Monaten schon tut sie kein Auge mehr zu. Sie ist völlig zerschlagen. Mitunter sieht sie Sterne, sagt sie. Sie ist kaum noch Franka Vermeer, sondern lediglich ein Haufen Zellen, Sehnen und Eiweiße, die sich erschöpft nach Bewusstlosigkeit sehnen. Doch sie wagt die Augen nicht zu schließen, denn sobald sie sich dem Schlaf hingibt, ist sie wieder in der Leichenhalle, wieder in jener entsetzlichen Nacht ohne Ende.

 

Bei der Ausfahrt Harlingen beschleichen ihn plötzlich Zweifel. Vielleicht hätte er doch ein Häuschen auf Terschelling mieten sollen. Dann hätten sie wie gewohnt nach Oosterend radeln und im Watt Muscheln suchen können. Aber er wollte gerade einen Ort ohne Erinnerungen. Mal was ganz anderes als das, was sie früher immer gemacht haben.

«Hätten wir hier nicht abgemusst?», fragt Franka, sich nach dem Schild mit der Fähre umdrehend.

«Nein.»

Sie lehnt sich wieder im Sitz zurück.

«Du rätst nie, wohin wir fahren. Es fängt mit A an.»

Über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg wirft sie ihm einen nachsichtigen Blick zu. «Wir können auch Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst spielen. Oder die Namen der sieben Zwerge aufsagen. Aber die kennst ja nur du. Weißt du noch, wie du immer mit …»

«Ja», sagt er schnell. Der Hemdkragen sitzt ihm plötzlich zu eng am Hals. «Schau bitte mal eben auf die Karte. Ich muss irgendwo auf die N 355.»

Sie schlägt die Karte auf und studiert sie. «Ach, bis dahin dauert’s noch ’ne Weile. Müssen wir da irgendwo in die Nähe?»

«Nein, ich sag jetzt nichts mehr. Dann bleibt es eine Überraschung.» Verstohlen fühlt er in seiner Innentasche nach dem kleinen Führer von der Alliance Gastronomique. Ein Gasthof in einem ländlichen Groninger Weiler, das hört sich einfach genug an. Aber das 7-Gänge-Diner am Abend der Ankunft, das im Arrangement inbegriffen ist? Sie wird das Gefühl haben, dass die Verdammten dieser Erde sie bei jedem Bissen vorwurfsvoll anstarren. Vielleicht kann er noch rasch etwas mit der Küche absprechen. Drei Gänge sind das höchste der Gefühle. Sehen Sie, meine Frau ist keine so große Esserin.

«He, pass auf! Phinus! Nicht überholen!»

Er steht sofort auf der Bremse. Der Wagen schleudert, die Reifen quietschen. Ein Farb- und Geräuschwirbel saust hart an ihnen vorbei.

Einen Moment ist es still. Dann sagt sie, mit einer Stimme, die schrill ist vor Schreck: «Wenn ich am Steuer gesessen hätte, wären wir dran gewesen.»

Das Adrenalin lässt ihn triumphieren. «Dein Mann hat zum Glück gute Reflexe. Nichts passiert, Franka.»

«War das nun ein Geisterfahrer?»

Kups, denkt er automatisch, es war ein Rerhafkups. Das klingt wie der Name eines Blasinstruments von einem lange ausgestorbenen Volk, eines uralten Instruments, das schon von Menschenlippen berührt wurde, als die Menschen noch Schwänze hatten und das Böse noch nicht auf der Welt war. Das Rerhafkups war berühmt für seinen reinen Ton. Wer einmal ein gut gespieltes Rerhafkups gehört hatte, kannte den Unterschied zwischen Tränen der Freude, Tränen des Bedauerns und Tränen des Kummers.

«Ach, das war nur irgendein Irrer», sagt er. «Noch ein Stündchen, und wir sind da. Mach ein wenig die Augen zu, Mädchen. Ein Nickerchen wird dir gut tun.»

 

Über dem komfortablen Bett, in dem Phinus Vermeer jeden Morgen erwacht, dem Bett, in dem er sonntagmorgens die Wochenblätter und Wochenendbeilagen liest und in dem er und Franka sich, in besseren Zeiten, unzählige Male geliebt haben, hängt eine Reproduktion eines neoklassizistischen Gemäldes von Sir Lawrence Alma-Tadema. Junge Grazien in Faltengewändern, das lange Haar offen, tanzen anmutig auf marmornem Boden. Einige von ihnen spielen auf Blasinstrumenten oder schlagen ein Tamburin.

Es ist ein Bild, das ihn jeden Tag, wenn er die Augen öffnet, in seinen Ansichten über die innersten Triebfedern des Menschen bestätigt. Unterhaltung und Vergnügen sind ein Bedürfnis jeder Zeit und jedes Alters, jedes Ranges und Standes, zumindest, sobald die lebensnotwendigen Grundbedürfnisse befriedigt sind. In seiner kleinen Ansprache beim Neujahrsumtrunk von Jumbo erwähnt er immer mit Vorliebe den Homo ludens. Der Mensch, sagt er dann, will im Grunde seines Wesens nur spielen.

(«Mein Vater», sagte Jem immer, «spielt im Büro den ganzen Tag Würfeln und Domino und wird auch noch dafür bezahlt.»)

Dass der Homo ludens derzeit, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, auf immer passivere Formen der Unterhaltung aus sein soll, will Phinus nicht in den Kopf. Er glaubt unbedingt an dessen sportliche, spielerische und forscherische Natur. Mit Erfolg hat er erst kürzlich noch unter dem Namen After Dinner Games eine neue Reihe von Erwachsenenspielen eingeführt. Indem man den für das Spiel vorgesehenen Zeitpunkt explizit in den Titel aufnimmt, bringt man die Menschen dazu, gemütlich am Tisch sitzen zu bleiben und miteinander zu spielen, anstatt sich vor den Fernseher zu hängen und ein Quiz zu gucken.

Franka fand das alles hoffnungslos altmodisch und bevormundend. Ihre Vorstellung von Entspannung nach einem langen, schweren Tag besteht darin, sich, der Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt, eine große Schüssel Popcorn in Reichweite, einen B-Film anzusehen und nicht ein Spiel zu spielen, bei dem man raten muss, warum ein Specht keine Kopfschmerzen bekommt oder wieso das Meerwasser salzig ist. Franka ist achtunddreißig geworden, ohne die Antwort auf derlei Fragen zu kennen, und auch jetzt hat sie keinerlei Bedürfnis, von einem Plastikkärtchen abzulesen, wie es sich nun mit dem Specht oder dem Meerwasser verhält, und ihren Spielstein dementsprechend ein Feld weiterzuschieben oder nicht. Nein danke.

Es hat ihn immer amüsiert, mit einer Frau verheiratet zu sein, die ein «in das Gefängnis» oder «dreifacher Wortwert» völlig ungerührt lässt, einer Frau, die nie im Leben auf einen Würfel spucken wird, damit sie eine Sechs bekommt, einer Frau, die einen Läufer nicht von einem Turm unterscheiden kann und die sich noch nie den Daumen verstaucht hat bei dem Versuch, Rubiks Zauberwürfel, dieses Wunderwerk der Knobelkunst, zu knacken: Millionen Möglichkeiten, eine einzige richtige Lösung … Wenn einem da nicht das Wasser im Mund zusammenläuft! Allein schon die vollendete Formgebung mit den fröhlichen Mondriaanfarben und die wohl durchdachte Technik, Mannomann!, dieses nahezu unhörbare Klicken der kleinen Kugellager in den siebenundzwanzig Würfelchen, aus denen dieses Gottesgeschenk für den Knobler zusammengesetzt ist. Aber Franka zieht die Grenze beim zweidimensionalen Legebild. Aus seinem ganzen gigantischen Spielesortiment kann er sie einzig und allein damit erfreuen: mit dem klassischen Legepuzzle. Das beruhige sie, sagt sie. Es sei so herrlich hirnlos.

Hirnlos.

Typisch Franka. Wo andere aus Höflichkeit über Witze lachen, die sie eigentlich nicht witzig finden – in seinem Fall dröhnend –, blickt sie stirnrunzelnd vor sich hin. Wenn sie lacht, dann aus vollem Herzen, sonst lacht sie einfach nicht. Er kennt niemanden außer ihr, der so unbedingt er selbst ist. Er hat eine Frau mit Mumm und Substanz. Und sie puzzelt gern.

Sobald der neue Puzzlekatalog raus ist, kreuzt sie darin ihre Präferenzen an und gibt ihm die Liste mit selbstverständlicher Gebärde. Meistens fährt er gleich am nächsten Tag in die Fabrik in Noord-Holland, holt die Kartons eigenhändig aus dem Magazin und quittiert. Es beflügelt ihn, dass seine lakonische, unabhängige Franka zu diesem Zeitpunkt bei ihrer Arbeit an ihn denkt: Ob er sie wohl heute Abend schon dabeihat, oder erst morgen? Er genießt es, beim Nachhausekommen mit gleichgültiger Miene zu sagen: «Soll ich heute Abend mal zeitig kochen?», und zu sehen, wie sie sich auf die Lippen beißt, um sich ihre Frage zu verkneifen.

Sie setzt sich zu ihm in die Küche. Sie schenkt jedem ein Gläschen ein und erkundigt sich beiläufig: «Haben wir noch was Besonderes vor?»

«Moment, ich muss mich eben auf die Soße konzentrieren.»

Sie wartet, obwohl sie weiß, dass er selbst mit geschlossenen Augen noch eine vollendete Soße hinkriegt oder einen prima Rührkuchen backt. Sie wartet und spielt das Spiel mit.

Er schnippelt etwas frischen Liebstöckel über die Soße. Er agiert mit der Pfeffermühle, mit einer Prise von diesem und einem Klecks von jenem sowie einem Klümpchen Butter zum krönenden Abschluss: Der sorgende Mensch in Höchstform. Homo curans sozusagen. «Wie riecht’s?»

«Phantastisch. Im Grunde bin ich ja nur auf deine Eintöpfe und deine Pasteten versessen», sagt sie mit ungerührter Miene.

«Und auf sonst nichts?»

Franka gibt sich keine Blöße. Sie schenkt die Gläser noch einmal voll. Sie weiß längst Bescheid. Er ist wie ein offenes Buch für sie, oder besser noch: wie eine Spielanleitung von Stratego oder Touché, auf der Innenseite des Deckels versteckt, gedruckt in den kleinstmöglichen Lettern, in graustem Grau.

 

Die Küche, in der Phinus Tag für Tag seine Aufläufe und Pfannengerichte zubereitet, befindet sich in einem alten Haus in Amsterdam. Sie haben es gekauft, als Jem gerade sieben geworden war und sie sich, nach gründlicher Einarbeitungszeit, als fest gefügte Familie ansahen. Das Haus ist nicht schön oder auf charakteristische Weise alt, sondern es ist vor allem alt im Sinne von oll und morsch.

Zum Auftakt rissen sie das vorsintflutliche Badezimmer heraus. Sie ließen einen neuen Boiler einbauen, sie holten Stuckateure, Klempner, Fliesenleger, Terrazzo-Experten und Elektriker ins Haus. Sie arbeiteten sich von Stockwerk zu Stockwerk. Sie zankten sich und lachten sich schlapp. Sie waren ein gutes Team. Nicht jede Ehe ist einem Umbau gewachsen, den unendlich vielen Entscheidungen, den Scherereien, den Unbequemlichkeiten und dem andauernden Terror voll aufgedrehter Radios. Phinus war zuständig für die Abteilung Wutschnauben, Franka für die Abteilung Schulterzucken. So rückten sie der Aufgabe Hand in Hand und Schulter an Schulter zu Leibe.

Nur begann Jem zu der Zeit unter Albträumen zu leiden. Regelmäßig schrie er im Schlaf laut auf. Franka sagte, das komme daher, dass sein Bett mal hier und mal dort stehe, und er werde sich von ganz allein wieder beruhigen, wenn das Haus erst einmal fertig sei. «Kinder wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, die sind richtig konservativ.»

Wenn Phinus mitten in der Nacht unter der Bettdecke hervorschlüpfte, die vor Staub und Mörtel knisterte, dachte er an die Krokodile, die unter seinem Bett gelegen hatten, als er klein gewesen war: Ein Krokodil war ein ernstliches Problem. Im Flur, wo noch kein einziger Lichtschalter funktionierte, erinnerte er sich, wie er damals versucht hatte, das Ungeheuer in ein Kamel zu verwandeln, dieses absonderliche, fast schon mythologische Tier, das in sämtlichen Gelenken einknicken musste, um einen Menschen auf seinen Rücken zu lassen. Ein Kamel hatte den zusätzlichen Vorteil, dass es nicht unters Bett passte.

Jem saß mit hochgezogenen Knien auf seiner Bettdecke. Vor Übermüdung hatte er dunkle Ränder unter den Augen.

«Mal sehen», sagte Phinus, bückte sich und fuhr mit seinen langen Armen unter dem Bett hindurch. «Kein Krokodil mehr da! Die Luft ist rein!»

Jem sah ihn völlig ausdruckslos an. Ein wenig mitleidig sagte er schließlich: «Ein Krokodil ist da ja auch gar nicht. Aber hier spukt’s.»

«Es spukt?» Seine Füße waren eiskalt, er hätte seine Hausschuhe anziehen sollen. «Hier? Wo steckt er denn, der Spuk?»

«Überall. Wo du hinguckst.»

«Auch wenn du so guckst?» Er hob Jem vom Bett hoch und setzte ihn auf seine Schultern.

«Ja», kam es bedrückt von oben.

«Verflixt. Und so?» Er zog Jem an seiner Pyjamajacke vornüber, ließ ihn an seiner Brust entlang herabtauchen und fasste ihn bei den Fußgelenken. Der Junge kreischte vor Überraschung auf. «Na, was siehst du so?»

«Ich seh alles verkehrt rum!»

Phinus schwang ihn aufs Bett zurück. «Genau!», sagte er keuchend. «Das heißt: die Sache von der anderen Seite her betrachten beziehungsweise die Sache umkehren. Und wenn du einen Spuk umkehrst, was hast du dann? Denk mal nach. S-p-u-k, aber dann andersrum?»

Jem setzte sich stirnrunzelnd auf. «Kups», sagte er mit großer Anstrengung.

«Kups?», sagte Phinus. «Nie gehört. Kupse gibt’s nicht, soweit ich weiß.»

Jem begann unsicher zu lachen. «Aber Papa …»

«Problem gelöst», sagte Phinus. «Jetzt gehen wir schön schlafen. Und wenn das wirklich nicht gelingen will» – er dämpfte die Stimme –, «dann denk an das freundliche Lemak, das auf seinen blanken Hufen langsam durch die Wüste läuft und schaut, ob nicht irgendwo jemand seine Hilfe braucht.»

«Lemak?», sagte Jem und schlüpfte unter seine Decke.

«Ja», flüsterte Phinus. «Wenn du Angst hast, ist immer schon irgendwo ein Lemak zu dir unterwegs.»

«Wie sehen die aus?», fragte Jem, während ihm die Augen zufielen.

«Sie haben ganz weiche Lippen. Tiere sind unsere Freunde. Vergiss das nie.» Er deckte ihn fest zu. Aber es war schon zu spät für einen Kuss: Jem schlief, er war auf dem Weg zu einem Traum, den niemand je erfahren würde.

 

Das Endergebnis des Umbaus – als das Geld alle war – war nicht vollkommen. Doch Franka liebt das Haus, typisch!, trotz seiner Mängel, ja vielleicht gerade wegen allem, was nicht perfekt daran ist. Phinus verlangt das schon größere Anstrengung ab. Es fällt ihm schwer, die kaputten Fliesen im Flur zu ignorieren oder auch einige hässliche Leitungen nicht doch unter Putz legen zu lassen. Immer noch macht er auf der Rückseite von Briefumschlägen gelegentlich Skizzen. Aber der Gedanke an neuerliches Durcheinander, an Schutt und Staub überall hält ihn zurück.

(«Wenn mein Vater irgendwo Unordnung sieht, flippt er aus wie John Cleese in Fawlty Towers», sagte Jem immer. Seine Halbwüchsigenstimme schnappte dann über. «Echt zum Schießen!»)

Glücklicherweise lässt sich mit Hilfe farbenfroher Akzente und einer raffinierten Anordnung des kunterbunten Möbelsammelsuriums gut von den Schwachstellen ablenken. Die Gäste schauen wahrhaftig nicht hinter die Fassade, schon gar nicht, wenn selbst gemachte Sushis auf dem Speiseplan stehen.

Ach ja, die Gäste! Noch hallen ihr Geplauder und Gelächter in den hohen Räumen nach. Was gab es doch immer viel zu feiern. Gute Zeugnisse, Hochzeitstage, den ersten Matjeshering der Saison: Franka und er machten aus allem gern ein Fest. Und dann konnten sie einander über einen Tisch voller Flaschen und Schüsseln hinweg vergnügt ansehen, verbunden im gemeinsamen Erfolg.

Jetzt werden keine Partys und Essen mehr gegeben. Die Zeiten sind vorbei. Trotzdem ist das Haus ständig bevölkert, es herrscht ein reges Kommen und Gehen von Frankas Zöglingen. Drogensüchtige und Schulabbrecher, launische junge Analphabetinnen ohne Zukunft und kleine Maulhelden mit zu viel Vergangenheit: Kinder, die beim Sozialamt die Akten füllen. Manchmal sitzen sie an seinem eigenen Esstisch, wenn er nach Hause kommt. Arme Teufel, zu denen er niemals sagen könnte: «Ich wohne hier, also würdest du dich bitte mal verziehen.» Zu den unmöglichsten Tageszeiten laufen im Haus Schauergestalten mit glasigem Blick herum, mit denen kein normales Gespräch zu führen ist. Er kann in seinem eigenen Haus keinen Ring und keine Uhr herumliegen lassen, ohne dass irgendein jugendlicher Straftäter lange Finger macht. Überall stinken überquellende Aschenbecher vor sich hin. Und nachts läutet das Telefon, oder es steht wieder mal ein Ordnungshüter vor der Tür, weil sich eines der Sorgenkinder Ärger eingehandelt hat.

Dennoch war er früher stolz auf Frankas berufliches Engagement, ihre Einsatzbereitschaft, ihre Kompromisslosigkeit. Er versteht selbst nicht, wieso ihre bewundernswürdigen Fähigkeiten, genauso wie ihre erbärmliche Klientel, in letzter Zeit auf einmal einen gewissen Widerwillen in ihm erwecken. Aber er versteht ohnehin nicht mehr viel, egal wovon.

 

Ohne es zu merken, ist er schneller gefahren, und er nimmt Gas weg. Die nächste Ausfahrt muss nach Aduard führen, einem Flecken in der ländlichen Region Groningens, bei der man an Pappkarton und Kartoffelmehl denkt, an schlossähnliche Herrenhäuser und riesige Bauernhöfe vom Kopf-Hals-Rumpf-Typus, an schwere alte Backsteine, genannt «kloostermoppen», an Warften, Hamriks und durch Landgewinnung größer und größer werdende bäuerliche Betriebe: Er hat sich natürlich gründlich vorbereitet.

Die Landschaft liegt unfreundlich und wenig einladend da, durchschnitten von kerzengeraden Kanälen. Äcker mit straff gepflügten Furchen, so weit das Auge reicht, nichts als rechtwinklige Ecken, und die Pappeln auf den Deichen halten streng Abstand voneinander. Krähen picken wie wild im Lehmboden. Ihre stechenden Augen folgen ihm, während er herbe Kirchdörfer passiert, die wie Perlen auf eine Schnur an die Straße gereiht sind. Er hatte, ehrlich gesagt, etwas Lieblicheres erwartet, reicher ausgestattet, rustikaler.

Franka neben ihm ist eingedöst, Hände im Schoß gefaltet, Kopf zur Seite gefallen, seine Frau, die zur Zeit überall einnickt, außer zu Hause im Bett, wo ihr alle ihre Dämonen auflauern.

Er denkt: Wenn wir jetzt nur erst mal wieder einfach zusammen … wenn wir jetzt nur erst … wenn wir uns jetzt einfach mal wieder zusammen an etwas freuen könnten, das ist es, dann kommt der Rest von allein. Umsichtig betätigt er den Blinker, ordnet sich ein und biegt ab. Die Straße führt unter einem Viadukt hindurch. Dessen Pfeiler sind mit Graffiti beschmiert. Sie sehen aus, als wären sie in den Beton hineingekerbt. Wie die Umrisse von Wesen, die sich mit Gewalt eine Zuflucht in der harten Materie verschafft haben, die sich mit knirschenden Zähnen gegen die dicken Wände geworfen haben. Und die sich später, wenn es dunkel ist, wieder aus ihnen herauslösen werden, wie jede Nacht, um durch die stillen Straßen zu geistern und ihre Klauen nach allem auszustrecken, was atmet. Sie verkörpern eine Vorstufe des Menschen, aus einer Zeit, als der Mensch sich erst noch aus dem Schleim herausbilden musste.

Unwillkürlich blickt er kurz zur Seite, auf Franka.

Wie merkt man, dass eine gemeinsam gebildete Bastion von innen her unsichtbare Risse bekommt? Na ja, Risse? Er sollte nicht immer so übertreiben. Es läuft momentan einfach nicht so gut zwischen ihnen. Vorübergehend keine rechte Inspiration. Das kommt in den besten Familien vor. Und keine Lust auf Sex, ach, auch davon geht die Welt nicht unter. Wenn sie in dem romantischen Gasthof bloß nichts von ihm erwartet. Er steckt einen Finger hinter den Knoten seiner Krawatte und lockert sie etwas. Herrimhimmel. Wär sie doch wenigstens noch für ein Puzzle zu haben! Aber seit sie nicht mehr schläft, fehlt ihr die Energie für den Mont Blanc à 122 x 85 cm in fünftausend Teilen. Sie sehe die Teile doppelt, sagt sie.

Er ist immer davon ausgegangen, dass das Verstreichen der Zeit in ihrer Ehe dadurch gekennzeichnet sein würde, dass sie zusammen allmählich auf das Niveau der Österreichischen Alpen in tausend oder eines Vincent van Gogh in fünfhundert Teilen absinken würden. Beide mit Lesebrille, eine Lupe in der Hand. Ein spezieller Tisch für das Puzzle, nah am Fenster. In siebzig Teilen gab’s immer noch ein allerliebstes Schneewittchen, ein herziges Pony mit Fohlen oder vier Hundewelpen in einem Wäschekorb. Und Kater Dikkie Dik konnten sie sogar noch mit neunzig machen: zwanzig Teile.

Vielleicht liegt der Charme dieses gemeinsamen Zeitvertreibs in seinem beinahe heimlichen Charakter. Es ist ja weiß Gott nichts, was man bei Freunden an die große Glocke hängt. So unschuldig, dass man sich fast schämen muss. Nein, wir sagen es niemandem, du und ich gegen den Rest der Welt. Erwachsen sein müssen wir schon den ganzen Tag. Andere Paare kaufen einander Teddybären, das ist wesentlich bekloppter.

Mit einem Mal weiß er nicht mehr so recht, wie sie nun zusammen alt werden sollen, ohne den Halt des vertrauten Rituals: Zuerst die Ränder und Ecken legen und dann das Puzzlebild einfügen, mit liebevoller Zuwendung aus den Einzelteilen eine zusammenhängende Fernsicht hervorzaubern, einem Versprechen gleich, dass letztlich alles gut wird, wenn man sich in Ruhe gemeinsam daran setzt. Also versucht er sie regelmäßig zu verleiten: mit einem Cartoon der Karte der Vereinigten Staaten in fünftausend Teilen, einem Stillleben mit Rosen in dreitausend. Ungeöffnet landen die Kartons in einem Schrank. Manchmal rutschen einige vom Stapel herunter, wenn er auf der Suche nach einer Schere oder einem Stift die Schranktür öffnet. Eine Kartonlawine: ominöses Symbol für das, was in seinem Leben so alles verschoben ist? Aber es kann natürlich gut sein, dass Franka, wenn er weg ist, wie eh und je ein Puzzle hervorholt und einen friedlichen Abend damit verbringt, die Füße in Socken um die Stuhlbeine geklemmt. Er versucht sich einzuprägen, in welcher Reihenfolge die Kartons aufeinander gestapelt sind. Wirft er jedoch nach einem Abend mit Überstunden oder einem Geschäftsessen, das sich in die Länge gezogen hat, einen Blick hinter die Schranktür, dann zweifelt er sofort an seinem Erinnerungsvermögen. Es sind ja nur Puzzles, denkt er dann. Es sind keine Zeichen an der Wand, sondern einfach nur Kartons mit Pappteilen darin.

 

Dennoch hatte sie vor einer Woche plötzlich ganz begeistert auf den Lago Maggiore aus der neuen Kollektion reagiert. «Boh, das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit mit all dem Blau!»

Sein Herz hämmerte wie blöd, als sie den Karton sofort auf dem Tisch ausleerte. «Du den Himmel, ich das Wasser?», fragte sie, während sie die Teile mit ihren zerkauten Fingerspitzen nach Farben zu ordnen begann.

«Ich hol uns mal eben was zu trinken dazu», sagte er. In der Küche schnäuzte er sich die Nase.

«Champagner?», sagte sie, als er mit der Flasche und den Gläsern wieder hereinkam.

«Das Haltbarkeitsdatum ist beinahe abgelaufen. Er muss getrunken werden.»

Sie lachte kurz.

Während er einschenkte, studierte sie mit konzentrierter Miene die Abbildung des Puzzles auf dem Deckel. Vielleicht sah sie ja durch den Lago Maggiore hindurch Phinus aufleuchten und dachte voller Anerkennung: Das ist das Werk meines Mannes. «Guck dir bloß mal diesen Abschnitt hier an», sagte sie. «Der wird verflixt schwer.»

Er nahm den Deckel von ihr entgegen. «Ja, knifflig.» Da erstarb das Lächeln auf seinen Lippen. «Das darf doch wohl nicht wahr sein! Jetzt sieh dir das an! Das Logo ist spiegelverkehrt!»

«Ist doch nicht so schlimm.»

«Das hätte jemandem von der Produktion auffallen müssen!»

«Ach, Phinus», sagte sie beinahe mitleidig: Du Sonntagskind mit deinen Luxusproblemen. Du mit deinen nichtigen Sorgen über Spielsteine oder Kartongestaltung.

Er schluckte seine Empörung hinunter. Jetzt nur ja nicht die Stimmung verderben, nachdem er sich so lange auf einen Abend wie diesen gefreut hatte. Auffordernd hob er sein Glas.

Sie nippte an dem ihren, achtlos, ohne ihn anzusehen. Das Glas hatte einen Sprung.

«Was ich gerne mal hätte», sagte er aus einer Anwandlung heraus, während er ein Puzzleteil aufnahm, «wär ein neues Service.» Elegante, zusammenpassende Gläser, Tassen mit Henkeln dran, eine Sauciere mit Fuß, Teller ohne abgeplatzte Ränder. Das Ganze fein säuberlich in einen verschlossenen Schrank eingeordnet, außer Reichweite von Junkies, Querquasslern und Durchgeknallten.

«Finger weg von meinem Wasser», sagte sie.

«Das ist mein Berg.»

Sie zog ihm das Teil aus den Fingern, besah es sich kurz und gab es ihm zurück. «Was sagtest du da gerade von wegen Service? Wir haben doch alles!»

«Ja, von der HEMA!» Unerklärlicherweise war er plötzlich so aufgebracht, dass ihm die Hände zitterten.

«Na und? Sind doch einwandfreie Sachen und nicht teuer.»

«Ich möchte einfach mal aus was anderem trinken als aus deinen plumpen Bechern.»

Sie sah ihn einen Augenblick an und beugte sich dann wieder über den Lago Maggiore. «Wir kaufen nichts Überflüssiges, kommt gar nicht in Frage. Das find ich protzig.»

In seiner linken Wange legten die nervösen Zuckungen los. Er musste sich zurückhalten, um nicht die Champagnerflasche auf dem Tisch zu zerschlagen, dem Tisch mit der zerdellten Oberfläche auf dem bunten Dritte-Welt-Teppich auf dem naturbelassenen Kiefernholzboden mit den staubigen Fußleisten und den Zeitungsstapeln und den herumfliegenden Kontoauszügen und einer feuerroten Socke, ja zum Donnerwetter, wie oft soll ich es dir denn noch sagen: Leg die Socken paarweise aufeinander, dehn sie kurz zu beiden Seiten, roll sie zusammen, schlag einen Rand um und zieh ihn drüber, und neben der Socke eine verdorrte Zimmerpflanze auf einer mit Kalkablagerungen überzogenen HEMA-Untertasse. Chaos und gedankenlos angerichtete Unordnung umgaben ihn tagaus, tagein, dieses Haus mit seinen undichten Regenrinnen, seinen defekten Leitungen, seinen zerborstenen Fliesen war ein einziger Sauhaufen, wir stören uns ja nicht an ein bisschen Unordnung, wir haben höhere Ziele als die armen Würstchen, die sich darüber aufregen, ob ein Logo hübsch ordentlich auf einem Produkt steht, wir verachten den Sinn fürs Materielle, und daher leben wir hier wie die Schweine … Wie oft muss ich es dir denn noch sagen: Nimm die Mülltüte aus dem Eimer, bevor sie bis obenhin voll ist, schüttle sie kurz, drück dann zuerst die Luft raus, ich sagte: ZUERST DIE LUFT RAUS, und erst danach den Verschluss drum herum, die Enden dreimal umeinander drehen, zurückschlagen und noch dreimal …

«Was hast du?», fragte sie. «Du guckst so wild. Hier, das ist deine Ecke.» Sie schob ihm ein Teil zu. «Du suchst doch hoffentlich keinen Streit, wo wir hier gerade einmal so gemütlich beisammensitzen, hm?»

«Streit? Ich bin der friedliebendste Mensch auf Erden! Wie lange nehme ich nicht schon alle Rücksicht auf dich?»

Ruhig sagt sie: «Du weißt genau, wie lange. Aber ich habe nicht darum gebeten.»

«Na, jetzt geht’s aber los! Du lässt mich ja nicht mal Jems Sachen wegräumen.» Im gleichen Moment hätte er sich an den Kopf schlagen können. Aber sein Unvermögen machte ihn nur noch wütender. Über seine Worte strauchelnd, stieß er hervor: «Wie lange willst du dir eigentlich noch die Beine über sein Skateboard brechen? Und wie lange bewahren wir sein Fahrrad noch wie eine Reliquie im …» Er stockte, denn unvermittelt sah er vor sich, wie er Jem das Radfahren beigebracht hatte, und darüber legte sich eine noch frühere Erinnerung: der kleine Knirps im Kindersitz vor ihm auf dem Rad, die Händchen zwischen den seinen um den Lenker geklammert, du steuerst, nicht, Jem?