Zweistromland - Beliban zu Stolberg - E-Book

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Beliban zu Stolberg

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Beschreibung

Als der Tigris in die Nordsee floss Die Rechtsberaterin Dilan ist Tochter kurdischer Aleviten, die Verfolgung und Gewalt ausgesetzt waren. Doch darüber schweigen sie. Erst als ihre Mutter stirbt und sie selbst ein Kind erwartet, arbeitet Dilan gegen das unerträgliche Schweigen an: Sie reist nach Diyarbakir im Osten der Türkei. Die alte Stadt am Tigris ist die heimliche Metropole der Kurden. Hier haben ihre Eltern einst gelebt, geliebt und gekämpft. Ein poetischer und brennend aktueller Roman über politischen Mut, qualvolles Vergessen und die gefährliche Reise einer jungen Frau. »Beliban zu Stolberg erzählt eindrücklich von der Suche nach einer verschütteten Vergangenheit und dem Schmerz der Gegenwart. Ein Roman, der einen immer tiefer und tiefer hineinzieht in den Strom.« Ronya Othmann

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Seitenzahl: 305

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Beliban zu Stolberg

Zweistromland

ROMAN

kanon verlag

Mein Dank gilt der Robert-Bosch-Stiftung und dem »Grenzgänger«-Reisestipendium. Ich danke dem Literarischen Colloquium Berlin für die Teilnahme an der Autorenwerkstatt Prosa, den Leiter:innen Antje Rávik Strubel und Thorsten Dönges, sowie meinen Werkstattkolleg:innen. Auch der Nuoren Voiman Liitto danke ich für die Residenzstipendien in der Villa Sarkia.

Mein Dank gilt dem gesamten Kanon Verlag, besonders Gunnar Cynybulk. Ich danke meiner Agentur Verlag der Autoren, insbesondere Sebastian Richter, für Vertretung, Austausch, Ermutigung und Freundschaft.

Danke dir, Roman, ohne deine Unterstützung hätte ich diesen Text vielleicht nie schreiben können. Danke dir, Deniz, du bist mir die liebste Erstleserin.

Ich danke meiner Familie, besonders meinen Eltern. Ich danke meinen Freund:innen, ihr wisst, wie wichtig ihr seid.

ISBN 978-3-98568-085-6

eISBN 978-3-98568-086-3

1. Auflage 2023

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2023

Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport

unter Verwendung eines Gemäldes von Anaïs Cousin

© Titelbild: Anaïs Cousin

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Beliban zu Stolberg

Zweistromland

Für Ali, für Sakine

Inhalt

Teil 1: 2016

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Teil 2: 1999

Teil 3: 2016

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

»Hier zu leben bedeutet, danach zu streben, unverzüglich ins Morgen zu gelangen. Aus Sicht jener, die ins Morgen aufbrechen, sind jene, die sich an gestern erinnern, Schrottkarren, die sie im Flitzer neuester Bauart überholen. Wer sich erinnert, hat etwas Altes, Unnützes, Kaputtes, Degeneriertes an sich.«

Ece Temelkuran, Euphorie und Wehmut

Teil 1

2016

I.

Wieder in İstanbul. Ich denke an die Luft draußen, weich, warm, sie riecht nach Benzin.

Die Maschine aus Deutschland steht seit drei Stunden auf der Landebahn des Sabiha Gökçen. Nach einer Weile betreten zwei Militärs das Flugzeug. Ich will nicht hinsehen, aber ich muss. Die Soldaten gehen durch die Reihen und stoppen vor einer Frau.

»Mitkommen«, sagt einer auf Türkisch. Sie schüttelt den Kopf und sagt, sie sei eine Deutsche. Das interessiert die Männer nicht. Sie wiederholt es, dieses Mal auf Türkisch, doch die Soldaten ziehen sie am Arm und tragen sie mit sich. Bis auf ihre Rufe ist es still im Flugzeug. Nachdem die Gruppe zur Tür hinaus ist, hebt ein Raunen an, bald führt die ganze Maschine das gleiche Gespräch. »Sie ist eine Journalistin«, sagt einer, »sie ist eine Verräterin«, ein anderer.

Der Asphalt auf der Otoyol 4, der Autobahn, die Ankara mit İstanbul verbindet, ist hellgrau wie Küstensteine. Der Fahrer jagt das Taxi über die glatte Straße. Ich kann mich nicht erinnern, in İstanbul schon einmal so lange ohne Unterbrechung gefahren zu sein. Ich halte Ausschau nach den anderen Wagen, die den Weg vor uns verstopfen müssten, aber es ist niemand da. Der Fahrer und ich schütteln ungläubig die Köpfe. Schließlich breche ich die unausgesprochene Abmachung des Schweigens. »So etwas gibt es doch nicht«, sage ich. Der Fahrer wirft mir einen Blick über den Rückspiegel zu. »So etwas gibt es nicht, nie«, sagt er. Das geht einige Sätze so, bis uns keine neue Formulierung für unsere Verwunderung einfällt. Wir verfallen in Schweigen, und beim Kreuz vor İçerenköy auch endlich in den vertrauten Stau.

»Na, wunderbar, alles beim Alten«, sagt der Fahrer, und ich lächle, aber wir sind ehrlich erleichtert darüber, wieder festzustecken. Es ist gut, wenn die Dinge sich so verhalten, wie man es von ihnen erwartet. Den Rest der Fahrt verbringen wir in Stille.

Als wir vor dem fünfstöckigen Haus halten, in dem ich wohne, springt der Fahrer heraus und hält die Tür für mich auf. Er trägt meinen Koffer bis vor den Fahrstuhl, drückt den Knopf des Stocks und senkt dann den Kopf zu einer kleinen Verbeugung. Die türkische Höflichkeit hat mir die letzten Tage lang gefehlt.

»Möge er immer freie Straßen haben wie wir«, sagt er und grinst und deutet auf meinen gewölbten Bauch. Im Hausflur ist es kühl.

Die Wohnung ist leer. Noch so eine Sache, die so ist, wie ich sie erwartet habe. Im Badezimmer steht der Tiegel mit meiner Gesichtscreme, den ich aus Versehen aufgelassen habe. Die Creme ist an den Rändern eingetrocknet. Die Fußmatte vor der Dusche liegt zusammengeknüllt in der Ecke, ich habe sie dorthin gelegt, bevor ich aufgebrochen bin, als Erinnerung, dass ich sie waschen muss, wenn ich wiederkomme. Im Kühlschrank stehen nur Butter, Marmelade und Joghurt, und in der Spülmaschine sind dieselben Teller und Tassen, nichts ist dazugekommen. Johan war wohl nicht ein einziges Mal hier.

İçerenköy ist auf der asiatischen Seite der Stadt. Wir sind auf einem seltsamen Weg in dieser Nachbarschaft gelandet. Johan war es wichtig, dass wir nicht in eines der Viertel ziehen, die von Expats und Touristen bewohnt werden. Cihangir, Tarabya oder gar Moda kamen daher für ihn nicht in Frage. Johan wollte weit weg von den Bars und europäisch anmutenden Cafés leben. Also zeigte der Makler uns eine Wohnung in İçerenköy, »sicher und sauber und modern«, womit er Recht behalten hat. Vielleicht hatte der Makler den Vorschlag als Scherz gemeint, denn er war erstaunt, als wir die Wohnung tatsächlich nahmen. İçerenköy ist unnötig weit von meiner Arbeit in der Nähe des Taksim-Platzes entfernt. Vielleicht hat der Makler gedacht, dass Europäer es sich gern schwer machen, um möglichst besonders zu sein. Sie ziehen in die abgelegensten Viertel in Berlin, Paris oder İstanbul, um die Städte bloß nicht zu gentrifizieren, um bloß mit der Gewissheit einzuschlafen, dass sie Teil der lokalen Kultur wären, im Gegensatz zu den anderen Zugezogenen. Wir sorgten sicherlich für einige Lacher in seiner Maklerstube.

Johan bekam die Beruhigung, die er wollte, außerdem sollte İstanbul auf Zeit sein. Auf Zeit seit über einem Jahr. Seit das Kind in mir wächst, gleitet das Jahr ins zweite. Wir sprechen nicht darüber, aber ich weiß, dass Johan mit jedem Monat ungeduldiger wird. Am Anfang war es ein Abenteuer für ihn, er hat die letzten Jahre an vielen verschiedenen Orten gelebt und wollte nicht nach Schweden zurück. Eine Zeit lang war es in Ordnung, dieses Leben, zu zweit in İstanbul. Es war zumindest nicht schlecht. Dann kam die Schwangerschaft. Kurz darauf schlug er vor, dass wir heiraten, und wieso sollten wir das auch nicht tun. Seit ein paar Monaten spüre ich, dass er wegwill. Einfach verschwinden kann er allerdings nicht, wegen des Kindes, der Heirat und des Viertels, das schließlich er ausgesucht hat. Stattdessen geht er aus.

»Ich bin unterwegs«, sagt er, oder auf meine Frage, wo er war: »Unterwegs.«

Die Zeit, in der er unterwegs war, wurde länger, manchmal bleibt er die ganze Nacht weg. Das erste Mal lag ich stundenlang wach, wartete, meine Gedanken ineinander verschlungen wie Schlangen, die ihre eigenen Schwänze fraßen, aber mit der Zeit habe ich mich an diesen Zustand gewöhnt, an die kühle Leerstelle im Bett, und jetzt ist mein Schlaf gleich, ob er da ist, oder nicht. Manchmal kommt er am frühen Morgen, legt sich neben mich und schläft sofort ein. Dann rieche ich sie. Pflaumen und Amber.

Fünf Tage habe ich in Deutschland verbracht. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Die Tage verschwimmen, nur einige Bilder sind deutlich.

Mein Vater neben der Messingschale mit dem Sand. Es ist seine Pflicht, als Erster in die Schale zu greifen. Doch er bewegt sich nicht. Die anderen sehen, wie erstarrt er ist, ihre Anspannung ist spürbar. Dabei ist gerade jetzt ein fester Ablauf wichtig. Also übernehme ich es, trete vor und werfe eine Handvoll Sand in das Grab. Es macht ein spritzendes Geräusch, als der Sand das Holz trifft, es hört sich falsch an, aber so macht man das nun einmal. Die Anspannung der Gäste fällt ab, meine nimmt zu. Wie mein Vater sich fühlt, kann ich nicht erraten. Sein Gesicht verharrt in einem Ausdruck, den man als Gleichgültigkeit auslegen könnte. Er hat sich vereist. Darin ist er gut, ich bin es auch.

Meine Hand auf seiner Schulter, der Stoff ist weich, er hat den Anzug für diesen Tag gekauft. Wir stehen so nah beieinander, dass ich sein Aftershave riechen kann. Muskat und Erde, genau wie früher. Der braune Sand klebt an meinen Händen, er ist fein und zerstäubt, wenn ich ihn zwischen den Fingern reibe. Die Absätze meiner schwarzen Schuhe versinken im Gras, und wir wechseln auf die Gehwegplatten. Das weite Kostüm hängt wie ein Sack an mir herunter. Es tut seinen Dienst, mein Vater hat den Bauch nicht bemerkt. Es ist ein warmer Tag, aber der Himmel ist grau und wölbt sich als eine Stahlkuppel über uns. Es geht kein Wind, den ganzen Tag schon nicht, und ich überlege, ob es früher im August Tage ohne Wind gab. Der beißende Geruch von Getreide in der Luft, die Silos müssen vollstehen. Rike hat an diesem Geruch erkennen können, wie die Ernte ausgefallen ist. Jelena hat es ihr nicht geglaubt, aber Rike hat jedes Mal recht behalten. Jeden Tag haben wir damals miteinander verbracht. Ob die beiden hier noch leben, weiß ich nicht. Ich bezweifle es. Nach der Schulzeit bleiben die wenigsten hier, nur wer einen Hof übernimmt, bleibt, und wer Getreide anbaut. Auch wir sind weggegangen, allerdings früher als die anderen.

Etwa zwei Dutzend Menschen sind zur Beerdigung gekommen. Die meisten von ihnen sind mir fremd. Mein Vater hingegen scheint sie alle zu kennen, doch er hat mir niemanden vorgestellt, und sie beachten mich nicht, bis auf eine Frau. Dauernd sucht sie meinen Blick, jedes Mal weiche ich aus. Ihre Augen haben etwas Durchdringendes, Fragendes, Vertrautes. Sie ist im Alter meines Vaters, ihre dunklen Haare sind an den Schläfen grau.

Der Sarg wird mit einer kleinen Maschine in die Erde gelassen. Die schwarze Plattform senkt sich mit einem surrenden Ton, ich frage mich, ob die Vorrichtung mit vergraben wird, oder ob man sie später wieder herausholt. Dann kommt ein Musiker, setzt sich auf einen kleinen Schemel und hebt eine Bağlama auf die Knie. Bevor er anfängt zu spielen, wirft jemand noch eine Handvoll Sand auf den Sarg. Es ist, als ob jedes Sandkorn einzeln auf dem weiß lackierten Holz aufprallt. Am liebsten würde ich mein Handy herausholen und nachsehen, woher dieser Sand kommt. Ob es Firmen gibt, die sich auf Grabsand spezialisiert haben, ob es verschiedene Ausführungen davon gibt, aus welchem Land er geliefert wird. Zumindest wird dieser Sand gesiebt, denn er ist sauber und frei von Steinen. In einer amerikanischen Serie habe ich gesehen, dass es Geräte gibt, Salzstreuern gleich, mit deren Hilfe man den Sand genau dosiert über die Toten streuen kann. Eine Prise Sand, exakt bemessen. Der junge Mann spielt gut, er kann die Töne ausreizen und das Zittern der Saiten in die Länge ziehen, seine Stimme ist kehlig und tief. Er singt auf Kurmancî. Ich kann das Lied nicht verstehen.

Der Arm meines Vaters auf meinen Schultern wird während des Lieds schwerer, als ob er sich erst jetzt richtig auf mir abstützt. Seine Lider zucken. Er weint nicht, das hat er die ganze Zeit nicht getan. Die Bağlama spielt, und die Musik löst das feste Grau des Himmels etwas auf. Weil ich ihm so nah bin, spüre ich, wie heiß seine Brust ist. Mir fällt eine Situation aus dem letzten Sommer ein, dem letzten Sommer in dieser Stadt. Meine Mutter war wütend auf mich gewesen, weil ich zu neugierig war. Sie hat in der Küche vor mir gestanden, ihr Gesicht verzerrt zu einer Grimasse. Hässlich sah sie aus in diesem Moment. Ich schäme mich, dass ich mich von allen Erlebnissen, die ich mit ihr hatte, ausgerechnet an dieses erinnere. Aber die Erinnerung ist ein Tier, das sich nicht zähmen lässt.

Die Frau lässt während der ganzen Zeremonie nicht die Augen von mir.

Im Lokal sitze ich neben meinem Vater. Nach dem Essen kommen Menschen an unseren Tisch, sie bleiben ein paar Minuten oder eine Stunde. Einige sprechen auf Kurmancî mit meinem Vater. Obwohl ich die Sprache nicht beherrsche, kann ich hören, wie schwer sie ihm über die Lippen kommt. In meiner Kindheit hat er noch regelmäßig gesprochen. Oft haben meine Eltern auf Kurdisch gesprochen, wenn es um etwas ging, das sie vor mir verbergen wollten. Zusammen sprachen wir Türkisch, aber auch viel Deutsch.

Irgendwann setzt sich die Frau neben meinen Vater. Sie wechseln ein paar Sätze auf Kurmancî, schweigen, wieder ein paar Sätze. Sie legt meinem Vater die Hand auf den Arm. Außer meiner Mutter hat das keine Frau bei ihm getan, zumindest habe ich es noch nie gesehen, und es ärgert mich, mit welcher Selbstverständlichkeit es geschieht. Nach einer Weile geht mein Vater aus dem Restaurant, um eine Zigarette zu rauchen. Die Frau bleibt neben mir sitzen. Mit glühenden Augen dreht sie sich zu mir. »Dilan«, sagt sie. Die vertraute Aussprache meines Namens, ganz so, als ob er ihr gehöre, als habe sie ein Anrecht darauf, ihn zu sagen. Dabei kennen wir uns nicht. Sie erwartet eine Antwort, eine Respektsbekundung, aber ich habe keine Lust, höflich zu sein. Als sie das Wort wieder an mich richtet, ist ihr Deutsch gebrochen.

»Kannst du dich an mich erinnern?«, fragt sie. Sie sieht meinem Vater ähnlich, die knollige Nase, das ovale Gesicht und die buschigen Augenbrauen. In ihrem Kinn ist die gleiche Kerbe, wie mein Vater sie hat, und ich habe sie auch. Ihre Finger sind lang und schlank, und diese Finger kommen mir tatsächlich vertraut vor.

»Als du krank wurdest und weg warst, im Inneren. Da hab ich euch geholfen. Die Monate. War oft bei dir im Zimmer. Wir hatten Angst um dich, wir alle. Monatelang bewusstlos, wegen, na ja, wer hat so etwas schon gehört«, sagt sie.

Ich konzentriere mich auf ihre Hände. Sie spricht von der Zeit nach dem Unfall. Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, zerfließen die Bilder.

Ich greife über den Tisch nach meinem Weinglas. Der Blick der Frau gleitet meinen Körper hinunter.

»Vierter Monat, oder fünfter?«, fragt sie.

Gerne würde ich aufstehen und verschwinden, aber mein Vater kann jeden Moment zurückkommen, und ich will nicht, dass er allein hier sitzen muss.

»Ihr hättet sie ordentlich beerdigen sollen«, sagt die Frau. Der Wein kratzt in meinem Hals, und beinahe muss ich ihn ausspucken, auf die Frau, das wäre doch gut. Stattdessen würge ich das Zeug herunter.

»Bitte?«, frage ich, meine Stimme stolpert. Sie verzieht die Mundwinkel.

»Peinlich ist das«, sagt sie und sieht mich nicht mehr an, ihr Blick geht aus dem Fenster. Sie meint die Beerdigung. Doch so stand es in ihrem Testament, sie wollte auf einem Friedhof in einem Sarg beerdigt werden, und auch den Platz hatte sie schon vor vielen Jahren reserviert, kurz nach dem letzten Sommer in dieser Stadt, als es dunkel um mich wurde und wir wegzogen von hier, um im Süden neu anzufangen. Weder mein Vater noch ich stellten ihren Wunsch in Frage, und wir verloren auch kein Wort darüber. Jetzt denke ich, wir haben es falsch gemacht. Die Beerdigung fühlt sich falsch an, vielleicht hätten wir ihren Wunsch ignorieren sollen. Möglich aber auch, dass sich die Beerdigung der eigenen Mutter immer falsch anfühlen würde.

Dass sie auf die alevitischen Bräuche verzichtete, wunderte mich nicht. Sonderlich religiös sind meine Eltern nie gewesen. Es gab ein Bild von Hazrat Ali, dem zentralen Heiligen der Aleviten, auf ihrem Nachttisch, aber nie habe ich meine Eltern beten sehen, und keiner von ihnen ist ins Cemevi gegangen, jedenfalls nicht mit mir.

»Und dein Vater muss es hinnehmen«, sagt die Frau.

»Wir haben alles getan, wie sie es in ihrem Testament geschrieben hat. Sie wollte es so«, sage ich.

Die Frau schnalzt mit der Zunge.

»Dein Vater muss auch im Tod noch machen, was sie will. Aber so war sie eben. Ein Sturkopf. So war es ja damals auch. Mit seiner Beerdigung«, sagt sie.

»Mit wessen Beerdigung?«, frage ich. Sie leckt sich über die dünnen Lippen. Dann schließen sich ihre Finger um meinen Unterarm. Ihr Griff ist fester, als ich erwartet habe, ihre Nägel schlagen sich in meine Haut. Sie untersucht mein Gesicht nach einer Regung.

»Er erscheint mir immer noch im Traum«, sagt sie. Mit einem Ruck entziehe ich meinen Arm. »Von wem, verdammt, reden Sie denn?«, frage ich mit einer Stimme, die fremd ist, nicht meine ist, sich in meine Kehle gekrallt hat.

»Von dem, der da neben deiner Mutter in der Erde liegt«, sagt sie.

Die Säure des Weins breitet sich in meinem Mund aus, es schmeckt nach Metall. Bevor ich antworten kann, werde ich von Rufen unterbrochen. Im Türrahmen des Lokals steht mein Vater, ich habe nicht mitbekommen, wie er hereingekommen ist. Um ihn sind Menschen versammelt. Drei Männer und zwei Frauen, um die zwanzig vielleicht. Sie sprechen auf ihn ein. Es scheint ein Streit zu sein. Die Frau neben mir schüttelt den Kopf.

»Respektlos, hier aufzutauchen«, sagt sie.

»Wer ist das?«, frage ich.

»Kriecher«, sagt sie.

Ihre Mundwinkel zucken, sie befeuchtet die Lippen. »Dass die es immer noch nicht lassen«, sagt sie. Ich sehe sie an, und mein Blick muss ihr verraten, dass ich nicht verstehe. Ihr Ausdruck ist beinahe enttäuscht.

Die Gruppe kommt meinem Vater näher. Er fängt meinen Blick auf, ich rücke den Stuhl zurück und stehe auf. Die Frau hascht nach meinem Arm, will mich zurückhalten. Es gibt keinen Plan, aber ich kann ihn nicht allein lassen. Als ich bei ihnen ankomme, gehen sie auseinander. Ihre Gesichter sind leer, kaum habe ich sie angesehen, sind sie schon wieder fort. Die anderen Gäste nehmen ihre Gespräche wieder auf. Mein Vater bleibt zurück, wenn die Gruppe ihn aus der Fassung gebracht hat, lässt er sich davon nichts anmerken. Schweigend gehen wir zu unserem Platz. Die Frau ist verschwunden. Er lehnt sich im Stuhl zurück, faltet die Hände im Schoß und lässt die Schultern hängen. Er ist einen Kopf größer als ich, das wird er immer sein, aber plötzlich wirkt er klein. Zum ersten Mal kommt er mir alt vor. Ich empfinde eine große Zärtlichkeit für ihn. Von jetzt an wird er allein sein, und ich kann ihm die Einsamkeit nicht abnehmen, weil ich einige Flugstunden entfernt lebe, in İstanbul. Von diesem Leben weiß er genauso wenig, wie ich über das Leben meiner Eltern weiß.

Später im Hotel gehen wir nebeneinander den Flur entlang. Bis vor seine Zimmertür bringe ich ihn. Als ich mich umdrehe, um auf mein eigenes Zimmer zu gehen, sagt er: »Sie wollte es ja so.«

Wir sehen einander an.

»Der Sand war vielleicht falsch«, sage ich.

Und er wieder: »So wollte sie es doch.«

Bevor ich antworten kann, ist er in seinem Zimmer verschwunden.

In der Minibar gibt es eine Flasche Wein. Der Alkohol macht mich benommen, weil ich seit Monaten nicht getrunken habe. Er nimmt den Möbeln und dem Zimmer die harten Konturen, macht meine Gedanken weich.

Schlafen kann ich in dieser Nacht nicht. Alle paar Minuten drehe ich mich auf die andere Seite. Hinter den Lidern kribbelt Erschöpfung, aber in meinem Körper ist Aufregung, nervöse Energie. Die Frau hat in meiner Erinnerung gewühlt. Der Sommer, der Unfall, das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, unser überstürzter Umzug, eine regelrechte Flucht. All das lässt sich nicht greifen. Es ist, als sei da, wo die Erinnerung sein sollte, nur etwas Asche.

Am Ende des Sommers, ich war fünfzehn, hatte ich einen Unfall und war einige Monate bewusstlos. Es gab nur Schwärze und Schatten, keine Geräusche, ab und zu eine Berührung. Als ich aufwachte, hatten wir die Stadt an der Nordsee verlassen und waren nach Süddeutschland umgezogen. Meine Eltern und ich redeten nie wieder über den Ort meiner Kindheit, als ob er mit einem Fluch belegt sei, der uns heimsuchen würde, sobald wir davon sprachen. Besonders meine Mutter wurde davon verfolgt. Wenn ich das Meer oder Jelena und Rike erwähnte, zuckte meine Mutter zusammen. Sie wurde zornig und sagte, ich solle nicht dumm daherreden. Manchmal verließ sie den Raum, wenn ich davon anfing.

In diesem Sommer hatte ich einiges herausgefunden und verstanden. Darauf habe ich keinen Zugriff mehr. Denn ich hatte dem Vergessen erlaubt, mich in Besitz zu nehmen, hatte es regelrecht geübt und zu einer Fähigkeit erklärt. Jetzt bin ich über dreißig. Manchmal kommen Fetzen, Bilder, Momente, aber ich weiß nicht, ob ich diesen Erinnerungen trauen kann. Ich habe so hart daran gearbeitet, sie zu vergessen, dass sie sich vielleicht verzerrt, verbogen, verwaschen haben.

Bilder meiner Mutter. Ihr entschiedener Gang. Die Falten ihres Ellenbogens. Der Schwung ihres Brauenbogens. Die Körperteile meiner Mutter.

Ich versuche, ihre Körperteile zusammenzusetzen, sie gänzlich vor mir zu sehen. Es gelingt mir nicht.

Vignettenhaft strahlen in der Dunkelheit des Hotelzimmers auf: ihre lackierten Nägel, die geschminkten Wangen, das Blau ihres Rockes, das Kräuseln ihrer Lippen beim Ausatmen.

Dann Schlaglichter ihres Inneren: ihre Verkerbtheit, der beerdigte Zorn, die Traurigkeit, ihre große Traurigkeit, die sichtbare, die unsichtbare.

Die Details der Mutter. Die Details des Sommers. Sie blinken auf, ich kann sie nicht halten.

II.

Die Sandsäcke könnten auf den ersten Blick Kartoffelsäcke sein, sie haben die gleiche raue Faser, das gleiche erdfarbene Gelb. Doch der Körper des Soldaten, der auf ihnen liegt, ist gerade. Wären es Kartoffelsäcke, wäre er krumm. Zwischen den Sandsäcken lugt der Lauf seines Gewehres hervor. Sand ist lautlos, ein Vorteil, wenn man aus dem Hinterhalt schießt. Der Soldat blickt von der Kamera weg, nach Osten. Vielleicht befindet sich sein Unterstand auf einem Hochhaus oder einem Turm, jedenfalls blickt er auf Sur hinab, die Altstadt von Diyarbakır. Es ist November 2015, und die Stadt steht in Flammen. Sie züngeln an Minaretten und Gebäuden, fressen sich in den uralten Basaltstein hinein. Dicker Rauch treibt durch die Straßen und dringt in die Wohnhäuser. Der Soldat beobachtet einen Panzer in der Gasse. Dann strahlt ein Lichtball an der Flanke des Gefährtes auf, ein Molotowcocktail. Der Panzer rollt weiter. Der Soldat blickt durch sein Zielfernrohr. Er sucht nach einer ausgestreckten Hand, einem Arm, der sich senkt, einem Körper, der sich in eine Gasse zurückzieht nach dem Wurf. Da, neben der zerbombten Kirche, läuft ein Jugendlicher. Ein junger Mann von vielleicht achtzehn Jahren. Seine dunkle Jacke ist bis oben hin geschlossen, sein Gesicht wird von einem schwarzen Tuch verhüllt. Der Soldat fixiert ihn, die Soldatenfinger rücken das Gewehr zurecht.

Schnitt. Die Kamera schwenkt von links nach rechts über eine Häuserfassade. Geschwungene Bögen tragen das Dach. Die Bögen sind mit schwarzen und weißen Steinen verziert, und in die Decken sind verschlungene Muster gemalt. Die Kamera fährt die Einschusslöcher im Gemäuer ab. Ganze Wandstücke sind herausgeschossen worden. Zoom. Eines der Einschusslöcher ist so groß, dass man hindurchsehen kann. Das Zimmer dahinter ist zerstört. Es wird sich um ein Schlafzimmer gehandelt haben, in einer Ecke steht ein Bett. Ansonsten sind in dem Zimmer nur Schutt und Unrat.

III.

Johan ist nicht mit auf die Beerdigung gekommen. Es war besser so, denn ich will nicht, dass mein Vater von ihm, der Hochzeit und der Schwangerschaft erfährt. Es ist nicht so, dass mein Vater etwas dagegen gehabt hätte, dass ich einen Schweden und keinen Kurden, Türken oder Deutschen geheiratet habe, ich denke, es wäre ihm egal, wen ich heirate, nur habe ich jede Gelegenheit versäumt, ihm davon zu erzählen, und jetzt fühlt es sich an, als sei es zu spät. Vielleicht will ich meinen Vater auch vor dem Schmerz bewahren, falls alles in sich zusammenfällt. Falls Johan geht und das Kind und ich allein zurückbleiben, oder falls ich es verliere, denn davon gehe ich aus, jeden Tag denke ich an diese Möglichkeit. Nein, es ist gut, wenn er nichts davon weiß, auf dieses Schweigen haben wir uns geeinigt, das Schweigen gibt Sicherheit, Klarheit, es tilgt jede Aufregung. Bald wird das Kind in dieses Schweigen kommen, wird viel von mir verlangen. Vielleicht mehr, als ich geben kann. Auch über diese Möglichkeit will ich nicht nachdenken; dass ich scheitern kann.

Ich horche in die Wohnung. Kein Mensch, kein Gespräch, nur das Rauschen des Viertels.

Das Rauschen und das Grölen der Fußballfans. Heute ist ein großes Fußballspiel, Fenerbahçe gegen Beşiktaş. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Hooligans laufen schreiend durch die Straßen. Dabei ist laut und auffallend zu sein in dieser Stadt nicht gern gesehen. Die İstanbuler haben sich darauf geeinigt, dass sie ruhig und melancholisch sind, und seit der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, wiegt die Decke über der Stadt noch schwerer. Vielleicht haben die lauten und wütenden Menschen İstanbul auch einfach schon lange verlassen. Oft habe ich das gedacht: dass İstanbul seit Gezi langsam verstummt.

Draußen neben unserem Haus ist ein Wettbüro, in dem sich die Fans heute versammeln. Yoldaş, der Besitzer, grüßt mich jeden Morgen. Manchmal gebe ich den Briefkastenschlüssel bei ihm ab, wenn ich weiß, Johan kommt vor mir nach Hause und braucht den Schlüssel. Wir haben nie einen zweiten machen lassen. In Yoldaş Wettbüro suchen die Männer nach Glück, Bestätigung, nach Sicherheit und Geld. Sie sind Anfang zwanzig und wissen nicht, wohin, also verfolgen sie den ganzen Tag die Tabellen. Yoldaş selbst wettet nie, und er hat mir anvertraut, dass er sich nicht einmal sonderlich für Sport interessiert. Aber in seinem vorherigen Geschäft machte er viele Schulden, die er jetzt begleicht, indem andere bei ihm Schulden machen.

Ich habe das Wettbüro nie betreten. Es ist ein Männerort. Yoldaş hätte sicher nichts dagegen, aber es wäre schlecht für sein Geschäft. Denn in einigen Räumen wollen die Männer unter sich bleiben. Es gibt Straßenzüge, in deren Wettbüros, Teehäusern und Rakıstuben getrunken und geraucht wird, es wird gespielt und gesprochen und geflucht, so wie überall in der Stadt, aber in diesen Straßen sollen die Frauen sich nicht aufhalten.

Am Anfang konnte ich nicht erkennen, an welchen Orten ich unerwünscht bin.

Dann begann ich, die Anzahl an Gebetsketten in den Händen der Männer vor den Cafés zu zählen und darauf zu lauschen, wie oft sie die Perlen durch ihre Hände gleiten lassen. Manchmal verrät auch die Rauchschwade der Zigaretten, dass ich mich fernhalten sollte. Seit mein Bauch anschwillt, bin ich an diesen Orten erst recht nicht willkommen. Es ist gut, zu wissen, wo man sein darf und wo nicht. Die unausgesprochenen Verbote habe ich schneller akzeptiert, als mir lieb ist. Würde meine Mutter sehen, wie widerstandslos ich meine Rolle in dieser Stadt angenommen habe, wie ich die Regeln angenommen habe, sie wäre enttäuscht. Mein Vater hat es mir allerdings so beigebracht. Früher hat er ab und zu gesagt: »Kein Ort der Welt ist sicher für eine Frau.«

In unserer Stadt in Norddeutschland hatte es ein einziges Männercafé gegeben. Er ging nie hin. Meine Mutter hingegen sagte, sie würde hingehen, wo sie wollte, sogar dort hinein. Letztlich verbrachte sie trotzdem die meiste Zeit im Haus.

Das Kind ist neugierig, wie es im Wettbüro und in den Cafés aussieht. Je nachdem, mit welchem Geschlecht es auf die Welt kommt, wird es lernen müssen, seine Neugier zu unterdrücken. Jedes Kind muss das lernen.

Im Gegensatz zu meiner Mutter schminke ich mich nicht und trage keinen Schmuck. Selbst wenn sie mehrere Tage nur im Haus verbrachte, war sie zurechtgemacht. Als Jugendliche habe ich damit begonnen, die Kleidung meiner Mitschülerinnen zu imitierten. Als Johan und ich hergezogen sind, musste ich meinen Stil an den der İstanbuler Frauen anpassen. Was in der deutschen Stadt, in der ich studiert habe und wo ich Johann kennenlernte, als unauffällig galt, kann in İstanbul sehr wohl auffallen. Dabei kommt es auf das Viertel an, durch das ich mich bewege. In einer Nachbarschaft können zu enge Jeans anrüchig wirken, in der anderen fallen sie negativ auf, weil man damit wie ein Bauerntrampel wirkt. Wer auf dem Taksim-Platz unterwegs ist, kleidet sich, wie er will. Die Menschen in meinem Büro, das in einer Nebenstraße der İstiklal liegt, sind modern angezogen, vor allem die Frauen, mit ihren hochhackigen Schuhen und den leicht transparenten Blusen. Doch wir wohnen in İçerenköy. Es ist ein alevitisches Viertel, es gibt viele Familien. Taksim ist weit entfernt. Durchsichtige Blusen wären fehl am Platz. Hier wohnen Menschen, von denen ich vermute, dass sie noch nie auf dem Taksim-Platz waren und auch kein Bedürfnis haben, ihn aufzusuchen. Mein Bedürfnis danach ist auch gering, aber ich muss hin, wegen der Arbeit. Die Kanzlei, für die ich arbeite, hat sich auf deutsches und türkisches Wirtschaftsrecht spezialisiert, und damit macht sie genug Geld, um sich das große gläserne Büro hinterm Taksim zu leisten. Wir beraten türkische Firmen, die mit deutschen handeln, und vertreten ihre Interessen. Es gibt nur eine Handvoll solcher Kanzleien, die Nachfrage ist groß. Der Putsch, der Ausnahmezustand, die Verhaftungen haben sich kaum auf den Handel ausgewirkt. Es kommen noch immer lukrative Aufträge rein.

An guten Tagen dauert es fünfzig Minuten mit dem Auto, anderthalb Stunden, wenn ich die Fähre nehme. Meistens ist es mir die Zeit wert. Das Schaukeln der Fähre beruhigt mich. Ich brauche ein Gewässer in der Nähe. Oft überlasse ich den Wagen Johan. Denn das ewige Feststecken im İstanbuler Verkehr gefällt mir besser, wenn ich nicht diejenige bin, die fährt. Außerdem bekomme ich jetzt, wo ich schwanger bin, sofort einen Sitzplatz angeboten. Die jungen Menschen springen regelrecht auf, wenn ich den Bus betrete. Das ist gut, es ist, als ob für die Dauer der Fahrt die Anonymität der Großstadt aufgehoben ist. Kurz befinde ich mich in Sicherheit und gehöre dazu. Ich mag auch die kurzen Gespräche auf der Straße, beim Einkaufen. Allein die Ansprachen, variierend nach Alter und Status, zeigen, dass wir einander beachten, einordnen, erkennen. Ich bin einsam in İstanbul. Aber die İstanbuler Einsamkeit ist die wärmste, die ich kenne.

Meine Brüste sind groß geworden. Weich und voll beugen sie sich nach unten. Der Bauch, der nach vorne strebt in einer Form, die mir anfänglich unnatürlich vorkam. Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel und betrachte mich. Es hat gedauert, bis ich mich an dieses Bild gewöhnt habe. Die schwangere Frau. Oft habe ich mich gefragt, ob das noch ich bin. Inzwischen habe ich gelernt, die Frage beiseitezuschieben. Es haben sich wichtigere Fragen aufgedrängt. Was ich machen werde, falls Johan eines Nachts nicht nach Hause kommt, und auch am nächsten Morgen nicht, und ich das Kind allein zur Welt bringen muss. Ob ich in diesem Fall lieber nach Deutschland gehen sollte. Oder die Frage, wie es werden soll, wenn er bleibt. Die nächsten Jahre um mich bleibt, in diesem Schweigen. Das Kind im Schweigen aufziehen. Oder wird er mit dem Kind sprechen, nur nicht mit mir. Wie lange kann das funktionieren.

Dass die Stille alles andere zwischen uns verdrängt hatte, merkte ich zu spät. Die Stille war schon ausgelegen, die Mulden darin perfekt an unsere Körper angepasst. Warm und fest war die Stille und so vertraut wie ein Mantel, den man vom Großvater erbt und dann selbst viele Winter trägt. Vielleicht war es bei meinen Eltern genauso. Die Jahre schritten voran, die Stille zwischen ihnen dauerte immer länger. Trotzdem lebten sie bis zum Ende im selben Haus. Die Wintermäntel in Deutschland müssen Schnee aushalten und Stille. Das Schweigen meiner Eltern hielt alle Jahreszeiten durch, viele Jahre lang. Wenn das meine Zukunft ist, dann muss ich mich wetterfest machen. Doch möglicherweise ist die Stille meiner Eltern eine andere als die zwischen Johan und mir. Johans und meine Stille ist beinahe eine Zirkusnummer. In dieser lauten Stadt zu wohnen und sich anzuschweigen, das ist wie eine schwierige Trapezübung. Vielleicht auch egal, welche Art der Stille man teilt, am Ende bleibt der Mund verschlossen.

Meine Kehle verengt sich. Übelkeit drängt nach oben, wie so oft in den letzten Wochen. Dann wirbelt es hoch und runter in meinem Körper, ich beobachte den Kampf der Organe, und an den unterschiedlichsten Stellen meines Körpers glüht der Schmerz auf. Wehren ist gefährlich für das Kind, also lasse ich es meist zu. Als es vorüber ist und ich meinen Mund mit Papier gesäubert habe, lehne ich den Kopf an die glatten Fliesen. Mein Atem beruhigt sich, ich will gerade die Spülung betätigen. Da sehe ich es. In der Toilettenschüssel, zwischen dem Erbrochenen, ist Blut. Ein paar rote Spritzer.

Eine SMS von Johan. Er kommt zum Abendessen. Am Anfang haben wir zusammen gekocht, trafen uns nach der Arbeit, kauften ein und kochten zu Hause. Er ist eigentlich Veganer. Aus Schweden ist er gewohnt, dass es für jedes Fleisch einen Ersatz gibt. Diese Lebensmittel gibt es hier nur in bestimmten Läden, zu denen man durch die halbe Stadt fahren müsste. Als klar wurde, dass ich fürs Kochen allein verantwortlich war, weil wir uns voneinander entfernten, wurde mir seine Ernährung egal, und ich griff auf die Gerichte zurück, die ich aus meiner Kindheit kannte. Sarmas, Dolma, Çiğ Köfte, Suppen, Reis, Salate. Seit der Schwangerschaft esse ich auch wieder Fleisch. Als ich mit Johan zusammenkam, hatte ich für eine Weile damit aufgehört. Wir haben nur einmal darüber gesprochen. Da haben wir uns nach der Arbeit in der Stadt getroffen, wir mussten zu einem Ultraschalltermin. Wir hatten noch etwas Zeit und setzten uns in ein Restaurant. Ich wusste, dass die Mantı dort gut waren, Kollegen hatten sie empfohlen. Eigentlich hatte ich mich schon für Bohnen und Reis entschieden, doch als der Kellner vor mir stand, bestellte ich Mantı. Die mit Hackfleisch gefüllten Nudeln kamen mit Joghurt und Buttersauce. Johan sah zu, wie ich sie verschlang. Erst, als ich den letzten Bissen nahm, sagte er, dass ich meinen Körper langsamer wieder ans Fleisch gewöhnen sollte, sonst könnte mir schlecht werden. Das war seine Art der Zustimmung.

Es ist nicht so, dass er gar nicht spricht, obwohl man ihn nicht als gesellig bezeichnen kann. Wenn ich ein Thema finde, das ihn interessiert, kann er manchmal ohne Unterlass sprechen. Doch die wichtigen Sätze bleiben ungesagt. Die entscheidenden Sätze sind verschüttet. Manchmal sind sie so gut versteckt, dass mir erst Tage später klar wird, was er gemeint hat. Meist jedoch kann ich das Unausgesprochene erkennen. Dieser Zwischenraum, in dem nichts benannt wird, ist mir vertraut. So ähnlich wir kommunizieren, so unterschiedlich sehen wir aus. Wir waren von Beginn an ein ungleiches Paar. Johan ist jemand, der auffällt. Mit seinen knapp zwei Metern überragt er die Männer in İstanbul. Dann sind da noch sein androgynes Gesicht und die weißblonden Haare, die er bis vor einigen Monaten lang trug, bis auf die Schulter fielen sie ihm. Am meisten fallen aber seine vielen Tätowierungen auf. Wir sind schon seit ein paar Monaten nicht mehr nebeneinander durch die Straßen gegangen, aber als wir es taten, drehten sich alle Köpfe nach uns um. Wenn ich allein unterwegs bin, ist das nicht so. Seit wir in der Türkei leben, kann ich zum ersten Mal in der Masse unsichtbar werden. Das war in Deutschland nie möglich, vor allem nicht während meiner Kindheit. Doch in der Türkei erkennt niemand meine Fremdheit auf den ersten Blick. Johan hingegen kann nicht unsichtbar werden. Vielleicht hat er sich deswegen den ganzen Körper tätowiert, wie aus Trotz, wenn schon alle starren, dann erst recht. Seit wir hier sind, war er fünf Mal beim Tätowierer. Er mag ironische Tattoos. Das letzte, das er sich hat stechen lassen, ist eine gebrochene Hasenpfote auf seiner Brust, unter der »bad luck« steht. Am Anfang haben mich die Tätowierungen irritiert. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich mir sicher, er würde laut sein und viel Raum einnehmen. Doch so ist es nicht, im Gegenteil, den Raum, den er einnimmt, füllt er still aus, und manchmal, wenn wir im selben Zimmer sind und arbeiten oder lesen, kann ich vergessen, dass er überhaupt da ist. Dann blicke ich auf und erschrecke, wenn ich ihn sehe. Er ist ein sanfter Mensch, und in dieser Sanftheit steckt schon immer die Zurückgezogenheit. Einmal hat er mir gesagt, er spreche nur mit Menschen, weil der Moment danach so gut ist, der Moment, wenn er wieder allein gelassen wird. Am Anfang dachte ich, mit mir würde es anders sein. Mit mir sprach er viel, bis es sich schleichend änderte, und jetzt habe ich bei jedem Wort das Gefühl, dass er sich auf den Moment der Stille freut. Dass er darauf wartet, dass ich aufhöre zu sprechen. Vielleicht bin ich selbst nicht anders, denn ich kenne das Gefühl der Erleichterung, wenn die anderen weg sind, nur zu gut.