Zwischen Leber und Milz passt immer ein Pils - Carsten Lekutat - E-Book

Zwischen Leber und Milz passt immer ein Pils E-Book

Carsten Lekutat

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Beschreibung

Husten, Schnupfen, Heiserkeit – das ist das Tagesgeschäft von Hausarzt Carsten Lekutat. Doch manchmal ist selbst der routinierte "Gesundmacher" mit seinem Mediziner-Latein am Ende. Zum Beispiel, wenn sein fieser Widersacher "Doktor Google" bei einem blauen Fleck mal wieder die Beulenpest diagnostiziert, oder das Wartezimmer komischerweise immer dann am vollsten ist, wenn die neue BUNTE erscheint. Ein Lesevergnügen ohne Risiken und Nebenwirkungen – aber Vorsicht: Lachen steckt an! 

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deMeinen Töchtern.Ich wünsche euch, dass ihr auch einmal einenso schönen und erfüllenden Beruf findet.Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe1. Auflage 2013ISBN 978-3-492-96338-1© Piper Verlag GmbH, München 2014Covergestaltung: bürosüd°, MünchenCovermotiv: Arne Schultz, R9-StudioDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Von Ochsen und Menschen

Als ich den Entschluss fasste, Arzt zu werden, war ich gerade mal zwölf Jahre alt. Damals wollte ich unbedingt Menschen helfen. Der Hausarzt sein, dem sich die gesamte Familie anvertraut. Immer verfügbar für meine Patienten, Tag und Nacht. Aber was weiß ein zwölfjähriger Junge schon von ständiger Rufbereitschaft? Von nächtlichen Hausbesuchen oder einer Hausbesuchspauschale in Höhe von 21,20 Euro?

Diese Nebensächlichkeiten waren mir damals zum Glück noch ganz egal. Ich wollte einfach nur Arzt werden. Und ich konnte es kaum erwarten.

Als Vierzehnjähriger war meine Ungeduld so groß, dass ich unbedingt meine chirurgischen Fähigkeiten verbessern wollte und suchte deshalb nach einem geeigneten Opfer. Genau genommen waren noch gar keine chirurgischen Fähigkeiten vorhanden, die man hätte verbessern können – zumindest keine, die über das fachgerechte Zerlegen eines Schnitzels in der heimischen Küche hinausgingen. Ich stürzte mich also auf das frisch geschossene Wildschwein, das ein Bekannter bei uns abgeladen hatte, und machte mich ans Präparieren. Der daraus hervorgegangene Wildschweinbraten hatte meinen Eltern zwar nicht mehr allzu gut geschmeckt, doch ich war meinem Bildungsauftrag gerecht geworden. Denn mit großer Präzision hatte ich mich den Fasern und Knorpeln gewidmet, sodass meine Eltern nach meiner Aktion den lateinischen Namen jedes einzelnen Muskels kannten, der auf ihrem Teller lag.

Aber ein Entrecôte schmeckt eben auch nur so lange gut, wie man verdrängen kann, dass es sich um den Musculus longissimus dorsi handelt …

Da ich meinen Eltern nicht noch öfter den Appetit verderben wollte, musste ich andere Möglichkeiten finden, meine Anatomiekenntnisse und chirurgischen Fähigkeiten zu trainieren. Und die fand ich in einer Kleintierhandlung um die Ecke. Nach dem Motto »frisch gewagt ist halb approbiert« fragte ich den Besitzer, ob er nicht irgendwelche toten Hasen oder Meerschweinchen hätte, an denen ich üben könnte. Ich hatte schließlich gelesen, dass Medizinstudenten an genau diesen Tieren geschult wurden. Was mir das später im Studium für einen Vorteil verschaffen würde! Leider gab es keine toten Hasen in der Tierhandlung – aber einen toten Papagei. Der Besitzer des Ladens überreichte ihn mir mit den Worten: »Und wenn du herausgefunden hast, woran er gestorben ist, dann lass es mich bitte wissen.«

»Natürlich«, antwortete ich zuversichtlich. Was sollte ich auch sagen? »Nein, ich will nur üben?«, oder »Ich habe keine Ahnung von Vögeln oder Anatomie und bin froh, wenn ich die Leber von der Milz unterscheiden kann«?

Ich nahm also den toten Vogel mit nach Hause. Da aber zunächst einmal Schularbeiten anstanden, musste die Sektion warten, und ich entschied mich, den Papagei im Tiefkühler zwischenzulagern.

Leider ging meine Mutter vor mir an das Tiefkühlfach. Sie erwartete Fischstäbchen und Blattspinat, doch stattdessen fiel ihr eine dreihundert Gramm schwere Grünwangenamazone im gefrorenen Zustand entgegen. Fischstäbchen gab es an diesem Tag keine mehr für mich. Aber Arzt wollte ich trotzdem immer noch werden.

Seit der gefrorenen Grünwangenamazone waren einige Jahre vergangen, doch meine Begeisterung für die Medizin war ungeborchen. Naja, fast. Vielleicht hätte ich mich bei der Praxisgründung doch lieber für den schicken Ku’damm entscheiden sollen. Die Sonne war schon lange untergegangen, und ich war wieder einmal überrascht, wie ländlich Berlin doch sein konnte. Meine Hausarztpraxis lag am nördlichen Stadtrand des ehemaligen Westteiles der Stadt. Da der Berliner zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung nicht einfach ins Grüne fahren konnte, hatte der Senat damals darauf geachtet, auch innerhalb des Stadtgebietes ländliche Flächen zu erhalten. Und durch so eine ländliche Fläche kämpfte ich mich nun auf meinem alten Fahrrad. Der Boden war gefroren, und eine dünne Schneedecke bedeckte den Asphalt.

Hätte ich mich am Ku’damm niedergelassen, würde ich jetzt die warme U-Bahn nehmen. Oder ein Taxi. So was können sich Ku’damm-Ärzte bestimmt leisten. Aber nein – es musste ja die kleine Praxis am Stadtrand sein. Manchmal hätte ich gerne den zwölfjährigen Jungen von damals, der mir das alles eingebrockt hat, ordentlich geohrfeigt.

Meine Patientin, Frau Koslowski, wohnte schon seit ihrer Geburt in dem alten Haus, und das waren mittlerweile 80 Jahre. Sie hatte das Anwesen von ihren Eltern geerbt, die es wiederum von ihren Eltern vermacht bekommen hatten. Warum das Haus allerdings seit dem Erstbezug durch die Koslowski-Familie im vorletzten Jahrhundert nicht ein einziges Mal renoviert worden war, erschloss sich mir nicht. Aber auch Frau Koslowski selber wurde ja seit 80 Jahren nicht renoviert. In den vielen Jahren, in denen sie meine Patientin war, hatte sie noch jeden Therapievorschlag dankend abgelehnt.

Und auch ihr Ehemann besaß nicht die nötige »Regelfolgebereitschaft«, wie Ärzte das Verhalten mündiger Patienten gerne abschätzig bezeichnen. Aber Herr Koslowski hatte Anstand. Er kam gar nicht erst in meine Praxis, um dann die vorgeschlagenen Therapien abzulehnen, wie seine Gattin. Er ließ sich gar nicht erst blicken.

Und zu diesem Pärchen war ich nun zum Hausbesuch gerufen worden. Ich stellte mein Fahrrad im Vorgarten ab und klopfte an die Tür. Das schreibe ich nicht etwa, weil es dramatischer klingt als »ich klingelte«. Nein, ich klopfte tatsächlich, weil Familie Koslowski nämlich keine Klingel besaß. Die hatte es im letzten Jahrhundert offenbar noch nicht gegeben. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich Schritte im Windfang hörte.

»Wer ist da?«, rief Frau Koslowski, ohne Anstalten zu machen, die Tür zu öffnen.

»Der Doktor!«

»Wer?«

An sich bin ich ja ein freundlicher Mensch und auch einigermaßen humorvoll. Diese Eigenschaften verliere ich allerdings bei gefühlten minus zwanzig Grad und einer Besucherpauschale von weniger als zwei Pizzen mit Cola schon mal aus den Augen.

»Hier ist der Doktor! Frau Koslowski! Es ist kalt! Machen Sie bitte die Tür auf!«

Wer einmal ein zu altes Haus mit einer zu alten Ofenheizung betreten hat, der kennt das sonderbare Warm-aber-dennoch-kalt-Klima, das mir bei Betreten des Gebäudes entgegenschlug. Die feuchte Hitze im Gesicht und ein kaltes Gefühl im Rücken, folgte ich Frau Koslowski in die gute Stube. Welche anaeroben Bakterien gedeihen in diesem Klima wohl besonders gut? Nicht jeder Keim braucht Sauerstoff, um sich zu vermehren. Unangenehme Zeitgenossen wie Clostridien, Legionellen und Neisserien, aber auch viele Dauerbewohner unseres Darmes lieben eine Atmosphäre mit wenig frischer Luft. Allerdings brauchte Frau Koslowski im Gegensatz zu ihren Darmbakterien Sauerstoff, und daher öffnete ich erst mal das Wohnzimmerfenster. Doch diese therapeutische Leistung, die ich ihr nicht einmal berechnet hätte, wurde von meiner Patientin sofort abgelehnt.

»Ich schleppe doch nicht die ganze Kohle hier rein, damit die schöne Wärme in den Garten verschwindet«, belehrte sie mich.

»Frau Koslowski, was kann ich denn für Sie tun?«

Ich wollte diesen Besuch so schnell wie möglich hinter mich bringen. Es war ja nicht mein erster Einsatz heute.

Zehn Stunden Sprechstunde und zwei weitere Hausbesuche hatte ich bereits absolviert. Das sollte der letzte Besuch für heute sein, und ich freute mich auf meine warme Wohnung und mein warmes Bett. Vielleicht hatte mir meine Frau Joanna auch schon einen dampfenden Tee gemacht und die Decke auf meinem Lieblings-Sofa für mich ausgebreitet. Ich würde meiner kleinen Tochter Lilli einen Gutenachtkuss geben und den Abend in den Armen meiner Frau ausklingen lassen. Aber vorher musste ich rausfinden, was Frau Koslowski fehlte.

»Nehmen Sie erst mal Platz, Herr Doktor«, sagte sie und ging aus dem Wohnzimmer. »Ich mache uns einen schönen Tee.«

Eine ungeschriebene Regel im Arzt-Patienten-Verhältnis lautet, dass der Patient dem Arzt jederzeit widersprechen darf, der Arzt aber nie dem Patienten – wenn er ihn nicht verlieren möchte. Und das möchte er nicht. Genauer gesagt, möchte das die Bank nicht, die den Kredit für die Praxisgründung gnädig genehmigt hat.

Dieses Ungleichgewicht des ärztlichen Beziehungsgeflechtes lernt man schon an der Uni kennen. Im Krankenhaus gilt diese Regel in leicht abgewandelter Form. Sie bestimmt unter anderem das Verhältnis des Stationsarztes zu Oberarzt, Krankenschwestern und Reinigungspersonal. Gut, als Arzt kann man natürlich diesen Personen widersprechen. Aber die Konsequenzen wären grauenvoll: Nächtliches Wecken zum Blutdruckmessen und ein dreckiges Nachtdienstbett sind nur einige Spielarten kleiner Gehässigkeiten, mit denen unser Berufsstand zu kämpfen hat.

Ich widersprach meiner Patientin also nicht und wartete geduldig auf den Tee.

»Bitte, Herr Doktor. Es ist Hagebutte mit Milch.« Frau Koslowski stellte das Teekännchen und zwei Tassen auf den Wohnzimmertisch und eilte in die Küche, um ein paar Kekse zu holen.

»Frau Koslowski! Was kann ich denn heute für Sie tun?«, rief ich ihr hinterher.

»Sie können schon mal den Tee einschenken!«

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine: Was fehlt Ihnen? Warum haben Sie mich gerufen?«

Wie ein Blitz kam Frau Koslowski in das Wohnzimmer zurückgeeilt. Sie schaute mich böse an und legte ihren Zeigefinger an den Mund, um mir zu signalisieren, dass ich still sein sollte.

»Psst!«, fuhr sie mich an. »Walter darf uns nicht hören.«

»Wo ist Ihr Mann eigentlich?«

»Er schläft.«

»Und warum darf er nicht wissen, dass ich bei Ihnen bin?«, fragte ich verwundert.

»Weil Sie heute nicht bei mir sind. Sondern bei ihm. Mir geht es doch gut, Herr Doktor.«

Es ist schon erstaunlich, wie häufig Patienten zu mir kommen, um über ihren Partner zu sprechen. Natürlich immer ohne dessen Wissen. Ganze Verschwörungsszenarien werden dann zwischen Hausarzt und Patient entwickelt. Meistens kommen die besorgten Ehefrauen zu mir, weil der Mann sich weigert, selber zum Arzt zu gehen. Häufig kommt die Patientin in meine Praxis und schiebt irgendeine eigene Beschwerde vor. Sehr beliebt sind dabei Bauchschmerzen.«

Die Innere Medizin kennt mehr als 50000 verschiedene Diagnosen. Und die Allgemeinmedizin kümmert sich um Patienten aus allen Fachrichtungen. Zu den 50000 internistischen Leiden kommen also noch Krankheiten aus der Frauenheilkunde, der Chirurgie, der Neurologie, der Orthopädie und natürlich auch der Psychiatrie hinzu. Und jede von ihnen kann sich durch Bauchschmerzen bemerkbar machen. Meistens läuft es also so: Nachdem ich mir mindestens fünf Minuten lang Gedanken über die Einstufung des Schmerzes gemacht habe und mindestens dreißig verschiedene, meist bösartige Erkrankungen ausgeschlossen habe, winkt die Patientin plötzlich ab und wechselt das Thema.

»Ist ja nicht so schlimm. Aber wenn mein Mann das nächste Mal zu Ihnen kommt – sagen Sie ihm aber nicht, dass ich Ihnen das gesagt habe – dann …«

Ich fühle mich dann dem Mann gegenüber immer wie ein Verräter, finde es aber trotzdem gut, dass die Frau wenigstens den Mut gefasst hat, mich ins Boot zu holen. Ich vermerke dann brav in der Patientenakte des Mannes die fremdanamnestisch erhobenen Befunde mit dem Hinweis »nicht erzählen, dass Ehefrau hier war«. Aber meistens kommt der Ehemann sowieso nicht in meine Sprechstunde.

Dem wollte Frau Koslowski anscheinend zuvorkommen. In dem Wissen, dass ihr Ehemann sowieso nie die Schwelle meiner Praxis überschreiten würde, hatte sie mich vorsorglich zu sich nach Hause gerufen – unter dem Vorwand einer eigenen Beschwerde. Meine Stimmung wurde dadurch nicht wirklich besser. Wenn ich schon zu einem Besuch geholt werde, dann wünsche ich mir doch wenigstens einen dankbaren Patienten. Und Dankbarkeit war nicht zu erwarten, von einem bereits schlafenden, Ärzte meidenden, im eigenen Haus überraschten Mann.

»Was fehlt Walter denn?«, versuchte ich die Situation voranzutreiben.

Frau Koslowski schaute nervös von rechts nach links, als ob sie sicherstellen wollte, dass Walter nicht heimlich ins Zimmer gekommen war.

»Er hat einen Ochsensack«, flüsterte sie.

Ich würde nicht behaupten, dass ich alle 50000 Diagnosen der Inneren Medizin kenne. Aber die meisten von ihnen hatte ich zumindest schon einmal gehört oder gelesen. Die Krankheit »Ochsensack« war ganz bestimmt nicht dabei.

Um sicher zu gehen, dass ich mich nicht verhört hatte, flüsterte ich zurück: »Einen Ochsensack?«

»Ja. Seit drei Tagen. Und er will nichts dagegen tun.« Frau Koslowski war den Tränen nahe.

Ich muss zugeben, dass ich zunächst recht amüsiert über diese Krankheit war. Aber meine Patientin schien sich wirklich Sorgen zu machen, sodass ich mir eine Anspielung aus dem Bereich der Tiermedizin verkniff.

»Frau Koslowski, was ist denn ein Ochsensack?«, fragte ich mit ehrlichem Interesse.

»Na, ein Sack, so groß wie bei einem Ochsen halt. Das müssen Sie doch kennen!«

Ich wusste nicht, ob ich mich geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte, aber die Größe meiner Genitalien kannte Frau Koslowski sicher nicht. Ich entschied mich trotzdem fürs Geschmeicheltsein und sagte: »Dann schauen wir uns jetzt den Hoden Ihres Mannes mal an.«

»Aber heimlich!«, zischte die alte Dame.

Also schlichen wir leise ins Schlafzimmer, und während ich noch darüber sinnierte, was für eine absurde Situation das war, hob Frau Koslowski die Bettdecke über ihrem schlafenden Mann an, und schon leuchtete ich mit der Lampe meines Ohrenspiegels auf den entblößten Unterleib. Und tatsächlich!

Ich kann zwar die Dimension des Gemächts eines Ochsen nicht einschätzen, aber Walter Koslowskis Hoden war riesig. Genauer gesagt, der Hodensack war riesig – mindestens auf das Fünffache seiner normalen Größe angeschwollen.

»Sehen Sie?«, flüsterte Frau Koslowski. »Das war früher nicht so«, fügte sie entschuldigend hinzu.

»Das ist ein Skrotalödem«, erklärte ich.

»Wie bitte?«

»Ihr Mann hat Wasser im Sack.« Das war wahrscheinlich verständlicher, zumindest nickte die alte Dame beeindruckt.

»Und wie kommt das da wieder raus?«, wollte sie wissen.

»Die Frage ist vielmehr: Wie ist das da reingekommen?«, bemerkte ich.

»Also, ich war’s nicht. Wir machen so was schon lange nicht mehr.«

Der letzte Satz lag bedeutungsschwanger im Raum, während Frau Koslowski ihren Mann wieder zudeckte. Leise gingen wir zurück ins Wohnzimmer, um Walter nicht aufzuwecken. Für ein Skrotalödem gibt es viele Ursachen. Entzündungen sind die harmlosesten, Herzerkrankungen und Tumoren die schlimmsten. Was Herrn Koslowski fehlte, würde ich nur durch weitere Untersuchungen herausfinden können.

»Ihr Mann muss morgen zu mir in die Praxis kommen«, fing ich vorsichtig an. »Wir müssen rauskriegen, was hinter dieser Schwellung steckt.«

»Das macht der nie«, winkte meine Patientin ab.

»Muss er aber. Erstens kann der Hoden Schaden nehmen …«

»Das macht nichts!«, unterbrach mich Frau Koslowski. »Wir wollen keine Kinder mehr.«

»Frau Koslowski, Sie sind 80 Jahre alt. Natürlich wollen Sie keine Kinder mehr. Aber der Hoden produziert mehr als nur Samenzellen. Und selbst wenn Sie die Hoden Ihres Mannes entbehren können und zur Kastration freigeben würden, hinter so einer Schwellung kann eine ernsthafte Erkrankung stecken. Und das müssen wir herausfinden.«

»Aber sagen Sie ihm nicht, dass Sie bereits hier waren«, bat mich die Dame. »Wenn wir morgen bei Ihnen sind, müssen Sie den Hoden wie zufällig entdecken.«

Als ich in die kalte Winterluft hinaustrat und mich auf mein Fahrrad setzte, überlegte ich, wie man einen Hoden wohl zufällig entdeckt. Selbst bei einem Ochsenhoden würde sich das sehr schwierig gestalten …

Lassen Sie mich durch – ich werde Arzt

Klar fahre ich gerne Fahrrad. Aber nicht im Schneesturm und nicht nach Ende eines solchen Tages. Wer behauptet, Sport am Abend mache den Kopf frei von allen Sorgen, geht bestimmt auch ohne Thermo-Unterwäsche nach Norwegen wandern. Weil’s so schön und gesund ist. Aber Berlin ist nicht Norwegen. Die Fjorde der Großstadt bestehen aus vermatschten Straßen und durch den Schnee unsichtbar gewordene Straßenbahnschienen.

Mein Kopf wurde während der Nachhausefahrt durch das verschneite Berlin kein bisschen freier. Im Gegenteil. Meine Gedanken kreisten noch immer um die Patienten des Tages. Hatte ich bei Frau Falkenhorst den Husten wirklich genügend abgeklärt, oder sollte ich doch noch eine Röntgenaufnahme machen? Warum lässt sich der Bluthochdruck von Herrn Lowerick nur so schwer einstellen? Und warum hat Herr Koslowski diesen gigantischen Hoden?

Aber auch meine Praxis machte mir Sorgen. Aus übermütiger Freude darüber, dass ich endlich Facharzt war, hatte ich die kleine Praxis am Stadtrand viel zu teuer gekauft. Meine Bank störte das nicht wirklich, und so war ich genau so weit verschuldet, dass nach der Zahlung der Rate zwar nicht mehr viel Geld für mich übrig blieb, eine Kündigung des Kredites aber mein finanzielles Ende bedeutet hätte.

Je mehr Eiskristalle sich an meinem Dreitagebart bildeten, desto wilder wirbelten meine Gedanken im Kreis. Während ich mit einer Hand den kalten Lenkergriff meines Fahrrades festhielt und versuchte, die Spur zu halten, fischte ich mein Handy aus der Manteltasche und wählte die Nummer meiner Frau. Vielleicht würde ihre Stimme mich noch einmal daran erinnern, warum ich das alles tat. Und weshalb ich eigentlich Arzt geworden war.

»Ich kann jetzt nicht«, begrüßte mich Joanna kurz angebunden. Das ist der Nachteil der Rufnummerübermittlung. Entweder gehen die Leute gar nicht mehr ans Telefon, wenn sie sehen, wer dran ist, oder sie fallen gleich mit der Tür ins Haus.

»Bis du im Stress? Ist was mit Lilli?«, fragte ich besorgt.

»Sie hat gerade das komplette Gläschen Gemüseallerlei mit Mini-Pasta und zartem Bio-Rind ausgespuckt. Der ganze Boden ist voll damit! Ich wusste gar nicht, dass ein neun Monate altes Kind so weit spucken kann!«

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich auf dem Heimweg bin.«

Wahrscheinlich hatte ich insgeheim gehofft, dass die Ankündigung meiner baldigen Ankunft so etwas wie Freude bei Joanna hervorrufen würde. Freude, die vielleicht sogar in das Aufbrühen eines frischen Tees münden könnte. Weit gefehlt.

»Dann komm mal heim.«

»Du wirst nicht glauben, was ich eben auf meinem Hausbesuch erlebt habe.« Aber Joanna hatte das Gespräch schon beendet.

Handys machen nicht »klick« beim Auflegen, sie sind einfach still. Der nasse Schnee in meinem Gesicht, der kalte Wind und die plötzliche Stille ließen mich spüren, wie weit ich noch zu radeln hatte. Ärgerlich steckte ich das Handy wieder in die Jackentasche. Aber über wen ärgerte ich mich eigentlich? Joanna konnte nichts dafür, dass ich unzufrieden war. Sie hatte genug eigene Sorgen. Und Lilli war viel zu klein, um für mein Seelenheil verantwortlich zu sein. Auch Frau Koslowski und ihr übermäßig bestückter Gatte hatten nichts mit meiner Entscheidung zu tun, bei jedem Wetter Hausarzt zu sein. Ich alleine war dafür verantwortlich.

Dabei hatte meine Liebe zur Medizin gar nicht so romantisch begonnen. Es gibt Momente im Leben, die sich in der Erinnerung einprägen wie ein schiefer Stein in einem Mosaik. Die passen da irgendwie nicht hin, aber trotzdem machen sie das Bild interessant.

Einer dieser Momente war der Tag, an dem ich mich entschieden hatte, Arzt zu werden. So selbstverständlich und unumstößlich, wie das nur einem zwölfjährigen Jungen möglich ist.

Und wie man bei einem Mosaik immer auf den einzigen schiefen Stein schielt, kehrten meine Gedanken auch jetzt zu diesem Moment meiner Kindheit zurück.

Ich hatte im Wohnzimmer gesessen, während meine Mutter die Wäsche bügelte, und mir war langweilig gewesen. Stinklangweilig.

Meine Mutter schaute mich genervt an. »Lies doch was, wenn dir langweilig ist.«

»Was denn?«

»Du hast doch so viele Bücher. Du musst sie dir nur holen.«

Von der Couch aus schaute ich zum Bücherschrank meiner Eltern hinüber, der deutlich näher war als mein Zimmer. Ich blickte auf die Titel der Werke, die im Regal standen. Dicke Wälzer wie Krieg und Frieden und Der Butt, sicherlich nicht die geeignetste Lektüre für einen Zwölfjährigen. Aber ich war einfach zu faul, um in mein Zimmer zu gehen und mir dort etwas zum Lesen zu holen.

»Ich will nichts lesen«, maulte ich.

»Wenn dir langweilig ist, bist du unausstehlich!«

»Bin ich gar nicht!«

Das einzige Buch im Regal meiner Eltern, das halbwegs interessant aussah, hatte eine Zeichnung auf dem Buchrücken. Es hieß Erklär mir das – der Mensch. Einerseits fand ich gut, dass auch meine Eltern ein Buch mit einem Bild auf dem Rücken besaßen, zum anderen verstand ich aber den Titel nicht. Sollte es nicht vielmehr heißen Erklär mir das, Mensch!? Oder noch besser: Mensch, erklär mir das bitte mal!?

Aber vielleicht war es ja ein Buch über den menschlichen Körper. Zumindest war die Strichzeichnung eines nackten Menschen darauf abgebildet – natürlich ohne Geschlechtsteile, wie sich das für die frühen Achtzigerjahre gehörte. Aber das konnte im Innenteil des Buches natürlich ganz anders sein, also zog ich es neugierig aus dem Regal.

Wenn Langeweile durch Neugierde verdrängt wird, geht das nicht von einem Augenblick auf den anderen. Die beiden Gefühle sind einfach zu unterschiedlich, als dass sie nahtlos ineinander übergehen könnten. Keinesfalls kann einem langweilig sein, während man gleichzeitig neugierig ist. Das ist ein innerer Kampf, bei dem nicht selten die Langeweile gewinnt. An diesem Tag aber war es anders.

»Okay, ich lese was«, gab ich mich geschlagen.

»Gott sei Dank!« Meine Mutter wandte sich wieder dem Bügelbrett zu.

Als ich das Buch aufschlug, war mir sofort klar, dass es ein Medizinbuch war: Alles voll mit biologischen Strichzeichnungen. Hier fanden sich endlich neben Abbildungen von Bakterien, Gehirnen und Därmen auch Zeichnungen der Genitalorgane. Da ich aber mit meinen zwölf Jahren schon aufgeklärt war (daran erinnere ich mich, nicht aber daran, wer mich eigentlich aufgeklärt hatte), fand ich die Penis- und Vagina-Zeichnungen gar nicht soooo aufregend. Vielmehr faszinierte mich, wie es in unserem Inneren so aussah. Und was alles passieren konnte, wenn es im Körper nicht mehr ganz so reibungslos lief.

Was gab es nicht alles für Krankheiten! Lepra, Schlaganfall, Gicht. Nein, AIDS gab es noch nicht, zumindest nicht in Erklär mir das – der Mensch. Als ich das Buch aufschlug, war mir langweilig. Als ich das Buch zuschlug, wusste ich: Ich werde Arzt!

»Ich werde Arzt, Mama!«

»Aha.«

Seit dieser Stunde gab es für mich keinen anderen Beruf mehr. Ich kaufte mir in einer Fachbuchhandlung für Medizin ein lebensgroßes Skelett aus Pappe sowie einen Schädel aus Plastik, verbannte die Star-Wars-Modellraumschiffe und Tierposter aus meinem Zimmer und verwandelte unseren Dachboden in ein Sprechzimmer. Von Geheimnissen hielt ich als Zwölfjähriger nicht viel, also ließ ich jeden wissen, dass ich Arzt werden würde. Meine Eltern, meine Freunde, meine Lehrer, sogar meine Klavierlehrerin. Die interessierte sich nicht wirklich für meine Entscheidung, nutzte aber das Stichwort, um sich bei mir über ihren Hausarzt zu beschweren. Sie hätte doch Schmerzen im Nacken, und der würde einfach nichts finden.

So lernte ich schon sehr früh drei Dinge, die mich mein Leben lang begleiten sollten. Erstens, sprich nie Menschen auf Gesundheitsthemen an, wenn du die Antwort nicht ertragen kannst. Jeder hat was über seine Beschwerden zu erzählen, und wenn man auch nur so tut, als hätte man den Hauch einer Ahnung, ist man hoffnungslos im Redeschwall des Gegenübers gefangen.

Zweitens fand ich heraus, dass der Patient immer alles besser weiß als sein Arzt. Warum konnte der Quacksalber nicht die Ursachen der Nackenschmerzen finden? Das muss doch die Bandscheibe gewesen sein!

Und drittens lernte ich die wahrscheinlich wichtigste Lektion meiner Kindheit: Ich konnte meine Klavierlehrerin mit Gesundheitsthemen vom Unterricht ablenken! Eine äußerst wertvolle Erkenntnis, denn wenn ich eins mehr hasste als Klavierspielen, dann war es Klavierüben. Bei jeder Gelegenheit lenkte ich von da an die Gespräche beim Musikunterricht auf Körperfunktionen und deren Versagen – und konnte damit gut von meinem eigenen ablenken. Lasst mich durch, ich werde Arzt!

Nachdem der Entschluss gefasst war, Medizin zu studieren, begann ich gleich das Berufsfeld zu erkunden: Ich erinnere mich noch an Literatur wie Doktor Ahoi – Geschichten eines Schiffsarztes und etliche Folgen der Schwarzwaldklinik, die ich irgendwie ernster nahm, als meine Freunde es taten. Ich fand die Geschichten um Liebe und Intrigen störend und freute mich jedes Mal, wenn nach einem schweren Autounfall in herrlicher Schwarzwaldlandschaft die Fernseh-Ärzte im OP um das Leben des Patienten kämpften. Doch als der junge Brinkmann in die Unfallklinik nach Hamburg versetzt wurde und die hässliche Seite des Arztberufes gezeigt wurde, fand ich die Serie plötzlich unrealistisch.

Seltsamerweise wird man für andere Menschen interessanter, wenn man sich der Medizin widmet. Und dafür muss man noch nicht einmal angefangen haben zu studieren – der Wunsch reicht aus. Nachdem ich auch bei meinen Lehrern hatte durchblicken lassen, dass ich eines Tages den Olymp des Arztberufes erklimmen würde, verbesserten sich plötzlich meine Schulnoten – von ganz alleine, ich musste gar nichts dafür tun. Das Medizinstudium hatte schon vor seinem eigentlichen Beginn eine solche Strahlkraft, dass allen klar war: Wenn der Medizin studieren wird, dann muss er wirklich schlau sein. Ich hatte es gar nicht mehr nötig, das auch zu beweisen. Zum ersten Mal in meinem Leben behandelte ich andere Menschen mit einem Placebo – und das Placebo war ich selbst.

Ich stieg im Ansehen meiner Mitmenschen, ohne dafür etwas geleistet zu haben. Unser Nachbar sah mich eines Tages verschmitzt an und sagte: »Wenn du Arzt wirst, dann hast du ja finanziell ausgesorgt. Da verdienst du Geld ohne Ende.«

Darüber hatte ich bis dahin noch gar nicht nachgedacht. Geld war mir bislang nicht wichtig, hatte ich doch alles, was ich wollte, immer von meinen Eltern bekommen. Trotzdem lächelte ich unseren Nachbarn wissend an, als wollte ich sagen: »Du hast es erfasst, deswegen will ich ja Arzt werden.«

Er klopfte mir stolz auf die Schulter, und ich hatte das Gefühl, dass er zu mir aufschauen würde. Was insbesonders deshalb seltsam war, weil er größer als zwei Meter war, und ich erst zwölf.

Unterschätzen Sie niemals ein Kind mit einer Mission. War ich ein guter Schüler? Keine Ahnung. Aber ich hatte ein Ziel. Anstatt Lateinvokabeln zu lernen, übte ich lieber für den Medizinertest. Damals wurden einige Studienplätze für Abiturienten vergeben, die besonders schnell stumpfsinnige Aufgaben in einem eigens für angehende Ärzte erstellten Intelligenztest lösen konnten. Damals hätte es mir zu denken geben sollen, welche Fähigkeiten von den Medizinstudenten verlangt wurden. So musste man blödsinnige Patientengeschichten auswendig lernen, um sie nach einer halben Stunde wieder zu vergessen, Bilder von Wollknäueln in Glaswürfeln gedanklich in allen Ebenen des Raumes drehen und schier endlose Zeilen mit den Buchstaben q und p lesen, um die q’s von den p’s zu unterscheiden.

Jedenfalls wurde ich ein echter Profi in Sachen q und p und daher mit einer mittelmäßigen Abiturnote trotzdem in die heiligen Hallen der medizinischen Fakultät aufgenommen.

Ende der Leseprobe