Zwischen drei Kulturen: Musik und Nationalitätsbildung in Triest - Matej Santi - E-Book

Zwischen drei Kulturen: Musik und Nationalitätsbildung in Triest E-Book

Matej Santi

0,0

Beschreibung

Musik fungiert auf vielfältige Weise als Medium des Gedächtnisses. Wie vom Einzelnen die eigene Lebensgeschichte zu betreffenden Musikstücken assoziiert wird, besitzen auch Gemeinschaften spezielle Stücke zur Markierung von Ereignissen, von Anlässen. Vor allem seit dem 19. Jahrhundert ist diese Setzung von Gedächtnisorten eine für die Stiftung kultureller Identität wesentliche Funktion städtischen Musiklebens und auch der (musik)historische Blick zurück diente üblicherweise diesem Zweck. Dies gilt auch für Triest, die von einer sozial, ethnisch und religiös besonders vielfältig zusammengesetzten Bevölkerung geprägte Hafenstadt.
Im Unterschied dazu bilden musikgeschichtliche Texte nicht die Basis, sondern den Ausgangspunkt einer Untersuchung, deren Ziel es ist, die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Kommunikationsräume dieser Stadt zu erfassen. Anhand je eines historisch gesehen repräsentativen Raumes (Verdi und das "Teatro Communale", der "Narodni dom" und der "Schiller-Verein") und seiner Darstellung in Bezug auf Entstehung, auf symbolische Aufladung und nachfolgende Wirkungsweise, wird das Musikleben der Stadt erstmals in einer Zusammenschau der drei vertretenen Sprachgruppen – italienisch, slowenisch und deutsch – dargestellt und so ein exemplarischer Fall für das Entstehen neuer Raumvorstellungen (imagined communities) sowie ein vertieftes Verständnis zentraler Prozesse des nation building im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gewonnen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 407

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Abb. 1: Plan der Stadt um 1850, zur Zeit der Herrschaft von Kaiser Franz Joseph I. Quelle: Biblioteca Civica Attilio Hortis, Triest Legende: A. Borgo Teresiano; B. Città Vecchia; C. Borgo Giuseppino.1. Teatro Verdi; 2. Piazza Grande (Lange Zeit hatte hier der Schiller-Verein seinen Sitz); 3. Piazza Giuseppina; 4. San Giusto Hügel; 5. Piazza San Giovanni (1906 wurde hier das Giuseppe Verdi Monument feierlich eröffnet); 6.

Matej Santi

Zwischen drei Kulturen:Musik und Nationalitätsbildung in Triest

Herausgegeben von Cornelia Szabó-Knotik

Cover: Nikola Stevanović (Belgrad, Serbien)

Layout: Gabriel Fischer (Wien, Österreich)

Druck und Bindung: Interpress (Budapest, Ungarn)

Umschlagbild: Collage ausBrand des Narodni dom 13. 7. 1920. Narodna in študijska knjižnica, Triest

Ansichtskarte von Triest, 1954. Privatbesitz des Autors

Matej Santi: Zwischen drei Kulturen: Musik und Nationalitätsbildung in Triest,

hg. von Cornelia Szabó-Knotik (= Musikkontext 9)

MUSIKKONTEXT

Studien zur Kultur, Geschichte und Theorie der Musik

Veröffentlichungen des Instituts für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik

an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Reihe herausgegeben von Cornelia Szabó-Knotik und Manfred Permoser

© HOLLITZER Verlag, Wien 2015

HOLLITZER Verlag

der HOLLITZER Baustoffwerke Graz GmbH

www.hollitzer.at

Alle Rechte vorbehalten.

Die Abbildungsrechte sind nach

bestem Wissen und Gewissen geprüft worden.

Im Falle noch offener, berechtigter Ansprüche wird

um Mitteilung des Rechteinhabers ersucht.

ISBN 978-3-99012-261-7 hbk

ISBN 978-3-99012-262-4 pdf

ISBN 978-3-99012-263-1 epub

INHALTSVERZEICHNIS

Umschlag

Titel

Impressum

Vorwort der Herausgeberin

Moritz Csáky: Geleitwort

Einleitung

Raum und Geschichte

Genealogie der Nation

Der Triester Raum

„Trieste Musicalissima“: Das Triester „Teatro Comunale“ und Giuseppe Verdi

Verdi, der Italiener

Historiographischer Ausblick

Vom „Teatro San Pietro“ zum „Teatro Comunale G. Verdi“

Simone Mayr und Giuseppe Verdi: Zwei Zeugen der „Italianità“ Triests

Revisionen der Repräsentationen

„Naprej Zastava Slave!“: „Slowenische“ Musik im Triester „Narodni Dom“

Von der ersten „čitalnica“ zum „Narodni dom“

Die „slowenische“ Musik und die „čitalnice“

Die Laibacher und die Triester „Glasbena Matica“

Musikalische Aufführungen im „Narodni dom“

Im Spannungsverhältnis zwischen „slowenischer“ und „slawischer“ Musik

Der Anschlag auf das „Narodni dom“

„Allen zu Fromme, niemanden zum Gnaden“: Der Triester „Schiller-Verein“

Die deutschsprachige Präsenz in Triest: Demographische und politische Entwicklung

Die deutsche Kultur in Triest: Zwischen Übernationalismus und Nationalismus in der Publizistik und im Vereinsleben

Der „Schiller-Verein“ als Raum der Pflege deutscher Kultur

„Deutsche“ Musik und universalistische Gesinnungen

Fazit

Ausblick

Literatur

Biografie Matej Santi

Anmerkungen

VORWORT DER HERAUSGEBERIN

Die Reihe MUSIKKONTEXT hat das Ziel, vielfältige Vernetzungen im Bereich Geschichte, Kultur und Theorie der Musik zu beleuchten. Mit dem Forschungsfeld des Triester Musiklebens nimmt der vorliegende Band in diesem Rahmen ein Interesse auf, das rund zwei Jahrzehnte in die Institutsgeschichte zurückreicht1 und gleichzeitig einem der gegenwärtigen Arbeitsschwerpunkte des Instituts entspricht, nämlich einer kulturwissenschaftlichen Musikwissenschaft, die mit Begriffen wie Gedächtnis, Raum, Identität, Transfer bzw. Translation zu tun hat.

Die in diesem Band gewählte Untersuchungsmethode – eine vom konsequent durchgeführten kulturwissenschaftlichen Ansatz ermöglichte, musikhistorisch ausgerichtete Darstellung – bringt das vor langer Zeit angegangene Thema in die aktuelle fachliche Diskussion ein. Die dabei vorgenommene Konzentration auf den Zusammenhang des Musikbetriebs mit Prozessen der Ausbildung nationaler Identität, macht die Ergebnisse dieser Untersuchung für zahlreiche weitere Fragestellungen anschlussfähig. Und seine Vielsprachigkeit hat es dem Autor Matej Santi ermöglicht, die in Rezensionen sowie musikhistorischen Schriften dokumentierten, musikbezogenen Vorstellungen und Ereignisse erstmals in einer Zusammenschau für alle drei in der Stadt hauptsächlich vertreten gewesenen Sprachgruppen auszuwerten, was wiederum wesentlich dazu beigetragen hat, dass das Buch mit neuen Einsichten in das Thema aufwarten kann.2

Wie auf den ersten Blick auffällt, hat sich das Erscheinungsbild der Reihe hiermit verändert. Der Grund dafür ist, dass mit Ende 2015 der bisher bewährte milletre Verlag seine Tätigkeit einstellt. Ich danke deshalb auch an dieser Stelle im Namen des ganzen Instituts Robert Schächter sehr herzlich für die langjährige gute und verständnisvolle Betreuung. Gleichzeitig freut es mich, dass mit dem HOLLITZER Wissenschaftsverlag ein kompetenter neuer Partner für die Publikationen des Instituts gefunden werden konnte, die ein unverzichtbares Instrument zur Kommunikation mit der wissenschaftlichen ebenso wie der interessierten Öffentlichkeit sind – gerade auch in Zeiten von open access – diese Aufgabe erfordert den Idealismus aller Beteiligten, auch des Verlegers.

Ich danke auch dem Rektorat der Universität für Musik und darstellende Kunst für die finanzielle Unterstützung der Publikation.

Cornelia Szabó-Knotik

MORITZ CSÁKY: GELEITWORT

Städte zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie von Menschen bewohnt werden, die unterschiedlichen sozialen Schichten angehören und dass daher eine städtische Bevölkerung, im Gegensatz zu jener in einem Dorf, prinzipiell von gesellschaftlichen Heterogenitäten geprägt ist. Blickt man auf die größeren Städte der Gegenwart, sind diese darüber hinaus von einer deutlichen sprachlich-kulturellen und ethnischen Vielfalt gekennzeichnet, eine Tatsache, die sich den globalen Mobilitäten und Migrationen verdankt. Die Stadt der Gegenwart ist daher, abgesehen von ihrer innergesellschaftlichen Differenziertheit, „vielsprachig“ in einem wörtlichen und in einem übertragenen Sinne, ein Phänomen, das vielfach nicht nur als neu, sondern als bedrohlich empfunden wird.

Eine solche sprachlich-kulturelle und ethnische Heterogenität ist jedoch in Wirklichkeit nichts Neues, sie war spätestens seit dem 19. Jahrhundert nicht nur, aber vor allem, ein Charakteristikum der Städte in Zentraleuropa. Den demographischen Erhebungen, das heißt den zeitgenössischen Volkszählungen ist zu entnehmen, dass die zentraleuropäische Stadt der Jahrzehnte um 1900 ein Spiegelbild der vielsprachigen, plurikulturellen und pluriethnischen Situation des zentraleuropäischen Raumes, ein Mikrokosmos des Makrokosmos der von Pluralitäten geprägten Region war. Dies betrifft nicht zuletzt auch die größeren Städte der ehemaligen Habsburgermonarchie. Von den 1,7 Millionen Einwohnern Wiens im Jahre 1900 waren nachweislich mehr als die Hälfte Immigranten, die aus der umliegenden pluralistischen, vielsprachigen Region hierher gezogen waren. So war Wien um 1900, trotz ihres wohl gerade deshalb immer wieder betonten „deutschen“ Charakters, die größte tschechischsprachige Stadt. In ähnlicher Weise war Triest, das trotz seiner italienischen Mehrheit mehr Slowenen aufweisen konnte als Laibach/Ljubljana, die größte slowenische Stadt der Monarchie.

Diese hybride Gemengelage der städtischen Milieus hatte zur Folge, dass einerseits die Begegnung unterschiedlicher Sprachen und Kulturen stets von Krisen und Konflikte begleitet war und dass andererseits Individuen, die sich kontinuierlich in solchen Grenzsituationen vorfanden, das heißt die sich gleichzeitig mit unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Inhalten auseinanderzusetzen hatten, ein großes kreatives Potential aufwiesen.

Die Präsenz von und die tägliche Auseinandersetzung mit „Fremdheiten“ beziehungsweise Differenzen in der Stadt ließ eine Situation entstehen, in der sich Individuen und soziale Gruppen andauernd konkurrierten und täglichen Pressionen ausgesetzt sein konnten, indem vor allem die sprachlich-kulturell dominante Gruppe bestrebt war, sich die anderen ihr anzugleichen. Solche Assimilationen entsprachen Prozessen einer inneren Kolonisierung, die freilich zu Folge hatte, dass sich nicht nur die kolonisierte Minderheit den Kolonisatoren anzugleichen hatte, sondern dass sich auch die Situation der Kolonisatoren durch die Assimilanten unvermittelt zu verändern drohte. Im Konkreten können auch die nationalen Auseinandersetzungen der Jahrzehnte um 1900, die sich unterschiedlicher – so auch musikalischer – Mittel bedienten, aus einer solchen Perspektive gedeutet werden. Hier ging es letztlich um die sich konkurrierende Etablierung von Macht in Form eines symbolischen Kapitals mit entsprechenden Konsequenzen für die Dominanz der einen „Sprache“, die man sich anzueignen gezwungen wurde.

Annähernd siebzig Prozent der Repräsentanten der Wiener Moderne waren Migranten der ersten oder zweiten Generation. Sie waren in mehreren, zumindest jedoch in zwei kulturellen Kontexten beheimatet und vermochten in ihren kulturellen Produktionen zumeist unbewusst unterschiedliche Elemente unverhofft miteinander zu verbinden. Schon Robert E. Park hat vor längerer Zeit auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht, indem er dem Juden, der sich infolge seiner Assimilation in zwei „mémoires culturelles“ vorfand, ein besonderes kreatives Potential zuschrieb. Dies gilt freilich unabhängig von Migranten ganz allgemein auch für all jene Individuen, die dem plurikulturellen Biotop der zentraleuropäischen Städte angehörten und denen daher die Begegnung mit kulturellen „Fremdheiten“ geläufig war. Theodor W. Adorno hat (wie übrigens später auch Ludwig Finscher) u. a. in der Einleitung in die Musiksoziologie im Zusammenhang mit der musikalischen Sprache, die sich in Wien seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hatte, nachdrücklich auf diese Tatsache hingewiesen, indem er auf die Rezeption und die Verschmelzung unterschiedlichster „nationeller“ Elemente, die in Wien aufeinander trafen, aufmerksam gemacht hat, denen sich der „Wiener musikalische Dialekt“ verdankte, der, von Mozart bis Schönberg, „mit einem Mal zur musikalischen Weltsprache“ wurde. Das heißt: „Das Wienerische, als Dialekt, war die wahre Weltsprache der Musik.“

Die Arbeit von Matej Santi, die sich mit dem kulturellen Kontext Triests beschäftigt, könnte, ganz abgesehen von ihrem innovativen kulturwissenschaftlichen und historischen Ertrag, auch unter den angedeuteten Aspekten einer Lektüre unterzogen werden. Eine solche Lesart hat, jenseits ihrer historischen Perspektive, insofern einen aktuellen Bezug, als die Städte Zentraleuropas zurecht als Laboratorien angesehen werden können, in denen schon in den Jahrzehnten um 1900 solche sozial-kulturellen Prozesse stattgefunden haben, die in unserer Gegenwart von weltweiter Relevanz geworden sind.

Moritz Csáky

EINLEITUNG

Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit ist es, der Frage von Wechselwirkungen zwischen dem vorwiegend gesellschaftspolitisch relevanten Phänomen der Ausbildung des Nationalbewusstseins auf einem von heterogenen sprachlichen wie kulturellen Traditionen gekennzeichneten Territorium – in diesem paradigmatischen Fall die Hafenstadt Triest der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1920 – und der Ausübung alltäglicher musikalischer Praktiken nachzugehen.

Oft wird Musikgeschichte – freilich aus durchaus berechtigten Gründen der historiographischen Systematik – als Ansammlung von (Kunst)Werken verstanden und dargestellt; die Alltäglichkeit der musikalischen Betätigungen besitzt jedoch einen Charakter, der selten von der Geschichtsschreibung wahrgenommen, und in seiner Tragweite dargestellt wurde. Aus diesem Grund versucht der Autor der Ebene des geschichtlichen Geschehens Relevanz zu verleihen, die aus dem Raum sein konstitutives Moment schöpft, wobei dies nach der Raumwende als soziale Konstruktion bzw. als Projektion sozialer Verhältnisse verstanden wird, welche die Gleichzeitigkeit der Ereignisse unterstreicht und sich nicht mehr nach der Sukzessiv-Logik der teleologisch ausgerichteten geschichtlichen Erzählung orientiert.

Die Ausbildung bzw. Konstruktion und Entwicklung eines multikulturellen Raumes in dem die Unruhen des Jahres 1848 kaum wahrgenommen wurden, der aber 1920 die ersten Gewalttaten der entstehenden faschistischen Bewegung sah, bringt die Frage mit sich, wie sich die verschiedenen Nationalismen auf diesem Territorium herauskristallisierten und welche Bedeutung die Musik und ihre Ausübung dabei erlangte. Da die Perfomativität der musikalischen Betätigungen nur schwer nachvollziehbar ist, wird versucht, der Rolle der Musik durch die Zeitungsrezensionen aus den verbreitetsten Tagesblättern der drei Kulturen – Italienische, Deutsche, Slowenische –, welche auf dem Territorium ansässig waren, auf die Spur zu kommen. Diese Zeichen, die in Tagesblättern zu verorten sind, können nicht nur als Berichte betrachtet werden, sondern auch als aktiver und oft bewusster Moment bei der Konstruktion der nationalen Identitäten.

Die Studie impliziert neben Überlegungen historischer Natur eine Konfrontation mit theoretischen Auseinandersetzungen: Raumtheorie und Nationalismustheorie stellen Bezugs- bzw. Stützpunkte für die Erforschung des Triester musikalischen Lebens dar, das sowohl als Sprachrohr, als auch als Resultat des Fühlens und Denkens einer Epoche an einem bestimmten Ort verstanden wird. In der Folge möchte ich etwas genauer die Thematiken sowie Methoden meiner Herangehensweise darstellen.

Musikgeschichte wird allzu oft im allgemeinen Bewusstsein mit einer mehr oder minder detaillierten Auflistung von in verschiedenen Stilperioden entstandenen musikalischen Werken assoziiert. Diese Art von Musikgeschichte, welche sich der analytischen Auseinandersetzung und der Wertung von musikalischen Werken zuwendet, die im Notentext ihre Legitimation ausdrücken, ist das Produkt einer Denktradition, welche einerseits in der europäischen Schriftkultur und andererseits in dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung sowie in der Herausbildung bürgerlicher kultureller Praktiken im Rahmen der politischen Bedingungen des 19. Jahrhundert wurzelt. In jener Zeit etablierte sich die Historiographie als eine der gewichtigsten universitären Disziplinen und das 19. Jahrhundert gilt zu Recht als das Zeitalter der Geschichtswissenschaft.1 In einer Zeit turbulenter soziopolitischer Wandlungen wurde die Autorität geschichtlicher Argumentationen, durch ihren Bezug auf vergangene Realitäten, als leitend empfunden und die Verfassung von nationalen Geschichten ist in diesem Kontext zu verstehen. Die Nation wurde als Endprodukt der geschichtlichen Entwicklung gedeutet und auch die Musikwissenschaften stehen unter diesem Einfluss. Wenn wir heute noch von nationalen Schulen sprechen und somit unterschwellig die vermutlich leitende Rolle der deutschen Tonkünstler unterstreichen, beziehen wir uns auf ein geschichtliches Narrativ, welches im 19. Jahrhundert seinen Ursprung hat.

Die Autorität der „Sukzessiv-Logik“ der teleologisch ausgerichteten Historiographie, welche sich freilich vorwiegend auf eine „Hochkultur“ beschränkt, wurde aber in der Postmoderne seit der Formulierung neuer erkenntnistheoretischer Werkzeuge im Rahmen des „Cultural Turn“2 in Frage gestellt. Dem am Anfang des 20. Jahrhunderts von Ludwig Wittgenstein und Ferdinand de Saussure ins Leben gerufene „Linguistic Turn“, eine Hinwendung zur Sprache, welche sich nicht mehr auf das eigentliche Objekt des Diskurses konzentrierte, sondern die Metaebene des Diskurses selbst erforscht, folgten weitere „Turns“; Wenden, die in Anlehnung an den ersten „Linguistic Turn“ das Objekt ihrer Auseinandersetzung als einer dekonstruktivistischen Analyse zur Verfügung stehendes Zeichen bzw. Text verstehen, um dadurch jenseits einer vermutlichen „Hochkultur“ zu einem erweiterten Kulturverständnis zu gelangen. Basierend auf dem Werk des Humangeographen Edward E. Soja, des marxistisch geprägten Soziologen Henri Lefebvre und des Philosophen sowie Soziologen Michel Foucault wird der Raum im Kontext des „Spatial Turn“ als Projektion sozialer Verhältnisse begriffen: Für die Geschichtsschreibung ist diesbezüglich ausschlaggebend – wie es Karl Schlögel mit seinem Diktum „History takes place – Geschichte findet statt“3 auf den Punkt bringt –, dass dadurch nicht mehr der rote Faden einer linearen „Entwicklung“ gesucht bzw. konstruiert wird, sondern durch die Hinwendung zum Raum als Träger von physischen aber auch symbolischen Zeichen der sozialen Verhältnisse sowohl die Synchronizität als auch die netzwerkartige Konstitution der Ereignisse und die Bedeutung des daraus resultierenden sozialen Raumes unterstrichen wird.

Dass Kunst und somit auch die Musik aus einem soziopolitischen Raum entspringt, leugnet das „traditionelle“ musikhistorische Narrativ nicht, misst aber diesem Fakt keine besondere Aufmerksamkeit zu. Die Tatsache, dass die künstlerische Betätigung, wie jeder menschliche Akt, welcher eine Kommunikation innehat, auf einem Prozess basiert bei dem neben dem Kommunikator auch ein Rezipient4 vorausgesetzt ist, wird freilich nicht ignoriert: Die sozialen sowie politischen Implikationen dieser Kommunikation und deren weitreichende Folgen werden aber nicht ausreichend betont. De facto ist ein künstlerisch kommunikativer Akt nur bei Präsenz eines Adressanten möglich: Durch das Feedback zwischen Sender und Empfänger – im Fall der künstlerischen Betätigung ist die direkteste Form eines Feedbacks zu einer Aufführung in Form eines Beifalls seitens des Publikums oder in Form einer Zeitungskritik zu sehen – wird Kunst als Spezifikum der menschlichen Spezies zum sozialen Phänomen emporgehoben. Es bildet sich dadurch ein Raum der kulturellen – in diesem Rahmen auch musikalischen – Praktiken aus, welche sowohl einem bestimmten sozialen Raum als auch einem topographisch genau definierten Ort zuzuschreiben sind.

Da jede Kommunikation per definitionem Träger einer Bedeutung, eines Codes ist, dessen Semantik freilich auch jenseits der unmittelbaren Bedeutung der Sprache zu suchen ist, kristallisiert sich die Frage nach der Bedeutung und Funktion der Musik innerhalb einer sozialen Konstellation heraus. Die aus diesen Überlegungen resultierenden Fragestellungen, wie z. B. welche politischen Hintergründe, Interessen, Absichten oder nur unterschwellige Implikationen der Pflege bestimmter musikalischer Praktiken – nicht unbedingt bewusst –, verfolgt werden, wurden bisher nur marginal wahrgenommen und im deutschsprachigen Raum vorwiegend mit Fragen bezüglich der Operationsmodi der Kulturpolitik der NS-Zeit, der DDR sowie der Sowjetunion, in Verbindung gesetzt.

Die theoretischen Auseinandersetzungen mit der Frage der Funktion der Musik dienten allerdings oft der Formulierung von Thesen, die sich grundsätzlich mit ästhetischen Kontroversen beschäftigen: Das Konzept der „autonomen Musik“ entstammt dem Bedürfnis, jene Musik, welche nicht nach Nutzbarmachung strebt, zu kategorisieren; die Dichotomie Kunstmusik und Funktionsmusik, welche Carl Dahlhaus5 und Hans Heinrich Eggebrecht6 in Anlehnung an Adorno formulierten, wurde zur Explikation von ästhetischen Grundzügen eines Werkes konzipiert. Dennoch liegt es in der Natur der Musik, dass sie „unweigerlich polyfunktional“7 veranlagt ist und dass sie zu dem jeweiligen sozialen Raum in dialektischem Verhältnis steht.

Für die Schilderung einer Triester Musikgeschichte erweist sich die „konventionelle“, entwicklungsorientierte Narrativität als unangemessen. Alleine die Tatsache, dass komponierte musikalische Werke, welche in einer „üblichen“ musikgeschichtlichen Darstellung – als Objekte einer taxonomischen Anordnung die diese erst ermöglichen – gar nicht vorhanden sind, macht die Konfrontation mit der Frage, was eigentlich mit „Musikgeschichte“ gemeint ist und welche Alternativen es gibt bzw. welches hermeneutische Werkzeug für die Erläuterung der musischen Gebräuche in Triest geeignet wäre, unerlässlich.

Bei einem näheren und reflektierteren Umgang mit den abendländischen musikhistorischen Traditionen wird offensichtlich, dass sich die europäische Musikgeschichte – wie es das Epitheton „europäisch“ selbst verrät –, mit einer räumlich abgegrenzten Erörterung beschäftigt und sich somit neben der zeitlichen Achse mit der historischen Darstellung eines spezifisch wirtschaftlich, sowie politisch bedingten Raumes konfrontiert. Die Kategorie des Raumes war – und ist – somit immer präsent, auch wenn nicht in der Form und in dem Ausmaß, wie es die Theoretiker des „spatial turn“ postuliert haben. Für die Beschreibung des Triester musikalischen Lebens – einerseits aufgrund seiner spezifischen topographischen Lage und anderseits aufgrund partikulärer sozioökonomischer Umstände – erweisen sich aber die Überlegungen dieser Theoretiker bezüglich der hermeneutischen Bedeutung des Raumes als sehr interessant. Triest, die Handelshafenstadt der Habsburgermonarchie, war und ist zum Teil noch heute, ein Mikrokosmos, ein Knotenpunkt zwischen drei Kulturen – Romanische, Slawische, Germanische –, und eine „Heterotopie“8, ein Ort des Anderen; einerseits wegen seiner multiethnischen kulturellen Konstitution und anderseits wegen seinem seit 1719 bestehenden Freihafen-Status, welcher unzählige Händler verschiedenster Herkünfte und Religionsbekenntnisse aus dem gesamten mediterranen Raum anzog. Die zwei räumlich konnotierten Konzepte – Mikrokosmos und Heterotopie – veranschaulichen treffend den sozialen Zustand des Triester Territoriums um 1900 und leiten zu Überlegungen bezüglich eines „Dritten Raumes“9 weiter: Drei endogene Kulturen (obwohl die Deutsche historiographisch als nicht autochthone Bevölkerung betrachtet wird), addierten sich mit einer ganzen Reihe exogener Kulturen, welche nach Triest wegen wirtschaftlicher Faktoren im Laufe des 18. und 19. Jahrhundert zuwanderten. Diese miteinander konfrontierten Kulturen bildeten ein eigenständiges gesellschaftliches System: einen Mikrokosmos. Dennoch stellt der „Andere“ in den Augen der jeweiligen Gruppen eine „Heterotopie“ – einen Raum des Anderen – dar, von dem man sich abgrenzen kann und soll. Die Unmöglichkeit einer Homogenisierung von kulturellen Differenzen führt zur Herausbildung eines „Dritten Raumes“, in dem sich jede Kultur – wie wir sie heute schon unbewusst mit nationalen Konnotationen gedeutet verstehen – weiterentwickelt, wenngleich nicht unabhängig voneinander. Aus dieser Abhängigkeit erfolgt zwangsläufig eine Hybridisierung der Kultur und deren Praxis, sowie die Unmöglichkeit einer eindeutigen Polarisierung der kulturellen Erscheinungen in genau definierbaren Kategorien.

Das wirtschaftliche Aufblühen der Vielvölkermonarchie-Hafenstadt vollzog sich in einer Zeit bedeutender soziopolitischer Umwälzungen, welche einen gewaltigen Einfluss auf die europäische Raumwahrnehmung und in der Folge auf die europäische politische Kartographie ausübte: Die zahlreichen Modernisierungsprozesse – wie die Industrialisierung, die Herausbildung neuer Verkehrs- aber auch Kommunikationswege sowie die Entstehung und Emanzipation des Bürgertums – trugen zum Erwachen eines Nationalbewusstseins bei, das in einem langwierigen und von Fall zu Fall unterschiedlichen Prozess die Entstehung zeitgenössischer territorial und kulturell abgegrenzter Einheiten – Nationalstaaten – zur Folge hatte. Der Wandlungsprozess, den Länder wie Frankreich, Deutschland und Italien durchliefen, wurde freilich auch in der Vielvölkermonarchie wahrgenommen: Die Forderung nach größerer Autonomie vonseiten Ungarns führte 1867 zum sogenannten „Ausgleich“. In diesem politischen und sozialen Kontext stellt Triest mit seinem heterogenen sprachlichen und sozialen Gewebe ein paradigmatisches Fallbeispiel für die Erforschung der Implikationen des entstehenden Nationalbewusstseins für das kulturelle Leben – in diesem spezifischen Fall für die musikalische Praxis – und für eine ausführliche analytische Konfrontation mit Begriffen wie „Volk“ und „Ethnie“, welche in ihren semantischen Nuancen schon in den griechischen „δῆμος“ und „ἔθνος“ inbegriffen waren und im „langen“ 19. Jahrhundert10 an Aktualität sowie Sprengkraft gewannen, dar.

Den Triester sozialen Raum als Entfaltungsort musikalischer Praktiken zu deuten, impliziert eine Interpretation bzw. eine Dekonstruktion des Raumes, ausgehend von der Frage, wie sich der Raum überhaupt konstituiert. Von Interesse ist diesbezüglich die Theorie von Henri Lefebvre. Der französische marxistisch geprägte Soziologe versteht nämlich den Raum als Produkt sozialer Handlungen und unterscheidet zwischen drei Formanten der Raumproduktion, durch die er sich herausbildet: (1) Die Räumliche Praxis (pratique spatiale), (2) die Raumrepräsentationen (représentations de l’ espace) und (3) die Repräsentationsräume (espaces de représentation). Diese drei Formanten durchdringen sich wechselseitig und sind immer zugleich wirksam. Der wahrgenommene Raum (espace perçu) der räumlichen Praxis ist der Raum der Bewohner, welche den Raum erleiden, während sich die Wissenschaftler und einige Künstler, welche sich einer wissenschaftlichen Vorgehensweise nähern, in den Raumrepräsentationen, also im konzipierten Raum (espace conçu) ausdrücken.11 Der gelebte Raum der Repräsentationsräume ist der Raum der Benutzer und derjenigen Künstler, welche sich um das Beschreiben des Raumes bemühen, wie z. B. die Schriftsteller. Um heutzutage einen Blick in die Vergangenheit des Triester musikalischen Lebens zu werfen und es mit dem vielfältigen sozialen Gewebe der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu verknüpfen, scheint sowohl die zweite als auch die dritte Ebene der konzeptionellen Trias Lefebvres von Bedeutung zu sein.

Auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses, also der Raumrepräsentationen nach Lefebvre, sind aus der Zeit mehrere Publikationen zu finden, die sich mit der Deutung der Triester Geschichte und in diesem Rahmen auch mit den Fragen der nationalen Zugehörigkeit auseinandersetzen. Neben der „Geschichte der Stadt Triest“ von Jakob Löwenthal (1857), erschienen auch „Opis in zgodovina Tersta in njegove okolice“ von Josip Godina-Verdélski (1872), „Trst in okolica. Zgodovinska slika“ von Matija Sila (1882) sowie „La storia di Trieste“ von Jacopo Cavalli (1870). Noch direkter und aus diesem Grund auch interessanter erscheinen die Zeichen, welche in den Repräsentationsräumen zum Ausdruck kommen: In den Zeitschriften aus jener Zeit sind Notizen über eine musikalische Praxis zu verorten, welche Indizien über die Tätigkeiten der einzelnen Kulturen, welche auf dem Territorium lebten, vermitteln. Aus der Vielfalt der gedruckten Medien wurden die relevantesten Tagesblätter – als Kriterium wurden die Langlebigkeit sowie die Höhe der Auflage definiert – als Quelle in Betracht gezogen, wie z. B. die „Triester Zeitung“, als offizielles Organ des deutschsprachigen Triest, „Edinost“, als eine der verbreitetsten slowenischen Zeitschriften in Triest und „Il Piccolo“, welche 1881 gegründet wurde und noch heute tagtäglich erscheint.

Um den historischen Kontext, in dem die musikalischen Praktiken erst genau zu verstehen sind, darzustellen, wurden neben der jüngsten Literatur, die schon erwähnten Quellen aus jener Zeit zitiert. Mit diesem Prozedere wird der Versuch gewagt, ganz im Sinne von Lefebvre, sowohl die aktive Rolle der Historiographie bei der Konstruktion des Triester Raumes hervorzuheben, wie auch einen Akzent auf die Metaebene der historischen Erzählung zu setzen; es sind nicht nur die dargestellten Fakten ausschlaggebend, sondern auch die Art, in der die geschichtliche Erzählung erfolgt. Der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit den musikalischen Betätigungen und deren Relevanz für die Ausbildung des Nationalbewusstseins wird in den Zeitschriften gesucht, welche jede der einzelnen sprachlichen Gemeinschaften auf dem Triester Territorium während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts verlegte. Die Zeitschrift, wie auch andere Massenmedien, übt eine zweifache Funktion aus: Eine zentrifugale und eine zentripetale. Die zentrifugale Funktion besteht im wesentlichen aus einer Aushängeschild-Funktion: Das „Wir“-Gefühl einer Organisation von Individuen wird von einer Zeitschrift repräsentiert, ergo hat das „Wir“ seine Existenzberechtigung und wird von außen als politische oder soziale Entität wahrgenommen; die zentripetale Funktion hingegen fungiert zur Stärkung des organisationsinternen Zusammenhalts. In diesem Zusammenhang ist nicht verwunderlich, dass gerade in der Zeit des entstehenden Nationalbewusstseins zahlreiche Zeitschriften eine beachtenswerte Verbreitung in Triest hatten.

Die aus den Zeitschriften sortierten Berichte und Kritiken stellen eine heterogene Materialsammlung dar: Nicht anders als heute wurde Musik im 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert zu Anlässen verschiedenartigster Natur gepflegt sowie in den unterschiedlichsten Umgebungen ausgeübt. Aus diesem Grund scheint eine Sortierung, welche sich auf die räumliche Ebene orientiert, angebracht. Neben den musikalischen Praktiken in den verschiedenen (nationalgefärbten) Vereinen, werden durch das Schrifttum der Journalisten die Veranstaltungen von Musikschulen sowie die Konzerte der zahlreichen Gesangsvereine miteinbezogen; auch die kulturellen Angebote des „Teatro Grande“ – des „großen“ Opernhauses Triests – und dessen politische Rolle bei der Ausbildung eines italienischen Nationalbewusstseins, werden beleuchtet.

Die Kategorie des Raumes ist dadurch auf verschiedenen Ebenen der Arbeit repräsentiert und wird in seiner konstitutiven Bedeutung von verschiedenen Seiten beleuchtet: Die Arbeit konzentriert sich nicht nur auf die Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte eines topographisch genau definierten Ortes, wodurch sie sich mit einer bestimmten sozialen Konstellation befasst, welche im Raum ihre physische Ausdehnung projiziert. Auch die Konfrontation mit den Quellen, sowohl Primärquellen, als auch Sekundärquellen, ist von raumproduktions-theoretischen Überlegungen geprägt: Die Studie dient nicht ausschließlich historischdokumentarischen Absichten, sondern bemüht sich um eine Darstellung – mit allen Grenzen, welche eine solche Studie in sich birgt – der Konstruktion des Triester kulturellen Lebens und dadurch der Triester Identität, welche durch Aneignung und Beherrschung von Raum – von sowohl physischem als auch konzeptionellem, wie z. B. der Raum, welchen die Zeitschriften tagtäglich produzieren – und (auch) durch die Ausübung musikalischer Praktiken, erfolgte.

Dabei liegt viel mehr als auf der Vollständigkeit der historischen Darstellung das Hauptaugenmerk auf dem Versuch, einen Einblick in die Komplexität der Beziehung der Triestiner mit der Musik aus der Perspektive der Nationalismusforschung zu ermöglichen. Die Arbeit gliedert sich dementsprechend in einen einleitenden theoretischen Teil, welcher sich Überlegungen bezüglich der Bedeutung und Rolle des Raumes als erkenntnistheoretisches Werkzeug zuwendet. In diesem der Theorie gewidmeten Teil wird des Weiteren der Begriff „Nationalismus“ und seine Deutungen beleuchtet. In einem historischen Teil werden die soziale und wirtschaftliche Situation Triests, die kulturelle Topographie, sowie die Wandlung des städtischen sozialen Gewebes, ohne deren Verständnis eine musikhistorische bzw. musiksoziologische Darstellung nur schwer vorstellbar ist, in ihren Hauptlinien skizziert. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit den musikalischen Betätigungen in verschiedenen sozialen Räumen. Die Studie stellt somit einen Versuch dar, theoretische Auseinandersetzungen aus den verschiedenen Fachgebieten – vor allem aus den Kulturwissenschaften –, auf das spezifische Fallbeispiel der Triester Musikgeschichte zu beziehen.

Wie jede geisteswissenschaftliche Arbeit, unterliegt auch diese Forschung dem Zeitgeist ihrer Epoche. Es ist zwar nicht ganz einfach, im Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung über flüchtige und nicht eindeutig konnotierte Konzepte wie Zeitgeist zu sprechen, es ist dennoch festzustellen, das sich die vorliegende Untersuchung mit Themen und Methoden befasst, welche gegenwärtig relevant sind. Somit stellt diese Arbeit und deren Operationsmodi nach der Theorie Lefebvres – ähnlich wie die oben erwähnten Quellen – ein schriftliches Zeugnis einer Situation, bzw. eines sozialen Raumes dar, das gleichzeitig den Status eines konstitutiven Momentes bei der Konstruktion dieses gegenwärtigen Raumes selbst erlangt.

Das Ende des Ost-West-Konfliktes, der Siegeszug des Wirtschaftsliberalismus, die darauffolgende Entnationalisierung von Nationalökonomien durch die Europäische Union unter dem Zwang der globalisierten Märkte, führt zu einer gesellschaftlichen Situation, welche eingebürgerte Konzepte wie Staat, Nation und Nationalgrenzen aber auch Kultur – die all zu oft als Nationalkultur stilisiert und empfunden wurde – ins Schwanken bringt. Auch die (fiktive) Entmaterialisierung des Raumes durch das World Wide Web und die angebliche Demokratisierung der Information führt zu einer krisenhaften Beziehung zum Raum sowie zur eigenen Identität, welche im Europa der letzten zwei Jahrhunderte, wenn nicht von der Kirche, so zumindest vom Nationalstaat garantiert wurde. Diese neue Situation spiegelt sich auch in der musikalischen Produktion wider: Während für lange Zeit als Epizentren der künstlerischen Produktion einige „kulturelle Zentren“ galten, werden heute nicht nur die „Global Citys“12 – hier als gegenwärtige Variante zum nicht all zu alten Konzept des kulturellen „Zentrums“, welches aus der Dichotomie „Zentrum-Peripherie“ seine Autorität schöpfte, in Betracht gezogen – als Epizentren rezipiert, sondern auch unzählige Orte auf den fünf Kontinenten, auf denen zahlreiche Künstler, welche sich in bestimmten Netzwerken weltweit verbinden und miteinander kommunizieren, betrachtet. In diesen Kreisen werden Informationen getauscht und darauffolgend aufgrund der spezifischen lokalen Bedingungen neu interpretiert; es folgt eine Regionalisierung, welche sich nur im Kontext der globalen Vernetzung konkretisieren konnte. Es kommt dadurch zu einem Paradoxon: Die Kehrseite der Globalisierung stellt die Tendenz zur starken Regionalisierung dar; die neu (wieder)entdeckten Regionen zeichnen sich durch ihren übernationalen Charakter aus und stellen neue Identifikationsreferenzen dar. Es sei beispielhaft auf einen Fall aus der zeitgenössischen musikalischen Produktion hingewiesen: Im Bereich der elektronischen Musik sind im Netz viele Foren zu finden, welche sich dieses netzwerkartigen Modus des Informationsaustausches bedienen. Das Konzept der Schule – im Sinne von Lehrer-Schüler-Beziehung –, welches maßgeblich unsere Konzeption der Einflüsse in der Musikgeschichte (und nicht nur dort) geprägt hat, muss spätestens anhand dieser Tendenzen zum netzwerkartigen Agieren revidiert werden. Selbst die Konzeption der „Klassischen Musik“ wird in der vernetzten Welt relativiert: Die Möglichkeit des Konsums von Musik aller Arten und aus der ganze Welt durch das Internet löst die Denkparadigmen, welche die musikkundige bürgerliche europäische Gesellschaft geleitet haben, auf.

Das Relativieren des Konzeptes von Raum, das Aufheben von Nationalgrenzen und das Auflösen von sozialen Paradigmen unterstreicht die Relativität unseres Weltbezuges. Die Folge ist die Suche nach einem Kontinuum, welches jenseits – oder trotz – aller gesellschaftlichen Wandlungen, als greifbare Entität vorhanden ist. Der Raum – in seiner physischen Ausdehnung – bietet in diesem Sinn trotz seiner gegenwärtigen Relativierung – oder gerade deswegen – einen Angelpunkt und ein hermeneutisches Werkzeug, mit dessen Anwendung einerseits die Greifbarkeit der historischen Ereignisse in Form von Schauplätzen zum Tragen kommt, und anderseits die Rolle der Konstruktion von Raum durch menschliches – soziales – Handelns unterstrichen wird.

Es ist nicht zu leugnen, dass politische Umwälzungen und Erfindungen aus der Welt der Technik schon oft in der Geschichte zu gewaltigen räumlichen, wirtschaftlichen sowie sozialen Umstrukturierungen beigesteuert, und zu krisenhaften Momenten geführt haben; gerade das „lange“ 19. Jahrhundert ist eine Zeit der Beschleunigung und großer technischer Errungenschaften. Es ist die Absicht dieser Arbeit am konkreten Beispiel zu thematisieren, wie sich dabei die kulturellen Praktiken verändert haben, welchen sozialen Wert und welche politischen Implikationen die Pflege der Musik dabei hatten.

RAUM UND GESCHICHTE

Als Paradigma der geschichtlichen Erzählung stand lange Zeit die Aufzählung von Ereignissen im Vordergrund. Diese Ereignisgeschichte, welche sich auf die politische Geschichte konzentrierte, deren Akteure hauptsächlich entscheidungstragende „große“ Männer waren, sich auf eine positivistische Denktradition stützte und sich um das Sammeln von „objektiven“ Informationen in Form von Quellen bemühte, übte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine leitende Funktion aus. Trotz einiger zyklischer Modelle der Geschichtsauffassung,13 weist die Mehrheit der Modelle für die Auseinandersetzung mit der Darstellung der Vergangenheit jedoch eine teleologisch ausgerichtete Konzeption auf. In dieser Auffassung erhalten Zeit und Chronologie – also die diachrone Ebene der historischen Erzählung – sinnstiftende Relevanz. Diese Fixierung auf die zeitliche Ebene der Chronologie hat aber eine filternde Funktion der geschichtlichen Wahrnehmung zur Folge, welche die Vielfältigkeit der Synchronie – also der Gleichzeitigkeit – sowie der Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit des geschichtlichen Geschehens nahezu ignoriert.

Dass sich Geschichte, sowohl in ihren gegenwärtig zur Relevanz gelangten Deutungen – Alltagsgeschichte, Kulturgeschichte, Mikrogeschichte, Genderstudies –, als auch in ihrer älteren Konzeption, im Raum abspielt, wurde als eine nur in geringen Maßen beachtenswerte Selbstverständlichkeit behandelt. Obwohl die Kategorie des Raumes seit langem ein zentrales Thema der philosophischen, aber auch der naturwissenschaftlichen Spekulationen war – es sei hier als Beispiel auf den absoluten Raum von Isaac Newton und die Relativitätstheorie Albert Einsteins hingewiesen –, wurde der Raum vom Historismus im 19. Jahrhundert ausser Acht gelassen. In der Geschichtsschreibung der Gegenwart veränderte sich diese Situation: Karl Schlögel14 und Jürgen Osterhammel15 haben, gestützt auf die Raumwende innerhalb der Kulturwissenschaften, einem neuen Raumverständnis im Rahmen der Geschichtsschreibung den Weg geebnet.

Obwohl die Weitergabe von theoretischem musikalischem Wissen auf eine sehr lange Tradition zurückblickt, sind Musikwissenschaften in ihrer institutionellen Anerkennung als akademisches Fach, einer der jüngsten Zweige der wissenschaftlichen Disziplinen. Dabei gelten die Annahmen von Guido Adler für Auseinandersetzungen mit den Aufgaben und Zielen der Musikwissenschaften immer noch als leitend: Er sah die primäre Aufgabe der Musikwissenschaft – ähnlich wie Hugo Riemann, der Musikgeschichte als „Musikwissenschaft im eigentlichen Sinn“16 betrachtete – in der Auswertung von Kunstwerken nach Stil, Form sowie Zeitalter.17 So wie sich Geschichte hauptsächlich mit politisch bedeutenden Ereignissen befasste, konzentrierte sich Musikgeschichte auf das komponierte Werk, das als Teil der so genannten „Hochkultur“ verstanden und dargestellt wird. Allerdings sind zur Zeit auch Tendenzen zu Miteinbeziehung von Populärmusik und Weltmusik spürbar; diese historischen Auseinandersetzungen bleiben jedoch grundsätzlich an eine teleologisch ausgerichtete Auffassung der Historie gefesselt.18

Jenseits dieser Art von Musikgeschichte, welche eigentlich nur einen Teilaspekt der musischen Gebräuche der Vergangenheit und Gegenwart – und zwar das (Kunst)Werk, das im Notentext seine Autorität ausdrückt –, als zur Auseinandersetzung würdigen Gegenstand anerkannt hat, ist eine ganze Reihe von Elementen bei der Praxis der Musik festzustellen, welche auf das Bedürfnis sowohl eines neuen Ansatzes, als auch eines neuen Schwerpunkts in der musikgeschichtlichen Forschung aufmerksam machen: Die Ausübung aller Formen von Musik, sowohl von komponierten als auch von improvisierten, erfolgt in unserem Kulturkreis in der Zeit und im Raum. Dass der Musik die zeitliche Ebene immanent ist, ist allen bewusst: Die Substanz der Musik besteht aus einer zeitlichen Abfolge von Tönen. Als Kunst der „tönenden Zeit“, erfolgt sie dennoch im Raum. Dieser Raum ist als Ort der musischen Betätigung zu verstehen, welcher als Ausdruck von sozialen Verhältnissen einiges für das musikgeschichtliche Verständnis zu bieten hat. Die räumliche Ebene der geschichtlichen Befassung mit der Musik setzt einen Akzent auf die Gleichzeitigkeit, auf die Synchronie: Es ist nicht nur ein einziger sozialer Raum in einer bestimmten Zeitspanne zu verorten, in dem Musik ausgeübt wurde, sondern es sind deren mehrere. Während sich eine zeitlich-linear ausgerichtete Darstellung aus methodologischen Gründen zwingend nur auf einen sozialen Raum konzentriert, dessen „Entwicklung“ sie untersucht und darstellt, betont die räumlich ausgerichtete Darstellung die Komplexität sowie Vielschichtigkeit der Ausdifferenzierungen von verschiedenen sozialen Räumen innerhalb einer Zeitspanne.

Als Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen gilt die Annahme, dass der Raum in seiner Form und Ausdehnung eine Projektion von sozialen Verhältnissen ist. Diese Auffassung ist jedoch nur eine von vielen: Jörg Dünne und Stephan Günzel haben in ihrem Standardwerk die raumtheoretischen Überlegungen der letzten 400 Jahre in sechs Themenbereiche gegliedert: (I) Physik und Metaphysik des Raums, (II) Phänomenologie der Räumlichkeit, (III) Körperliche, technische und mediale Räume, (IV) Soziale Räume, (V) Politisch-Geographische Räume, (VI) Ästhetische Räume.19 Eine ähnliche Vielfalt an Perspektiven ist auch in einer weiteren Publikation, welche von Stephan Günzel herausgegeben wurde, zu finden. Die Auseinandersetzung mit Bereichen, welche in den Hauptkapiteln von (I) Grundlagen (Naturwissenschaften, Geowissenschaften, bildende und darstellende Künste), über eine Diskussion zu (II) Raumkehren (Kopernikanische Wende, Spatial Turn, Topographical Turn, Kritik der Raumkehren) bis hin zu verschiedensten (III) Themen und Perspektiven (wie z. B. Historischer Raum, Politischer Raum bis hin zum Epistemischen Raum) reicht, macht auf die gegenwärtige (Wieder-)Entdeckung des hermeneutischen Wertes von Raum sowie auf die heterogenen Möglichkeiten der Deutung des Raumes selbst aufmerksam.20

Die ersten Schritte in Richtung der Konzeption des Raumes als Projektion von sozialen Verhältnissen machte bereits der Soziologe Georg Simmel. Er sah im Raum die Materialisierung von sozialen Handlungen. In dem Text „Über räumliche Projektionen sozialer Formen“ (1903) versucht er „die Einwirkung, die die räumliche Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre sozialen Gestaltungen und Energie erfahren“21, darzustellen. Die Newtonsche Konzeption des Raumes als „container“ wurde dadurch ins Wanken gebracht.22 Beobachtungen über räumliche Erscheinungen fanden Platz im sozialwissenschaftlichen Narrativ, da der Raum selbst als Produkt sozialer Handlungen und somit als Träger von sozialwissenschaftlich relevanten „Zeichen“ begriffen wurde.

Die Anfänge des so genannten „spatial turn“ wurden von der Historiographie wie erwähnt im Werk Edward W. Sojas verortet. Der Begriff wurde in seinen „Postmodern Geographies“ (1989) ursprünglich in Bezug auf die von Michel Foucault initiierte Hinwendung zum räumlich orientierten Denken – vor allem in seinem Aufsatz „Von anderen Räumen“ (1967), aber auch in seinem Interview „Fragen an Michel Foucault zur Geographie“ (1976) sowie in „Raum, Wissen und Macht“ (1982) – erwähnt, obwohl zu konstatieren ist, dass sich Foucault in seinen Hauptwerken nie direkt mit Fragen des Raumes beschäftigte.23 Hingegen beobachtete Soja in seiner Rezeption des Werkes des marxistisch orientierten Henri Lefebvre eine dezidierte (Wieder)Entdeckung des Raumes: Lefebvre setzt sich in „La production de l’ espace“ (1974) mit der Frage der Konstruktion des Raumes selbst, welchen er als soziales Produkt deutet, auseinander. Ausschlaggebend für die weitere Rezeption und Verbreitung des „spatial turn“ erwies sich die in allen Werken Sojas vertretene These, dass die über lange Zeit vernachlässigte räumliche Ebene unseres Weltbezuges ebenso zum Tragen kommt wie die zeitliche; eine neue Debatte um das Raumverständnis wurde dadurch eröffnet.24

Der Raum ist, um die Definition von Michel de Certeau zu zitieren, „ein Ort, mit dem man etwas macht.“25 Was steckt aber hinter diesem „machen“? Welche Praktiken rufen den Raum hervor, welche sozialen Aktivitäten und welche modi operandi bringen die statische Konstellation eines Ortes zum schwingen? Und vor allem: welche konstitutiven Momente lassen sich in der Produktion des Raumes nachvollziehen? Mit diesen Fragen setzt sich Henri Lefebvre intensiv auseinander. Er versteht den Raum stets als soziales Produkt und macht diesbezüglich auf zwei Implikationen aufmerksam: (I) „Der (physische) Naturraum rückt unwiderruflich auf Distanz.“26 (II) „Jede Gesellschaft (also jede Produktionsweise mit den ihr eigenen Besonderheiten, die spezifischen Gesellschaften, in denen man den Begriff von Gesellschaft überhaupt erkennen kann) produziert einen ihr eigenen Raum.“27 Die Natur verschwindet logischerweise nicht; sie wird aber anders wahrgenommen, und zwar als Rohstoff: „Die Natur, dieser mächtige Mythos, verwandelt sich in eine Fiktion, in eine negative Utopie: Sie ist bloß noch der Rohstoff, auf den die Produktivkräfte der verschiedenen Gesellschaften eingewirkt haben, um ihren Raum zu produzieren.“28 Die Raumpraxis jeder einzelnen Gesellschaft, mit ihren spezifischen Vorgehensweisen, bedient sich dieses Rohstoffes um den eigenen sozialen Raum zu schaffen bzw. sich den eigenen Raum anzueignen. Der angeeignete Raum bietet sich als Objekt der Analyse an, weil jede Gesellschaft eine „Produktionsweise, die bestimmte Produktionsverhältnisse beinhaltet, mit den dabei beobachtbaren Unterschieden“29 aufweist. Die Konfrontation mit dem Objekt der Analyse ist jedoch nicht unproblematisch, weil oft selbst die Begriffe, die Sprache, sowie die gesamte soziale Struktur, mithilfe derer der zur Analyse gestellte soziale Raum produziert wurde, in unserem kulturellen Kreis – also in unserem abendländischen sozialen Raum – nur schwer nachvollziehbar sind; Lefebvre zitiert, um die Problematik zu veranschaulichen, das Beispiel des erschwerten Verständnisses der asiatischen Raumverhältnisse seitens der Europäer, die nicht mit den Ideogrammen, welche ein vertieftes Erfassen der Raumbeziehungen ermöglichen könnten, vertraut sind. Einen weiteren Aspekt stellen die Fragen um den Begriff „sozialer Raum“ selbst dar, und zwar „aufgrund seiner Neuigkeit und aufgrund der Komplexität seiner realen und formalen Aspekte.“30 Zu konstitutiver Bedeutung bei der Ausformung des sozialen Raumes gelangen die sozialen Reproduktionsverhältnisse, „d. h. die bio-physiologischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den Altersstufen sowie die jeweilige Organisation der Familie, und die Produktionsverhältnisse, d. h. die Aufteilung und Organisation der Arbeit, also die hierarchisierten sozialen Funktionen.“31 Diese zwei Ebenen des sozialen Raumes, welche auch eigene Orte „besitzen“, durchdringen sich wechselseitig und sind wegen ihrer gegenseitigen Abhängigkeit nicht von einander zu trennen; in der kapitalistischen Gesellschaft verortet Lefebvre sogar drei Ebenen, die den sozialen Raum durchdringen und formen: Die „biologische Reproduktion“ (also die Familie), die „Reproduktion der Arbeitskraft“ (das ist die Arbeiterklasse) und die „Reproduktion der sozialen Produktionsverhältnisse“ (hiermit sind die sozialen Beziehungen gemeint, welche die kapitalistische Gesellschaft funktionsfähig machen). „Diese Ebenen der sozioökonomischen Produktion greifen, genauer gesagt, bis hin zum Kapitalismus ineinander und umfassen somit auch die soziale Reproduktion, d. h. das Fortleben der Gesellschaft selbst, die sich über Generationen hinweg trotz aller Konflikte, Auseinandersetzungen, Kämpfe und Kriege erhält.“32 Die Lage kompliziert sich zusätzlich, da diese Ebenen auch von Repräsentationen in einer symbolischen Art im Raum dargestellt werden, z. B. in Gebäuden, Kunstwerken und Denkmälern.

Die Theoretisierung der Raumproduktion verlegt das Interesse vom Raum selbst auf die Produktionsmodi des Raumes. Es geht hierbei um langwierige Prozesse, welche jeder einzelne Wissenschaftler mit Hilfe des eigenen methodischen Vorgehens darzustellen versucht; gerade diese Versuche und die dahinterstehende Theorie, prägen entscheidend den Prozess der Hervorbringung des Raumes. Disziplinen besitzen nämlich eine eigene Metasprache, um mit der Beherrschung und Aneignung des Raumes umzugehen. Um diese Metaebene der Raumproduktion in seine Theorie miteinbeziehen zu können, schlägt Lefebvre eine konzeptionelle Trias als derer Kern vor: (a) Die räumliche Praxis (pratique spatiale), (b) die Raumrepräsentationen (représentations de l’espace) und (c) die Repräsentationsräume (espaces de représentation).33

Diese drei Formanten der Raumproduktion stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Während durch die räumliche Praxis eine Gesellschaft ihren Raum absondert, „ihn langsam, aber sicher [produziert], indem sie ihn beherrscht und ihn sich aneignet“34, und in diesem wahrgenommenen Raum (espace perçu) die „Alltagswirklichkeit (den Zeitplan) und die Städtische Wirklichkeit (die Wegstrecken und die Verkehrsnetze, welche Arbeitsplätze, Orte des Privatlebens und der Freizeit miteinander verbinden)“35 aufeinander bezieht – Lefebvre erwähnt die kapitalistische Gesellschaft – dient der Raum der Raumrepräsentationen der wissenschaftlichen Betrachtung und Codierung des Raumes. In diesem konzipierten Raum (espace conçu) drücken sich aber wie erwähnt auch Künstler aus, welche sich wissenschaftlichen Methoden nähern; „dies ist der in einer Gesellschaft (einer Produktionsweise) dominierende Raum.“36 Diese Ebene plädiert für ein schriftliches bzw. verbales Codierungssystem. Der dritte Formant der Trias, die Repräsentationsräume, stellen den gelebten Raum dar: Das ist der Raum (espace vécu) der Bewohner sowie solcher Künstler, welche den Raum „beschreiben und nur zu beschreiben glauben. […] Es ist der beherrschte, also erlittene Raum, den die Einbildungskraft zu verändern und sich anzueignen sucht.“37 Die Repräsentationsräume tendieren zu einem unterschwelligen, oft nicht verbalen System der Tradierung.

Die Theorie Lefebvres weist somit einige Eigenschaften auf, welche sich auf die Erforschung von geschichtlichen Räumen positiv auswirken können, denn sein hermeneutisches Werkzeug macht auf das Zusammenspiel der verschiedenen konstitutiven Ebenen des Raumes aufmerksam: Die „räumliche Praxis“, die „Raumrepräsentationen“ und die „Repräsentationsräume“ sind als Formanten einer historischen Analyse geeignet. Die uns heute zur Verfügung stehenden historischen Zeugnisse – dazu sind wissenschaftliche Auseinandersetzungen als Träger von Diskursen innerhalb der „Raumrepräsentationen“ und Zeitungsrezensionen als Teil der Diskurse innerhalb der „Repräsentationsräume“ zu zählen – können unter diesem Aspekt einen erweiterten Blick in das ideologische Moment der Raumkonstruktion verschaffen.

Es ist dabei angebracht, solche Überlegungen mit der im 19. Jahrhundert führenden Ideologie des Nationalismus in Verbindung zu setzen, denn die Beziehung zwischen (sozialer) Raumkonstruktion und Nationalismus ist sehr eng, da der Nationalismus selbst um die Konstruktion eines eindeutig codierten kulturellen (nationalstaatlichen) Raumes bemüht war und ist.

GENEALOGIE DER NATION

Eine der prinzipiellen soziopolitischen Kategorien, die unsere Weltwahrnehmung sowie unseren Weltbezug mitbestimmen, ist diejenige der Nation. Diese territorial begrenzte, von einer Konstitution definierte Makrogemeinschaft bestimmt sich hauptsächlich durch die eigene Sprache und durch die vermutete gemeinsame Kultur. Es gibt kaum Gelegenheiten, bei denen man nicht mit dieser Kategorie und mit deren Auswirkungen auf das alltägliche Leben konfrontiert wird.

Die gegenwärtige Konzeption der Nation als kulturell homogene räumliche Erscheinung mit einem eigenen Staats- bzw. Verwaltungsapparat, welcher sowohl für die Sicherheit, das Wohlgefühl und die Bildung seiner Bewohner sorgt als auch als Kontrollinstanz auf allen Ebenen des privaten und gesellschaftlichen Lebens der eigenen Bürger agiert, ist relativ jung. Um das Phänomen zu definieren und zu erforschen, wurden seit den 1930er Jahren mehrere Modelle und Theorien entwickelt.38 In den fast fünfzig Jahren, welche vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion vergingen, wurde allerdings der Nationalismus als ein gesellschaftliches Phänomen der Vergangenheit eingestuft, welches durch Modernisierungsprozesse zum Verschwinden verurteilt gewesen wäre. Das Aufflammen nationalistischer Bewegungen im Osten Europas am Ende des 20. Jahrhunderts bezeugt aber das Gegenteil und lässt vermuten, dass sich hinter der internationalistischen Einstellung des sowjetischen Regimes nationalistisch ausgerichteten Tendenzen verbargen. Nach dem Zerfall des „Ostblocks“ und der darauffolgenden Suche nach „neuer“ Identität auf dem Territorium der Republiken der ehemaligen Sowjetunion sowie auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens, gelangte in den Sozialwissenschaften die Auseinandersetzung mit der Genealogie sowie mit der Entwicklung des Nationalismus zu erneuter Relevanz; die theoretischen Grundsteine dafür wurden in den 1980er Jahren durch die Arbeiten von Eric J. Hobsbawm, Ernest Gellner, Benedict Anderson gelegt.39

Die Nation und die Nationalität besitzen eine starke symbolische Bedeutung. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich nach dem Fall der Berliner Mauer gerade in den Staaten des Warschauer Pakts Tendenzen in Richtung der Ausbildung von Nationalstaaten profiliert haben. Als Träger und Garant von Freiheit und Gerechtigkeit angesehen, verkörpert die Gleichsetzung der Nation mit dem Staat ein erstrebenswertes politisches Ziel, das für eine demokratische Miteinbeziehung aller Bürger in das politische Geschehen sorgen sollte.

Laut einigen Historikern stellt der Sturm auf die Bastille den Anfang des „langen“ 19. Jahrhunderts dar,40 welches sich demnach bis 1917 erstreckt – bis zum Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den ersten Weltkrieg –, und den symbolischen Ausgangspunkt der meisten intellektuellen und politischen Strömungen bildet, welche maßgeblich das europäische Denken und Agieren des 19. Jahrhunderts geprägt haben. Die Stränge des geschichtlichen Geschehens des „langen“ 19. Jahrhunderts sind komplex und vielschichtig; die Nation – als Machtinstitution einer neuen führenden gesellschaftlichen Klasse, die zum Ziel hatte, mit dem Adel zu konkurrieren – stand als eines der leitenden Ideale im Mittelpunkt des intellektuellen und politischen Lebens. Die daraus resultierende gesellschaftliche Struktur durchdrang und durchdringt dennoch solchermaßen das soziale Gewebe, dass man die Wirkung und die Folgen der Nationenbildung – und des Nationalismus – aus der Perspektive der Repräsentationsräume von Lefebvre betrachten kann.41 Eine ganze Reihe von nicht verbalen Codes, Symbolen, Denkkategorien wurden und werden von der Nation als Machtinstitution tradiert. Diese in den Repräsentationsräumen tradierten Elemente wirkten auch auf die restlichen zwei Formanten der konzeptionellen Trias. In der räumlichen Praxis werden die Bewohner mit den kulturellen und physischen Grenzen konfrontiert, welche der Nationalismus und die Nation hervorbringen. Die Raumrepräsentationen, in der sich die Wissenschaften, wie Geschichte und Musikgeschichte, ausdrücken, stehen ebenfalls unter diesen nationalen Vorzeichen. Nation, Nationalität, Volk und Nationalsprache sind nur einige der Konzepte, welche das geschichtliche Narrativ mitbestimmen, aber keineswegs eindeutig zu definieren sind. Klarerweise wäre jegliche historische Darstellung ohne solche Begriffe, welche eigentlich als Bezugspunkte der historischen Hermeneutik und Narrative zu verstehen sind, nicht vorstellbar. Der reflektierte Umgang damit verschafft dennoch einen besseren Einblick in die Dynamik der Entstehung eines gewissen historischen Erkenntnis- sowie Erzähl-Modus.

So wie der Nationalismus – hier als Drang zur Nationenbildung gemeint – die Räume der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mitbestimmt hat, haben auch andersherum die wissenschaftlichen Betrachtungen in den Raumrepräsentationen und die verbal sowie nicht verbal tradierten Codes der Repräsentationsräume Einfluss auf die Ausbildung des Nationalbewusstseins ausgeübt; wie Lefebvre betont, sind die drei Formanten stets zugleich wirksam. Es bleibt dennoch die Frage, wie und warum sich das Nationalbewusstsein als identifikations- und identitätsstiftendes Phänomen entwickelt hat und welche Wege zur Ausbildung der Nationalstaaten geführt haben. Vor allem auf einem ethnisch und sprachlich heterogenen Territorium wie dem Triester, wird die Problematik der Entstehung von nationalistischen Bestrebungen deutlich. Die besondere geopolitische und wirtschaftliche Lage der Hafenstadt unterstreicht dazu die Bedeutung und Auswirkung von sozioökonomischen Bedingungen. Da in der vorliegenden Arbeit die musikalischen Bräuche in Bezug auf ihre Rolle bei der Entstehung und Tradierung des Nationalbewusstseins gedeutet werden, möchte ich folglich einige der heute relevantesten und resonanzstärksten Ansätze der Nationalismusforschung erläutern und damit die Wahl des theoretischen Ansatzes begründen.

Bis in die 1980er Jahre sind in der Forschung zwei Tendenzen nachvollziehbar: Eine „subjektivistische“ und eine „objektivistische“ (oder „substanzialistische“) Auffassung des Ursprunges von Zugehörigkeitsgefühlen zu einer Nation. Bei der „subjektivistischen“ Interpretation des Begriffes wird die Nation als ein Kollektiv von Individuen verstanden, welche sich durch Konsens für die Zugehörigkeit zu einer Nation entschieden haben. Hingegen steht die Herausbildung des Nationszugehörigkeitsgefühls bei der „objektivistischen“ bzw. „substanzialistischen“ Auffassung außerhalb der Entscheidungskraft des Individuums; es werden „objektivistische“ bzw. „substanzialistische“ Motive wie Geschichte, Kultur und Sprache in Betracht gezogen.42 Ein Beispiel für diese Unterscheidung bietet Friedrich Meineckes Definition der „Staatsnationen“ und der „Kulturnationen“.43

Dekonstruktivistische (auch modernistisch genannte) Theorien gewannen in den 1980er Jahren an Bedeutung. Dieser Strömung sind Theorien zuzurechnen, welche sich auf die Idee von konstruierten kulturellen Gemeinschaften beziehen. Ihrer Einsicht nach begründen diese Gemeinschaften ihr Dasein auf vermutlich gemeinsamen – meist konstruierten und erfundenen – Traditionen. Zur dekonstruktivistischen Richtung zählen die Ansätze von Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm. Einen Weg zwischen der dekonstruktivistischen und der objektivistischen Deutung schlug mit seiner Auffassung Anthony D. Smith vor. In seiner Theorie rückt er die Kontinuität der Ethnie – die er mehr als reine Konstruktion oder Fiktion begreift – als Ursprung des Nationalbewusstseins ins Zentrum der Aufmerksamkeit.44

Ernest Gellner verband in seiner zu Relevanz gelangten Theorie die Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Umwälzungen der Industrialisierung und der Verbreitung der „schriftlichen Kultur“. Die Wirtschaft setzte demnach Kultur und Staat in ein neues Verhältnis zueinander. Aus wirtschaftlichen Gründen entstand das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Homogenität; sie wurde – laut Gellner – durch die Pflege und Verbreitung einer „Hochkultur“ hervorgebracht. Die einst manifeste kulturelle Vielfalt (im Sinne einer „Volkskultur“) wurde durch die schulische Ausbildung und andere staatliche Machtorgane in den Schatten gestellt. Die Nation als territoriale, kulturell homogene Entität wurde geschaffen. In den Worten Gellners: „[…] vorläufig ist zu beobachten, daß eine enorme Vielfalt an Kulturen zunehmend von einigen wenigen Hochkulturen mit politischen Ansprüchen abgelöst wird. Dies ist das Zeitalter des Nationalismus.“45 In diesem Prozess spielte auch die Reformation eine wichtige Rolle: Verschiedene Volkssprachen wurden durch die Übersetzungen, welche die Bibel erfuhr, zum Idiom einer Hochkultur. Dadurch wurde außerdem ein Beitrag zur allgemeinen Alphabetisierung geleistet.

Nation und Nationalismus sind demnach nicht absolute und unvergängliche Phänomene. Ihre Blütezeit ist in der Zeit des Überganges zur Industriegesellschaft zu verorten. In jener Zeit kristallisierte sich sowohl bei den Herrschern als auch bei den Beherrschten die Frage nach der eigenen Nationalität heraus, da sie in demselben Staat lebten. In diesem Klima fanden zwei Kategorien, die unabhängig voneinander entstanden sind und bis zum damaligen Zeitpunkt getrennt voneinander betrachtet wurden, zueinander: Staat und Nation wurden zu einer Einheit. Gellner untermauert seine Auffassung des Nationalismus mithilfe eines chronologischen Modells, das auf fünf Phasen der Entwicklung des Nationalismus deutet;46 des Weiteren unterscheidet er zwischen vier verschiedenen geographischen Zonen, die paradigmatische Unterschiede beim Hervortreten des Nationalismus aufweisen.47

Gellners Ausführungen über den Nationalismus entzündeten eine rege Diskussion in der akademischen Welt. Die Hauptkritikpunkte setzen sich mit der Auffassung Gellners auseinander, nach der der Nationalismus ein Produkt des Industriezeitalters sei und in diesem Sinne eine funktionalistische Rolle einnahm. Andere Autoren stimmen ihm zwar zu, merken aber an, dass dabei auch andere politische Prozesse – wie z. B. die Demokratisierung der Gesellschaft – miteinzubeziehen wären. Auch die Behauptung Gellners, dass sich in der spätindustriellen Gesellschaft die nationalistischen Gefühle abschwächen würden, wird von einigen Autoren in Frage gestellt.48