zusammenhalten - Jörg Meyrer - E-Book

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Jörg Meyrer

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Beschreibung

14. Juli 2021. Eine Katastrophe biblischen Ausmaßes zerstört im Westen Deutschlands einen ganzen Landstrich. Mit am stärksten betroffen ist das Ahrtal. Durch die engen Gassen tost eine Flutwelle der Vernichtung. Sie kostet Leben, zerstört Existenzen. Dort, wo sonst eher idyllische Weinberge und malerische Orte das Bild prägten, findet sich am Tag danach Schlamm, Müll, Verwesung. Und Überlebende im Ausnahmezustand – bis heute. Seit der Flutnacht steht Jörg Meyrer als Seelsorger zusammen mit Kolleginnen und Kollegen den Menschen zur Seite: "Einfach da sein. Ganz praktisch. Und zuhören, wie die Menschen ihre Flut-Geschichten erzählen." Mehr war nicht möglich. Und dann: Aushalten, wenn die Tränen kommen und Verzweiflung aufsteigt angesichts der Aufgabenberge. Ungeschönt ehrlich erzählt Jörg Meyrer von Menschen, Begegnungen, praktischer Hilfe, seinen Zweifeln und seinem Schweigen gegenüber Gott, der ungeahnten Hilfsbereitschaft anderer und der Hoffnung, die viele im zusammenhalten finden.

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Jörg Meyrer, 1962 in Völklingen geboren, studierte Philosophie und Theologie in Trier und Freiburg. 1988 erhielt er die Priesterweihe. Nach einigen Jahren als Kaplan und Vikar wurde Meyrer Pfarrer dreier Gemeinden im nördlichen Rheinland-Pfalz. 2002 übernahm er die Pfarrstelle der Katholischen Pfarrgemeinden in Ahrweiler und in Ramsbach, die 2011 Teil der Pfarreiengemeinschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler wurden. Im Februar 2022 war er Mitglied der Bundesversammlung.

Jörg Meyrer

ZUSAMMEN HALTEN

Als Seelsorger im Ahrtal

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Klimaneutrale Produktion.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2022 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch teilweise bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

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Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, werkstattmuenchen.com

Umschlagfoto: © Michael Braunschädel

Fotos innen: © Harald Oppitz/KNA, außer: S. 34 oben und S. 108 unten: © David Klammer/KNA; S. 34 unten und S. 52 oben: © Julia Steinbrecht/KNA - Copyright 2021, KNA GmbH, www.kna.de, All Rights Reserved

Satz: Bonifatius GmbH, Paderborn

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

eISBN 978-3-89710-990-2

Weitere Informationen zum Verlag:www.bonifatius-verlag.de

Dieses Buch widme ich all den wunderbarenHelferinnen und Helfern im Ahrtal,ob von hier aus dem Tal oder von weit her gekommen.Ohne sie hätten wir es nicht geschafft.

Und den stillen Beterinnen und Betern.Ohne sie hätten wir nicht die Kraft gehabt.

Besonders aber dem Team der ersten vier Wochen:Beate, Gertrud, Johanna, Olaf, Arno und Heiko.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Ahrpsalm

Teil 1

Die Flut kommt

Überleben – eine Nacht lang

Der Tag danach

Damals

Bei den Geretteten

Erste Schritte im Chaos

Auf der Straße

Alles ist uns genommen

Abschied von lieben Menschen

Abschied mit gebrochenem Herzen

Gedenkfeiern

Auf der Straße

Die Gebäudesituation unserer Pfarreien nach der Flut

Das erste Mal

Ahrtorfriedhof

Pressearbeit – warum?

Vom Beten in schweren Zeiten

Für die Menschen, nicht für die Kirche, aber als Mann der Kirche

Für die Kirche?

Helfer sind da

Warum kommt ihr? Immer wieder …

Seelsorge-Unterstützung

Unsere Schwestern und Brüder …

So nah

Von der ersten Raus-Zeit

Teil 2

Bitte.

Bis auf die Herzhaut

AHR-Weh

Weder religiös noch gläubig

Die Kaffeebude

Jammern und Spalten taugen auch nicht

Was nicht nur kirchlich nicht taugt: zurück in die Zukunft

Würde

Weit weg

Frank-Walter vom Team Ahrtal

Nicht erklären – annehmen!

Arbeiten in St. Laurentius

November

Die Zukunft gestalten

Vor Weihnachten

Wie Weihnachten dann war

Neue Pfarrei

Müde, mürbe, …

Neuer Auftrag

Wohin geht die Reise?

Abschied von Gebäuden

Orientierung – nur an Gott …

… und Kirche

Verletzbarkeit / Vulnerabilität (1)

Verletzbarkeit / Vulnerabilität (2)

„Unsere Stadt wird wieder bunt“

Immer versehrter und immer heiler

Drei Briefe

Statt eines Schlusswortes

VORWORT

Als mich am frühen Morgen des 15. Juli 2021 hier in Jerusalem die erste Nachricht vom Hochwasser an der Ahr erreichte, saß ich im Ivrith (Neuhebräisch) Onlinekurs in meinem Arbeitszimmer und nahm die Nachricht nur beiläufig wahr. Ich bin in Kripp aufgewachsen, dort, wo die Ahr in den Rhein mündet. Hochwasser gehörte zum Jahresablauf. Mit welcher routinierten Gelassenheit manche Familien, die schon seit Generationen direkt am Rhein wohnten, damit umgingen, hat mich schon als Kind erstaunt und auch fasziniert. Man räumte zeitig Keller und Parterre, zog mit allem in den ersten Stock oder zu Verwandten in höher gelegene Straßen oder Orte. In manchen Häusern war vorsorglich das gesamte Erdgeschoss gekachelt. Meine eigene Familie hat es nie betroffen.

Welche Schäden ein großes, außergewöhnliches Hochwasser anrichten kann, sollte ich selbst später an der Nahe erleben. 1993, beim damalig genannten „Jahrhunderthochwasser“, konnte ich mein Pfarrhaus in Bad Kreuznach nur mit dem Boot verlassen und erreichen. Also ist zu Hause mal wieder Hochwasser, dachte ich, hoffentlich ist es nicht zu schlimm, und konzentrierte mich weiter auf den Unterricht. Jedoch nicht lange.

Immer neue Nachrichten trafen ein, ich googelte in den News-Portalen und sehr schnell zeigten mir die Bilder von der Ahr, dass das Wort „Hochwasser“ nicht wiedergab, was dort passierte und ich mir im Traum nicht hätte vorstellen können: eine entsetzliche, unvergleichliche Flutkatastrophe. Hebräisch-Vokabeln waren von einer Sekunde auf die andere die nebensächlichste Sache der Welt. Ich meldete mich ab und starrte fassungslos auf die Aufnahmen und Videos und konnte und wollte nicht begreifen, dass dies alles furchtbare Realität war. Nach Mails und Telefonaten mit betroffenen Verwandten und Freunden rückte das Geschehen noch näher, und als die Nachricht vom grausigen Tod eines behinderten Verwandten im Sinziger Lebenshilfehaus eintraf, war sie auf schlimmste Weise ganz nah.

Ein Erschrecken erfasste das ganze Land und jedem, selbst wenn er niemanden im Flutgebiet kannte, stockte der Atem, wenn er die Nachrichten verfolgte – mit den schier unbegreiflichen Bildern einer fürchterlichen Katastrophe. Doch keiner von uns, die wir in sicherer Entfernung das Geschehen verfolgten, konnte nur ansatzweise nachvollziehen, was die erleben mussten, die sich mittendrin befanden. Die die Nacht frierend und bangend auf den Dächern ihrer Häuser verbringen mussten, um auf den rettenden Hubschrauber zu warten, die hilflos zusehen mussten, wie ihre ganze über Jahre aufgebaute Existenz in den Wassermassen versank, denen auf furchtbare Weise die tobende Flut ihre Liebsten entriss. Am Tag danach Verwüstung, Schlamm, nicht wiederzuerkennende Heimat.

Einer, der dies alles selbst im wahrsten Sinne hautnah erfahren musste, ist der Autor dieses Buches. Jörg Meyrer, der Pfarrer der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler und der stark betroffenen Pfarrei St. Laurentius, beschreibt, wie er diese Schreckenstage und die darauf folgende Zeit erlebte. Seine Schilderungen, darunter seine gesammelten tagebuchartigen Facebook-Posts, sind ein Zeitdokument. Es berichtet vom Grauen der Flutnacht, von der ohnmächtigen Wut und der Verzweiflung der folgenden Tage, von geraubter Hoffnung und hilfloser Resignation. Es erzählt aber auch von der widerständigen Kraft, nicht aufzugeben, von bewegender Solidarität und unglaublicher Hilfsbereitschaft, von Mut und selbstlosem Engagement. Es zeichnet Bilder von Menschen, die, bis ins Mark verwundet, dem Schicksal ein bewundernswert trotziges „jetzt erst recht“ entgegenschleudern, und von den stillen und unauffälligen menschlichen Engeln, die ohne großen Applaus und ohne Bühne einfach da sind, wenn sie gebraucht werden. Der Autor, dem ich als Semesterkollege seit vielen Jahren verbunden bin, lässt dabei seine eigenen Emotionen und Kämpfe nicht außen vor, sondern mutet sie seinen Lesern ungefiltert zu. Ein ehrliches Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit Gott und seinem Glauben, der im Erleben der Katastrophe nicht verloren ging, aber zutiefst erschüttert wurde.

Das Buch von Jörg Meyrer ist kein literarisch fein ziseliertes Werk, sondern ein lebendiges, persönliches, facettenreiches Zeugnis eines Menschen, der die Katastrophe an der Ahr erlebt, erlitten hat, ihr aber auch mit seinem mitreißenden und glaubwürdigen Engagement kraftvoll begegnet ist und so mit anderen Motivator für viele wurde. Ich wünsche diesem Buch, das anschaulich von Verzweiflung und ebenso von Hoffnung erzählt, eine große Leserschaft. Für die Betroffenen an der Ahr wird es ein bleibendes Dokument ihrer eigenen Geschichte sein, und alle anderen werden es mit Respekt vor den Menschen an der Ahr lesen und ihrer zwar verwundeten, aber unverbrüchlich tiefen Liebe zu ihrem heimatlichen Ahrtal und ihrem leidenschaftlichen Willen, es neu aufzubauen. So wie es in den vom Autor zitierten, zeitlosen Worten der Dichterin Hilde Domin heißt, nämlich, dass wir „eingetaucht und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen“ werden, wir „durchnässt bis auf die Herzhaut“ sind, aber auch „aus der Flut, … aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden“. Trotz allem.

Stephan Wahl

EINLEITUNG

„Schreien will ich zu dir, Gott, mit verwundeter Seele, doch meine Worte gefrieren mir auf der Zunge. Es ist kalt in mir, wie gestorben sind alle Gefühle, starr blicken meine Augen auf meine zerbrochene Welt.“

Stephan Wahl, Ahrpsalm

Wenn dieses Buch erscheint, liegt die Flutkatastrophe, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 viele Regionen im Westen unseres Landes heimgesucht hat, ein Jahr zurück. Dieses Buch trägt Erlebnisse und Erfahrungen der ersten Monate aus einem der am stärksten betroffenen Täler zusammen. Es ist ein sehr persönliches Buch.

Eigentlich wollte ich nie ein Buch schreiben. Und in den Wochen und Monaten nach der Flut schon gar nicht. Woher auch dafür noch die Zeit nehmen? Jedoch gaben zwei Dinge den Ausschlag dafür, dass dieses Buch dennoch entstand: Zum einen habe ich bei den Probekapiteln gemerkt, wie das Wiederholen, Formulieren und Niederschreiben mir selbst beim Verarbeiten der vielen Erfahrungen und Bilder hilft. Und zum anderen hoffe ich, dass mit diesem Buch die Menschen an der Ahr nicht vergessen werden. Die Aufbauarbeiten werden noch Jahre brauchen. Und damit viel Kraft. Und das, was wir im Ahrtal SolidAHRität und Zusammenhalten nennen.

Ich habe dieses Buch an freien Tagen geschrieben, meist außerhalb des Ahrtals. Beim Wandern an der Mosel war der Laptop genauso dabei wie beim Pilgern auf dem Camino in Spanien. Und ich habe an den Texten gesessen nach Weihnachten, in meiner „Rauszeit“ im Schwarzwald sowie auf der Zugfahrt nach Berlin zur Bundesversammlung.

Der „Ahrpsalm“ von Stephan Wahl und das Hilde Domin-Gedicht „Bitte“ haben mir geholfen, Schwerpunkte, ja Ankerpunkte in der Vielzahl meiner Gedanken zu finden. Ausgewählte Verse habe ich den Erlebnissen und Facebook-Einträgen vorangestellt.

Ich wünsche dir, liebe Leserin, lieber Leser, dass du mitgehen kannst auf den Wegen, die ich dir vorausgehe durch das Ahrtal nach der Flut. Es werden nicht immer einfache Wege sein. Ich hoffe, dass ich dich mitnehmen kann zu den Menschen, die hier leben, und von denen so viele so viel oder alles verloren haben. Und zu den Menschen, die uns helfen beim Aufräumen und damit beim Aufstehen. Und dass ich dich mitnehmen kann in eine Zeit, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde.

Das Buch soll mit meinem Tag vor der Flut beginnen.

Ahrpsalm

Schreien will ich zu dir, Gott, mit verwundeter Seele,

doch meine Worte gefrieren mir auf der Zunge.

Es ist kalt in mir, wie gestorben sind alle Gefühle,

starr blicken meine Augen auf meine zerbrochene Welt.

Der Bach, den ich von Kind an liebte,

sein plätscherndes Rauschen war wie Musik,

zum todbringenden Ungeheuer wurde er,

seine gefräßigen Fluten verschlangen ohne Erbarmen.

Alles wurde mir genommen. Alles!

Weggespült das, was ich mein Leben nannte.

Mir blieb nur das Hemd nasskalt am Körper,

ohne Schuhe kauerte ich auf dem Dach.

Stundenlang schrie ich um Hilfe,

um mich herum die reißenden Wasser.

Wo warst du Gott, Ewiger,

hast du uns endgültig verlassen?

Baust du längst an einer neuen Erde,

irgendwo fern in deinen unendlichen Weiten?

Mit tödlichem Tempo füllten schlammige Wasser die Häuser,

grausig ertranken Menschen in ihren eigenen Zimmern.

Ist dir das alles völlig egal, Unbegreiflicher?

Du bist doch allmächtig, dein Fingerschnippen hätte genügt.

Die Eifernden, die dich zu kennen glauben, sagen,

eine Lektion hättest du uns erteilen wollen, eine deutliche,

eine Portion Sintflut als Strafe für unsere Vergehen,

für unsere Verbrechen an der Natur, an deiner Schöpfung.

Ihre geschwätzigen Mäuler mögen für immer verschlossen sein,

nie wieder sollen sie deinen Namen missbrauchen,

für ihre törichten Besserwissereien, ihr bissiges Urteil

mit erhobenem Zeigefinger, bigott kaschiert.

Niemals will ich das glauben, niemals,

du bist kein grausamer Götze des Elends,

du sendest kein Leid, kein gnadenloses Unheil

und hast kein Gefallen an unseren Schmerzen.

Doch du machst es mir schwer,

das wirklich zu glauben.

Ich weiß, wir sind nicht schuldlos an manchem Elend,

zu leichtfertig missbrauchen wir oft unsere Freiheit.

Doch warum siehst du dann zu, fährst nicht dazwischen,

bewahrst uns nicht vor uns selbst?

Dein Schweigen quält meine Seele,

ich halte es fast nicht mehr aus.

Wie sich Schlamm und Schutt meterhoch türmen,

in den zerstörten Straßen und Gassen

und deren Schönheit sich nicht mehr erkennen lässt,

so sehr vermisst meine Seele dein Licht.

Meine gewohnten Gebete verstummen,

meine Hände zu falten gelingt mir nicht.

So werfe ich meine Tränen in den Himmel,

meine Wut schleudere ich dir vor die Füße.

Hörst du mein Klagen, mein verzweifeltes Stammeln,

ist das auch ein Beten in deinen Augen?

Dann bin ich so fromm wie nie,

mein Herz quillt über von solchen Gebeten.

Doch lass mich nicht versinken in meinen dunklen Gedanken,

erinnere mich an deine Nähe in früheren Zeiten.

Ich will dankbar sein für die Hilfe, die mir zuteilwird,

für die tröstende Schulter, an die ich mich anlehne.

Ich schaue auf und sehe helfende Hände,

die jetzt da sind, ohne Applaus, einfach so.

Die vielen, die jetzt kommen und bleiben,

die Schmerzen lindern, Wunden heilen,

die des Leibes, wie die der Seele,

mit langem Atem und sehr viel Geduld.

Auch wenn du mir rätselhaft bist, Gott,

noch unbegreiflicher jetzt, unendlich fern,

so will ich dennoch glauben an dich,

widerständig, trotzig, egal, was dagegen spricht.

Sollen die Spötter mich zynisch belächeln,

ich will hoffen auf deine Nähe an meiner Seite.

Würdest du doch nur endlich dein Schweigen beenden,

doch ich halte es aus und halte dich aus, oh Gott.

Halte du mich aus!

Und halte mich, Ewiger! Halte mich!

Stephan Wahl,

Ahrpsalm,19. Juli 2021

Nach der Flutkatastrophe: Berge von Schrott, Schutt und zerstörten Autos sind durch den Torbogen eines Stadttores von Ahrweiler zu sehen.

Der Bach, den ich von Kind an liebte,

sein plätscherndes Rauschen war wie Musik,

zum todbringenden Ungeheuer wurde er,

seine gefräßigen Fluten verschlangen ohne Erbarmen.

Stephan Wahl,Ahrpsalm

Die Flut kommt

14. Juli 2021: Wir verbrachten mit den Seelsorgerinnen und Seelsorgern einen Studientag im Pfarrheim in Bad Neuenahr. Wegen der Coronapandemie wurde er schon zweimal verschoben, weil wir ihn unbedingt in Präsenz durchführen wollten. Das Thema des Tages war: diakonische Kirchenentwicklung. Oder anders gesagt: Wie kann die Kirche ihren Platz bei den Menschen finden?

Wir trafen uns endlich mal wieder nicht in einer Videokonferenz und fragten uns, wie die Kirche näher bei den Menschen sein kann.

Vor ein paar Wochen hatte es beispielsweise ein Starkregenereignis im Ortsteil Heimersheim gegeben. Wassermassen hatten dort von den Feldern und vor allem über die Feldwege so viel Erde und Schlamm in den Ortskern gespült, dass Straßen unpassierbar waren, Keller vollliefen und die Feuerwehren der Stadt tagelang pumpen mussten. Die Videos zeigten die Straßen als unpassierbare Bäche. Doch: Wo waren wir als Kirche und Seelsorgerinnen und Seelsorger? Warum hatte uns niemand gerufen? Warum waren wir nicht dort gewesen? Und was hätten wir tun können?

Ein wichtiger Teil des Studientages fiel dann an diesem Tag aus: Eigentlich hatten wir vorgehabt, auf die Straßen zu gehen, dorthin, wo die Menschen sind – auf die Spielplätze und vor die Cafés, zu den Spaziergängern an der Ahr und in den Parks –, und mit ihnen ins Gespräch zu kommen und zu hören, was sie bewegt. Das fiel aus, weil es dafür einfach zu stark regnete.

Am späten Nachmittag nahmen wir dann bei Freunden noch unser Sonntagswort auf. Ein Format, das wir seit dem ersten Coronalockdown jeden Sonntag als Videoclip drehen, um Kontakt zu halten und Impulse weiterzugeben an alle, die nicht den Gottesdienst besuchen können.1

„Kommt, ruht euch ein wenig aus!“ – Diese Einladung Jesu war der thematische Ausgangspunkt. Wir standen für den Dreh unter dem Vordach der Veranda mit Blick in den schönen Garten – weil es so stark regnete. In der Straße vor dem Haus war ein Loch entstanden. Sie war unterspült, vom vielen Wasser der letzten Tage …

Wieder zu Hause angekommen, es regnete mittlerweile nicht mehr, hörte ich dann vom Marktplatz her die Durchsage aus dem Lautsprecher eines Feuerwehrautos: „… die Autos in Sicherheit bringen …“, „… die Häuser nicht verlassen …“

Mir kam der Gedanke, mich im Feuerwehrhaus nützlich zu machen, denn aufgrund des vielen Regens evakuierten die Kameraden das Gerätehaus, um auch in den kommenden Stunden einsatzbereit zu bleiben. Das Gerätehaus liegt unmittelbar an der Ahr. Es ging darum, alles Bewegliche festzumachen, die Kleidung mit in die Fahrzeuge zu nehmen und vor die großen Tore Sandsäcke zum Abdichten zu stapeln. Und vor allem, die Fahrzeuge in die Zentrale nach Neuenahr zu bringen und einen Teil von ihnen auf die andere Ahrseite.

Die Prognose des Pegels war am Computer zu sehen: 7,00 Meter Flut waren vorhergesagt, irgendwann in der Nacht, eine ziemlich steile Kurve zeigte da nach oben. Es würde schlimm werden! Schlimmer als vor sechs Jahren, da waren es 3,50 Meter Hochwasser gewesen. Normalerweise hat die Ahr ungefähr 60 Zentimeter; im Sommer kann man an vielen Stellen zu Fuß durchgehen.

Es wird schlimm werden … Der Gedanke lässt mich nicht los. Das Wasser steigt weiter. Überall finden entsprechende Maßnahmen statt: Die Brücke vor dem Feuerwehrhaus wird von der Polizei gesperrt, und auf dem Heimweg in die Innenstadt bemerke ich, dass einige Geschäftsbesitzer dabei sind, die Schaufenster zu sichern … Ob es so schlimm wird?

Auf dem Marktplatz ist eine Pfütze, eigentlich schon ein kleiner See. Das Wasser läuft hier nicht mehr ab. Ob es nicht doch gut wäre, die Kirche zu sichern? Was wäre das für eine Arbeit, wenn dort Wasser reinkäme! Ich telefoniere … und finde ein paar Freunde: Klaus-Dieter, Paul, Lukas, und wir machen uns, vielleicht etwas widerwillig („Was will der Pastor denn?“), mit zwei Autos auf zum Bauhof, um Sandsäcke zu holen. Die Autoschlange dort ist lang. Es gebe nur noch leere Säcke, sagt man uns, die wir gern auf den Spielplätzen füllen könnten. Okay, das machen wir dann auch.

Zusammen mit Anwohnern füllen wir dort aus dem Sandkasten etliche Säcke („Dann kriegen die Kinder eben neuen Sand.“) und laden die Kofferräume der beiden Autos voll.

An den vier Türen der Kirche sind die zwei Reihen Sandsäcke schnell verteilt. „Den Rest machen wir dann morgen, falls noch mehr gebraucht wird.“ Gemeinsam gehen wir zum Schluss, gegen 22:30 Uhr, noch ein Bier trinken. Die junge Frau, die uns bedient, will zügig heim. Sie fürchtet, nicht mehr über die Brücken auf die andere Seite der Ahr zu kommen. Um 22:45 Uhr verlassen wir die Wirtschaft, es sollte das letzte „Normale“ gewesen sein.

Doch da ans Schlafen nicht zu denken ist, gehe ich noch mal zum Feuerwehrhaus. Friedhelm ist als Wache dageblieben, die anderen sind mit den Autos in der Stadt verteilt und in der Zentrale in Bad Neuenahr. Die Ahr hat jetzt die Brückenbögen erreicht, die Brücke ist gesperrt, aber das kümmert längst nicht alle. Immer noch fahren Autos von der einen auf die andere Seite: Wie sonst sollen sie denn auch rüberkommen?

Alex kommt jetzt noch dazu, zieht sich schnell um. Wir räumen seine Kleidung in die Spinde und anschließend noch zwei Reihen Sandsäcke vor das letzte Tor.

Ums Haus rum, an der Ahr, ist es laut: Bäume ächzen und knarzen, das Wasser tobt, und dann: „Jetzt geht die Ahr drüber!“, das weiß ich noch genau.2

Anschließend erhalte ich einen Anruf von der Stadtverwaltung. Die Bevölkerung soll evakuiert werden, ob wir die Kirchen öffnen können? – Natürlich! Also zurück auf den Markt. Während ich noch telefoniere, steht das Wasser schon kniehoch auf der Straße. Und als ich ans Ahrtor komme, steht es schon richtig hoch. Ich muss ja aber da durch, wie sonst komme ich wieder heim? Hüfthoch komme ich gerade noch so durch … Erst Tage später wir mir bewusst, dass ich auch hätte in den Fluten ausrutschen können.

Hinter dem Ahrtor ist es seltsamerweise wieder trocken. Später erzählen mir Bekannte, wie ich sie auf dem Weg noch ermahnt habe, nach Hause zu gehen. Ich hatte diesen Moment genauso vergessen wie meine Ansage an den Autofahrer, er solle sein Fahrzeug nicht auf dem Marktplatz stehenlassen – das könnte als Schutz nicht reichen. Das hat ihn gerettet …

Der See auf dem Marktplatz ist mittlerweile größer. In der Kirche geht das Licht an – und mit einem lauten Knall gleich darauf wieder aus, es ist stockfinster … Jetzt aber heim!

Draußen wird es noch lauter … Das Pfarrhaus versuche ich ein wenig abzudichten, mit hochgestellten Fußmatten vor der Tür, verstärkt mit dünnen Plastikfolien und Kopfsteinpflastersteinen, die im Vorgarten lagen.

Ich bin nicht allein, mein syrischer Mitbewohner Hamid ist da. Er ist fast genauso ratlos und sprachlos wie ich. Wir versuchen unser Bestes. Das Wasser ist hörbar. Es kommt … nach innen. Und wir versuchen, die Türen zu den Büros mit Paketklebeband abzudichten, damit es wenigstens dort nicht reinläuft.

Durch die Haustür kommt es … Tücher dahinter … Das nützt nur wenig … Ich kann nur an die Fenster im ersten Stock … Laut ist es, die Mülltonnen schlagen überall an, es rauscht unglaublich an der Mauer vorne vorbei … Ich sehe nichts, es ist stockfinster. Die Mini-Taschenlampe reicht nicht, um irgendwas zu erkennen. Gespenstisch …

Unten läuft das braune Wasser vorne rein und hinten wieder raus. Wir laufen die Treppe rauf und wieder runter – wie oft? … Dann zu den Nachbarn hinten, die Straße liegt höher … Dort ist es noch trocken. Alle stehen auf der Straße, aber weit kommt man nicht … Aus einem Haus läuft ein Bach aus der Haustür: Woher kommt das Wasser? Es drückt sich durch die Stadtmauer und durchs Haus … Wahnsinn! Mein Auto! Nein, nicht auch noch mein Auto! Ich fahre es weg in die Weinberge (diese Aktion wäre am Ende nicht nötig gewesen).

Im Garten hinter dem Haus wird der See immer größer, das Wasser sickert durch die Mauer des Nachbarn auf unser Grundstück: Wie hoch mag es dort stehen? Ich bin völlig ratlos! Ich habe noch nie Hochwasser erlebt in meinem ganzen Leben … völlig ratlos …

Ein Blick in den Keller: Randvoll, von der Kellertreppe sind nur noch zwei Stufen zu sehen. Und hinten sind es nur noch fünf Zentimeter, dann käme es auch von dort rein …

Irgendwann steigt es nicht mehr …

Irgendwann geht es dann auch zurück … langsam …

Ich lege mich aufs Bett und warte …

Bis es hell wird.

1Das Sonntagswort wird auf dem YouTube-Kanal „Katholische Kirche Bad Neuenahr-Ahrweiler“ veröffentlicht und hat im Durchschnitt ca. 600–800 Aufrufe im Monat. In den Wochen nach der Flut ging das 100. Sonntagswort online.

2Was die beiden dann in der Nacht erlebt haben, wie sie sich nur knapp auf die benachbarte Friedhofsmauer retten konnten, die dann auch einstürzte, wie der eine sich mühsam auf einen Baum retten konnte und der andere sich die Nacht an einem Grabkreuz festhielt – das wurde in einer großen deutschen Sonntagszeitung erzählt.

Überleben – eine Nacht lang

Was in dieser Nacht passiert ist? – Ich konnte es mir an diesem Morgen nicht vorstellen. Und ich dachte auch während der Flut kaum daran. Erst viel später, im Erzählen und Zuhören, habe ich gemerkt, dass es vielen so ähnlich ging wie mir: Ich habe an mein näheres Umfeld gedacht, an das, was ich gesehen und was ich gehört habe. Ich habe aber kaum an das ganze Ausmaß gedacht, das diese Flut angerichtet hat. Erst in den Tagen danach ist mir bewusst geworden, was die Flut alles zerstört hat.

In der Nacht selbst war das alles unvorstellbar …, dass Menschen in diesen Stunden mit dem Tod kämpfen, auf den Dächern ihrer Häuser sitzen und darauf hoffen, dass das Wasser nicht noch höher steigt und dass ihr Haus standhält. Andere wurden von den Fluten mitgerissen beim Versuch, zu ihrer Familie zu kommen oder das Auto zu retten. Manche retteten sich in Bäume und hielten sich an ihnen fest, eine Nachbarin hatte sich die ganze Nacht an einer Säule festgeklammert. Selbst das Gerüst an der Kapelle hatte Halt gegeben, wo alles haltlos wurde. Und dass es Menschen gab, die die Kraft nicht hatten, sich die Nacht über an dem Geländer ihrer Terrasse festzuhalten, und die dann loslassen mussten, konnte ich mir in der Nacht nicht ausmalen. Und es ist immer noch unvorstellbar, was diese Menschen mitgemacht haben vor ihrem Tod – und was die Nachbarn mitgelitten haben, weil es unmöglich war zu helfen … Selbst von der Verwüstung der Auen an der Ahr, wo kein Baum mehr stehen wird, und vom Friedhof, der komplett überflutet wurde und auf dem die Ahr Tonnen von Treibgut, Holz, Schlamm und sogar Autos abgeladen hat, konnte ich mir keine Vorstellung machen. – An all das und die vielen Einzelschicksale war in der Flutnacht nicht zu denken. Es wurde erst in den kommenden Tagen Stück für Stück bittere Realität.

Auch nach Monaten sitzt der Schock immer noch tief. Und ich kann die gut verstehen, die sich nur ganz langsam in die anderen Regionen der Stadt und des Tales vorwagen, weil die Zerstörung einfach zu viel und zu schwer zu verstehen ist – und kaum zu verarbeiten für die Seele. Diesen Bildern – oder vielmehr diesen Wirklichkeiten – nähert man sich besser schrittweise. Und es ist klug, sich selbst nicht zu viel auf einmal zuzumuten. Es ist immer noch schmerzlich zu sehen, welche Vernichtung das Wasser der Ahr in dieser Nacht mit sich brachte.

Der Tag danach

Jetzt wird es hell. In der Nacht selbst habe ich wenig darüber nachgedacht, was es bedeutet, dass wir – circa 600 Meter von der Ahr entfernt – Wasser im Haus haben. Einen klaren Gedanken zu fassen, war einfach schwierig. Mein Blick fällt in die Büros. Da steht es auch, gut zehn Zentimeter. Und draußen vor dem Haus: Schlamm, überall Schlamm. Im Garten: acht Mülltonnen und ein riesiger Blumenkübel, der da nicht hingehört. In alten Turnschuhen taste ich mich durch den klitschigen Matsch. Der Marktplatz ist nicht wiederzuerkennen – alles liegt dort drunter und drüber. Tische und Stühle der Außengastronomie erkenne ich … Und dann: ein Auto auf dem Dach liegend. Ist das wirklich ein Auto? Und noch eins, in Seitenlage, gleich daneben. Bilder, die ich nicht glauben kann …

Die Feuerwehr ist da. Mit einem Boot ist sie auf dem Marktplatz unterwegs, denn immer noch fließt dort ein reißender Bach die Niederhut hinunter. Die Feuerwehrleute versuchen, von unserer auf die andere Seite zu kommen, was nur schwer gelingt. Erst später erfahre ich, dass sie nicht eine ältere Dame retten wollten, sondern Marianna, eine Nachbarin, die die ganze Nacht an einem Laternenpfahl hing, an dem sie sich im letzten Augenblick festhalten konnte, nachdem sie aus dem Haus gespült wurde. Tage später nach einer kräftigen Umarmung und unter Tränen erzählt sie, dass sie mich gesehen hat und dann wusste, dass sie gerettet ist. Die ganze Nacht hatte ihr die ältere Dame gut zugeredet, ihr Mut gemacht, dass sie aushalten solle. Andere Hilfe war nicht möglich.

Ich kämpfe mich durch die schon „trockenen“ Straßen, vorbei an übereinandergetürmten Autos durch unglaublich viel Geröll und Bäume, durch wadenhohen Matsch. Die ersten schippen bereits den Matsch aus ihren Häusern vor die Tür. Bernd und seine Frau Trudi sind auch schon dran. „Es stand bis fast an die Decke im Erdgeschoss“, lassen sie mich wissen. Wir umarmen uns. Ich will weiter Richtung Obertor …

Aus dem Peter-Friedhofen-Haus läuft das Wasser aus der zerstörten Haustür. Ich mache immer wieder Fotos, weil ich es nicht glauben kann. Am Obertor kenne ich mich nicht mehr aus: Ein Auto steht hochkant am Tor, ein anderes versperrt den Seitendurchgang, die Mauern der Klinik sind nicht mehr da … Immer noch stürzt das Wasser hier durch – breiter und höher als die „Normal“-Ahr, die doch eigentlich 200 Meter weiter weg ihr Flussbett hat. Ich kann es einfach nicht glauben … Tränen rollen, nicht nur bei mir, auch bei denen, die auf der Straße stehen.

Auf dem Weg zurück wage ich doch einen Blick in die Kirche: Die Sakristei geflutet, in der Kirche das gleiche Bild wie draußen, alles voller Schlamm. Hüfthoch war das Wasser hier drin, die Bänke liegen quer, alles ist durcheinander. Ich kann es einfach nicht glauben …

Zwei Reihen Sandsäcke liegen vor den Türen.

Damals

„Der Bach, den ich von Kind an liebte, sein plätscherndes Rauschen war wie Musik …“

Ich bin zwar nicht an der Ahr aufgewachsen, aber ich lebe seit fast 20 Jahren in diesem Tal. Jedes Jahr wird es von Tausenden Touristen und Wanderern besucht, weil es einfach so abwechslungsreich, so schön und unverwechselbar ist.

Ich kenne den Lauf der Ahr, eigentlich fast jeden Baum. Ich bin viel gelaufen, rechts und links des Flusses, auf den Rad- und Wanderwegen. Ich habe dort 2018 für einen Halbmarathon in Tansania trainiert. Und im Jahr danach für einen Sponsoring-Marathon in Kenia. Damals habe ich gemerkt, wie sehr das Laufen den Kopf befreit, wie viel ich in dieser Zeit „ver-arbeite“ und dass die Lauf-Zeit in keiner Weise meine Zeit für die Gemeindemitglieder oder meine Arbeit in der Pastoral schmälert. Im Gegenteil: Ich bin nach einer Laufeinheit viel wacher bei den Leuten und habe – sauerstoffgetränkt – viel mehr kreative Ideen. Ich kenne also die Ahr, flussabwärts die 15 km über Heimersheim, Ehlingen, Bad Bodendorf und Sinzig bis zur Mündung in Kripp. Und die 15 km flussaufwärts über Walporzheim, Dernau, Rech, Mayschoß bis nach Altenahr. Jeder dieser Wege ist mir vertraut. Ich weiß, wann auf der Laufuhr die Kilometer umspringen, ich kenne die Abschnitte durch den Wald und weiß, wo es bergauf geht. Wo ich im Sommer wegen der Hitze nicht laufe, wo die vielen Touristen am Wochenende das Joggen zum Slalomlauf werden lassen und wo es einfach nur schön ist, immer weiter und weiter zu laufen.

All das ist weg!

Nach der Flut gibt es keine Ahruferwege mehr. Sie sind weggespült, die Bäume nicht mehr da, irgendwo als Baumleichen angespült. Es fehlen allein im Stadtgebiet 2.600 Bäume, an der ganzen Ahr sind es über 8.000.

Wo ich so gerne gejoggt bin, wo die Nachbarn ihre Hunde ausgeführt haben, die Jugendlichen an der Ahr ihre Wochenend-Party zwischen den Bäumen gefeiert haben, da ist jetzt nichts mehr: kein Grün, nur noch Abraum, kahle Flächen, zwischendurch mal ein paar Schlammhügel und Steinhaufen von irgendwoher. Einzelne Bäume haben überlebt – wie auch immer. Das Erschütterndste aber ist: Ich kenne die Ahr nicht wieder. Nirgendwo. Das so vertraute und geliebte Ufer ist nicht wiederzuerkennen. Nicht nur die Bäume und Wege fehlen, auch die Flussbiegungen sind anders. Brücken sind nicht mehr da und die Wege zur Ahr hin enden meist abrupt. Sie sind abgerissen und oft ein meterhoher Abgrund über dem Wasserspiegel.