Zwischen den Arbeitswelten - Hans Diefenbacher - E-Book

Zwischen den Arbeitswelten E-Book

Hans Diefenbacher

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hans Diefenbacher, Oliver Foltin, Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser, Rike Schweizer und Volker Teichert, die alle tätig sind im Arbeitsbereich »Frieden und Nachhaltige Entwicklung« der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (FEST) behandeln in ihrem Sachbuch ›Zwischen den Arbeitswelten. Der Übergang in die Postwachtumsgesellschaft‹ die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Eine zukunftsfähige Ökonomie muss sich vor allem an ökologischen und sozialen Zielen orientieren. Die entscheidende Rolle bei diesem Prozess kommt dabei der Gestaltung des Arbeitslebens zu. Und dessen Transformation – von einem industriekapitalistischen hin zu einem gemeinwesenorientierten Leitbild – hat schon längst begonnen. Was bedeutet Arbeit für Menschen in unserer Gesellschaft? Wie und von wem wird sie organisiert und gestaltet? Und von welchen Wertvorstellungen wird sie geprägt? Wie entsteht Arbeitszufriedenheit und Arbeitsleid in der herkömmlichen Arbeitswelt – und wie wird sich dies in einer Postwachstumsökonomie verändern? Dieses Buch sammelt Antworten auf diese Fragen und zeigt nachdrücklich, was sich für die Arbeitswelt der Zukunft ändern muss. Ein Band aus der von Harald Welzer und Klaus Wiegandt herausgegebenen Reihe »Entwürfe für eine Welt mit Zukunft«. »Wir brauchen Zukunftsbilder, um unsere Handlungsspielräume zu kennen. So haben wir die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihres Fachs gebeten, konkrete Utopien zu entwerfen, die uns Mut zum guten Leben machen.« Harald Welzer & Klaus Wiegandt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 442

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Diefenbacher | Oliver Foltin | Benjamin Held | Dorothee Rodenhäuser | Rike Schweizer | Volker Teichert

Zwischen den Arbeitswelten

Der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort: Entwürfe für eine Welt mit ZukunftVorbemerkung1 Arbeit in der PostwachstumsgesellschaftTeil I Die Vergangenheit – Konzepte und Erfahrungen2 Zum Begriff der Arbeit2.1 Historische Grundlagen2.2 Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Volks- und Betriebswirtschaftslehre2.3 Zum Umgang mit dem Begriff der Arbeit3 Postwachstum3.1 Einleitung: Wachstum seit Beginn der Industrialisierung3.2 Wachstum und Wachstumsgrenzen in der Ideengeschichte der Ökonomik3.3 Ökologische Krise: Gründe für ein Ende des ›business as usual‹ der Wachstumsgesellschaft3.4 Hoffnungsträger Wirtschaftswachstum: Verbessern sich Lebensstandard, Zufriedenheit und Verteilungsgerechtigkeit?3.5 Auf dem Weg in eine Postwachstumsgesellschaft4 Konkrete Erfahrungen mit Arbeit in der Wachstumsgesellschaft4.1 Entwicklung der bezahlten Arbeit4.2 Entwicklung des Arbeitsschutzes und der sozialen Sicherung4.3 Veränderung der Arbeitsinhalte4.4 Veränderung der Arbeitsorganisation4.5 Entwicklung und Folgen der Arbeitslosigkeit5 Konkrete Utopien zur Zukunft der Arbeit – ein Rückblick5.1 Die Befreiung von Arbeit bei Gustav Landauer5.2 Martin Bubers ›Pfade in Utopia‹5.3 Kolonisierung der informellen Arbeit5.4 Das Autonomiekonzept von André Gorz5.5 Die Dritte Industrielle Revolution nach Jeremy Rifkin5.6 Die »Prosumenten-Ökonomie« als Verbindung von formeller und informeller Arbeit5.7 Das »Mehrschichtenmodell der Arbeit« von Orio Giarini und Patrick Liedtke5.8 Das Projekt »Neue Arbeit« von Fritjof Bergmann5.9 Das Modell einer »Halbtagsgesellschaft« von Carsten Stahmer6 Von der Theorie der Utopie zur Praxis von Arbeit und alternativen Lebensformen6.1 Zur Selbstorganisation im und gegen den Kapitalismus6.2 Erste Ansätze6.3 Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung6.4 Die Kibbuzbewegung6.5 Longo Maï6.6 Kommune Niederkaufungen6.7. Lokale Ökonomie, Lokale Agenda 21 und Transition Towns6.8 Die Mühen der EbenenTeil II Konkretionen – Arbeit in einer Postwachstumsgesellschaft7 Alles eine Frage des Eigentums?7.1 Proudhon und Marx, Mehrwert und Akkumulation7.2 Zur Fremdbestimmung über die »Ware Arbeitskraft« und mögliche Alternativen7.3 Industriekapitalistisches versus gemeinwesenorientiertes Wirtschaften7.4 Neue Wege7.5 »Eigentum und Vermögen in Arbeiterhand«7.6 Das jugoslawische Modell7.7 Die Eigentumsfrage in einer Postwachstumsgesellschaft8 Einkommen, Entlohnung, Anerkennung8.1 Zum Spannungsfeld zwischen monetärer und nichtmonetärer Entlohnung8.2 Bedarfsorientierte Grundsicherung8.3 Negative Einkommensteuer und Bürgergeld8.4 Bedingungsloses Grundeinkommen8.5 Erziehungsgehalt und Familienversicherung als Modelle zur Aufwertung von Erziehungsarbeit8.6 Grundrente8.7 … oder tauschen? Zeiteinheiten, Ressourcen, Komplementärwährungen8.8 Einkommensungleichheit8.9 Staatsfinanzierung – ›tax bads, not goods‹8.10 Anerkennung und Resonanz9 Arbeitsteilung9.1 Arbeitsteilung und Qualität der Arbeit9.2 Arbeitsteilung und ökologische Nachhaltigkeit9.3 Arbeitsteilung und Gerechtigkeit10 Bildung und Qualifikation10.1 Bildung, Qualifikation und die Veränderung der Arbeit10.2 Zur Verknüpfung von Qualifikation und Arbeit10.3 Die Rolle von Bildung und Qualifikation auf dem Weg in eine Postwachstumsgesellschaft10.4 Bewusstseinsbildung: Zeit und Konsum11 Formelle und informelle Arbeit – Aufhebung der Trennung?11.1 Zum Umfang und zur Verteilung von einzelnen Tätigkeitsfeldern im Rahmen der Haushaltswirtschaft11.2 Entwicklung der Haus- und Erziehungsarbeit seit Mitte der 1950er Jahre11.3 Zum Umfang von einzelnen Tätigkeitsfeldern im Rahmen der Selbstversorgungswirtschaft11.4 Zum Umfang von einzelnen Tätigkeitsfeldern im Rahmen der Selbsthilfeökonomie11.5 Zusammenfassung12 Arbeitszeit12.1 Der Kampf um den Achtstundentag12.2 Entwicklung der Arbeitszeiten seit 196012.3 Ursachen und Wirkungen flexibler Arbeitszeiten12.4 Arbeitszeitmodelle in der Praxis12.5 Weitere Differenzierungen von Arbeitszeitmodellen12.6 Individualisierung oder Standardisierung?12.7 Vielfalt der Möglichkeiten – oder doch nicht?13 Arbeitsproduktivität und Strukturwandel13.1 Unterschiede in der Arbeitsproduktivität13.2 Die Verheißung eines Öko-Kapitalismus13.3 Die große Hoffnung Dienstleistungsgesellschaft13.4 Strukturwandel durch Digitalisierung und Industrie 4.014 EmpfehlungenLiteraturKapitel 1: Arbeit in der PostwachstumsgesellschaftKapitel 2: Zum Begriff der ArbeitKapitel 3: PostwachstumKapitel 4: Konkrete Erfahrungen mit Arbeit in der WachstumsgesellschaftKapitel 5: Konkrete Utopien zur Zukunft der Arbeit – ein RückblickKapitel 6: Von der Theorie der Utopie zur Praxis von Arbeit und alternativen LebensformenKapitel 7: Alles eine Frage des Eigentums?Kapitel 8: Einkommen, Entlohnung, AnerkennungKapitel 9: ArbeitsteilungKapitel 10: Bildung und QualifikationKapitel 11: Formelle und informelle Arbeit – Aufhebung der Trennung?Kapitel 12: ArbeitszeitKapitel 13: Arbeitsproduktivität und StrukturwandelKapitel 14: Empfehlungen

Entwürfe für eine Welt mit Zukunft

Das 19. und 20. Jahrhundert waren die Epoche der expansiven Moderne. Immer weitere Teile der Welt folgten dem industriegesellschaftlichen und wachstumswirtschaftlichen Pfad, ihre Bewohnerinnen und Bewohner erlebten materiellen und vor allem auch immateriellen Fortschritt: Die Gesellschaften demokratisierten sich, wurden freiheitliche Rechtsstaaten. Arbeitsschutzrechte, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversorgung wurden erkämpft. Im 21. Jahrhundert, da die Globalisierung fast den ganzen Planeten in den wachstumswirtschaftlichen Sog gezogen, aber dabei keineswegs überall Freiheit, Demokratie und Recht etabliert hat, stehen wir vor der Herausforderung, den erreichten zivilisatorischen Standard zu sichern, denn dieser gerät immer mehr unter den Druck von Umweltzerstörung, Ressourcenkonkurrenz, Klimaerwärmung – um nur einige der gravierendsten Probleme zu nennen. Wie sieht eine moderne Gesellschaft aus, die nicht mehr dem Prinzip der immerwährenden Expansion folgt, sondern gutes Leben mit nur einem Fünftel des heutigen Verbrauchs an Material und Energie sichert? Das weiß im Augenblick niemand; einen Masterplan für eine solche Moderne gibt es nicht. Wir brauchen daher Zukunftsbilder, die die Lebensqualität in einer nachhaltigen Moderne vorstellbar machen und mit den Entwürfen einer anderen Mobilität, einer anderen Ernährungskultur, eines anderen Bauens und Wohnens die Veränderung der gegenwärtigen Praxis attraktiv und nicht abschreckend erscheinen lassen.

Deshalb haben wir für die Buchreihe »Entwürfe für eine Welt mit Zukunft« Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten, konkrete Utopien künftiger Wirtschafts- und Lebenspraktiken zu skizzieren. Konkrete Utopien, das heißt: Szenarien künftiger Wirklichkeiten, die auf der Basis heute vorliegender technischer und sozialer Möglichkeiten herstellbar sind. Erst vor dem Hintergrund solcher Zukunftsbilder lässt sich abwägen, welche Entwicklungsschritte heute sinnvoll sind, um sich in Richtung einer wünschenswerten Zukunft aufzumachen. Anders gesagt: Ohne Zukunftsbilder lässt sich weder eine gestaltende Politik denken noch die Rolle, die die Zivilgesellschaft für eine solche Politik spielt. Wenn Politik und Zivilgesellschaft wie Kaninchen vor der Schlange ausschließlich auf die Bewahrung eines fragiler werdenden Status quo fixiert sind, verlieren sie die Fähigkeit, sich auf ein anderes Ziel zuzubewegen. Sie verbleiben in der schieren Gegenwart, was in einer sich verändernden Welt eine tödliche Haltung ist.

Nach 18 Bänden der ebenfalls im Fischer-Taschenbuch erschienenen Vorgängerreihe, die unter großer öffentlicher Resonanz eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme des naturalen Status quo der Erde in den einzelnen Dimensionen von den Ozeanen bis zur Bevölkerungsentwicklung vorgelegt hat, wenden wir nun also den Blick von der Gegenwart in die Zukunft – in der Hoffnung, konkrete Perspektiven für die Gestaltungsmöglichkeiten einer nachhaltigen modernen Gesellschaft aufzuzeigen, Perspektiven, die der Politik wie den Bürgerinnen und Bürgern Mut machen, ihre Handlungsspielräume zu nutzen und Wege zum guten Leben einzuschlagen.

 

Harald Welzer & Klaus Wiegandt

Vorbemerkung

Das vorliegende Buch haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitsbereichs »Frieden und Nachhaltige Entwicklung« der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), die an Nachhaltigkeitsthemen forschen, gemeinsam verfasst. Es ist zwischen Anfang 2015 und April 2016 entstanden.

Angeregt und finanziell gefördert wurde das Projekt jedoch von Klaus Wiegandt, dem Begründer der Stiftung Forum für Verantwortung in Seeheim-Jugenheim, der diesem Thema auch Raum gab bei den von ihm mit veranstalteten Kolloquien »Wege aus der Wachstumsgesellschaft« in der Europäischen Akademie Otzenhausen. Wir danken Klaus Wiegandt sehr für seine Inspiration und seine Unterstützung.

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Buch war eine Tagung zum Thema »Ende des Wachstums – Arbeit ohne Ende«, die als vierte Tagung in der Reihe »Die Wirtschaft der Gesellschaft« im September 2015 in Heidelberg stattfand; die Tagungsreihe ist ein Gemeinschaftsprojekt des Nell-Breuning-Instituts der Hochschule St. Georgen, Frankfurt, und der FEST in Heidelberg. Die Vorträge und Diskussionen der Tagung haben uns wertvolle Anregungen für den vorliegenden Band geliefert; die Beiträge zu dieser Tagung werden gesondert veröffentlicht.

Bedanken möchten wir uns auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zum Buch entweder durch kurze Texte oder durch Mithilfe bei diversen Korrekturgängen beigetragen haben: Rainald Basfeld, Fiona Hauke, Sven-David Pfau und Franziska Strohmaier.

Schließlich gilt unser Dank Ulrike Holler vom Lektorat Sachbuch und Wissenschaft des S. Fischer Verlags, besonders für ihre Geduld und ihre Bereitschaft, sich auf unsere Vorstellungen einzulassen.

 

Heidelberg, 1. Mai 2016 (Tag der Arbeit)

Hans Diefenbacher, Oliver Foltin,

Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser,

Rike Schweizer, Volker Teichert

1Arbeit in der Postwachstumsgesellschaft

Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Die Diskussion dieser Frage hat ihre eigene Geschichte, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt hat, in der bestimmte Grundfragen aber immer wiederkehren. Sie ist gekennzeichnet von vielen Paradoxien und teilweise nur schwer auszuhaltenden Widersprüchlichkeiten. Menschen müssen arbeiten und empfinden ihre Arbeit oft als kaum zu tragende Bürde; doch fehlt die Arbeit einmal, ist auch dies für die Betroffenen eine besonders schwere Belastung – nicht nur, weil ihr Arbeitseinkommen ausfällt, sondern weil sie an der Arbeitswelt keinen Anteil mehr haben. Menschen strengen sich unablässig an, um Arbeitsprozesse zu erleichtern, sei es durch technische Neuerungen oder durch eine Verbesserung der Arbeitsorganisation. Erfolge werden dann aber nur selten in Erleichterungen umgesetzt. Meist produzieren die einen dann mehr als zuvor, und andere werden arbeitslos – und wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Produktionsmittel nicht selbst besitzen, profitieren in der Regel Dritte davon. Seit Beginn der Industrialisierung hat dieser Umstand immer wieder zu Kämpfen gegen arbeitssparende Technik geführt (Chevasseur-au-Louis 2006, Spehr 2000). Die Befürchtung, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe, kehrt in Wellen immer wieder auch in die akademische Diskussion zurück. So formulierte Hannah Arendt schon 1958:

»Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein? … Es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvollen Tätigkeiten, um derentwillen die Befreiung sich lohnen würde.« (Arendt 1958, 13)

Dabei reicht die Spanne von der Hoffnung auf paradiesische Zustände bis zu Warnungen vor einer apokalyptischen Zerstörung der Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Strukturen: Nach Albert Camus (1943) müssen wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Zu den Fragen (1) der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die die Arbeit eingebettet ist, (2) der Sinnstiftung durch Arbeit für die Arbeitenden selbst und (3) der Veränderung der Arbeitswelt durch Technik hat sich in den letzten Jahrzehnten eine weitere Dimension ungeklärter Fragen in den Vordergrund geschoben, die – das ist nicht schwer zu prognostizieren – im 21. Jahrhundert zunehmende Bedeutung erlangen werden. Zum einen wird es, je höher das Niveau von Produktion und Konsum in entwickelten Industriegesellschaften ist, umso schwieriger, in Zukunft weitere Wachstumspotentiale zu erschließen, für deren Realisierung dann Arbeitstätigkeiten erforderlich wären, die jene ausüben könnten, die durch technischen Fortschritt gerade freigesetzt wurden. In vielen Bereichen sind, was Produkte aber auch Dienstleistungen angeht, Sättigungsgrenzen erreicht oder zumindest in greifbarer Nähe. Zum anderen ist eine beliebige Ausdehnung der Produktion aus ökologischen Gründen nicht möglich, da an vielen Stellen »planetare Grenzen« der ökologischen Belastbarkeit und der Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen ebenfalls erreicht oder absehbar sind. Und selbst wenn es gelänge, Wachstumsprozesse vom Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen und von unerwünschten ökologischen Begleiterscheinungen wie dem Ausstoß von Schadstoffen weitgehend zu entkoppeln, so ist es doch höchst wahrscheinlich, dass es zu einer tiefgreifenden Veränderung der Arbeitswelt kommen muss, um sowohl den Sättigungsgrenzen als auch den ökologischen Grenzen Rechnung zu tragen.

Dass in den letzten beiden Jahrzehnten die Wachstumsraten des BIP im Schnitt niedriger wurden, ist nicht von der Hand zu weisen – siehe hierzu Kapitel 4. Der Versuch, durch politische Maßnahmen weiter hohe Wachstumsraten zu erzielen, hat nicht selten der Strategie geähnelt, einen heiß gelaufenen Motor zu reparieren, indem man noch mehr Gas gibt. Sinkt der Absatz? Dann eben noch mehr und billigere Produkte, auch wenn deren Herstellung mit hohen ökologischen Kosten und fragwürdigen Arbeitsbedingungen verbunden sind. Gibt es zu wenige Investitionen? Dann vielleicht noch mehr billiges Geld in den Markt pumpen, auch wenn dadurch neue Finanzblasen entstehen. Wachstumsraten, wie sie die traditionelle Ökonomie und Politik sich erträumen, sind in den letzten Jahren immer häufiger einfach ausgefallen – was in deren Argumentationslogik als Scheitern, wenn nicht gar als Vorbote einer Katastrophe empfunden wird, mit allen dazugehörigen Ängsten: Renten und Sozialleistungen könnten nicht mehr finanziert, Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden, und die internationale Wettbewerbsfähigkeit sei aufs äußerste bedroht. Das Schicksal der Industriegesellschaften wird so untrennbar mit der Fortsetzung des Wachstumspfades verknüpft, der in dieser Sicht, koste es was es wolle, weiter beschritten werden muss.

Wenn aber die oben ausgeführte These einer doppelten Begrenzung des Wachstums nicht völlig unwahrscheinlich ist, dann würde es bereits die ökonomische Rationalität verlangen, sich zumindest als Möglichkeit darauf einzustellen. Aufgabe wäre dann, einen Weg in eine Gesellschaft »nach« dem Wachstum zu entwerfen, der eben nicht als Debakel erscheint, sondern auf dem versucht wird, die Notwendigkeit der Einhaltung der planetaren ökologischen Grenzen mit einer möglichst hohen Lebensqualität für alle Menschen zu kombinieren – unter der Bedingung, dass die Wirtschaft, gemessen in Einheiten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf, nicht mehr weiter wächst oder sogar wieder schrumpft. Allerdings scheint das BIP gerade mit Blick auf eine Transformation in Richtung Nachhaltigkeit als Kennziffer nicht besonders geeignet zu sein, Erfolg oder Misserfolg der Veränderung der Wirtschaft zu messen. Bei einem zukunftsfähigen Umbau der Wirtschaft werden bestimmte Bereiche der Ökonomie stark schrumpfen, andere wachsen; das Resultat in Einheiten BIP sagt wenig aus. Aber solange sich die Diskussion in der Politik, den Medien und der Öffentlichkeit immer wieder stark auf das BIP fokussiert, kann der Begriff »Postwachstum« nicht völlig vom BIP entkoppelt werden, auch wenn sich in der Zwischenzeit eine weite Diskussion um alternative Formen der Wohlfahrtsmessung entwickelt hat (vgl. Diefenbacher/Held/Rodenhäuser/Zieschank 2016).

Eine Beschäftigung mit den Gestaltungsmöglichkeiten einer Postwachstumsgesellschaft wäre also bereits durch ökonomische Überlegungen allein ausreichend legitimiert. Darüber hinaus – und den ökonomischen Überlegungen vielleicht sogar vorgeordnet – stellt sich die Frage nach dem menschlichen Maß, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Es wird kaum mehr bestritten, dass der homo oeconomicus, dieses mit einfachen theoretischen Annahmen skizzierte gefräßige Wesen, das niemals satt oder gänzlich zufrieden wird, auch für die Ökonomie kein brauchbares Menschenbild darstellt. Die Frage, wie viel an materieller Ausstattung und Konsum für Menschen genug ist (Skidelsky/Skidelsky 2012, Durning 1992), führt moralphilosophische, ethische und sozialpsychologische Überlegungen erneut an die Ökonomie heran. Aber die Frage, wie viel genug ist, muss auch an die Quantität und – aus der entgegengesetzten Richtung – an die Qualität der Arbeit gestellt werden, die Menschen sich zumuten oder ertragen müssen. Der Kampf um den Achtstundentag war historisch bedeutsam und letztlich erfolgreich (o.Verf. 1890, Leuchten 1978), aber Multitasking, Refa-Prozeduren und andere Formen der Arbeitsverdichtung tun heute das Ihre, um den Erfolg wieder zu relativieren. Und schließlich kann die Frage auch an die Technikentwicklung gerichtet werden, vor allem dann, wenn sie Menschen überflüssig macht oder ihnen unzumutbare Arbeitsbedingungen aufbürdet (Mumford 1967). Durch »Arbeit 4.0« könnte diese Diskussion im 21. Jahrhundert erneut sehr intensiv geführt werden müssen (BMAS2015, Franken 2015).

Was dies für die Gestaltung menschlichen Arbeitens bedeuten könnte, davon handelt dieses Buch. Auch in einer Postwachstumsgesellschaft, so unsere zentrale These, wird Arbeit für Menschen einen zentralen Stellenwert haben. Um uns der Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten einer zukünftigen Gestaltung der Arbeitswelt in einer Postwachstumsgesellschaft anzunähern, umkreisen wir das Thema und nähern uns ihm aus verschiedenen Perspektiven. In TeilI beschäftigen wir uns mit Konzepten und Erfahrungen in den Bereichen »Arbeit« und »Wachstum«. Kapitel 2 schildert einige wichtige Stationen in der Geschichte des ökonomischen Denkens mit Blick auf Definitionen und auf das Verständnis der Bedeutung von Arbeit, insbesondere am Beispiel des Entstehens der Arbeitswertlehre, die für die Betonung des gesellschaftlichen Stellenwerts von Arbeit eine mindestens ebenso wichtige Bedeutung hat wie alle Formen einer religiös oder moralisch grundierten Arbeitsethik (Furniss 1924). Kapitel 3 zeigt die Entwicklung des Diskurses um Postwachstum und stellt dar, dass sich diese Diskussion bereits in vielfacher Weise ausdifferenziert hat (Koepp/Schunke/Köhler/Schröder 2015).

Kapitel 4 beschreibt die Entwicklung, die Arbeit in der auf Wachstum ausgerichteten Ökonomie genommen hat; hier wird der Boden bereitet, an dem sich die Veränderung in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft abzuarbeiten hätte. Die beiden folgenden Kapitel widmen sich dann den Utopien (Kapitel 5) und den konkreten Realisierungsversuchen (Kapitel 6) von Entwürfen, die sich als Alternativen zur kapitalistischen Arbeitsgesellschaft verstanden und teilweise auch noch verstehen. Die Erkenntnisse über das Gelingen, aber auch das Scheitern dieser Versuche könnten Anregungen zur Gestaltung der Zukunft geben – ebenso wie die Kenntnis der Utopien dazu beitragen kann, Theorien besser auf den Kontext ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beziehen.

In den ersten Kapiteln der vorliegenden Veröffentlichung werden somit viele Fragen grundsätzlich angesprochen, die sowohl Quantität als auch Qualität von Erwerbsarbeit, deren Verteilung, aber auch den Stellenwert anderer Formen der Arbeit betreffen. Die folgenden Fragen erscheinen dabei von besonderer Bedeutung:

Es gibt Sektoren oder Unternehmens- und Arbeitsformen, in denen die Verringerung des Arbeitseinsatzes durch Produktivitätssteigerungen eine geringere Rolle spielt. Wie lässt sich deren Potential zur Schaffung von Arbeitsplätzen nutzbar machen?

Lässt sich Arbeitslosigkeit gegebenenfalls auch bei stagnierendem oder schrumpfendem Volumen bezahlter Arbeit begrenzen, etwa durch strikte Regulierung entsprechender Arbeitszeitverkürzungen und Umverteilung der Erwerbsarbeit?

Welche Möglichkeiten gibt es, eine veränderte Basis für materielle wie immaterielle Bedürfnisbefriedigung zu schaffen – durch Erwerbsarbeit und über diese hinaus? Kann eine Relativierung des zentralen Stellenwerts der Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft dazu beitragen, mit einer drohenden »Unterbeschäftigung« auf andere Weise als bisher umzugehen?

Lassen sich auf die vorangehenden Fragen Antworten finden, die gleichzeitig zu einer sozial-ökologischen Transformation beitragen, also zu einem Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, der sowohl den Naturverbrauch auf ein dauerhaft tragfähiges Niveau begrenzt als auch sozial gerecht ist?

Wie bereits angesprochen, wäre es aus Sicht der Autoren und Autorinnen ein zu anspruchsvolles Programm, diese Fragen im vorliegenden Band abschließend beantworten zu wollen. Vielmehr sollen im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven einzelne Ansatzpunkte und Handlungsmöglichkeiten, aber auch Widersprüche aufgezeigt werden, denen man aller Voraussicht nach begegnet, wenn man sich auf den Weg in eine Gesellschaft »nach dem Wachstum« begeben will, die mehr ist als eine Wachstumsgesellschaft in der Rezession.

Um Bedingungen und Möglichkeiten der Gestaltung der Arbeitswelt in einer solchen Postwachstumsgesellschaft geht es im Teil II des Buches. Dabei besteht nicht der Anspruch, eine »wünschbare« Zukunft in Form einer konkreten Utopie so präzise wie nur möglich auszumalen. Stattdessen haben wir den Weg gewählt, eine Reihe von Themen aufzugreifen, von denen wir glauben, dass sie unter den Bedingungen einer Postwachstumsgesellschaft in jedem Fall diskutiert werden müssen, um den Menschen eine »Wiederaneignung« ihrer Arbeit (Schmidt 1984) zu ermöglichen, das heißt, an einer Arbeitswelt zu partizipieren, in der die planetaren ökologischen Grenzen eingehalten werden, in der Menschen weder über- noch unterfordert werden, in der sie sich selbst und den von ihnen wirtschaftlich abhängigen Personen durch ihre Arbeit einen angemessenen Lebensstandard finanzieren können, an der sie Freude haben und das Gefühl, etwas zu einem sinnvollen Ganzen beitragen zu können. Wir sind der Ansicht, dass in diesem Zusammenhang folgende Themen notwendig angesprochen werden müssen:

Die Frage der Eigentumsverhältnisse: Sind bestimmte Formen der Organisation der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel besser oder schlechter geeignet, um eine Postwachstumsgesellschaft zu realisieren? (Kapitel 7)

Die Frage des Einkommens: Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen die Voraussetzung für eine andere Organisation der Arbeit und ihrer Verteilung? Wie sollten Einkommen verteilt sein, und wie könnte das Verhältnis zwischen Arbeit und Entlohnung überhaupt sinnvoll aussehen? (Kapitel 8)

Die Frage der Arbeitsteilung: Seit der griechischen Antike ist die Funktion der Arbeitsteilung in der Diskussion (Xenophon, 34; Aristoteles, 55b) – wie weit soll sie gehen? In welchem Verhältnis steht Arbeitsteilung zu Konkurrenz und Kooperation als tragendes Gestaltungsprinzip der globalisierten Wirtschaft? (Kapitel 9)

Die Frage der Qualifikation: Ist Bildung in einer Postwachstumsgesellschaft ebenso stark auf die Verwertung in Arbeitszusammenhängen ausgerichtet wie zurzeit? Wie finden niedrig Qualifizierte ihren Platz in der Arbeitswelt, und wie werden die Probleme der Inklusion bewältigt? (Kapitel 10)

Die Frage der Trennung zwischen formeller und informeller Arbeit: Kann die Bedeutung der Erwerbsarbeit im Verhältnis zur Hausarbeit, Nachbarschaftshilfe und ehrenamtlicher Tätigkeit in einer Postwachstumsgesellschaft neu bestimmt werden? Kommt es zu einer Neubewertung reproduktiver Tätigkeiten, vielleicht gar zu einer anderen Einschätzung des Wertes von Muße? (Kapitel 11)

Schließlich die Frage der Arbeitszeit: Kommt es zu einer weiteren Erosion des Normalarbeitstages? Können die Menschen aus weit mehr Angeboten zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten wählen als bisher – und zwar sowohl in Bezug auf ihre Lebensarbeitszeit als auch auf Wochen-, Monats- und Jahresarbeitszeit? (Kapitel 12)

In Kapitel 13 finden sich Ausführungen zur Entwicklung von Arbeitsproduktivität und des Strukturwandels der Wirtschaft. Wenn sich die Struktur der Wirtschaft unter den jeweiligen praktischen Bedingungen einer Postwachstumsgesellschaft verändert, welche Auswirkungen könnte dies dann für die Arbeitsproduktivität, die Inhalte und die Organisation der Arbeit haben, die in diesen Bereichen geleistet wird?

In Kapitel 14, dem Schlusskapitel, werden einige Thesen aufgestellt, wie die nächsten Schritte auf dem Weg in eine Arbeitswelt der Postwachstumsgesellschaft aussehen könnten. Sie alle haben einen außerordentlichen Vorzug: Diese Schritte könnten sicher gegangen werden, bevor die Postwachstumsgesellschaft schon vollendete Realität ist. Würden sie aus der Nische in die breite Praxis der Arbeitswelt Einzug halten, so wäre eine lebenswerte Postwachstumsgesellschaft schon ein gutes Stück näher. Aber auch, wenn diese Schritte kritisch gesehen würden – in keinem Fall wird es möglich sein, die damit angesprochenen Fragen bei der Analyse und der Diskussion einer zukunftsfähigen Entwicklung der Gesellschaft außer Acht zu lassen.

Teil IDie Vergangenheit – Konzepte und Erfahrungen

2Zum Begriff der Arbeit

2.1Historische Grundlagen

Laut Brockhaus wird mit Arbeit der »bewusste und zweckgerichtete Einsatz der körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte des Menschen zur Befriedigung seiner materiellen und ideellen Bedürfnisse« beschrieben (Brockhaus 1987, 36). Schon aus dieser Definition wird deutlich, dass der Begriff nicht allein auf die Erwerbsarbeit reduziert werden kann, sondern sich auf die vielfältigen Formen der Arbeit zu beziehen hat, die im Haushalt, in der Familie, für Nachbarn und Verwandte, ehrenamtlich und freiwillig, erbracht werden. Im Weiteren wird daher zwischen formeller und informeller Arbeit unterschieden, also auf der einen Seite formelle Arbeit gegen Zahlung eines Lohns oder Gehalts und zum anderen nicht entlohnte, informelle Arbeit in und außerhalb des Haushalts. Wir gehen damit in diesem Buch von einem erweiterten Arbeitsbegriff aus.

Historisch gesehen ist (Erwerbs-)Arbeit ein zentraler Begriff der Menschheit, der sich im Laufe der Zeit grundlegend gewandelt hat. Noch im antiken Griechenland war er negativ konnotiert. Homer besang den Müßiggang des altgriechischen Adels als erstrebenswertes Ziel und betrachtete körperliche Arbeit als eine nur den Frauen, Sklaven und Knechten gemäße Tätigkeit. Auch Aristoteles unterschied zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, die sich gegenseitig ausschließen würden:

»Es geht nicht an, sich zugleich körperlich und geistig anzustrengen. Es liegt nämlich in der Natur dieser beiden Anstrengungen, dass sie entgegengesetzt wirken: Die körperliche Arbeit beeinträchtigt die geistige Arbeit und diese die körperliche Leistungsfähigkeit.« (Aristoteles, 1337b)

Körperliche Arbeit steht letztlich für Notwendigkeit, Monotonie, Entfremdung und Zwang. Für Aristoteles liegt der eigentliche Sinn des Lebens in der Muße.

Charakteristisch für die christliche Haltung zur Arbeit ist der wohl bekannteste Satz des Paulus: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen« (2. Thessaloniker Brief, 3,10). Mit der christlichen Betonung körperlicher Arbeit wird – wie sich am Zitat von Aristoteles zeigen lässt – ein fundamentales Kriterium sozialer Differenzierung und Diffamierung in der griechisch-römischen Welt aufgehoben. Im Zeitalter der Reformation und später im 17. und 18. Jahrhundert wurde entlohnte, formelle Arbeit schließlich als Legitimation von Eigentum und Quelle von Reichtum aufgewertet. In einer Predigt vom 27. Juni 1529 berief sich Martin Luther (1529, 442) ausdrücklich auf den oben zitierten Satz des Paulus. Müßiggang erklärte Luther hier zum Laster: »Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat. Zum anderen sündigst du gegen deinen Nächsten.«

Karl Marx unterzog den Begriff der Lohn- beziehungsweise Erwerbsarbeit schon in seinen Frühschriften einer deutlichen Kritik, indem er sie als Zwangsarbeit ausweist, der der Einzelne nur entfliehen könne.

»Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.« (Marx 1844, 514)

Trotz aller Kritik ist »nützliche Arbeit« für Marx das Wesen des Menschen schlechthin, denn sie ist »eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen« (Marx 1890, 57). Die informellen Arbeiten außerhalb der Erwerbsarbeit bleiben bei seinen Betrachtungen außen vor.

Diese Sicht auf die Arbeit inspirierte den Schwiegersohn von Karl Marx, den französischen Sozialisten Paul Lafargue, 1883, zur bekannt gewordenen Streitschrift Das Recht auf Faulheit mit den berühmten Eingangssätzen, die sich an der Diktion des Kommunistischen Manifestes orientierten:

»Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen gehende Arbeitssucht.« (Lafargue 1883, 5)

Lafargue plädierte für ein Gesetz, »das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten« und verknüpfte den Appell nach radikaler Arbeitszeitverkürzung mit der Devise »Arbeit und Enthaltsamkeit«.

»Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den gesellschaftlichen Reichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion. Dadurch, daß die Arbeiter den trügerischen Reden der Ökonomen Glauben schenken und Leib und Seele dem Laster Arbeit ausliefern, stürzen sie die ganze Gesellschaft in jene industriellen Krisen der Überproduktion, die den gesellschaftlichen Organismus in Zuckungen versetzen. Dann werden wegen Überfluß an Waren und Mangel an Abnehmern die Werke geschlossen, und mit seiner tausendsträhnigen Geißel peitscht der Hunger die arbeitende Bevölkerung. Betört von dem Dogma der Arbeit sehen die Proletarier nicht ein, daß die Mehrarbeit, der sie sich in der Zeit des angeblichen Wohlstands unterzogen haben, die Ursache ihres jetzigen Elends ist.« (Lafargue 1883, 40f.)

In späteren Schriften unterteilte Marx die Arbeit in die konkrete, auf die Herstellung eines bestimmten Produktes gerichtete Arbeit, die es in allen Gesellschaften gibt, und die abstrakte Verausgabung von Arbeitskraft im Kapitalismus, ungeachtet ihres Gebrauchswertes. Die Arbeit im Kapitalismus trägt nach Marx immer einen entfremdeten Charakter, und das nicht nur deswegen, weil die Arbeitenden keinen Einfluss auf Inhalte, Organisationsformen und die Ziele ihrer Arbeit hatten und die Produkte und Mittel der Arbeit ihnen nicht gehörten, sondern eben auch aufgrund der Arbeitsteilung, die dem Einzelnen den Blick auf das Ganze entzieht. Ziel der Arbeiterklasse sollte es daher sein, diesen Doppelcharakter der Arbeit und damit deren Entfremdung zu beseitigen (vgl. Oschmiansky 2010; Liessmann 2000).

»Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert. Alle Arbeit ist andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in besondrer zweckbestimmter Form, und in dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte.« (Marx 1867, 61)

Deshalb heißt es im dritten Band des Kapital von Marx auch:

»Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse [sich erweitern]; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.« (Marx 1894, 828; Hervorh. d. Verf.).

Nach Marx lässt sich entfremdete Arbeit nicht vollständig aufheben, selbst im »Reich der Freiheit« nicht, denn ein gewisses Maß an entfremdeter Erwerbsarbeit wird es immer geben, deshalb die Forderung nach der Veränderung der Arbeitsbedingungen und der Verkürzung des Arbeitstages.

Das Arbeitsleid zeigt sich auch im Bundeslied, das Georg Herwegh 1863 anlässlich der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der als Vorläufer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gilt, auf die Arbeiterklasse verfasst hat, und das 1886 erstmals in der Gedichtsammlung Vorwärts für das arbeitende Volk veröffentlicht wurde (Lavant 1886, 442f.):

Bet’ und arbeit’! ruft die Welt,

Bete kurz! denn Zeit ist Geld.

An die Thüre pocht die Noth –

Bete kurz! denn Zeit ist Brot.

Und du ackerst und du säst,

Und du nietest und du nähst,

Und du hämmerst und du spinnst –

Sag, o Volk, was du gewinnst!

 

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,

Schürfst im Erz- und Kohlenschacht,

Füllst des Ueberflusses Horn,

Füllst es hoch mit Wein und Korn.

 

Doch wo ist dein Mahl bereit?

Doch wo ist dein Feierkleid?

Doch wo ist dein warmer Herd?

Doch wo ist dein scharfes Schwert!

 

Alles ist dein Werk! o sprich,

Alles, aber Nichts für dich!

Und von Allem nur allein,

Die du schmiedst, die Kette, dein?

 

Mann der Arbeit, aufgewacht!

Und erkenne deine Macht!

Alle Räder stehen still,

Wenn dein starker Arm es will.

 

Deiner Dränger Schaar erblaßt,

Wenn du, müde deiner Last,

In die Ecke lehnst den Pflug,

Wenn du rufst: Es ist genug!

Brecht das Doppeljoch entzwei!

Brecht die Noth der Sklaverei!

Brecht die Sklaverei der Noth!

Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!

Friedrich Engels hat in seiner Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) die elenden Wohnquartiere der Arbeiter in den englischen Industriestädten und die Arbeitssituation des Proletariats beschrieben. Hier geht er auch auf Kinderarbeit, Berufskrankheiten und Sterblichkeitsraten ein. Schließlich zeigt er, wie die Arbeiterfamilien zusätzlich dazu gezwungen wurden, bei den Unternehmern Lebensmittel einzukaufen und in den von ihnen bereitgestellten Wohnungen zu wohnen, dem sogenannten Truck- und Cottagesystem:

»Truck heißt bei den Arbeitern das Bezahlen des Lohns in Waren, und dieser Zahlmodus war früher ganz allgemein in England. Der Fabrikant errichtete, ›zur Bequemlichkeit der Arbeiter und um sie vor den hohen Preisen der Krämer zu schützen‹, einen Laden, in dem für seine Rechnung Waren aller Art verkauft wurden; und damit der Arbeiter nicht etwa in andere Läden gehe, wo er die Waren billiger haben konnte – die Truckwaren des ›Tommy-Shop‹ pflegten 25 bis 30 Prozent teurer zu sein als anderswo –, gab man ihm auch wohl eine Anweisung auf den Laden für den Betrag seines Lohns anstatt des Geldes. … Das Cottagesystem sieht viel unschuldiger aus und ist auch auf eine viel unschuldigere Weise entstanden, obwohl es dieselben knechtenden Wirkungen für den Arbeiter hat. In der Nähe der Fabriken auf dem Lande fehlt es oft an Wohnungen für die Arbeiter; der Fabrikant ist oft genötigt, solche Wohnungen zu bauen, und tut es gern, da sie ihm reichlichen Nutzen auf sein ausgelegtes Kapital einbringen. Wenn die Eigentümer von Arbeitercottages etwa 6 Prozent jährlich von ihrem Kapital bekommen, so kann man rechnen, daß die Cottages dem Fabrikanten das Doppelte eintragen, da er, solange seine Fabrik nicht gänzlich stillsteht, immer Mieter hat, und zwar solche Mieter, die stets bezahlen. Er ist also von den beiden Hauptnachteilen frei, die die übrigen Hausbesitzer treffen: Er hat nie Cottages leer stehen und läuft kein Risiko. Die Miete einer Cottage ist aber darnach berechnet, daß sie diese Nachteile deckt, und wenn der Fabrikant also dieselbe Miete nimmt wie die übrigen, so macht er mit 12 bis 14 Prozent ein brillantes Geschäft auf Unkosten der Arbeiter.« (Engels 1845, 401ff.)

Wie wir später in Kapitel 5 sehen werden, ist die Überwindung des Arbeitsleids immer wieder das zentrale Motiv für Utopien zur Zukunft der Arbeit. Um diese Utopien zu verwirklichen, stehen zwei zentrale Wege im Vordergrund: Die Arbeiterinnen und Arbeiter können den Verkauf ihrer Arbeitskraft verweigern, oder die Arbeiterklasse kann sich ihrer Stärke bewusst werden. Ein weiterer Gesichtspunkt betrifft die vielfältigen Überlegungen zur Reduzierung der Arbeitszeit. »Vergrößerung des Zeitwohlstandes wird auch weiterhin zu den wichtigsten Gründen gehören, aus denen sich Menschen für Arbeitszeitverkürzungen einsetzen.« (Negt 2001, 166)

Der Arbeitsbegriff hat also höchst unterschiedliche Schattierungen. Auf der einen Seite stehen Ausbeutung, Elend und Not, auf der anderen Selbstverwirklichung und Wesensbestimmung des Menschen. An der Definition von Arbeit als außerhäusliches, bezahltes, rechtlich kodifiziertes, institutionalisiertes und sozial abgesichertes Beschäftigungsverhältnis wurde letztlich – wie sich später zeigen wird – das gesamte wirtschafts- und sozialpolitische Regelwerk der Industriegesellschaft festgemacht. Die gesamte soziale Sicherung basiert bis dato auf der Erwerbsarbeit; sie garantiert durch ihre enge Anbindung an die Sozialpolitik soziale Sicherheit.

Doch ihren allein bestimmenden Faktor für das Leben der Menschen hat die Erwerbsarbeit bereits heute verloren. Durch lebenslanges Lernen, das sich immer wieder in Bildungszeiten realisieren kann, durch den Wechsel von Teilzeit- zu Vollzeitarbeit und umgekehrt zu verschiedenen Phasen des Arbeitslebens und durch Unterbrechungen aufgrund von Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit, prekärer Beschäftigung und Phasen der Nichterwerbsarbeit ist die tatsächliche Bedeutung der Erwerbsarbeit rückläufig. Trotzdem hat sich diese Entwicklung in der individuellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung noch nicht angemessen niedergeschlagen.

2.2Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Volks- und Betriebswirtschaftslehre

Sowohl in der Volks- als auch der Betriebswirtschaftslehre ist Arbeit in der Form von Erwerbsarbeit nur ein Produktionsfaktor neben den anderen Faktoren Boden und Kapital. Unter dem Begriff Boden wurde ursprünglich fruchtbares Land im engeren Sinne subsumiert, dann aber wurde die Gewinnung von Rohstoffen in einem erweiterten Verständnis des Begriffs als natürliches Kapital mit einbezogen. Träger des Produktionsfaktors Arbeit sind Menschen. Die Produktion von Gütern nimmt ihren Ausgang bei den Rohstoffen, die die Menschen erst erschließen und ausbeuten. Für die Gewinnung der Rohstoffe müssen sie ihre Arbeitskraft einsetzen. Dieser Produktionsfaktor hat eine quantitative Seite – die Zahl der Arbeitskräfte – und eine qualitative Seite – die Qualifikation der Arbeitskräfte. Unterschieden wird beim Produktionsfaktor Kapital zwischen Sach- und Geldkapital. Das Sachkapital sind produzierte Produktionsmittel, also beispielsweise Gebäude, Maschinen und Werkzeuge, und nichtproduziertes Sachkapital, also natürliche Rohstoffe. Unter Geldkapital wird eine Geldsumme verstanden. Als allgemeines Tauschmittel kann Geld in Form von Investitionen in Sachkapital umgewandelt oder alternativ für Konsumzwecke verwendet werden.

In der herkömmlichen ökonomischen Theorie werden diese Faktoren als gleichwertig dargestellt; in der Realität ist dies allerdings nicht wirklich der Fall, da »Arbeit nur in der Kombination mit Boden und Kapitalgütern produzieren kann und somit die Besitzverhältnisse an diesen Faktoren auch über die soziale und ökonomische Stärke des jeweiligen Faktors im Verteilungskampf um das Sozialprodukt entscheidet« (Zinn 1972, 9).

Adam Smith (1776, 3) skizziert in seinem Standardwerk Der Wohlstand der Nationen den Produktionsfaktor Arbeit wie folgt:

»Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht. Sie bestehen stets entweder aus dem Ertrag dieser Arbeit oder aus dem, was damit von anderen Ländern gekauft wird. … Die Ursachen dieser Verbesserung in den produktiven Kräften der Arbeit untersuche ich im ersten Buch, ebenso die Ordnung, nach der sich der Ertrag der Arbeit natürlicherweise auf die einzelnen Schichten und nach der sozialen Stellung der Menschen verteilt.«

In der heutigen Volks- und Betriebswirtschaftslehre wird der Produktionsfaktor Arbeit in erster Linie als Kostenfaktor gesehen, der maßgeblich die Wettbewerbsfähigkeit einer Organisation respektive einer Volkswirtschaft beeinflusst. Die Diskussion über die Konkurrenzfähigkeit des Produktionsfaktors Arbeit ist dabei eng verknüpft mit der jeweiligen Entwicklung der Arbeits- und Lohnstückkosten eines Landes.

Bei den Arbeitskosten je geleistete Arbeitsstunde in der Privatwirtschaft – Produzierendes Gewerbe und Dienstleistungen – lag Deutschland 2014 mit 31,90 Euro je Stunde oberhalb des EU-28-Durchschnitts von 24,60 Euro und des Euroraums von 28,90 Euro. An der Spitze stehen Dänemark mit 42,10 Euro, Belgien mit 41,10 Euro und Schweden mit 40,10 Euro; das Ende bilden Tschechien mit 9,60 Euro, Polen mit 8,10 Euro und Ungarn mit 7,90 Euro. Deutschland liegt damit am unteren Ende der sogenannten EU-Hochlohnländer (IMK2015, 2f.). Die Kosten je Arbeitnehmer sind in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern zwar teilweise deutlich höher, allerdings ergibt sich ein etwas anderes Bild, wenn man die Arbeitskosten in Relation zur Arbeitsproduktivität setzt. Mit diesen sogenannten Lohnstückkosten wird der Anteil der Arbeitskosten an der Produktion aufgezeigt. Dargestellt werden die Lohnstückkosten dabei als Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen. So ist es möglich, Angaben darüber zu machen, ob etwa steigende Arbeitskosten die Konkurrenzfähigkeit von Organisationen wirklich negativ beeinträchtigen, oder ob durch eine Zunahme der Produktivität die Steigerung der Arbeitskosten ausgeglichen werden können. Die Lohnstückkosten sind in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren auf einem recht konstanten Niveau geblieben und waren vor der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 zeitweise sogar rückläufig, wodurch sich die Wettbewerbsposition Deutschlands insgesamt verbessert hat. In der Zeit von 2008 bis 2011 erfolgte – auch als Nachwirkung der Krise – eine recht wechselhafte Entwicklung mit Zunahmen und Rückgängen. Seit 2011 haben die Lohnstückkosten in Deutschland über vier Jahre hinweg kontinuierlich zugenommen – so hatten sie 2014 einen Anstieg um 1,6 Prozent zu verzeichnen (IW2015, 51). Ein Anstieg der Lohnstückkosten und deren Folgen auf die Wettbewerbsfähigkeit werden allerdings recht unterschiedlich interpretiert: Während die arbeitgebernahe Seite konzediert, dass »kein Kostenvorteil gegenüber dem Ausland festzustellen ist« (Schröder 2013), wird von gewerkschaftsnaher Seite festgestellt, dass »weiterhin gegenüber dem Euroraum-Durchschnitt ein deutlicher Vorteil bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit« (IMK2015, 12) bestehe.

Der Arbeitsbegriff ist zudem meist eng mit dem Menschenbild des homo oeconomicus verbunden. Die dort getroffenen Annahmen lassen den Menschen als jemanden erscheinen, der »nur durch wirtschaftliche Determinanten zur Arbeit motiviert werden kann« (Schweitzer/Baumeister 2015, 16), also einen maximalen Lohn, verbunden mit einem minimalen Arbeitsaufwand, präferiert. Die Motivation zu arbeiten erfolgt insbesondere durch die Zahlung eines Lohns; eigene Ziele kommen dabei nicht zum Tragen, sondern sind lediglich Teil des Privaten. Das Modell des homo oeconomicus stößt in der Wirklichkeit allerdings schnell an seine Grenzen. Der Aspekt, dass Menschen soziale Wesen sind, bleibt vollkommen unberücksichtigt; damit kann die Theorie des homo oeconomicus einen wichtigen Grund dafür, dass sich die Motivation zu arbeiten nicht nur aus der Entlohnung ableitet, nicht berücksichtigen. Im Gegensatz dazu spielt Arbeit und die Motivation zu arbeiten, insbesondere auch als eine wichtige Form der Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung, für die Menschen auch jenseits der monetären Entlohnung eine große Rolle (Schweitzer/Baumeister 2015, 16f.).

Auch aus diesen Überlegungen ist das Bild des sogenannten Wirtschaftspartners entstanden, der sich auf Grundlage von gesetzlich vereinbarten und freiwilligen Mitbestimmungsrechten und Sozialpartnerschaften in die Unternehmen einbringt und in Bezug auf den Arbeitsplatz beziehungsweise dessen Inhalte und Formen sowie das Arbeitsumfeld Einfluss auf deren Gestaltung nimmt. Auch dieses Umfeld ist wiederum mit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung und einem Wandel im Laufe der Zeit verbunden und wird durch die immer wieder in neuen Konstellationen zu betrachtenden Themen wie technischer Fortschritt, Globalisierung, Grenzen des Wachstums, Recht auf Faulheit beziehungsweise auf Arbeit dauernd im Umbruch und in einer Weiterentwicklung bleiben (Schweitzer/Baumeister 2015, 16ff.).

Dabei ist auch die Arbeit per se immer einem Wandel unterzogen. Im Laufe eines Erwerbslebens können nicht nur Arbeitsplätze und Unternehmen gewechselt werden, sondern es können sich durchaus auch grundlegend die Tätigkeiten und Aufgaben – etwa als Folgen des technischen Fortschritts – wandeln. Die Frage nach der Zukunft der Arbeit ist heute noch genauso aktuell wie in den 1980er Jahren, als es in den gesellschaftlichen Diskussionen etwa um Auswirkungen der Entwicklung hin zu einer immer kleineren Anzahl von sogenannten Arbeitsplatzbesitzenden gegenüber einer steigenden Zahl von Arbeitslosen sowie um die Wende einer Arbeits- hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft ging. Damals wurde zum ersten Mal als bedeutender Aspekt der Debatte die Unsicherheit erörtert, dass, »je weniger Lohnarbeit in Zukunft möglich sein wird, desto wichtiger … andere Tätigkeiten [werden]« (Atteslander 1985, 10f). Zum ersten Mal gewann die Überlegung an Bedeutung, dass künftig Wohlstand möglicherweise darin bestehen könnte, überhaupt einer Arbeit nachgehen zu können. Verbunden war diese Diskussion auch mit der Forderung, das Recht auf Arbeit verfassungsrechtlich festzulegen (Ramm 1985, 34f.). Nimmt man von dieser Forderung Abstand, wie das in den heutigen Debatten überwiegend der Fall ist, dann werden eher verschiedene Modelle geldlicher Unterstützungssysteme wie etwa eine bedarfsorientierte Grundsicherung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen oder die Grundrente diskutiert (siehe hierzu Kapitel 8).

2.3Zum Umgang mit dem Begriff der Arbeit

Arbeit ist also ein schillernder Begriff, obwohl durchaus lexikalische Definitionen zu finden sind. Arbeit kann größte Mühe und Elend bedeuten und auf der anderen Seite höchste Erfüllung und Selbstverwirklichung. Sie kann für Menschen der Lebensinhalt schlechthin sein oder das vernichten, was in ihren Lebensplänen wichtig war. Eine ganze Wissenschaft wurde etabliert, um zu erforschen, wie Arbeit möglichst effizient und gewinnbringend eingesetzt werden kann – nur bleibt im konkreten Fall dann immer die Frage, wem der Gewinn zufließt. Zu arbeiten, seine Fähigkeiten einzusetzen, ist eine tiefverwurzelte, durch Ethik begründete Forderung; aber auch hier bleibt zunächst offen, ob die Arbeit den Mitmenschen direkt zugutekommen soll oder ob die Vermittlung über ein Marktgeschehen dies genauso gut – oder sogar besser – erfüllen kann. Jedenfalls ist Arbeit ein zentrales Element, um Wohlstand und Wohlfahrt in einer Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten, wobei die Art und Weise, wie sie organisiert und eingesetzt wird, von entscheidender Bedeutung ist.

Die genannten Paradoxien sind mit verantwortlich dafür, dass es nicht einfach ist, den Begriff der Arbeit angemessen zu verwenden, denn wie sie betrachtet wird, hängt eng mit individuellen und gesellschaftlichen Maßstäben, Normen und Zielsetzungen zusammen. Aber sie ist eben nicht nur Mittel zum Zweck, sondern begründet auch solche Normen und Zielsetzungen mit. Damit ist ihre Entwicklung eingebettet in Vorstellungen der Gestaltung individueller und gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe, etwa der einer Postwachstumsgesellschaft. Deren Begründungslogik und die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Gestaltung werden im folgenden Kapitel dargestellt.

3Postwachstum

3.1Einleitung: Wachstum seit Beginn der Industrialisierung

Seit dem Einsetzen der Industrialisierung im 18. Jahrhundert erlebt die Welt einen rasanten Wandel, der von enormen Zuwächsen gekennzeichnet ist. Waren um 1700 etwa 95 Prozent der weltweiten eisfreien Landflächen Wildnis oder nur geringfügig von Menschen genutzt, galt dies im Jahr 2000 nur noch für 45 Prozent der Fläche. Mehr als die Hälfte war in Weide- und Ackerflächen und menschliche Siedlungen einschließlich eines wachsenden Anteils dichtbesiedelter urbaner Gebiete umgewandelt worden (Ellis et al. 2010). Die Weltbevölkerung wuchs – dank der Fortschritte bei Hygiene, Medizin und Lebensmittelversorgung – von einer Milliarde Menschen um 1800 auf heute über sieben Milliarden, und die am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessene Wirtschaftsleistung nahm nach Schätzungen des Maddison Project[1] in dem ähnlichen Zeitraum von 1820 bis 2010 gar um rund das 70-fache zu (siehe auch Infokasten 1). Buchstäblich befeuert wurde dies durch Steigerungen des Energieverbrauchs, der 2008 etwa das 20-fache des Verbrauchs von 1820 betrug (Smil 2010).[2] Dabei setzte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine »große Beschleunigung« (Hibbard et al. 2006) ein (Abb. 1, folgende Doppelseite): Ob BIP, Materialverbrauch, internationale Investitionen, Telekommunikationsverbindungen, motorisierter Verkehr oder Zahl der in Städten lebenden Menschen: Die Kurven weisen ab 1950 steil nach oben.

Abb. 1:

Veränderungen menschlicher Unternehmungen zwischen 1750 und 2000. Die große Beschleunigung zeigt sich deutlich in jeder Komponente der menschlichen Unternehmungen, die hier in der Abbildung dargestellt werden. Entweder gab es diese Unternehmung vor 1950 noch nicht – zum Beispiel ausländische Direktinvestitionen – oder die Veränderungsrate stieg kurz nach 1950 stark an – zum Beispiel die Bevölkerungszahlen. Quelle: Steffen et al. 2007

Auch wenn diese Entwicklungen zwischen Ländern, aber auch innerhalb von Gesellschaften von großen Diskrepanzen geprägt waren, erweiterten sich damit die Konsummöglichkeiten für eine wachsende Zahl von Menschen exponentiell. Mehr noch: Das damit verbundene Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell »brachte den Angehörigen frühindustrialisierter Gesellschaften Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz vor körperlicher Gewalt sowie Wohlstand, Gesundheit, Bildung und soziale Fürsorge auf einem bislang unerreichten Niveau« (Sommer/Welzer 2014, 46). In den westlichen Industriestaaten schlug sich dies nicht zuletzt in populären Bezeichnungen der Nachkriegsjahrzehnte als die »Wirtschaftswunderjahre« oder »Trente glorieuses«[3] nieder und verankerte einen breiten gesellschaftlichen »Wachstumskonsens« (Steurer 2002, 52). Es nimmt daher nicht wunder, dass weltweit viele Menschen die massive Expansion der Wirtschaftstätigkeit, die immer mehr Weltregionen erfasst, mit der Hoffnung auf steigenden materiellen Wohlstand und ein gutes Leben verbinden.

Infokasten 1: Wirtschaftswachstum seit der Industrialisierung

Das heute gängige Maß für das Wachstum der Wirtschaft ist die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Für Deutschland zeigt sich von 1850 bis 2010 preisbereinigt eine Vervielfachung auf das 35-fache, wobei Daten über einen solch langen Zeitraum immer mit Vorsicht interpretiert werden sollten.[4] Dabei war die industrielle Revolution gleichzeitig von einem enormen Bevölkerungswachstum gekennzeichnet, das durch die Erhöhung der Zahl der Arbeitskräfte zum einen Voraussetzung für das wirtschaftliche Wachstum war, zum anderen durch die mit dem Wirtschaftswachstum einhergehende erhöhte Produktivität erst ermöglicht wurde. Bezieht man dieses Bevölkerungswachstum ein und berechnet das Wirtschaftswachstum pro Kopf, fällt die Steigerung geringer aus. Das durchschnittliche BIP pro Kopf liegt in Deutschland heute aber immerhin etwa vierzehnmal höher als im Jahr 1850.

Ein genauerer Blick auf kleinere Zeiteinheiten zeigt allerdings ein differenzierteres Bild. Gerade zu Beginn der Industriellen Revolution kam es zu einer Verelendung großer Teile der Bevölkerung, die sich aus dem Übergang von der Agrar- zur sich urbanisierenden Industriegesellschaft ergab und mit den Begriffen des »Pauperismus« und im weiteren Sinne der »sozialen Frage« beschrieben wurde. Erst in zahlreichen, teilweise

auch blutigen Arbeitskämpfen erstritten sich die Arbeiter einen größeren Anteil an den Wachstumsgewinnen. Zudem war die »gerechtere« Entlohnung notwendig, um weiterhin hohe Wachstumsraten erzielen zu können, da nur so die notwendigen Absatzmärkte geschaffen wurden. Die Weichen waren damit in Richtung der heutigen Konsumgesellschaft gestellt.

Bezieht man sich auf die realen Wachstumsraten pro Kopf – also die relativen Zuwächse – seit dem Zweiten Weltkrieg, ist außerdem ein stetiger Rückgang zu beobachten: In den 1950er Jahren lagen die Wachstumsraten durchschnittlich bei etwa 8 Prozent, in den 1960ern bei gut 4 Prozent, in den 1970ern bei knapp 3 Prozent, den 1980ern und 1990ern bei etwa 2 Prozent und im Durchschnitt 2000 bis 2014 nur noch bei etwa 1 Prozent (Statistisches Bundesamt 2016).

Vor dem Hintergrund dieser Dynamik und des legitimen Anspruchs von mehreren Milliarden Menschen auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen scheint ein Ende des Wachstums auf den ersten Blick keine Option. Warum also über eine »Postwachstumsgesellschaft« nachdenken? Tatsächlich gilt es zu differenzieren: zwischen der Situation der globalen Mittel- und Oberschichten und derjenigen in relativer und absoluter Armut, zwischen weltweiten Trends und regional unterschiedlichen Entwicklungen und nicht zuletzt den vielfältigen und oft ambivalenten Formen von Wachstum und Beschleunigung. Denn bekanntermaßen zeigt nicht nur die »Wohlstandskurve« nach oben, auch Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen wachsen und führen immer häufiger zu globalen Schäden und irreversiblen Verlusten. Gleichzeitig profitieren nicht alle von den Erträgen – schon gar nicht gleichermaßen. Und während die Lebenserwartung in den frühindustrialisierten Staaten weiter steigt, nimmt die Zahl gesunder oder gar glücklicher Lebensjahre durchaus nicht in gleichem Maße zu. Der in den letzten Jahren zu verzeichnende Rückgang der Wachstumsraten in den Industrieländern lässt überdies vermuten, dass zumindest exponentielles Wirtschaftswachstum in Zukunft eher unwahrscheinlich ist. Nach wie vor dominierende Zielgrößen von 2 Prozent oder 3 Prozent BIP-Zuwachs pro Jahr könnten kaum noch zu erreichen sein. Wie noch auszuführen sein wird, sind es Beobachtungen wie diese, die auch der jüngsten Welle der Wachstumskritik und Überlegungen zu Wirtschaft und Gesellschaft »nach dem Wachstum« zugrunde liegen. Sie kontrastieren mit der ungebrochenen Überzeugung besonders in weiten Teilen der Wirtschaftswissenschaften, es gebe keine prinzipiellen Hindernisse für ein noch sehr lange fortgesetztes Wirtschaftswachstum, sondern allenfalls praktische, die es aufgrund der herausragenden Bedeutung von Wachstum für das gesellschaftliche Wohlergehen zu überwinden gilt.

3.2Wachstum und Wachstumsgrenzen in der Ideengeschichte der Ökonomik

19. Jahrhundert: Wachstum als vorübergehendes Phänomen

Ein kurzer Blick in die ökonomische Ideengeschichte zeigt, dass diese wirkmächtige Idee grenzenloser Wachstumspotentiale tatsächlich noch keine 100 Jahre alt ist. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts galt Wirtschaftswachstum vielmehr als vorübergehende Erscheinung. Klassische Ökonomen wie Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill sahen darin einen Anpassungsprozess an ein neues stationäres Gleichgewicht (Arnold 1997, 4). Sie gingen davon aus, dass es langfristig zum Fall der Profitrate und damit zum Stillstand der Kapitalakkumulation als der entscheidenden Triebfeder des Expansionsprozesses kommen müsse. Für Ricardo war der unumgehbar limitierende Faktor dabei die Ressource Boden: Spätestens wenn auch die schlechtesten Böden zur Erzeugung von Lebensmitteln bestellt würden, müsse ein »stationärer Zustand« eintreten (Schefold/Carstensen 2001). Thomas Malthus erwartete schon zuvor zyklisch wiederkehrende Katastrophen, da in einer wachsenden Wirtschaft die Bevölkerung exponentiell zunehme, die Lebensmittelproduktion aber nur linear.

Karl Marx prognostizierte einen tendenziellen Fall der Profitrate aus anderen Gründen: Die einzelnen Kapitalisten seien im Konkurrenzkampf gezwungen, in technisch fortschrittliche Produktionsmittel zu investieren und so den Einsatz von Arbeitskraft zu verringern, um kurzfristig ihren Profit zu erhöhen. Durch das Zusammenwirken dieser Investitionen aller Kapitalisten sinke jedoch die gesamtwirtschaftliche Profitrate, weil immer weniger Arbeit für die Produktion eingesetzt wird und damit der aus der Arbeit resultierende Mehrwert schrumpft (Arnold 1997, 5f.). Da die Kapitalisten einem Verfall ihres Profits entgegenzuwirken versuchen, indem sie in weitere arbeitssparende Technologien investieren, verstärkt sich dieser Prozess selbst. Dem Wachstum scheint so eine innere Schranke gesetzt – und damit dem Kapitalismus selbst, der nicht nur in Marx’ Augen ohne fortgesetzte Akkumulation nicht funktionsfähig ist.

Folgte für Marx auf den Kapitalismus perspektivisch der Sozialismus, behagte den meisten klassischen Ökonomen die Aussicht auf ein Ende des Wachstums gar nicht. Sie suchten daher nach Mitteln zur Aufrechterhaltung des Wachstumspfades und identifizierten – wie im Übrigen auch Karl Marx – zahlreiche Effekte, die den Fall der Profitrate temporär aufhalten können, darunter technischen Fortschritt, Verlängerung der Arbeitszeit oder die Reduktion von Subsistenzlöhnen durch Nahrungsmittelimporte (Arnold 1997, 5). Zur langfristigen Überwindung absoluter Wachstumsgrenzen erschienen ihnen diese allerdings nicht ausreichend. Lediglich John Stuart Mill entwarf, verbunden mit einer Kritik der zeitgenössischen Verhältnisse, eine ausgesprochen optimistische Perspektive des »stationären Zustands« (vgl. Infokasten 2). Elemente seiner Kritik, aber auch seines Hoffnungsbilds einer Welt nach der Wachstumsphase als Situation der Fülle und des menschlichen Wohlergehens finden sich im 20. Jahrhundert interessanterweise durchaus ähnlich auch bei zentralen Protagonisten wachstumsorientierter Politik wie John Maynard Keynes (Keynes 1930, siehe auch Infokasten 3) und Ludwig Erhard (Erhard 1957).

Infokasten 2: Der stationäre Zustand bei John Stuart Mill

Im Kapitel »Of the Stationary State« seines Hauptwerks Principles of Political Economy von 1848 beschreibt Mill, warum er die Befürchtungen seiner Zeitgenossen im Hinblick auf den unausweichlichen stationären Zustand der Wirtschaft keineswegs teilt. Mag das von Konkurrenzkämpfen geprägte Streben nach wirtschaftlichem Fortschritt, das mit der Phase der Expansion einhergeht, auch eine Zeit lang notwendig sein, wünschenswert erscheint es Mill keineswegs. Der stationäre Zustand ist dagegen nicht nur gekennzeichnet durch das Fehlen immer weiterer Kapitalakkumulation und durch eine gleichbleibende Bevölkerungsgröße, er birgt auch die besten Bedingungen für die Entfaltung des Menschen, denn: »[T]he best state for human nature is that in which, while no one is poor, no one desires to be richer, nor has any reason to fear being thrust back by the efforts of others to push themselves forward.« (Mill 1848, IV.6.5).

Auch bei Stagnation von Kapital und Bevölkerung bleibe daher ebenso viel, wenn nicht gar mehr Raum für menschliche Entwicklung, die Mill mit moralischem und sozialem Fortschritt, Fortschritten der Lebenskunst und der Verbesserung handwerklicher Fähigkeiten und technischer Möglichkeiten beschreibt (ibid., IV.6.9). Technischer Fortschritt könne dabei endlich seinem legitimen Zweck dienen, Arbeit zu verringern statt Reichtum zu steigern.

Die materiellen Voraussetzungen für den Übergang in die Postwachstumswelt sah Mill in den am weitesten entwickelten Nationen bereits 1848 gegeben; eine bessere Verteilung sei dort entscheidender als die weitere Steigerung der Produktion (ibid., IV.6.6). Und angesichts der Naturzerstörung durch die expansive Wirtschaftsentwicklung hoffte er für die Nachwelt, »that they will be content to be stationary, long before necessity compels them to it.« (ibid., IV.6.8).

Die »Entdeckung« grenzenlosen Wachstums im 20. Jahrhundert

Wie heute bekannt ist, kam das Ende des Wachstums – wie auch des Kapitalismus – nicht so schnell wie erwartet. Insbesondere Malthus’ düstere Prognosen sind nicht eingetroffen – er hatte die Möglichkeit für Produktivitätssteigerungen bei weitem unterschätzt. Und so wurden zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin schließlich die wirtschaftstheoretischen Weichen für die Idee unbegrenzten Wachstums gestellt: In seiner »Theorie der schöpferischen Zerstörung« machte Joseph Schumpeter technologische Entwicklungsschübe als zentrales Moment des Kapitalismus aus, die zyklisch zu tiefgreifenden Veränderungen der gesamten wirtschaftlichen Struktur führen und immer wieder neue Wachstumsphasen ermöglichen (Steurer 2002, 48