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Mehr Feminismus für besseren Sex!
Braucht jede Frau fünf Liebhaber und haben Männer ein Recht auf Sex? Killt Mutterschaft die Libido und wer sehnt sich nach Alphamännern? Können wir uns wirklich lieben, solange wir nicht gleichberechtigt sind? Und was passiert mit unserer Lust, wenn wir aus alten Rollenmustern ausbrechen? Heike Kleen nimmt uns mit auf eine so unterhaltsame wie tiefgründige Reise durch unser Liebes- und Sexleben und hält uns dabei den Spiegel unserer patriarchalen Prägung vor. Sie spricht über Glaubenssätze und Körperideale, Orgasmuslücken und Performancedruck. Dabei wird klar: Nicht nur Frauen, sondern auch Männer kämpfen mit überholten Vorstellungen von Liebe, Lust und Geschlechtern.
Ein Buch, das aufklärt, inspiriert und erheitert – damit wir Sex freier, ehrlicher und lustvoller leben können. Und endlich zusammenkommen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2025
Heike Kleen, 1975 in Bremen geboren, ist Germanistin und Politikwissenschaftlerin. Sie schreibt als freie Journalistin u. a. für SPIEGEL, Tagesspiegel und Zeit Online. Zudem ist sie TV-Autorin für Talkshows in ARD, ZDF und NDR. In ihren Essays und Sachbüchern beschäftigt sie sich mit der Verbindung von Sexualität, Körperbildern, Rollenmustern und Feminismus. Ihre SPIEGEL-Kolumne »Liebesleben« gehört regelmäßig zu den meistgelesenen Texten auf spiegel.de. Heike Kleen lebt mit ihrer Familie bei Hamburg.
Mehr Feminismus für besseren Sex!
Braucht jede Frau fünf Liebhaber und haben Männer ein Recht auf Sex? Killt Mutterschaft die Libido? Und was macht es mit unserer Lust, wenn wir tradierten Rollenbildern entkommen? Diesen und weiteren Fragen stellt sich Heike Kleen in ihren Kolumnen. Wie viele Frauen weiß sie, dass ein »Nein« zum Sex genauso schwer sein kann wie ein »Ja« zur Lust. Mit einem entschiedenen »Vielleicht« erweitert sie ihren sexuellen Horizont und stellt dabei unsere patriarchale Prägung infrage. Denn erst ein echtes Verständnis der Geschlechter füreinander ermöglicht Intimität, Vertrauen und Verletzlichkeit. Dadurch kann Sex tatsächlich zur schönsten Nebensache der Welt werden – und nichts ist erotischer, als gemeinsam darin zu investieren!
Warum Sex und Feminismus zusammengehören – für mehr Gleichberechtigung, Selbstermächtigung und Enttabuisierung
www.penguin-verlag.de
HEIKE KLEEN
Warum Gleichberechtigung sexy ist und Lust auf mehr macht
Das Buch zur beliebten SPIEGEL-Sex-Kolumne »LIEBESLEBEN«
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Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-33182-5V002
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Für Dirk
»Du aber bist der Hafen.«
ZusammenKommen?
Der Körper
Frausein
Am Anfang war die Vulva heilig
Viva la Vulva!
K(l)eine Panik?
Ode an den Penis
Die Aufklärung
Das erste Mal
Der Tag, an dem ich meiner neunjährigen Tochter Pornos erklärte
Aufklärung in der Senioren-Matinee
Sexualität und Geschlechterrollen
Willst du diesen Sex? Ja. Nein. Vielleicht
Interview Lasst uns beim Sex reden
Männer müssen draußen bleiben!
So wird ein Mann zum guten Liebhaber
Haben Frauen einen Alphamännchen-Sensor?
#MeToo oder Die Macht der mächtigen Männer
Sex und Gerechtigkeit
Wo bitte geht es zur Orgie?
Leider bin ich 100 Jahre zu spät
Interview Berlin war unsere queere Sexhauptstadt – bis die Nazis alles zerstört haben
Hatten Frauen im Osten den besseren Sex?
Auf der Suche nach Orgasmusgerechtigkeit
Noch mehr Körper
Vom Aussterben bedroht: Schamhaare
Reine Knopfsache
Das Jungfernhäutchen – Fake News!
Busenwunder
Penisneid? Nein, Gebärmutterneid!
Willkommen zum Penis-Workout!
Dominanz, Unterwerfung und Augenhöhe
Das Leder-Daddy-Ding
Männer, wo sind eure Unterwerfungsphantasien?
Du willst es doch auch …
»Darf ich auch deine Yoni massieren?«
Was Küsse mit Sex zu tun haben
Die Partnerschaft
Ist Ehe Sexarbeit?
Interview Ehe und Sexarbeit folgen der gleichen Logik
Reicht mir die Liebe auf Wolke vier?
Verheirateten-Sex ist besser als sein Ruf
Interview Wie verhindern wir, dass die Lust am Sex verschwindet?
Im Alter geht noch was – nur anders
Ein Frauenleben
Was Frauen (hören) wollen
Mutterschaft oder: Quo vadis, Libido?
Wechseljahre? Nee, endlich wieder Pubertät!
Wenn ich alt bin, werd’ ich Escort
Welche Männer braucht das Land?
Wie Frauen wieder Lust auf Männer bekommen
ZusammenKommen!
Dank
Literatur
Anmerkungen
Als Verfasser einer Sexkolumne kann man sich einer gewissen Aufmerksamkeit sicher sein, als Verfasserin noch mal mehr. Womöglich plaudert hier eine junge Frau über ihre Abenteuer im Swingerclub (während ihr das Trägertop über die Schulter rutscht). Um Enttäuschungen vorzubeugen: Der Weg zum Swingen führt heutzutage an einem Desinfektionsspender vorbei. Dazu später mehr. Außerdem befinde ich mich auf der Zielgeraden zur Menopause und habe es am Hals gern warm.
Will sie etwa ihre Mitmenschen mit Altfrauenphantasien belästigen?, fragt sich jetzt vielleicht der ein oder die andere insgeheim. Diese Sorge ist unbegründet, denn laut Duden gibt es gar keine Frauenphantasien. Lediglich eine Männerphantasie. Sie ist eine »für Männer typische Phantasie (besonders aus dem Bereich der Sexualität)«, heißt es dort, und komme meist im Plural vor.
Männer haben viele Sexphantasien, Frauen gar keine?
Es braucht noch viel Aufklärung – und darum soll es in diesem Buch gehen. Unsere Geschlechterrollen sind im Umbruch, und das ist die perfekte Gelegenheit, unser Liebesleben neu zu denken.
Als ich anfing, über Sex zu schreiben, fand ich das Thema nicht überdurchschnittlich interessant. Mich reizte es zwar, an Tabus zu rütteln, gleichzeitig begleitete mich die Angst, dadurch als Journalistin in eine anrüchige Schublade gesteckt zu werden. »Deine Frau schreibt ja ständig über Sex. Ich dachte immer, ihr Thema ist Feminismus?«, wurde mein Mann einmal von einem Freund gefragt. »Feminismus und Sex sind wahrscheinlich dasselbe«, antwortete er. Die beiden Männer freuten sich, und ich bin mir nicht sicher, ob sie den wahren Kern dieser Aussage in dem Moment verstanden haben. Ich freute mich auch, denn plötzlich wurde mir klar, warum das Thema Sex genau jetzt, in einer sich verändernden Welt, so spannend ist. Und dass wir mehr – und anders – darüber reden sollten.
Wo also stehen wir? Junge Menschen reden von Freundschaft plus und halten sich gern alle Optionen offen, haben aber weniger Sex als die Älteren. Singles befinden sich im Dating-Burnout, ihnen ist die Lust beim oberflächlichen Dauerswipen vergangen. Wenn aus Paaren Eltern werden, fressen Mutterschaft und Familienlogistik die Erotik auf. In Langzeitbeziehungen bleibt die Libido irgendwann auf der Strecke, und noch immer machen Frauen zu häufig aus einem Verpflichtungsgefühl heraus beim Sex mit. Spätestens mit den Wechseljahren gehen viele in Sex-Rente – endlich Ruhe!
Dabei haben Frauen nicht weniger Lust. Sie haben nur keine Lust auf den Sex, der ihnen geboten wird. Oft wissen sie nicht genau, was sie wollen. Eine Folge der Prägung, die Frauen beigebracht hat, zu gefallen, aber leider defizitär zu sein. In Hinblick auf die Sexualität gab es für sie lange nur die Kategorien »Hure« oder »Heilige«. Zu dumm, wenn man sich mit keinem dieser Lager identifizieren kann. Selbst die Wissenschaft hat der weiblichen Sexualität lange kaum Beachtung geschenkt.
Heute haben Frauen viel mehr Möglichkeiten, ihre Sexualität zu erforschen, doch die Körperscham sitzt tief. Gleichzeitig fühlen viele sich von der Forderung, sie mögen doch bitte lustvoll sein und möglichst immer zum Orgasmus kommen, gestresst.
Dabei waren Frauen im Westen noch nie so frei wie heute. Zum Kinderkriegen reicht eine Samenspende, und sogar Disney hat kapiert, dass die Errettung durch den Märchenprinzen nicht mehr zeitgemäß ist. Frauen beschleicht immer häufiger das Gefühl, ohne Partner mindestens genauso gut dran zu sein. Die meiste Care-Arbeit bleibt nach wie vor an ihnen hängen – wozu in einer Ehe verharren, in der ihr Partner sich wie ein weiteres Kind verhält? Wozu einen Mann daten, der eine Frau nur für die Selbstbestätigung erobern will und dabei sexistisches oder gar misogynes Verhalten an den Tag legt, womöglich ohne es zu merken? Die feministische 4B-Bewegung aus Südkorea breitet sich auch in den USA aus, ihre Gebote lauten: Nein zu Dating und Sex mit Männern, Nein zur Ehe und zu Kindern.
Währenddessen wächst bei Männern die Verunsicherung: Sie fühlen sich noch immer als Versorger, wollen »ihren Mann stehen«, gleichzeitig die Partnerin im Bett glücklich machen – und darüber hinaus sollen sie endlich Zugang zu ihren Emotionen finden. Wer keine Partnerin hat – und diese Wahrscheinlichkeit ist heute viel größer als noch vor 30 Jahren –, sucht schnell die Schuld bei den Frauen, bei anderen Männern, im System.
Gleichzeitig steht das männliche Begehren unter strenger Beobachtung, und der Satz »Männer sind eben so« gilt nicht mehr als Freibrief. Endlich lösen wir uns von der Vorstellung, der Mann sei ein Opfer seiner unkontrollierbaren Triebe.
Aber was soll er denn nun sein, sexy Alphamann oder liebevoller Versorger in Elternzeit? Die gute Nachricht: Er darf einfach er selbst sein. Endlich kann der Mann sein Selbstbewusstsein aus mehr Quellen als Erfolg im Beruf und Potenz ziehen! Doch diese neue Freiheit scheint ihm schwerzufallen. Wofür wird er noch gebraucht? Will ihn überhaupt noch jemand?
Die Sehnsucht nach der vermeintlich guten alten Zeit, die aktuell so viele Männer politisch nach rechts rücken lässt, ist eine Reaktion auf die weibliche Emanzipationsbewegung. Sowie auf die Tatsache, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und biologische und soziale Geschlechtsidentität nicht immer übereinstimmen. Die LGBTQIA+-Gemeinschaft ist sichtbarer geworden und kann freier leben, doch sie muss weiter gegen Widerstände kämpfen, und unter dem Rechtsruck nimmt die Queerfeindlichkeit wieder zu. Frauenrechte werden weltweit wieder eingeschränkt, die Misogynie wächst.
Frauen wählen heute liberaler und linker als Männer, für sie sind die 50er-Jahre kein Sehnsuchtsort. Sie wollen über ihr Leben und ihren Körper selbst bestimmen – endlich können sie freiwillig lieben! Aber wie geht das eigentlich, wenn man mit dem männlichen Blick und unrealistischen Schönheitsidealen aufgewachsen ist?
Das Patriarchat beeinflusst noch immer unsere Sexualität. Aber es bröckelt und stellt uns vor spannende Fragen: Was passiert mit unserer Lust, wenn wir tradierten Rollenbildern entkommen? Und was können wir von der queeren Community lernen? (Spoiler: Eine Menge.)
Noch etwas hat sich verändert: Seit #MeToo und dem Fall Gisèle Pelicot können wir nicht mehr über Sex reden, ohne das Thema sexuelle Gewalt mitzudenken. Ist es dadurch schwieriger geworden, lustvoll miteinander umzugehen? Oder eröffnet uns dieses Bewusstsein neue Chancen für besseren Sex?
Mit all diesen Fragen setze ich mich seit drei Jahren auseinander und habe dafür mit Sexolog:innen, Sexarbeiter:innen und Wissenschaftler:innen gesprochen. Darüber hinaus habe ich gelegentlich meine Komfortzone verlassen und spannende sexuelle Erfahrungen gemacht. Für einige meiner Sexpeditionen brauchte ich mehr Mut, als ich mir zugetraut hätte: im Swingerclub zum Beispiel oder im Studio eines Dominus. Sexualität lehrt uns viel über uns selbst, aber auch über unsere Gesellschaft und die Prägung, die wir in ihr erfahren haben.
»Ohne Gerechtigkeit kann es keine Liebe geben«, schrieb die Autorin und Feministin bell hooks.[1] Ich ergänze: Ohne Gerechtigkeit gibt es auch keinen guten Sex.
Ob wir uns eines Tages unabhängig von dem uns zugewiesenen Geschlecht als Menschen begreifen werden, gemeinsam unsere sexuellen Bedürfnisse kennenlernen und erfüllen können? Schwer vorstellbar, zu sehr beherrschen Geschlechterstereotype und ein heteronormatives Weltbild unser Denken. Ja, auch meins. Die Heterosexualität steckt aktuell in einer Krise, die wir nur überwinden, wenn wir uns von alten Denkmustern und überholten Rollenbildern lösen. Wenn wir endlich Beziehungen auf Augenhöhe führen – und auf dem Weg dahin den Humor nicht verlieren. Ich bin mir sicher, dass heterosexuelle Frauen sich auch in einer aufgeklärten und freieren Welt zu Männern hingezogen fühlen. Aber zu denen, die sich ebenfalls auf eine Reise begeben und ihre Prägung hinterfragen. Erst wenn wir alle uns bewegen, können wir richtig zusammenkommen. Und zusammen kommen. Denn nichts ist erotischer, als gemeinsam in besseren Sex zu investieren.
PS: In den folgenden Texten schreibe ich hauptsächlich von »Frauen« und »Männern«, denn unser Denken, Fühlen, Handeln und damit auch unsere Sexualität wurden von diesem binären Geschlechtersystem geprägt, in das wir ungefragt nach der Geburt hineingeworfen wurden.
Die weibliche Sexualität scheint bis heute ein Mysterium zu sein. Selbst Sigmund Freud fand nie die Antwort auf seine große Frage »Was will das Weib?«. Um uns dieser Frage anzunähern, müssen wir verstehen, wie es sich anfühlt, einen Frauenkörper zu haben.
Als ich einen bekam, hieß das, einmal im Monat zu bluten und achtzugeben, dass kein männliches Wesen es mitkriegte. Brüste zu bekommen, die wiederum von Männern kommentiert werden durften. Achtzugeben, dass man keinen dicken Hintern hatte (Wo warst du, Kim Kardashian?). Körperhaare zu entfernen und Kopfhaaren zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dem anderen Geschlecht gefallen zu wollen und schlecht über das eigene zu reden. Sich vor dem anderen Geschlecht in Acht zu nehmen und das eigene zu fürchten, weil es schlecht über einen redete. Nicht besserwisserisch oder gar dominant zu sein, denn sonst war man eine Zicke. Nicht zu devot und zu niedlich zu sein, denn sonst war man ein Mäuschen. Nicht zu unscheinbar und langweilig zu sein, denn sonst war man ein Mauerblümchen. Nicht zu burschikos und zu lässig zu sein, denn sonst war man eine Lesbe. Lieber auf natürliche Weise sexy, aber natürlich nicht zu sexy zu sein, denn sonst war man eine Schlampe.
Später bedeutete es, sich die Pille verschreiben zu lassen, ohne über Nebenwirkungen nachzudenken. Viel Sex zu haben und nur Penetration für Sex zu halten. Dabei nicht immer zum Orgasmus zu kommen, aber darüber zu schweigen. Ständig Blasenentzündungen zu haben und vor Toiletten Schlange zu stehen. Zu masturbieren, aber es niemandem zu erzählen. Die eigenen Geschlechtsteile lieber nicht so genau anzugucken und Männern zu versichern, dass ihr Penis super ist (ohne ihn im Zweifelsfall von anderen hätte unterscheiden zu können). Sex zu mögen, sonst war man frigide, aber ihn nicht zu fordern, sonst war man schon wieder eine Schlampe. Über sexistische Witze zu lachen, denn dann war man eine, mit der man Pferde stehlen konnte. Aber nicht witziger zu sein als die Männer, denn Frauen sind nun mal nicht so witzig. An Verhütung zu denken. Und niemals zu allein, zu nackt, zu betrunken, zu spät oder im zu Dunklen allein unterwegs zu sein. Denn dann war man am Ende selber schuld.
Einen Frauenkörper zu haben, bedeutete, an Romantik zu glauben, den Einen finden zu müssen, ihn an sich zu binden, am besten seinen Namen anzunehmen. Oder sich fragen lassen zu müssen, was denn die Liebe so macht. Schwanger zu werden und ein Kind auszutragen, es unter Schmerzen zu gebären, womöglich allein (Corona) oder mit einer überlasteten Hebamme (deutsches Gesundheitssystem). Vielleicht Gewalt unter der Geburt zu erfahren, zu reißen, genäht zu werden, eine Kaiserschnittnarbe zu haben, Wochenfluss zu erdulden, zerfetzte Brustwarzen zu pflegen und sich dabei anzuhören, man möge sich a) nicht so anstellen, b) bitte glücklich sein und c) nicht zu schnell wieder Sex haben, aber d) auch nicht zu lange damit warten – dem Mann zuliebe. Und bitte an Verhütung zu denken. Frau zu sein bedeutete, den Mutterinstinkt zu verspüren, sonst war man ein Monster, aber nicht zu sehr, sonst war man Eva Herman.
Später bedeutet es, die Kinder doch bitte mal loszulassen und mehr Erwerbsarbeit zu machen: für die Rente (Achtung Altersarmut), für die deutsche Wirtschaft (Hilfe, Fachkräftemangel), für die Familie (Sehnsucht Eigenheim), für den Mann (armer Alleinverdiener). Trotzdem größtenteils allein für Care-Arbeit und Mental Load zuständig zu sein. Wieder in Form zu kommen, denn Heidi Klum hat das auch geschafft. Und bitte genau dann Lust auf schnellen Sex zu haben, wenn der Nachwuchs am Wochenende vor der »Sendung mit der Maus« sitzt. Und an Verhütung zu denken.
Noch später bedeutet dieser Frauenkörper, mit Hitzewallungen, Schweißausbrüchen, Schlaflosigkeit, Stimmungsschwankungen und trockener Vagina klarzukommen und sich dann anzuhören, man habe wohl zu viel Stress. Plötzlich wieder Blasenentzündungen zu haben. Besser mal auf die Ernährung zu achten, weniger Alkohol zu trinken, endlich in Bewegung zu kommen. Sicherheitshalber immer noch an Verhütung zu denken. Doch bitte Lust zu haben auf einen Menschen, den man in- und auswendig kennt. Weder Zeit noch Energie zu haben, sich noch einmal kennenzulernen oder den Sex gemeinsam neu zu erfinden. Stattdessen routiniert mitzumachen. Oder freiwillig ins Zölibat zu gehen. Oder noch immer zu hoffen auf den Einen, der alles verändert. Den unerfüllten Kinderwunsch zu begraben und zu betrauern. Oder erstaunt festzustellen, dass es doch nicht die Kinder sind, die dem Leben Sinn geben.
Irgendwann bedeutet es, nicht mehr an Verhütung zu denken. Ausgerechnet dann angeblich unsichtbar zu sein. Sich das bitte nicht einreden zu lassen! Endlich mehr Zeit zu haben und seltener auf fuckability abgecheckt zu werden. Erleichterung zu verspüren und auf die Idee zu kommen, sich nicht als Frau, sondern als Mensch zu sehen. Von anderen nicht als Frau, sondern als Mensch gesehen zu werden. Sich mit dem eigenen Frauenkörper zu versöhnen und stolz und dankbar zu sein auf und für das, was er Unglaubliches geleistet hat. Zwischendurch doch wieder als Frau gesehen werden zu wollen und Affären haben. Die Beziehung zu öffnen oder lieber Frauen zu lieben. Oder als Single glücklich zu sein und dazu endlich keine Fragen mehr gestellt zu bekommen. Frauen plötzlich als Verbündete zu erleben und sich vom Romantikdiktat zu befreien. Sexuelle Überlegenheit zu genießen und multiple Orgasmen zu bekommen. Männer zu überleben, die einem mal wichtig waren, und man weiß nicht mehr, warum. Männer zu lieben, die man früher nicht geliebt hätte, und man wundert sich, warum. Menschen zu lieben, unabhängig von ihrem Geschlecht, weil man weniger über Unterschiede nachdenkt und mehr Gemeinsamkeiten sieht. Sich zu wünschen, das alles früher gewusst zu haben. Und zu hoffen, dass nachkommende Generationen genau das früher begreifen. Gelegentlich Hoffnungsschimmer dafür zu sehen und dann wieder zu verzweifeln über die Altlasten, die junge Frauen heute mit sich herumschleppen.
Begreiflich machen zu wollen, dass Frausein auch bedeuten kann, Frausein als Wunder zu begreifen. Und nicht als Last. Sondern voller Lust!
Liebe Menschen mit Vulva: Würden Sie Ihre eigene Vulva in einer Bildergalerie wiedererkennen? Ein dreifaches Hipphipphurra für alle, die das schaffen!
Ich hätte es bis vor Kurzem nicht gekonnt. Obwohl diese Region seit Jahrzehnten mein Tor für Zuwendung, Urin, Menstruationsblut, Hygieneartikel, Penisse, Sperma und sogar Kinder ist und täglich von mir berührt wird, habe ich mich nie intensiv mit dem Aussehen meiner Vulva auseinandergesetzt. Liegt das an meiner pragmatischen »Passt schon«-Haltung? Oder steckt eine tiefsitzende Ablehnung dahinter?
Ich gehöre zur Generation Scheide. Dieses Wort lernte ich als Kind für meine Geschlechtsteile. Ich mochte die Bezeichnung nie, aber nicht, weil ich schon damals die tiefere Bedeutung verstand: Die Scheide als Behälter für das Schwert. Oft hieß es auch nur »da unten«. Da unten sollte ich mich waschen. Mehr gab es nicht zu wissen. Auf dem Schulhof lernte ich weitere Wörter. Sie fingen mit »F« oder »M« an und klangen fies und gemein. Stinken würde sie auch, die … Nach Fisch oder so. Ob ich mal bitte aufhören könne, breitbeinig zu sitzen?
Einige Jahre später wurde es zwischen den Beinen interessant. Mich zu berühren, fühlte sich gut an, aber genauer hingucken? Muss nicht sein. Ist eh schwer einsehbar. Okay, mal kurz den Spiegel hinhalten. Aha. Soso. Wenn du meinst … Nee, ich habe heute leider kein Foto für dich.
Irgendwann kannten Sexualpartner und Gynäkolog:innen meine Vulva besser als ich selbst. Ich hatte nichts gegen meine Vulva, und anderen gefiel sie offensichtlich. Ich war mir sicher, dass sie als »normal« durchging, hielt sie nicht für behandlungsbedürftig. Das ist viel im Leben einer Frau. Aber empfand ich Stolz für diese besondere Region? Feierte ich sie, fühlte ich mich als Vulva Woman mit einer magischen Superkraft zwischen den Beinen?
Äh … nein.
Dafür hätte ich ein paar tausend Jahre früher aufstehen müssen. Am Anfang war die Vulva heilig, in frühen Zivilisationen stand ihre exponierte Darstellung in Malereien und Statuetten für Fruchtbarkeit. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal hat die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts recherchiert und schreibt in ihrem Buch Vulva: »So finden sich in den meisten Mythologien Geschichten, in denen die Menschheit mindestens einmal durch die Zurschaustellung der Vulva gerettet wurde.«[2] Detailgetreue Darstellungen von nackten Frauen mit gespreizten Beinen hängen bis heute an Fassaden von Kirchen und Klöstern, sie sollen zum Schutz gedient haben.
Die Weltreligionen mit ihren männlichen Propheten und männlichen Göttern setzten sich durch: Hierzulande wurde die Frau zum »Missgriff der Natur«. Sie galt als »eine Art verstümmelter, verfehlter, misslungener Mann«, so der Heilige Thomas von Aquin[3]. Unliebsame Frauen wurden als Hexen verfolgt, die Klitoris wurde in Hexenprozessen als Hexenmal identifiziert, an dem der Teufel sauge.
Die weiblichen Geschlechtsteile wurden im Lauf der Geschichte herabgesetzt, verleugnet und verachtet. Eine perfekte Methode, die Frau und ihre Sexualität zu beherrschen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich stelle mir vor, die Vulva von Maria wäre heiliggesprochen worden, als Ursprung des Sohn Gottes. In allen Kirchen hingen heute Vulvengemälde, und die Soutane des Papstes wäre mit einem besonders farbenfrohen Exemplar bestickt. Leider verhängte man Marias Unterleib lieber mit einem Jungfrauen-Siegel. Funfact am Rande: Jesus’ Vorhaut wurde zur heiligen Reliquie.
Bis heute halten viele Frauen ihre Vulva nicht für salonfähig. Die Sexologin Amelie Boehm erklärt mir: »Die Vulvenvielfalt wird nirgends dargestellt, sogar Medizin- und Aufklärungsbücher zeigen meist nur weiße, unbehaarte Brötchen-Vulven ohne innere Lippen und ohne Klitoris. Darum haben die meisten Frauen eine verzerrte Wahrnehmung von dem, was normal ist.« Während ein Penis dem Klischee nach gar nicht groß genug sein kann, gilt die Vulva nur als schön, wenn sie diskret und nahezu unsichtbar ist. Das hilft dem Geschäft mit der Intimchirurgie: Vulvalippenverkleinerung, Fettabsaugung am sogenannten Schamhügel oder Klitorismantelstraffung – dem Optimierungswahn sind keine Grenzen gesetzt.
Ein merkwürdiger Trend, wenn man bedenkt, dass aktuell die inneren Vulvalippen beschnitten, die Oberlippen hingegen gern aufgespritzt werden. Wie wäre es, stattdessen die Quersumme aus allen Lippen zu bilden und zu sagen: Passt schon?
Und wie verlogen ist es eigentlich, morgens zu einer Vaginalstraffung zu gehen und nachmittags gegen weibliche Genitalverstümmelung zu demonstrieren?
Ja, vielleicht fühlt die ein oder andere Frau sich in ihrem Körper wohler, nachdem ihre inneren Vulvalippen verkleinert wurden. Es gibt auch Frauen, bei denen größere Labien zu körperlichen Beschwerden führen, sodass eine Operation sinnvoll sein kann. Aber solange manche Frauen glauben, ihre Genitalien korrigieren zu müssen, nur um einer vermeintlichen Norm zu entsprechen, stimmt etwas in unserer Gesellschaft nicht.
Ein weiterer beliebter chirurgischer Eingriff ist die Vagina-Verengung, die auch als Vagina-Verjüngung bezeichnet wird. Sie wird Frauen angeboten, denen zum Beispiel nach einer Geburt eingeredet wird, dass ihre Vagina zu weit ist und sie dadurch für den Partner nicht mehr sexuell attraktiv sind. Als Gegenmaßnahme werden Hyaluronsäure oder Eigenfett in das Vaginalgewebe gespritzt. Auch ein chirurgischer Eingriff ist möglich, um die Vagina enger zu machen. Auf eine Vaginalgeburt möge man danach aber bitte verzichten, die würde das ganze Kunstwerk zerstören. Warum verändern wir den weiblichen Körper, anstatt unsere Vorstellung von Sexualität zu verändern?
Ein schlechtes Verhältnis zur eigenen Vulva beeinträchtigt die Sexualität der Frau: »Diese Frauen sind sexuell nicht zufrieden, haben nicht so viel Spaß an Sex, ihr Verlangen ist nicht so groß. Außerdem ist Oralsex für viele keine Option. Die Sorge, dass etwas mit ihrer Vulva nicht in Ordnung ist, beendet ihre Erregung sehr schnell. Sie können sich nicht gehen lassen. Hinzu kommt eine Tendenz zu riskantem Sexualverhalten, denn eine Unsicherheit kann dazu führen, dass die Frauen nicht gut Grenzen setzen können, das Thema Verhütung vernachlässigen und weniger gern zu präventiven gynäkologischen Untersuchungen gehen«, sagt die Sexologin Boehm.
Sie weiß auch, dass straffgezogene Vulvalippen kein Garant für besseren Sex sind, im Gegenteil, schließlich wurde an erogenem Gewebe herumgeschnitten. Genussfähig sind vor allem die, die ihre Vulva kennen und schätzen. Boehm empfiehlt ihren Klientinnen, sich Bilder von ganz »normalen« Vulven anzusehen. Ich stöbere in der Labia Library der Women’s Health Victoria, hier zeigen ganz normale Frauen ihre ganz normalen Genitalien. Ich staune über die Formen-, Größen- und Farbenvielfalt. Jede Vulva sieht anders aus – und zwar völlig anders!
Danach setze ich mich breitbeinig nackt vor einen Spiegel. Heute wird nicht mal eben geguckt, sondern zehn Minuten lang intensiv betrachtet. Ich lenke meine Aufmerksamkeit nacheinander auf die verschiedenen Hauttöne, befühle meinen Venushügel, inspiziere die Klitoriseichel, ertaste die Klitorisschenkel, vergleiche meine äußeren und inneren Vulvalippen und ziehe sie auseinander. Wow! Der Ursprung der Welt. Holy shit! Wer das hier sieht, sollte ehrfürchtig niederknien. Oder für immer schweigen.
Wir müssen noch einmal über die Vulva reden. Schließlich wird es gleich ständig um den Penis gehen. Aus Gründen. Ob es gute Gründe sind, wird zu klären sein.
Seit einigen Jahren wird die Vulva befreit und findet sich auf Cupcakes, Handtaschen und in Musikvideos wieder. Die Mode greift das Thema begeistert auf, plüschige und glitzernde Vulven verzierten bereits ganze Kollektionen. Das Ziel: Provokation, Tabubruch und eine Veränderung unserer Sehgewohnheiten.
Lediglich ein rosafarbener und mit Pelz besetzter Fendi-Schal schoss offensichtlich über das Ziel hinaus: Er wurde aus dem Onlineshop entfernt, nachdem man sich im Netz ausgiebig über ihn amüsiert hatte. Schade eigentlich, womöglich fühlt man sich wie neugeboren, wenn man seinen Kopf hindurchsteckt?
Seit 2019 gibt es in London das erste Vagina-Museum, nachdem die britische Aktivistin Florence Schechter erstaunt festgestellt hatte, dass es zwar ein Penis-Museum in Island gab, aber weltweit kein Ort über die Geschichte, die Kultur und die Anatomie der weiblichen Geschlechtsorgane informierte.
Der neue Umgang mit den weiblichen Geschlechtsteilen führt auch zu einer Auseinandersetzung mit der korrekten Wortwahl. Der Begriff Vagina ist inzwischen salonfähig geworden. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass damit in der medizinischen Fachsprache nur der innere Muskelschlauch bezeichnet wird und nicht das sichtbare Geschlecht.
Außerdem stehen die Schamlippen unter Beobachtung. Die Autorinnen Gunda Windmüller und Mithu Sanyal fordern seit 2018 in ihrer Petition an den Dudenverlag, das Wort Schamlippen im Duden durch »Vulvalippen« zu ersetzen. Keine Frau solle sich für ihre Geschlechtsteile schämen, argumentieren sie. Und da die Herkunft des Wortes Scham sogar dem Substantiv Schande zugrunde liegt, ist dieser Gedanke nachvollziehbar. Konsequenterweise müssten wir dann aber auch die Begriffe Schambein, Schamhaare und Schambereich für beide Geschlechter ändern.
Was bringt uns die neue Bewegung rund um Vulva und Vagina? Ein liebevoller, anerkennender Blick auf die weiblichen Geschlechtsteile ist das Ziel, doch davon sind viele Frauen noch immer weit entfernt. Denn sie haben so einen Umgang nie gelernt. Das macht auch die Comiczeichnerin Katja Klengel in ihrem Buch Girlsplaining deutlich: »Die Angst vor der … äh … Dingsbums fängt schon im Kindesalter an.«[4]
Kinder verzieren in der Grundschule die Wände mit Penis-Zeichnungen, doch eine anatomisch korrekte Vulva können selbst die meisten Erwachsenen nicht malen. Weibliche Puppen sind entweder geschlechtslos oder verfügen über maximal zwei Körperöffnungen. Wie soll man das seinem Kind erklären? »Ganz tolle Ärzte haben Darm und Harnröhre bereits im Körper deiner Puppe zusammengelegt, sodass sie nur noch ein Loch für Kacka und Pipi braucht!« Wenig überzeugend – neuer Versuch: »Die Puppenindustrie lässt die Vagina-Öffnung weg, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst!«
Jetzt wird es erst richtig spannend – welche Kindergedanken könnten das sein? Auf jeden Fall nicht ansatzweise so viele, wie Erwachsene sie haben. Wer im Internet nach anatomisch korrekten Babypuppen sucht, findet sich schneller auf Sexspielzeug-Seiten wieder, als er gucken kann.
Ein unverkrampfter Blick auf Vulva und Vagina fehlt noch immer. Die Idee ist daher: Je lockerer und häufiger wir über unser »Untenrum« sprechen und je mehr Bilder wir sehen, umso schöner finden wir Vulva und Vagina. Und umso entspannter wird auch unsere Sexualität.
Aber stimmt das auch? Führen ein Ausmalbuch mit Vagina-Mandalas und ein Vulva-Watching-Seminar zur inneren und äußeren Befreiung? Oder hat die Auseinandersetzung mit einem bis dahin relativ unentdeckten Körperteil nur zur Folge, dass es an der Frau etwas Neues zu optimieren gibt?
Heute werden Vulvahaare entfernt oder zu Landebahnen oder Pfeilen getrimmt. Wie wir gesehen haben, liegen auch Schönheitsoperationen an den weiblichen Genitalien im Trend, denn wo Kahlschlag herrscht, kann sich keine Hautfalte mehr verstecken.
Wir sollten an unseren Idealvorstellungen zweifeln und nicht an unserem Körper. Die Erschaffung eines neuen Schönheitsideals der perfekten Vulva braucht kein Mensch. Jede Vulva ist einzigartig – keine gleicht der anderen –, genauso wie jedes Ohr, jede Nase – und jeder Penis.
Statt an uns zu zweifeln oder gar herumschnippeln zu lassen, schneiden wir uns lieber eine Scheibe von den Männern ab und lernen wir von ihrem Stolz auf das »beste Stück«. Wir haben nämlich auch eins.
Als ich in meiner Kolumne Frauen riet, sich beim Blick auf das eigene Geschlechtsteil ein paar Scheiben Selbstbewusstsein bei den Männern abzuschneiden, hatte das unerwartete Folgen: Zahlreiche Leser schrieben mir, dass es gar nicht so weit her sei mit dem Stolz auf den Penis. Eher das Gegenteil sei der Fall! Der kleine Freund stehe unter großem Erwartungsdruck, und der Mann frage sich eigentlich permanent: Ist er groß, gerade und leistungsstark genug?
Diese Unsicherheit verwundert auf den ersten Blick, verschafft ein Penis dem Besitzer doch erstaunliche Vorteile: Man bekommt circa 16 Prozent mehr Gehalt, obwohl man das gute Stück für die Ausübung des Berufs eher selten braucht (von früheren Betriebsausflügen der Hamburg-Mannheimer einmal abgesehen). Umgekehrt verhindert ein Penis auf wundersame Weise, dass man sich mit zu viel unbezahlter Care-Arbeit aufhält: Menschen ohne Penis leisten davon 79 Minuten mehr am Tag[5]. Dieses kleine Organ aus Schwellkörpern und Bindegewebe (bevor neue Post kommt: Das Wort »klein« bezieht sich lediglich auf das Verhältnis zum restlichen Körper) schützt also relativ zuverlässig vor Altersarmut und unliebsamen Aufgaben.
Auch im Sprachgebrauch ist der Penis positiv repräsentiert: 100 Synonyme listet Jesko Wilke in seinem Buch Guten Morgen, Latte auf: Von der Anakonda bis zum Zitteraal, von der Fleischrakete bis zur Prinzenrolle – die Auswahl ist groß, und kaum ein Wort hat – anders als bei den Frauen – eine wirklich negative Konnotation. »Wussten Sie, dass in einigen Teilen Österreichs Jungen einen ›Pracht‹ haben, während die Mädchen sich mit einer ›Scham‹ begnügen müssen?«, schrieb mir ein Leser. Damit ist eigentlich alles gesagt, oder?
Wann also beginnen der Druck, das Vergleichen und das Gefühl, nicht zu genügen? In der Kindheit, mit den kleinen – und damit meine ich natürlich jungen – Penissen, scheint die Beziehung noch ungetrübt. Männliche Kleinkinder spielen sehr gern mit ihnen, sie kneten daran herum und ziehen sie in die Länge, dass einem beim Zugucken ganz anders wird. Eine Kinderärztin erklärte mir dazu pragmatisch: »Das ist völlig normal, ich habe meinen Jungs nur gesagt, dass sie zumindest beim Essen bitte damit aufhören sollen.«
Der Bruch scheint später, in der Pubertät, stattzufinden, da beginnt der Heranwachsende, an seinem Geschlechtsteil zu zweifeln. Jungen vergleichen sich in der Umkleide oder unter der Dusche, angeblich machen sie Gruppenmasturbationsspiele und auf jeden Fall hantieren sie unnötig oft mit dem Lineal. Das Ergebnis: Fast jeder zweite Mann ist mit der Größe seines Penis unzufrieden, heißt es in der 3sat-Dokumentation Wunderwerk Penis.
Darum hier eine frohe Botschaft, die man vermutlich nicht oft genug verkünden kann: Kaum eine Frau wird präzise sagen können, ob der erigierte Penis ihres Bettgefährten 11 oder 17 Zentimeter lang ist. Frauen haben zwar gelegentlich die erstaunlichsten Dinge in ihren Handtaschen, aber Zollstöcke gehören selten dazu. Viel mehr interessieren sie sich für die Art, wie die vorhandenen Zentimeter eingesetzt werden. Außerdem – ja, es klingt total verrückt – finden sie das, was an dem Penis dranhängt, mindestens genauso spannend: den Mann an sich.
Frauen, die etwas Bösartiges über einen Penis sagen, tun es vermutlich vor allem deswegen, weil sie die verletzende Wirkung kennen. Als die Ex-Pornodarstellerin Stormy Daniels schrieb, der Penis von Donald Trump würde aussehen wie »der Pilz-Charakter aus Mario Kart«, lief Twitter heiß – nur ein sonst daueraktiver Account blieb still. Kein Retweet, kein Fake-News-Geplapper, kein »I’ll make it great again!« schallte aus dem Weißen Haus. Nach all den schwerwiegenden Vorwürfen, die Trump zwei Jahre lang stoisch ignoriert oder dementiert hatte, fühlte er sich offenbar zum ersten Mal getroffen. Zum Tod des Golf-Profis Arnold Palmer fiel Trump allerdings nichts Wichtigeres ein, als auf die Penisgröße des Verstorbenen hinzuweisen: »Wenn er mit anderen Profis duschte, kamen diese heraus und sagten: Oh mein Gott. Das ist unglaublich.«[6]
Aber nicht nur der ewige Größenvergleich macht dem Mann in Hinblick auf den Penis zu schaffen, sondern auch der Leistungsdruck. In der Intimität zeigt sich, ob der Mann »Cojones« hat, ob er seinen Mann steht – jede Art von Vortäuschen ist schwierig. Der Literaturprofessor Dietrich Schwanitz, der mit seinem Universitätsroman Der Campus berühmt wurde, schrieb in seinem Buch Männer: »Im Sex also wird das zerbrechliche Ego des Mannes zur Anschauung gebracht. Die Frau ist, wie sie ist; das Szenario des Sex führt ihrem Wesen nichts hinzu und nimmt ihm nichts weg. Der Mann dagegen ist nicht nur Mann. Er muss sich als solcher beweisen, und hier kann er nicht mehr simulieren. Alle Hochstapelei wäre vergebens. Er ist nackt. Und sein Körper wird zum Messinstrument, an dem der Zeiger den Stand der Virilität anzeigt.«[7]
Das klingt anstrengend, da möchte man zugegebenermaßen nicht tauschen. Der Journalist Hajo Schumacher hat sich in seinem Buch Männerspagat intensiv mit alten und neuen Konzepten von Männlichkeit auseinandergesetzt und bringt das Problem für sich so auf den Punkt: »Der Penis muss hart werden, und es muss am Ende was rauskommen. Das sind zwei überprüfbare Funktionen, deren Nicht-Funktionieren größte Panik erzeugt.«
Es wird also höchste Zeit, Druck aus der Sache zu nehmen. Hier der entscheidende Hinweis: Die Größe und Beschaffenheit des Penis haben viel weniger damit zu tun, ob eine Frau zum Orgasmus kommt oder nicht, als viele glauben. Schauen wir uns dafür die in der Fachzeitschrift Archives of Sexual Behavior veröffentlichte Studie zur sogenannten Orgasmuslücke an, für die rund 53 000 Menschen befragt worden sind. Nur 65 Prozent der heterosexuellen Frauen kommen beim Sex zum Orgasmus – das ist nicht schön, aber darum soll es gerade nicht gehen.
Viel interessanter ist im Hinblick auf den Penis, dass es bei den lesbischen Beziehungen 86 Prozent der Frauen sind, die beim Sex mit der Partnerin einen Höhepunkt erleben. Mit anderen Worten: Ein Penis ist für den weiblichen Orgasmus nicht zwingend erforderlich. Und nein, diese Studie soll bitte den Mann nicht demoralisieren, sondern lediglich das gute Stück entlasten und deutlich machen: Hängt die Latte nicht zu hoch. Und definiert euch nicht über ein einziges Organ. Ihr seid mehr als das.
Kurz vor der Adventszeit ist Movember. Nein, das ist kein Schreibfehler, sondern eine Wortschöpfung aus den Begriffen Moustache (französisch für Schnurrbart) und November. Der Movember ist 2003 in Australien entstanden und ruft Männer dazu auf, sich einen Schnurrbart stehen zu lassen, um auf Tabuthemen wie Prostata- und Hodenkrebs aufmerksam zu machen. So ein Schnäuzer steht zwar nur Tom Selleck und dem NDR-Walross Antje, aber das macht nichts. Schließlich geht es um die Männergesundheit.
Männergesundheit – kann es sein, dass männliche Ohren dieses Wort irgendwo zwischen Männerballett und Männergruppe verorten? Anders lässt sich kaum erklären, dass Männer seltener zum Arzt gehen als Frauen und Vorsorgeuntersuchungen vernachlässigen.
Vielleicht hilft eine sexy Umformulierung: Männergesundheit bedeutet Penisglück. Männergesundheit ist die Voraussetzung für Potenz, Männer verfügen sogar über eine P-Zone. In der kann der Mann nicht sein Auto abstellen, sondern sein geheimes Lustzentrum entdecken. Dazu gleich mehr.
Widmen wir uns zunächst liebevoll dem Penis und allem, was dranhängt. Das fällt auf den ersten Blick nicht immer leicht. »Ich war noch nie der Ansicht, ein männliches Geschlechtsteil sei etwas sonderlich Ästhetisches«[8], lässt der Bestsellerautor Karsten Dusse seinen Protagonisten in Achtsam morden im Hier und Jetzt