Geständnisse einer Teilzeitfeministin - Heike Kleen - E-Book

Geständnisse einer Teilzeitfeministin E-Book

Heike Kleen

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Beschreibung

Ich bin eine Feministin, die ...   … vormittags Texte über Gleichberechtigung schreibt, sich nachmittags aber allein um Einkaufslisten, Geburtstagsgeschenke und Arzttermine kümmert, … vor toxischer Männlichkeit warnt, aber ihrem Sohn erklärt, wie man ein "echter Kerl" wird,  … sich über die Rentenlücke bei Frauen empört, aber selbst in Teilzeit arbeitet, … für Body Positivity plädiert, aber ihr Instagram-Foto mit einem Filter versieht, … sich über Sexismus aufregt, aber die Nachbarin anruft, damit auch sie einen Blick auf den gutgebauten Elektriker erhaschen kann, … über das Patriarchat schimpft, aber sich gern von alten weißen Männern zum Essen einladen lässt.   Wie Heike Kleen geht es vielen: Der Wille zum Feminismus ist da, aber im Alltag geraten wir immer wieder ins Straucheln. Wer ist schuld an diesem Teilzeitfeminismus: die Evolution, das Patriarchat oder wir selbst? Heike Kleen begibt sich auf Spurensuche: authentisch, erfrischend ehrlich und mit viel Humor.  

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Seitenzahl: 318

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Heike Kleen

Geständnisse einer Teilzeitfeministin

Mein Verstand ist willig, aber der Alltag macht mich schwach

 

 

 

Über dieses Buch

Heike Kleen hält Gleichberechtigung für essenziell, sich selbst aber nicht gerade für eine Vorzeigefeministin. Sie fragt sich: Wieso stecke ich in der Teilzeitfalle? Warum überlasse ich Reparaturarbeiten nur allzu gerne meinem Partner? Und wieso rate ich meinem Sohn «Hau zurück!», nachdem der sich hat vermöbeln lassen, obwohl ich toxische Männlichkeit ablehne? Wie Heike Kleen geht es vielen: Der Wille zum Feminismus ist da, wenn da nur nicht – neben der strukturellen Benachteiligung – die Fallstricke des Alltags wären. Was tun? Mit Nachsicht und Selbstironie für mehr Gleichberechtigung kämpfen, statt sich in Schuldzuweisungen zu ergehen, zum Beispiel. Wie das geht, erzählt Heike Kleen in diesem Buch.

Vita

Heike Kleen, 1975 in Bremen geboren, Germanistin und Politikwissenschaftlerin, arbeitet als freie Journalistin und schreibt u.a. für Der Spiegel, ZEIT ONLINE, emotion und Eltern. Zudem ist sie TV-Autorin für Talkshows in ARD, ZDF und NDR und coacht als Medientrainerin Autor*innen, Moderator*innen und Journalist*innen. Heike Kleen ist verheiratet und hat zwei Kinder. 

Vorwort: Was um alles in der Welt ist eine Teilzeitfeministin?

Ich muss ein Geständnis machen: Ich bin eine Teilzeitfeministin. Teilzeitfeministin? Was bitte soll das sein? Dieser Begriff tauchte eines Tages wie ein nervöses Cookie-Banner vor meinem geistigen Auge auf, als ich in einem schonungslosen Moment meinen Alltag kritisch unter die Lupe nahm: ganz ohne Filter-App oder die übliche Schönrederei. Plötzlich fühlte es sich an, als würde ich ein Doppelleben führen – nur leider ohne gelegentlichen Adrenalinkick oder sexuelle Ekstase.

Stattdessen sah ich Folgendes: Vormittags sitze ich am Schreibtisch und verfasse Texte über Gleichberechtigung – nachmittags bin ich allein für die gemeinsamen Kinder zuständig. Vormittags plädiere ich online für eine bessere Arbeitsteilung in der Familie, nachmittags lege ich offline die Wäscheberge zusammen. Vormittags mache ich mich für mehr Frauen in Führungspositionen stark, nachmittags lehne ich ein attraktives Jobangebot ab, um mehr Zeit für meine Kinder zu haben. Zu gern sage ich: Mein Mann ist selbständig, er kann sich zu Hause nicht so viel kümmern. Ich wiederum bin selbständig, damit ich mich zu Hause mehr kümmern kann.

Feministin bin ich offensichtlich nur halbtags, spätestens am Nachmittag finde ich mich in der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter wieder. Und es geht noch weiter: Ich plädiere für Body Positivity, für eine positive Einstellung gegenüber dem eigenen Körper, ich möchte die vom Patriarchat geprägten Schönheitsideale endlich auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrennen, während alle Frauen so faltig und mopsig und grauhaarig darum herumtanzen, wie sie sind, ohne auch nur eine Sekunde über ihr Äußeres nachzudenken. Doch dann kommt das Pressefoto für dieses Buch, und ich überlege, ob ich nicht besser den Bauch hätte einziehen sollen und was Photoshop wohl so alles kann.

Sobald ich Texte von Feministinnen lese, bewundere ich sie für ihre Klugheit, ihre Weitsicht, ihr Leben. Und dann frage ich mich: Ob sie wie ich im Auto am liebsten auf der Beifahrerseite Platz nehmen, anstatt selbst zu fahren? Oder ob sie manchmal lächeln, obwohl ihnen gar nicht danach ist? Vermutlich nicht. Bestimmt schreiben sie, im Gegensatz zu mir, ihren Männern auch nie einen Einkaufszettel, und in ihren Sexphantasien geht es grundsätzlich gleichberechtigt zu.

Mein Verstand ist genauso willig wie ihrer, das weiß ich genau, aber der Alltag macht mich regelmäßig schwach. «Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu», hat Ödön von Horváth mal gesagt, und es stimmt: Die Feministin in mir wird ständig vom Leben überrumpelt und in die Knie gezwungen – und viel zu oft bemerke ich das erst im Nachhinein.

Wie paradox mein eigenes Verhalten ist, fällt mir immer häufiger auf: Ich bin eine Feministin, die den Gender Pay Gap, also die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern, beenden will, aber dankbar lächelt, wenn sie statt der überfälligen Gehaltserhöhung ein Kompliment für ihr «tolles Engagement» bekommt. Ich bin eine Feministin, die auf dem Weg zu einer Podiumsdiskussion über Körperakzeptanz mit großem Interesse eine Werbung für figurformende Unterwäsche studiert. Ich bin eine Feministin, die insgeheim aufatmet, wenn bei einem Projekt nicht nur Frauen, sondern auch Männer im Team sind. Ich bin eine Feministin, die sich über Sexismus aufregt, aber die Nachbarin anruft, damit auch sie einen Blick auf den gut gebauten Elektriker erhaschen kann. Ich bin eine Feministin, die über die verkrusteten Strukturen des Patriarchats schimpft und sich anschließend bereitwillig von einem alten weißen Mann zum Essen einladen lässt und sanftmütig das Köpfchen zur Seite neigt, wenn er ihr die Welt erklärt.

Das geht so nicht weiter.

Es wird höchste Zeit, meinem Teilzeitfeminismus auf den Grund zu gehen. Geht das nur mir so – und woher kommt mein widersprüchliches Verhalten? Muss ich mit meiner Doppelmoral leben, oder habe ich zu hohe Ansprüche an mich selbst? Vielleicht muss ich auch den Begriff Feminismus freier denken. Oder mein Leben einer Kurskorrektur unterziehen. Finde ich einen Schuldigen, dem ich mein Dilemma in die Schuhe schieben kann – der Biologie, meiner Erziehung, dem Patriarchat? Oder bin ich beides: «Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle», wie Simone de Beauvoir ihren Lebensmenschen Jean-Paul Sartre zitiert?[1]

Ich lebe in einem Land, in dem die Gleichberechtigung im Grundgesetz verankert ist, ich kann eigentlich kein ohnmächtiges Opfer der äußeren Umstände sein, wir Frauen müssten unser Leben doch frei gestalten können! Dennoch hat die traditionelle Rollenverteilung hierzulande nach wie vor Hochkonjunktur, das zeigen nicht nur die Statistiken. Für diese Erkenntnis genügt ein Blick in Vorstandsgremien (überwiegend Männer) und auf Kinderspielplätze (überwiegend Frauen). Schwer zu glauben, dass diese Aufgabenverteilung ausschließlich freiwillig vonstattengegangen ist.

Mehr Mütter als Väter fühlen sich für ihre Familie verantwortlich, und die Mehrheit der Frauen ist angeblich bereit, zehn Punkte ihres Intelligenzquotienten zu opfern, wenn sie dafür einen vermeintlichen Schönheitsmakel ausmerzen dürfte. Was ist in unseren Köpfen bloß los?

Einer der berühmtesten Sätze von Simone de Beauvoir lautet: «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.»[2] Das Zitat wird häufig falsch wiedergegeben, wie auch Margarete Stokowski in Untenrum frei erklärt.[3] Viel zu oft heißt es: «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht.» Das ist ein großer Unterschied: Werden wir von unserer Umwelt, von unserer Gesellschaft zu Frauen gemacht, sind wir wehrlose Objekte, denen eine Zwangsjacke mit der Aufschrift «Frau» verpasst wird, aus der wir uns nicht mehr befreien können? De Beauvoir schrieb 1949 in ihrem Grundlagenwerk Das andere Geschlecht: «On ne naît pas femme: on le devient», also man «wird» zur Frau, nicht, «man wird dazu gemacht». «Devenir» ist ein aktives Verb, kein passives. Wir Frauen haben dem Zitat zufolge also einen aktiven Anteil an diesem Prozess – aber wie groß ist der?

Ich möchte wissen, wie ich zur Teilzeitfeministin wurde und warum ich es bis heute nicht immer schaffe, gleichberechtigt zu leben, zu denken und zu handeln.

Mein Leben als Teilzeitfeministin

Ich kann nur meine persönliche Geschichte erzählen, es ist keine dramatische: Sie handelt weder vom Aufstieg aus prekären Verhältnissen noch von systematischer Unterdrückung oder gar Missbrauch. Als weiße heterosexuelle Frau aus der Mittelschicht war ich weder von Rassismus betroffen noch musste ich meine sexuelle Orientierung erklären, außerdem hatte ich ideale Bildungschancen. Es ist die gewöhnliche Geschichte eines Mädchens aus gutem Hause, das ausgezogen ist, um in einer gleichberechtigten Gesellschaft zu leben. Ich gehöre einer Generation an, der gesagt wurde, dass sie alles haben und erreichen kann, völlig unabhängig vom Geschlecht. Aber vorgelebt hat man mir etwas anderes: Ich wurde in den 1970er und 80er Jahren in einem Umfeld sozialisiert, in dem Frauen die klassischen Rollen einnahmen und Männer das Sagen hatten. Dennoch glaubte ich lange, dass der kleine Unterschied keine großen Folgen für mein Leben haben würde. Vielleicht würde ich das immer noch denken, wenn ich keine Kinder bekommen hätte, denn die Mutterschaft zerschmettert den Mythos von der Gleichberechtigung gnadenlos. Als Bonustrack zu den Altlasten meiner Prägung flüstern mir Werbung, «Frauenzeitschriften» und die sozialen Medien heute ein, was ich als Frau und Mutter leisten sollte (beruflich erfolgreich, aber bitte auch häuslich und kinderlieb, durchaus emanzipiert, aber nur so, dass die handgeklöppelte Osterdekoration nicht leidet) und wie ich dabei im Idealfall auszusehen habe (auf natürliche Weise schlank, schön und sexy, also weder aufgespritzt noch abgemagert oder vulgär, sondern gesund ernährt, manikürt und gewaxt) – und trotzdem soll ich dabei immer gut gelaunt sein. Wie soll das bei diesen Anforderungen bitte gehen? Nach einem feministischen Manifest klingt das nicht.

Ich hatte mir das gleichberechtigte Leben als emanzipierte Frau deutlich einfacher vorgestellt. Einige Fallen habe ich mir selbst gestellt, in andere bin ich nichtsahnend hineingestolpert. Ich bin nicht so frei, wie ich dachte, und in dunklen Stunden darf mein Lebensentwurf von einer gleichberechtigten Frau getrost als gescheitert bezeichnet werden. In solchen Momenten denke ich: «Wenn ich mit dem gleichen IQ und exakt der gleichen Berufserfahrung ein Mann wäre, würde ich um 15.30 Uhr nicht Unterhosen zusammenlegen und den Streit im Zimmer nebenan schlichten. Ich würde zwei Kinder haben und trotzdem in diesem Moment einer deutlich interessanteren und darüber hinaus bezahlten Arbeit nachgehen!»

Ich bin neidisch auf das Klonschaf Dolly. Ich möchte eine Kopie von mir erstellen lassen, mit der ich mir mein Leben aufteile. Eine Sekunde später denke ich: «Meine Güte, stell dich nicht so an, es ist nur Wäsche – und du willst von den Kindern schließlich auch etwas mitkriegen.»

Wenn ich mich heute umschaue, merke ich, dass ich nicht allein bin mit diesem Gefühlsdilemma. Ich sehe abgekämpfte Frauen, die jeden Tag aufs Neue versuchen, ihre Position zwischen Kindern, Küche und Karriere zu finden und dabei Kompromisse eingehen. Sie alle sind oft müde, manchmal schlecht gelaunt und haben fast immer das Gefühl, nicht zu genügen.

Sie alle ringen im Alltag immer wieder um Zuständigkeiten im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung. Bei solchen vermeintlichen Kleinigkeiten geht es um nichts Geringeres als um Machtverhältnisse, die ununterbrochen neu ausgelotet werden müssen. Die Corona-Pandemie hat sichtbar gemacht, was viele Frauen seit Jahren geahnt haben: Wir sind längst nicht so gleichberechtigt, wie wir es uns gern einreden. Und auch wenn wir uns als Feministinnen bezeichnen, sieht unser Alltag oft nicht sonderlich gleichberechtigt aus. Sagte ich schon, dass wir erschöpft sind?

Seit ich Mutter bin, schlägt mein Teilzeitfeminismus immer häufiger zu: Ich will meinen Sohn zu einem sanftmütigen, liebevollen Menschen erziehen und kann aus dem Stegreif einen Vortrag über toxische Männlichkeit und ihre Folgen halten – doch nachdem mein Kleiner sich klaglos von einem anderen Jungen hat vermöbeln lassen, fürchte ich insgeheim, dass er womöglich zum Weichei wird, und rate: «Hau zurück! Du musst zeigen, dass du der Stärkere bist!» Gerade so konnte ich mir noch den Satz «Sei ein echter Kerl!» verkneifen und erschrecke mich dabei vor mir selbst.

Wenn mein Schreibtisch zu voll ist, führe ich am Wochenende ein Leben als 50er-Jahre-Mann, ich verkrieche mich hinter dem Rechner und genieße die Arbeitsteilung: Ich höre Töpfe und Pfannen im Hintergrund scheppern, werde von meinem Mann zum Essen gerufen, sehe die Kinder für einen entspannten Moment – und dann ist auch gut. Ich streiche ihnen liebevoll über die Köpfchen und lasse das Küchenchaos hinter mir. Am liebsten würde ich mir zurück am Schreibtisch wie Don Draper in Mad Men eine Zigarre anstecken und einen Drink einschenken, während ich denke: Kein Wunder, dass so viele Männer sich gegen die Gleichberechtigung wehren. Mein Leben könnte ewig so weitergehen – das Patriarchat ist super! Zumindest, sofern man auf der richtigen Seite sitzt … Hoppla, das ist ja nun auch alles andere als ein feministischer Gedanke. Als Feministin will ich doch nicht, dass wir die Rollen umkehren, sondern dass Männer und Frauen sich beruflich und privat auf Augenhöhe begegnen und sowohl Erziehungsarbeit als auch alle anderen Verantwortlichkeiten gerecht untereinander aufteilen.

Aber anstatt genau das zu Hause umzusetzen, nehme ich beim ersten Kind die längere Elternzeit und heule Rotz und Wasser, als die Kitatür zum ersten Mal hinter meinem Sohn ins Schloss fällt – was bitte soll das? Ich bin so froh, endlich wieder arbeiten zu können – und rolle gleichzeitig das schlechte Gewissen schneller vor mir aus, als ein Muslim seinen Gebetsteppich aus der Zimmerecke holen kann.

Wenn ich Ablenkung brauche, krame ich eine alte Sex-and-the-City-Staffel hervor und hoffe, dass Carrie und Mr. Big endlich wieder zusammenkommen. Geht’s noch? Es mag ja in den 90er Jahren revolutionär oder gar feministisch gewesen sein, dass Frauen nicht nur offen über Sex reden, sondern sich ihn auch nehmen, wenn ihnen danach ist. Aber letztlich ging es in dieser Serie doch darum, dass die Heldin den Mann fürs Leben findet und währenddessen unzählige Designerklamotten anhäuft. Warum fühlt sich das ewige Geschnatter über Liebe in Kombination mit diesen Bildern trotzdem so gut an? Oder will ich nur rauskriegen, wie man sich mit dem Schreiben einer Sexkolumne ein Apartment in New York, unzählige Restaurantbesuche und Unmengen überteuerter Schuhe leisten kann? Die Feministin in mir hat sich offensichtlich mal wieder hinter dem Sofa verkrochen, womöglich will sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich kann es ihr nicht verdenken.

Um zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin, muss ich nur ein, zwei Generationen zurückgehen. Wir Kinder der 60er, 70er und 80er Jahre wurden von Frauen erzogen, denen klare Rollen zugewiesen wurden, die sie begannen, in Frage zu stellen. Unsere Mütter fingen an, für mehr Gleichberechtigung zu kämpfen, und verzweifelten daran gelegentlich. Einige von ihnen hatten bereits Männer, die kochen konnten oder sogar den Kinderwagen schoben – das war in den 70er und 80er Jahren etwas Besonderes. In unserem ostfriesischen Landstrich wurde nur der Klavierlehrer meiner Schwester mit einem Kinderwagen gesichtet, und das sorgte Mitte der 80er Jahre im Dorf für mehr Aufregung als die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Blicken wir zurück in diese Zeit, in der meine Prägung begann. Denn was man in seiner Kindheit lernt, speichert sich so richtig schön auf der Festplatte ab, brennt sich geradezu ein – und kann nur äußerst schwer überschrieben werden.

Mein Sexismus-Studium

Noch bevor ich zur Schule kam, begann ich, Sexismus zu studieren. Dafür musste ich mich nicht anstrengen, sondern einfach meine natürliche Umgebung beobachten. In meinem kleinen ostfriesischen Heimatdorf wurde das Patriarchat gelebt, und keiner kam auch nur ansatzweise auf die Idee, es anzuzweifeln. Hier lebten alle erwachsenen Frauen entweder das Modell Hausfrau oder das bis heute sehr beliebte Modell «Mutti verdient was dazu, ist aber trotzdem Hausfrau». Wir werden später beleuchten, was sich daran wirklich geändert hat. Dass Frauen zum Beispiel die alleinige Verantwortung für das leibliche Wohl aller hatten, war eine Selbstverständlichkeit. Am besten lässt sich das an unseren vielen Familienfesten beschreiben: Unzählige Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen sitzen im Wohnzimmer meiner Oma, und es gibt ununterbrochen etwas zu essen: mittags riesige Fleischplatten, dazu Rotkohl und Kartoffeln, danach Tee und eine Kuchenauswahl, die jeden Konditormeister demütig stimmen würde (schließlich brachte jede Frau eine mehrstöckige selbstgebackene Torte mit). Direkt im Anschluss gab es Knabbereien und den ersten Alkohol, damit bis zum Abendbrot nur kein kleiner Hunger entstand. Zum krönenden Abschluss bergeweise Schnittchen, die mit der Rechtfertigung «Wir müssen doch die Landwirtschaft unterstützen» mehr als großzügig belegt worden waren.

Für die Zubereitung und das Auf- und Abtragen all dieser Speisen samt Geschirr waren ausschließlich die Frauen zuständig. Sie saßen eigentlich kaum, sondern wuselten ununterbrochen hin und her, nur zum Essen ließen sie sich kurz nieder, um direkt danach wieder aufzuspringen, die nächste Runde vorzubereiten, Getränke zu holen oder Gläser abzuwaschen.

Und was taten die Männer in dieser Zeit? Sie saßen. Und saßen. Und redeten. Und saßen. Gelegentlich standen sie auf, um zur Toilette zu gehen, aber noch lieber verrichteten sie ihre Notdurft draußen. Warum? Es ist mir schleierhaft. Mir fällt nur ein Grund ein: Sie taten es, weil sie es konnten.

Ich erinnere mich bis heute lebhaft an den Tag, an dem es meiner Mutter zu bunt wurde und sie nicht länger bereit war, nach jedem Familienfest in einem vollgepinkelten Vorgarten zu stehen. Nachdem alle Gäste das Haus für die Geburtstagsfeier betreten hatten, schloss sie kurzerhand die Haustür ab, und siehe da – die Männer fanden ganz allein den Weg zur Toilette.

Doch zurück zu der großen Tafel, die ununterbrochen geleert und wieder befüllt wurde. Eine Szene hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt: Eine meiner Tanten beugt sich weit über den riesigen Tisch, um an die winzige Teetasse ihres Mannes zu gelangen, in der einen Hand hält sie die Kanne, mit der anderen mühsam ihr Gleichgewicht. Für ihren Mann wäre es ein Leichtes gewesen, ihr zu helfen, eine kleine Armbewegung hätte genügt, um ihr die Tasse entgegenzuschieben – gut, vielleicht hätte er sich ein kleines bisschen vorbeugen müssen. Doch er tat es nicht. Er sah seelenruhig und tief im Sofa versunken zu, wie sie sich abmühte und fast den Arm auskugelte, endlich an seine Tasse kam, sie mit Kluntjes – das ostfriesische Wort für Kandis – befüllte, ihm frischen Tee einschenkte, Sahne dazugoss und das fertige Gesamtkunstwerk erneut unter großen Mühen an seinen Platz zurückstellte. Er bedankte sich noch nicht einmal, nahm nur die Tasse und trank. Damals stieg zum ersten Mal eine kalte Wut in mir auf, denn plötzlich begriff ich, dass es an diesem mir so vertrauten Ort zwischen Mann und Frau ein Machtgefälle gab. Warum wurden die Männer so selbstverständlich bedient und die Frauen bedienten sie – als sei das naturgemäß? Bis dahin hatte ich nur hin und wieder ein diffuses Unbehagen gespürt, eine Ahnung, dass es nicht der Hauptgewinn war, ein Mädchen zu sein. Ich konnte dieses unangenehme Gefühl nicht erklären, ich bemerkte nur, dass Jungen mehr Aufmerksamkeit bekamen und man sie manchmal für Dinge lobte, die ich selbstverständlich fand. Doch das ergab keinen Sinn! Erst diese kleine geblümte Teetasse öffnete mir die Augen, sie war mein Baum der Erkenntnis und erschütterte mich tief. Es gab offensichtlich Menschen erster und zweiter Klasse. Zur ersten gehörten die Männer, sie wurden bedient – in der anderen waren die Frauen, die sie bedienten. Aber warum? Weil nur die einen im Stehen pinkeln konnten?

Jüngere Generationen und auch Zeitgenoss*innen erklären mich an dieser Stelle womöglich für hysterisch, ältere halten dagegen, dass die armen Männer, die sich damals am Sonntag bedienen ließen, die ganze Woche über hart gearbeitet hatten, während Sigmund Freud mir hämisch «Siehste, doch Penisneid!» zuruft.

Doch ich spürte anhand dieser ausbleibenden Hilfsbereitschaft, dass Frauen und Männer hier nicht gleichberechtigt zusammenlebten, dass man sich nicht gegenseitig unterstützte, dass die Wertschätzung für das weibliche Geschlecht fehlte und es zwei Lager gab. Und ich hockte mittendrin, wäre lieber sitzen geblieben im Zigarettendunst der Männer, um ein paar zotigen Anekdoten zu lauschen und etwas über die Welt da draußen zu erfahren, anstatt den Frauen in der Küche zur Hand zu gehen. Ich wusste nicht, wo ich hingehörte. Die Gespräche der Männer waren in meinen Ohren interessanter, doch ich fühlte mich eher den Frauen in der Küche zugehörig, zu denen meine Schwester und ich oft genug gerufen wurden, um Spargelröllchen zu drehen, eine so furchtlose wie labberige Kombination aus eingelegtem Spargel, gekochtem Schinken und sehr viel Remoulade. Ich kann mich nicht erinnern, dass einer meiner zahlreichen Cousins jemals mit dieser Aufgabe konfrontiert worden ist.

Bin ich eine Feministin, die insgeheim glaubt, dass Jungen etwas Besseres sind? Nein, das kann ich ausschließen, eher bin ich zur Feministin geworden, weil mich die von mir empfundene Ungleichbehandlung von klein auf beschäftigt hat.

Bin ich eine Feministin, die davon überzeugt ist, dass ihr natürlicher Lebensraum die Küche ist? Natürlich nicht, aber ich fühle mich bis heute verantwortlicher für das, was auf den Tisch kommt, als mir lieb ist.

Ich frage mich rückblickend, ob sich mir die Teetassen-Szene auch als Junge derart ins Gedächtnis gebrannt oder ob ich sie als Selbstverständlichkeit hingenommen hätte.

Kinder identifizieren sich ab einem Alter von ca. vier Jahren mit dem eigenen Geschlecht. Sie wissen zu diesem Zeitpunkt in der der Regel, welchem Geschlecht sie selbst angehören, sie beobachten das Handeln der Männer und Frauen und ziehen daraus ihre Schlüsse. Insbesondere mit Hilfe der Vorbilder aus der Familie entsteht ihre erste Geschlechteridentität, darüber hinaus identifizieren sie sich mit gleichgeschlechtlichen Personen aus ihrem näheren Umfeld. Darum beobachtete ich die Frauen so genau, während meine Cousins sie vermutlich kaum wahrgenommen haben – es sei denn, sie hatten Hunger.

Es wird Zeit herausfinden, wieso ich als Feministin in den Kreißsaal ging und als Hausfrau und Mutter wieder herauskam. Warum ich es über ein Jahrzehnt nach der Geburt meines ersten Kindes weder geschafft habe, mein früheres Leben fortzuführen, noch mich den Erwartungen zu widersetzen, die an Frauen gestellt werden. Und weshalb Doppelmoral mein zweiter Vorname zu sein scheint. Bin ich die schlechteste Feministin aller Zeiten, ein «Bad Feminist», wie sich die Literaturprofessorin Roxane Gay in ihrem gleichnamigen Buch beschreibt? Sie sei lieber eine schlechte Feministin als gar keine, erklärt sie darin am Ende – zumindest das lässt mich hoffen.

Feminismus: Wer braucht ihn – und wenn ja, wie viel?

Natürlich möchte ich eine gute Feministin sein, auch wenn die meisten Männer bei dem F-Wort noch immer gucken, als würde man sie gleich ohne Betäubung kastrieren, und selbst viele Frauen – und darunter ausgerechnet prominente und einflussreiche – sich äußerst schwertun mit dem Begriff. Wer den Feminismus als etwas Gestriges abtut, sollte bedenken, dass das Patriarchat seit Jahrtausenden unseren Alltag bestimmt hat und das noch immer macht. Frauen wurden unterdrückt, misshandelt und für geisteskrank erklärt, sobald sie aus Männersicht zu aufmüpfig wurden. Wer denkt, dass Feminismus überflüssig ist, sollte sich einfach mal seine eigene Familie vor Augen führen: Meine Urgroßmütter durften nicht wählen, meine Großmütter weder allein Auto fahren noch ein Bankkonto eröffnen, und als meine Mutter heiratete, galt noch die sogenannte Hausfrauenehe, die sie gesetzlich zur Haushaltsführung verpflichtete. Nur mit dem Einverständnis meines Vaters hätte sie einen Beruf ausüben dürfen, und das auch nur, solange sie dabei ihre «familiären Pflichten» nicht vernachlässigt hätte. Wäre ich bereits als 20-Jährige den Bund der Ehe eingegangen, hätte mein Mann sich jederzeit gegen meinen Willen straffrei an mir vergehen können – schließlich ist die Vergewaltigung in der Ehe hierzulande erst seit 1997 strafbar.

Dass Frauen in Deutschland zumindest auf dem Papier gleichberechtigt sind, haben wir dem Feminismus zu verdanken, den mutigen Frauen, die seit Hunderten von Jahren ihr Leben aufs Spiel setzen, um unsere Rechte voranzutreiben.

Von den Frauen, die an dieser Stelle genervt mit den Augen rollen, wüsste ich gern, auf was sie lieber verzichten würden: den Führerschein? Oder doch das Wahlrecht? Das eigene Konto? Den Job? Würden sie sich lieber von Wochenbett zu Wochenbett hangeln oder als einsame Jungfer bezeichnet werden und darauf hoffen, dass die zuppelige Verwandtschaft sie durchfüttert, weil sich kein Mann erbarmt hat, sie «wegzuheiraten»?

Haben Sie eine Vagina?

Aber worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Feminismus reden? Der Feminismus als politische und gesellschaftliche Bewegung ist zwar schon über 200 Jahre alt, aber er hat bis heute ein Imageproblem, noch immer klingt er «unrasiert und ungebumst»[1], wie Carolin Kebekus bereits 2016 diagnostizierte. Mal abgesehen davon – was ist das Problem an Frauen, die weder rasiert sind noch Sex haben? Aber das ist ein anderes Thema …

Bis heute wird Feministinnen gelegentlich unterstellt, das andere Geschlecht zu hassen – und die einfacher gestrickten Männer nehmen diese irre Annahme als Rechtfertigung dafür, im Umkehrschluss feministische Frauen zu hassen. Oder gleich alle Frauen, dann verliert man nicht so schnell den Überblick. Die Klügeren dagegen argumentieren: «Eine Frau wie du hängt heutzutage doch keinem ‹-ismus› an, als starkes Individuum brauchst du kein Label und keine Bewegung!» Ein spannender Gedanke – aber warum stellt kein Mann den Humanismus in Frage, den Feminismus aber schon?

«Die Männer prangern lauthals soziale und rassistische Ungerechtigkeiten an, aber wenn es um männliche Dominanz geht, sind sie nachsichtig und verständnisvoll»[2], schreibt die französische Schriftstellerin Virginie Despentes in King Kong Theorie. Das ist wahr, und sobald es um das Thema Gleichberechtigung geht, hören wir immer wieder aus den vorderen Männerreihen: Es ist doch schon so viel passiert … – was wollt ihr denn noch? Und – zack! – ist das Thema für Männer vom Tisch, möge doch bitte alles so weitergehen wie bisher. Reicht doch.

Eine Trendwende ist zu erkennen, aber sie beschränkt sich eher auf junge gebildete Frauen in Großstädten. Hier ist der Feminismus cool oder hip, spätestens seit Stars wie Beyoncé, Lady Gaga oder Emma Watson sich dazu bekennen. Sogar die Modewelt hat feministische Botschaften für sich entdeckt. Markige Sprüche wie «We should all be feminists» werden auf Kleidung gedruckt – und die bekennende Feministin darf bei Dior schlappe 620 Euro dafür hinblättern, kann diese Botschaft aber auch günstig bei gängigen Modeketten erstehen.

Aber Moment, wie feministisch geht es dabei eigentlich hinter den Kulissen zu? Kann eine Frau sichergehen, dass für ihr modisches Statement keine Geschlechtsgenossin in einer Textilfabrik am anderen Ende der Welt ausgebeutet wurde? Und durfte das Model den Luxuslabel-Laufsteg womöglich nur erklimmen, weil sie Wochen vorher keine feste Nahrung zu sich genommen hat, um dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen? Feminismus ist gelegentlich kompliziert.

Aber woher stammt der Begriff überhaupt? Ausgerechnet ein Mann soll ihn erfunden haben: Charles Fourier, ein französischer Sozialist. Im Jahr 1837 kam ihm diese Erleuchtung, die weltweit noch immer vielen Menschen fehlt. Er schrieb: «Die Harmonie entsteht nicht, wenn wir die Dummheit begehen, die Frauen auf Küche und Kochtopf zu beschränken. Die Natur hat beide Geschlechter gleichermaßen mit der Fähigkeit zu Wissenschaft und Kunst ausgestattet.»[3]

Bestimmt haben die Frauen Monsieur Fourier damals sämtliche Türen eingerannt, doch dieses Prachtexemplar von einem Mann weigerte sich zu heiraten, weil eine Ehe seiner Meinung nach die Rechte der Frauen mit Füßen treten würde. «Where’s Charles Fourier on Tinder, when you need him?»[4], fragt die britische Comedienne Deborah Frances-White völlig zu Recht.

Ziehen wir die britische Journalistin Caitlin Moran zu Rate, um uns dem modernen Feminismusbegriff zu nähern. Sie gibt ihren Leser*innen in ihrem Buch How to be a Woman einen einfachen Test an die Hand:

«Erforschen Sie mit der Hand das Innere Ihrer Unterhose, und beantworten Sie die folgenden Fragen:

a) Haben Sie eine Vagina?

b) Möchten Sie selbst über sie bestimmen?

Sie haben beide Fragen mit ‹Ja› beantwortet? Herzlichen Glückwunsch! Sie sind eine Feministin!»[5]

Leider bleiben alle anderen Geschlechter und Gender bei diesem Test außen vor, und es scheint Männern selbst heute noch leichter zu fallen, sich als schwul zu outen als lauthals zu sagen: «Ich bin Feminist!» Wenn sie es doch tun, sind sie entweder ein gut aussehender kanadischer Premierminister oder schieben schnell eine persönliche Erklärung hinterher. Der Moderator Nils Bokelberg bekannte 2017 in der Zeit, Feminist geworden zu sein, als seine Tochter 16 Jahre alt wurde: «Auf dem Geburtstag meiner Tochter, als ihre Eigenständigkeit auf einmal so nahe rückte, wurde mir schlagartig klar: Was dieser Gesellschaft fehlt, ist Gerechtigkeit.»[6] Er wollte seinen Sprössling nicht in eine Welt entlassen, in der Frauen schlechter bezahlt und sexistisch behandelt werden. Recht hat er – aber wir sehen auch, dass es offensichtlich erklärungsbedürftig ist, wenn ein Mann sich als Feminist bezeichnet. Und alle Männer, die sich dieser väterlichen Argumentation anschließen, müssen sich selbstkritisch die Frage stellen, warum ihnen erst durch die Geburt der eigenen Tochter die Erleuchtung kommt. Haben sie nie darüber nachgedacht, warum ihre Freundin nachts ungern U-Bahn fährt und im Vorstellungsgespräch gefragt wird, wer in Krankheitsfällen auf die Kinder aufpasst? Oder warum die eigene Mutter von ihrer Rente nicht leben kann?

Kreisen wir den Feminismusbegriff also weiter ein und blicken dafür auf eine weibliche Ikone der Frauenbewegung. Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Gloria Steinem arbeitete 1963 drei Wochen lang als Playboyhäschen in einem New Yorker Playboy-Club. Sie war im Gegensatz zu mir allerdings keine Teilzeitfeministin, sondern hat dort als investigative Journalistin die Arbeitsbedingungen der angestellten Frauen recherchiert. Sie startete ihre Karriere als Feministin also als eine Art Günther Wallraff mit Puschelschwänzchen und setzt sich seit dieser entwürdigenden Erfahrung für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Aus ihrem Mund klingt die Sache mit dem Feminismus ganz einfach: «Ein Feminist ist jeder, der die Gleichheit und Menschlichkeit von Frauen und Männern anerkennt.» Geht doch. Dieser Satz könnte in seiner Klarheit der ganzen Debatte die Aufregung nehmen – aber so leicht scheint es nicht zu sein.

Vielleicht sollten wir die Sache noch einfacher auf das deutsche Grundgesetz herunterbrechen, Artikel 3 Absatz 2. Dort heißt es: «Männer und Frauen sind gleichberechtigt.»

Darum geht es: dass die eine Hälfte der Gesellschaft genauso viele Rechte, Chancen und Freiheiten hat wie die andere – nicht mehr und nicht weniger. Und nicht um Frauen in Anzügen, die sich sämtliche Vorstandsposten unter den Nagel reißen, gleichzeitig ihre BHs anzünden und die eigenen Kinder links liegen lassen. Obwohl sie auch dazu natürlich jedes Recht haben – vorausgesetzt, die Kinder haben Bezugspersonen.

Warum löst dieser Gleichberechtigungsgedanke so viel Hass aus? Leider sind nicht nur die Fronten verhärtet, sondern auch die Denkstrukturen in unseren Köpfen verkrustet, in den männlichen wie den weiblichen. Wären wir nur alle ein bisschen queer.

Was wollt ihr denn noch?!

Hartnäckig hält sich die Meinung, es sei nicht nur einfach, sondern geradezu ein Hauptgewinn, heutzutage eine Frau zu sein. Noch dazu eine weiße privilegierte Frau in Westeuropa. Schließlich verfüge ich trotz einer Chromosomenkonstellation, die mich in anderen Teilen der Welt bereits vor der Geburt das Leben gekostet hätte, über erstaunliche Erfahrungen und Möglichkeiten: Ich habe bereits in der ersten Klasse kapiert, dass Jungen nicht klüger sind als Mädchen. Ich durfte mit 16 Jahren die Pille nehmen und habe mit 18 meine erste eigene Wohnung bezogen. Ich konnte studieren und mein eigenes Geld verdienen, ich war nie arbeitslos und hätte zumindest theoretisch Regierungschefin oder Astronautin werden können. Ich war nur im Niedriglohnsektor unterwegs, um mir im Studium etwas dazuzuverdienen. Ich bin nicht alleinerziehend, ich habe erst geheiratet, als das Kind in meinem Bauch unübersehbar war – aber ich hätte es nicht tun müssen.

Und nicht nur das: Bewerbe ich mich als weiße gut ausgebildete Frau heute um einen Job, müsste ein männlicher Kontrahent schon im Rollstuhl sitzen und Migrationshintergrund haben, um mich als qualifizierte und dennoch förderbedürftige Frau auszustechen, sagen böse Zungen. Ich kann Kinder kriegen und brauche dafür nur Sperma, aber keinen Partner, schon gar nicht wäre ich von einem abhängig, den ich frühestens durch sein Ableben loswerde. Genauso gut könnte ich meine Fortpflanzungsorgane aber auch stilllegen lassen und allein die Welt umsegeln. Oder mir jede Woche einen neuen Sexpartner suchen und keinen davon bis zum Frühstück dabehalten. Ich kann mir das T-Shirt mit dem Ausspruch «We should all be feminists» anziehen und wissen, dass viele Männer sich gar nicht trauen, die Botschaft zu Ende zu lesen, weil sie mir dafür länger auf die Brüste starren müssten, als ihnen korrekt erscheint.

«Was wollt ihr denn noch!?!», höre ich einige Männer an dieser Stelle fragen. Ihnen scheint es so langsam zu reichen, für sie ist die Gleichberechtigung mehr als erreicht.

Aber ist das wirklich die perfekte neue Welt, sind wir mit der Gleichberechtigung schon am Ziel? Wohl kaum, solange Frauen weniger verdienen als Männer und automatisch beruflich und privat zurückstecken, sobald ein Kind auf der Bildfläche erscheint. Und wenn wir weiterdenken an Frauen mit Migrationshintergrund, an Frauen of Colour, an lesbische, trans oder behinderte Frauen, an alleinerziehende Frauen oder Frauen aus prekären Verhältnissen, die zusätzlich strukturell benachteiligt werden, wird deutlich, dass Chancengleichheit wohl eher im Auge des Betrachters liegt und noch lange nicht Realität ist.

Teilzeitfalle und Altersarmut sind nicht umsonst weibliche Begriffe, und bei der Familiengründung werden aus Männern plötzlich Ernährer, und aus Frauen werden Mütter. Doch nicht nur in unserer Arbeitswelt werden wir bis heute mit zweierlei Maß gemessen: Eine Frau gilt als Schlampe, wenn sie ihre Sexualität freizügig auslebt, ein Mann höchstens als potenter Kerl, der jede rumkriegt. Frauen werden ab einem gewissen Alter offensichtlich unsichtbar und spielen auch in den Medien immer weniger eine Rolle: In Filmen sind sie nur noch Großmütter, während Männer mit Silberrücken als interessant gelten und Liebhaber-Rollen ergattern. Tolle Moderatorinnen bekommen keine große Show angeboten, weil sie nicht Kai Pflaume sind, da stehen wir wirklich vor einem unlösbaren Problem. Und überhaupt sind Frauen einfach von Natur aus nicht witzig genug, heißt es immer wieder, sonst gäbe es viel mehr weibliche Comedy-Stars. Sobald sie jedoch wider Erwarten Humor zeigen, hält man sie beruflich für weniger kompetent und privat für schwer vermittelbar.

Viele Frauen wollen gefallen, sie unterziehen ihre Körper teuren Prozeduren wie Waxing oder Haarefärben und geben mehr Geld für unbequeme Klamotten aus als Männer, obwohl sie weniger Geld verdienen. Offensichtlich haben sie das Bedürfnis zu zeigen, dass sie hübsch, niedlich, begehrenswert oder sexy, auf jeden Fall aber weiblich und damit ungefährlich für das männliche Ego sind. Diese Überzeugung ist kein Geburtsfehler, das muss uns jemand eingeredet haben.

Gleichzeitig haben Frauen von klein auf Angst: Es ist die Angst vor Gewalt und Vergewaltigung, die uns immer wieder zu einem schwächeren Geschlecht macht, die uns nachts mit Herzklopfen dunkle Straßen entlanggehen lässt, die uns zu Umwegen zwingt, gelegentlich die Straßenseite wechseln lässt. Die US-amerikanische Essayistin Rebecca Solnit beschreibt das Gefühl, eine Frau zu sein, in ihrem Buch Unziemliches Verhalten noch drastischer: «Einen Körper meines Geschlechts zu haben bedeutete für mich eine so gewaltige Verwundbarkeit und Scham, dass ich mich noch heute dabei ertappe, wie ich nach Möglichkeiten suche, mich zu schützen, nach anderen Versionen jener Rüstung, von der ich in meinen Zwanzigern träumte.»[1]

In den letzten Jahren ist eine neue Angst dazugekommen, es ist die vor Hass, Vergewaltigungsphantasien und Morddrohungen im Netz, denen Frauen ausgesetzt sind, die eine Meinung kundtun, die Männern nicht gefällt. Das ist eine neue Form von Sexismus und Gewalt, mit der Frauen unterdrückt, verängstigt und zum Schweigen gebracht werden sollen.

Und es gibt tatsächlich Situationen, in denen Frauen bis heute freiwillig schweigen, nämlich dann, wenn sie ihre Geschlechtsteile benennen oder gar beschreiben sollen. Sie denken insgeheim, es sei nicht salonfähig, was sie zwischen den Beinen haben. Gleichzeitig kann aber jeder Grundschüler bereits einen Penis malen.

Wenn man von Studien liest, laut denen 97 Prozent der Frauen unzufrieden mit ihrem Körper sind, weiß man sofort, dass da etwas nicht stimmen kann. Eine dringliche Frage tut sich auf: Wer bitte sind die restlichen drei Prozent? Wo wohnen die? Hat schon mal eine Frau mit ihnen gesprochen? In meinem Bekanntenkreis sind sie jedenfalls nicht, jeder meiner Freundinnen fällt irgendetwas ein, das sie an sich optimieren könnte. Dem Optimierungswahn sind offensichtlich keine Grenzen gesetzt, und es wird immer absurder: Eine Oberlippe gilt als zu klein, aber eine Vulvalippe als zu groß. Warum können wir – anstatt die eine aufzuspritzen und die andere wegzuschneiden – nicht einfach die Quersumme bilden und sagen: Passt schon?

Richtig absurd wird es übrigens, wenn Frauen sich morgens zur Vaginalstraffung in die Hände eines Intimchirurgen begeben und abends eine Charity-Veranstaltung gegen weibliche Genitalverstümmelung ins Leben rufen. Die Doppelmoral lauert überall. Aber wenn einer Frau bei dieser Erkenntnis das Lächeln vergeht und sie womöglich noch nicht einmal grimmig, sondern ganz normal vor sich hin guckt, fragt die Umwelt besorgt: «Geht es dir nicht gut? Du siehst müde aus! Lach doch mal, dann bist du viel hübscher!»

Doch all das ist nur der Kinderteller in der Vorhölle der Ungleichbehandlung, die echten Abgründe tun sich auf, sobald eine Frau Mutter wird. Es wird immer etwas geben, das an ihrem Kind nicht stimmt – vielleicht ist es zu wild, zu unkonzentriert, zu häufig krank, zu schüchtern, ist es womöglich nicht sozial kompatibel? In all diesen Fällen gibt es nur eine Schuldige: die Frau, genauer gesagt, die Mutter. Die Sachlage ist eindeutig: Entweder arbeitet sie zu viel oder sie helikoptert zu stark, womöglich kann sie nicht loslassen oder setzt einfach zu wenig Grenzen, aber eins ist sonnenklar: Sie ist schuld. Sie, ganz alleine. Und das Schlimmste: Sie glaubt das auch noch.

Dornröschen müsste man sein …

Machen wir uns nichts vor, wir sind noch weit davon entfernt, in einer gleichberechtigten Gesellschaft zu leben. Laut dem «Global Gender Gap Report 2020», einer Studie des Weltwirtschaftsforums, wird es sogar noch 257 Jahre dauern, bis weltweit Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen herrscht. Erste Untersuchungen zeigen, dass Frauen durch die Corona-Pandemie um weitere Jahre zurückgeworfen wurden. Dornröschen müsste man sein, denke ich: Einfach mal 300 Jahre ins Koma fallen und sich dann von einem schnuckeligen Prinzen wach küssen lassen und in einer schönen neuen gleichberechtigten Welt gut ausgeschlafen wieder aufstehen (natürlich ohne Druckgeschwüre vom Wundliegen und um keinen Tag gealtert). Doch bereits in diesem Wunschtraum finden sich zwei eklatante Denkfehler, die mich als Teilzeitfeministin entlarven: Wäre ich gedanklich bereits in einer gleichberechtigten Gesellschaft angekommen, wäre es mir erstens völlig egal, wie vorzeigbar ich nach dem Aufwachen bin und ob vielleicht jemand in der Zwischenzeit gnädigerweise meine Haare geschnitten und meine Hände manikürt hat. Und zweitens klingt auch die Idee von einem rettenden Prinzen, dem ich die Verantwortung für mein Erwachen in die brokatbesetzten Schuhe schieben kann, nicht gerade feministisch.

Es ist auch in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts anstrengend, eine Frau zu sein. Dafür müssen wir das Patriarchat verantwortlich machen, aber nicht einfach die Männer von heute. Natürlich profitieren sie von den Privilegien und sehen sie oft gar nicht als solche an – oder wie lassen sich sonst Sätze wie «Die nimmt mir meinen Job weg!» deuten? (Nur fürs Protokoll: Es ist nicht «dein», sondern «ein» Job, der da gerade vergeben wird.) Doch die Männer wurden wie wir Frauen in dieses System hineingeboren, und ich will ehrlich sein: Viele Bilder, Vorstellungen und Ansprüche, die an Frauen gestellt werden, haben sich fest in meinem Kopf eingenistet, sie nehmen Einfluss auf mein Handeln und Denken. Dieses antrainierte Rollendenken setzt sich gelegentlich über meine Vernunft und mein Wissen hinweg. Ich bin nicht frei von Vorurteilen, mein Gehirn greift auf erlernte Muster und Assoziationen zurück, wenn es eine Situation oder einen Menschen bewertet. «Unconscious Bias» nennt sich dieses Phänomen, also eine unbewusste Voreingenommenheit, mit der man andere oder sich selbst diskriminieren kann, ohne es zu wollen. Das passiert ununterbrochen im Alltag und geht blitzschnell, unsere erlernten Überzeugungen und die dadurch entstehenden spontanen Assoziationen legen sich wie ein Filter über das, was wir sehen und empfinden. Ein paar überspitzte Beispiele zum besseren Verständnis: Stelle ich mir einen Franzosen vor, sehe ich einen eher dünnen, dunkelhaarigen Mann mit Baguette unterm Arm vor mir, der gerade Ausschau nach Käse und Rotwein hält. Höre ich das Wort «Arzt», sehe ich einen mittelalten, leicht angegrauten Mann mit Poloshirt unter dem weißen Kittel vor meinem inneren Auge – aber leider keine Frau.

Daran erkennen wir, wie wichtig unser Sprachgebrauch ist und weshalb wir die weibliche Form bei Berufsbezeichnungen nicht unter den Tisch fallen lassen dürfen. Denke ich an eine Mutter, dann sehe ich das Bild einer fleckenfreien, gut frisierten Frau in einer Werbung, die sich lässig an die saubere Küchenarbeitsplatte lehnt (ein paar frische Kräuter stehen im Hintergrund) und ihre Kinder mit etwas Essbarem versorgt – die Glückseligkeit scheint ihr dabei aus jeder einzelnen Pore zu sprießen. Und denke ich an mich selbst, was passiert dann? Assoziiere ich