Zwischen Menschlichkeit und Herrlichkeit - Magnus Malm - E-Book

Zwischen Menschlichkeit und Herrlichkeit E-Book

Magnus Malm

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Beschreibung

Diese Zeit ist für Kirchen und Gemeinden krisenbeladen. Das stellt Leitende vor die Frage: Wie können wir die Menschen, die uns anvertraut sind, da sicher und gut hindurch navigieren? Magnus Malm spricht Ihnen als Leiterin und Leiter klar, aber ruhig Mut zu: Wir sind genau so wie Jesus in diese Welt gesandt. Was bedeutet das für eine Krise? Zum einen, dass wir berufen sind, mitten in allem Menschlichen zu leben - von persönlicher Schwäche bis kollektiver Existenzbedrohung. Und zum anderen heißt es, dass wir von dem Zwang der Welt frei sind, zwischen "wir" und "die" polarisieren zu müssen. Ein Buch voller relevanter geistlicher Schlüssel für alle, die Gemeinde leiten und Kirche bauen.

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Magnus Malm

ZWISCHEN MENSCHLICHKEIT UND HERRLICHKEIT

In Krisenzeiten geistlich leiten

Aus dem Schwedischen von Constanze Budde

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-27072-3 (E-Book)

ISBN 978-3-417-00004-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

©2023 R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in Swedish under the title

Fri att tjäna. Del 2 – Församlingsarbete i Jesu efterföljd.

© Magnus Malm 2020

Published by Artos & Norma bokförlag.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002

und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.

Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (lut)

Übersetzung: Constanze Budde

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Coverillustration: venimo/ shutterstock.com

Autorenfoto: © 2020 Artos & Norma bokförlag

Fotos im Innenteil:

S. 78 (Polyklet, Skulptur, Ganzkörperansicht, Bildnr.: AKG361477)

© akg-images / Nimatallah

S. 79 (Porträt des Lucius Caecilius Felix, Bildnr: AKG950641) © akg-images

S. 334 (Portät Jean de Brebeuf) in: Reuben Gold Thwaites: The Jesuit Relations and

Allied Documents,1897.

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

INHALT

Über den Autor

Vorwort: Wie eine Zweizimmerwohnung

1. Wer ist Herr, wer Diener? – Geistlich erfolgreich leiten, ohne nach Erfolg zu streben

2. Vom Umgang mit Krisen – Der Reichtum geistlicher Armut

3. Gott und Mensch wohnen im gleichen Haus – Die eigentliche Menschlichkeit wiederentdecken

4. Der kürzeste Weg zum Herzen des anderen – Unsere Sendung im Pulsschlag von Jesus

5. Auf der Welle Gottes surfen – Zwischen Menschsein und geistlichem Leben

6. Der Schlüssel liegt auf der Schwelle – Kirche bauen, die der Sehnsucht des Herzens folgt

7. Die magnetische Anziehungskraft des Mammons – Ein klarer Umgang mit Geld und Macht

8. Das Geheimnis des Sauerteigs – Die unsichtbare Schlagkraft des Glaubens

9. Als wir glaubten, alles wäre zu Ende – Das geistliche Prinzip von Tod und Auferstehung

10. Die ruhige Stimme – Für Krisen aus der Offenbarung lernen

Abschluss: Lebendig bleiben

Anhang

Anmerkungen

Gebet für die Kirche

Vater, leite deine Kirchemit dem Geist der Weisheit und der Offenbarung.

Öffne unsere Augenfür die Hoffnung, zu der du uns berufen hast.

Öffne unsere Herzenfür den Reichtum in der Gemeinschaft der Heiligen.

Setze uns in Bewegungmit der Kraft deiner gewaltigen Stärke,

damit wir mit deiner ganzen weltweiten Kircheund mit unserem ganzen Leben

Jesus als Herrn erkennen –dir, Vater, zur Ehre.1

Magnus Malm (Jg. 1951) ist Autor, Redakteur, Publizist und Leiter von Einkehrzeiten in Schweden. Seine Bücher zum Thema Leiterschaft (»Gott braucht keine Helden«) haben auch in Deutschland einen großen Einfluss. Er lebt mit seiner Familie in Asklanda bei Göteborg.

VORWORT

Wie eine Zweizimmerwohnung

Das Leben vieler christlicher Leiterinnen und Leiter lässt sich mit einer Zweizimmerwohnung vergleichen. Im ersten Zimmer pflegen sie mit Gebet, Exerzitien und geistlicher Begleitung eine tiefe Beziehung mit Gott. Hier steht das eigene Leben mit Gott im Mittelpunkt und sie gehen selbst den Weg, auf dem sie auch andere begleiten. Mit diesem Raum, dem persönlichen geistlichen Leben, befasst sich der erste Teil von dem Buch, das Sie gerade in Händen halten.

Im anderen Zimmer der inneren Zweiraumwohnung findet die Gemeindearbeit statt – allerdings meistens so, als ob der erste Raum gar nicht existieren würde. In diesem Zimmer bestimmen verschiedene Planungs-, Kontroll- und Effektivitätsmethoden die Denkmuster und Arbeitsformen von Leitenden. Je nach Kontext ist die Art geistlicher Leiterschaft mehr oder weniger stark von säkularen Führungsmodellen geprägt. Da kann schnell Druck aufkommen, Ergebnisse liefern zu müssen. Immer unter dem Anspruch, dass doch mehr passieren müsse.

Je behaglicher man sich im ersten Raum eingerichtet hat, desto schwieriger wird die Konfrontation mit dem zweiten Raum. Viele Christen, die im kirchlichen Kontext und im Gemeindesetting Leitungsaufgaben übernehmen, kennen das Gefühl, dass zwischen ihrem stillen Kämmerlein und ihrem Arbeitsplatz Welten liegen. Zielsetzungen und Denkmuster der beiden Räume scheinen sich in gegenläufige Richtungen zu bewegen.

Das ist die Quelle von zunehmender Frustration, Müdigkeit und Verlorenheit gegenüber dem Istzustand. Der Druck, sich veränderten Organisationsstrukturen und neuen Erfolgsanforderungen anzupassen, scheint jährlich zu steigen. Dieser Stress befördert ein Konkurrenzdenken zwischen Individuen uns zwischen Gemeinden. Leitende fühlen sich, als würden sie durch das Leben gejagt, statt es zu leben, und laufen Gefahr, den einzigen Berührungspunkt mit Gott und den Menschen zu verlieren: den inneren Raum des geistlichen Lebens.

Ist es möglich, die Mauer zwischen diesen beiden Räumen einzureißen? Kann man sich an Jesu Leben und Lehre ein Beispiel nehmen? Nicht nur für das eigene Seelenleben als Leiterin oder Leiter, sondern auch im Denken und Handeln in der Kirche ganz generell? Was wäre, wenn das, was in Meetings mit wirtschaftlichen Abwägungen und professioneller Unternehmensplanung so oft als unrealistisch abgetan wird, auf lange Sicht doch das einzig Nachhaltige wäre?

Wie in meinem Buch In Freiheit dienen sind auch die beiden Schwerpunkte in diesem Buch die Persönlichkeitsentwicklung und die Gemeindestrategie für Leitende und Menschen mit Führungsverantwortung in Kirche und Gemeinde.

Wir beginnen bei dem Mythos, man könne sich an persönlichen Bedürfnissen und Problemen vorbeischleichen, um sich stattdessen »methodischen Fragen« zuzuwenden. Kursangebote und thematische Programme von Kirchen und Gemeinden fungieren oft als ausgezeichnete Fluchtmöglichkeit, indem man sich mit Infrastruktur, akademischen Analysen und neuem Drive in Gottesdienst und Evangelisation beschäftigt. Gleichzeitig verschiebt man dadurch den inneren Hunger in das nicht budgetierte Privatleben. Sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus dreißig Jahren Leitungserfahrung von Exerzitien für Gemeindemitarbeitende weiß ich, dass ich erst nach Betreten der eigenen Seelen-Werkstatt zu einer Perspektive gelange, die mich wirklich weiterbringt.

Es steht nicht mehr und nicht weniger als die Seele der Kirche auf dem Spiel. Wie die Führung, so die Kirche. Die Kirchengeschichte ist reich an Beispielen dafür, wie säkulare Führungsvorstellungen Einfluss auf die Kirche genommen und sie damit von ihrem eigentlichen Kurs abgebracht haben.

Das Römische Reich hat den Anfang gemacht: mit einem zentralistischen Kaiserkult und einer strikten Aufteilung in administrative Regionen mit Statthaltern. Die Feudalgesellschaft schuf daraus während des frühen Mittelalters ein komplexes System mit Fürsten, Burgen, Armeen und untertänigen Vasallen. Auf lokaler Ebene bestanden weiterhin die uralten Traditionen und Hierarchien mit Dorfältesten, Druiden und Sehern. Als der Nationalstaat entstand, wurden aus den Führungspersonen mehr und mehr königliche Aufseher und Aufklärer.

Heute kann man sich als christliche Führungsperson vor klugen Vorbildfiguren gar nicht mehr retten: Es gibt Management-Consulter, Unternehmerinnen, Stehaufmännchen, Therapeutinnen, Moderatoren, Sozialarbeiterinnen, TV-Promis, Spielleiterinnen, Pflegepersonal, Budgetexperten, HR-Chefs, Mediatoren, Informantinnen und wer weiß noch wen.

Die Säkularisierung dringt nicht etwa durch feindliche Kampagnen wie »Gott ist tot« in die Kirche ein. Das würde nur den Widerstand der Gemeinden provozieren. Sie schleicht sich viel eher durch gut gemeinte Denkmuster und Arbeitsformen ein, die die Arbeit »erleichtern« sollen, indem sie von der konkreten Abhängigkeit von Gott ablenken. Methoden also, die helfen sollen, so zu leben, als ob es Gott gar nicht gäbe.

Letztendlich hat diese gut gemeinte Veränderung unbemerkt, und scheinbar ohne dass jemand den entscheidenden Beschluss gefasst hätte, dazu geführt, dass die Kirche ihren eigenen Herrn nicht mehr erkennt.

Der Film Bruder Sonne, Schwester Mond (1972) des italienischen Regisseurs Franco Zeffirelli erzählt das Leben des heiligen Franziskus. In einer dramatischen Szene kniet dieser mittellose Diener Gottes mit seinen Brüdern in zerlumpten Kleidern vor Papst Innozenz III. Der wiederrum thront erhaben in all seiner Pracht vor den Männern. Franziskus zitiert Jesu Worte aus der Bergpredigt:

Sorgt euch nicht um euer tägliches Leben – darum, ob ihr genug zu essen, zu trinken und anzuziehen habt. Besteht das Leben nicht aus mehr als nur aus Essen und Kleidung? Schaut die Vögel an. Sie müssen weder säen noch ernten noch Vorräte ansammeln, denn euer himmlischer Vater sorgt für sie. Und ihr seid ihm doch viel wichtiger als sie.

Matthäus 6,25-26

Bei diesen Worten greifen die mächtigen Prälaten des Papstes ein, bezichtigen Franziskus der Gotteslästerung und werfen ihn und seine Brüder ins Gefängnis. Erst als Gott durch eine Vision zum Papst spricht, begnadigt der Franziskus.

In diesem Sinne stehen auch wir in jeder Epoche vor der Herausforderung, uns eine biblische Sicht auf Führung zurückzuerobern, um die Kirche aufs Neue aus ihrer säkularen Verzauberung zu erwecken, damit sie wieder sie selbst werden kann. Dabei werden wir erkennen, dass »Gemeindearbeit« viel mehr ist als das, was vor Ort in den Gemeinden passiert. Die Gemeinschaft der Kirche ist so viel größer als das, was sich jeden Sonntagvormittag zwischen den Kirchenbänken abspielt.

Ich erinnere mich an eine meiner eigenen Exerzitien vor vielen Jahren im Johannesgården im Westen Göteborgs. In dieser Gegend wimmelt es von Kirchen aller möglichen Konfessionen und auf einem meiner Spaziergänge quälte mich mein Gewissen. »Ich bin ja in gar keiner lokalen Gemeinde aktiv. Ich biete nur Exerzitien für Gemeindemitarbeitende an«, dachte ich.

Beim nächsten Gespräch mit meinem Mentor, einem erfahrenen Jesuiten aus Irland, brachte ich dieses Thema zur Sprache. Er war überrascht über meine Frage und sagte etwas, das ich niemals vergessen werde: »Aber du bist doch sehr aktiv in der Gemeinde!«

Für ihn als Jesuit war es eine Selbstverständlichkeit, dass die Kirche ein viel größerer »Weinberg« ist (wie Ignatius es auszudrücken pflegte) als die jeweilige Ortsgemeinde. Die Jesuiten waren nie an eine lokale Gemeinde oder den jeweiligen Bischof gebunden, sondern haben stets wie andere Orden in der katholischen Kirche ihren Beitrag zur Kirche in ihrer ganzen Fülle geleistet. Für die Jesuiten waren das Mission, Lehre, Diakonie und geistliche Wegbegleitung.

Diese Perspektive erlaubt einen wesentlich weiteren Blick auf Gemeindearbeit. Die Kirche manifestiert sich auf vielfältige Weise und geht dabei von der klarsten Manifestation aus, die durch alle Zeiten hindurch das Zentrum des kirchlichen Zusammenhalts gebildet hat: dem Abendmahl, in der Jesus sich uns selbst in Brot und Wein hingibt. Weitere Beispiele sind Gebetskreise, Medien, Lehre, Exerzitien, Pilgerreisen, die Pfadfinderarbeit, Chöre, Kindergruppen, diakonische Dienste, Aktionsgruppen, Gemeinschaften, Beachvolleyball-Treffen, Hauskreise, Festivals, Klöster, Seelsorge, Mission, Bibelkreise, kirchliche Büchereien. Brauchen Sie noch eine längere Liste?

Wir können nur gewinnen, wenn wir aus unserer Zweizimmerwohnung in die große Kathedrale umziehen.

Magnus MalmAsklanda, ein Sonnenstrahl im grauen Regenwinter, Februar 2020

1WER IST HERR, WER DIENER? – Geistlich erfolgreich leiten, ohne nach Erfolg zu streben

Am 3. Oktober 1960 hielt der schwedische Politiker Dag Hammarskjöld, der zu dieser Zeit zweiter Generalsekretär der Vereinten Nationen war, eine Rede vor deren Generalversammlung. Hammarskjölds energisches Handeln im Kongo hatte die Sowjetunion verärgert, die am gleichen Morgen seinen Rücktritt gefordert hatte. Unter anderem warf die Sowjetunion Hammarskjöld vor, dem »Kongo ein weiteres Joch aufzuerlegen«, »die elementare Gerechtigkeit verhöhnt zu haben« und versucht zu haben, »die blutigen Verbrechen, die gegen das kongolesische Volk begangen wurden, zu rechtfertigen«. Darauf antwortete Hammarskjöld unter anderem:

In den letzten Wochen wurden wir in dieser Versammlung Zeugen, wie eine historische Wahrheit geschaffen wurde; wenn eine Behauptung einige Male wiederholt wird, ist sie keine Behauptung mehr, sondern eine etablierte Tatsache, auch wenn keine Beweise dafür gegeben sind. Aber Fakten bleiben Fakten und die wahren Fakten sind hier allen zugänglich, die sich für die Wahrheit interessieren.

Wer sich auf die Geschichte beruft, wird gewiss von der Geschichte gehört werden. Und er wird sich dem Urteil der Geschichte stellen müssen, wenn es auf der Grundlage von Fakten von Menschen verkündet wird, die freien Sinnes und fest davon überzeugt sind, dass nur durch die Prüfung der Wahrheit eine friedliche Zukunft erbaut werden kann.

Schon hier wird deutlich, dass wir in einer neuen Zeit leben. Heutzutage tragen das Internet und aktive Kampagnen von Politikern dazu bei, die Wahrheit aufzubrechen, sie mit Lügen zu vermischen und eine weltumspannende postfaktische Ära zu schaffen. Ziel ist nicht länger, wie bei alter Propaganda, die Leute von Lügen zu überzeugen, sondern sie glauben zu machen, dass es gar keine Wahrheit mehr gibt. In einem solchen Klima können Führungspersonen eine beliebige Agenda so lange zum Thema machen, um ihre Macht zu stärken – egal, ob sie wahr ist oder nicht.

Wie reagierte Hammarskjöld auf die Vorwürfe? Er antwortete:

Ich habe keinen Grund, mich oder meine Kollegen gegen diese vorgebrachten Vorwürfe oder Beurteilungen zu verteidigen. Lassen Sie mich nur sagen, dass Sie, Sie alle, Richter sind. Keine einzelne Partei kann diese Befugnis für sich beanspruchen. Ich bin mir sicher, dass Sie sich von Wahrheit und Recht werden leiten lassen.

Dann beschreibt er sein Führungsverständnis. Es steht ebenfalls in scharfem Kontrast zu der narzisstischen Fixierung auf die eigene Person und der Überzeugung, die heute so weitverbreitet ist:

Es geht nicht um die Person, sondern um die Institution. Eine schwache oder nicht existente Vollstreckungsbehörde würde bedeuten, dass die Vereinten Nationen nicht länger in der Lage wären, aktiv jenen Schutz zu bieten, den die Mitglieder brauchen. Wer die Verantwortung als oberster Angestellter trägt, sollte zurücktreten, wenn er die Vollstreckungsbehörde schwächt. Doch er sollte bleiben, wenn es notwendig ist, um diese zu erhalten. Das, und nur das, erscheint mir das einzig anwendbare Sachargument.

Ohne Macht lässt sich nichts erreichen. Aber die Macht dient nicht den Zielen der Führungsperson, sondern denen der Organisation. Diese wiederum dient nicht der oder dem Vorsitzenden, sondern ihren Mitgliedern. Vor allem den schwächsten Mitgliedern, betont Hammarskjöld:

Durch meinen Rücktritt würde ich in der jetzigen schwierigen und gefährlichen Zeit die Organisation ausliefern. Dazu habe ich kein Recht, denn ich trage Verantwortung gegenüber allen Mitgliedsstaaten, für die diese Organisation von entscheidender Bedeutung ist. Eine Verantwortung, die vor allen anderen Belangen Vortritt hat.

Weiter sagt er:

Es ist nicht die Sowjetunion, und im Übrigen auch keine der anderen Großmächte, die des Schutzes der Vereinten Nationen bedarf. Es sind all die anderen Staaten. In diesem Sinn ist die Organisation vor allem ihre Organisation, und ich bin zutiefst überzeugt, dass sie diese klug nutzen und führen werden. Ich werde meinen Posten bis zum Ende meiner Amtszeit als Diener dieser Organisation im Interesse all dieser anderen Nationen behalten, solange sie es wünschen.

In diesem Zusammenhang sprach der Repräsentant der Sowjetunion von Mut. Es ist sehr leicht zu gehen, hingegen nicht so leicht zu bleiben. Es ist sehr leicht, sich den Wünschen einer Großmacht zu beugen. Es ist etwas anderes, Widerstand zu leisten.

Wie alle Mitglieder dieser Versammlung wohl wissen, habe ich bereits zuvor bei vielen Gelegenheiten und in vielen Zusammenhängen so gehandelt. Wenn es von den Nationen gewünscht wird, die sich in dieser Organisation am besten geschützt sehen, werde ich dies auch weiterhin tun.2

Loslassen

Welches Geheimnis steckt hinter dieser Art von Führung? Wie kann man in solch einem Sturm Rückgrat zeigen und gleichzeitig mit einer solchen Demut, ohne Rücksicht auf die eigene Macht und Position, in Freiheit leiten? Das Buch Zeichen am Weg, in dem die Tagebuchaufzeichnungen gesammelt sind, die nach Hammarskjölds Tod 1961 in seiner Wohnung gefunden wurden, gewährt einen Blick auf die verborgene Landschaft, aus der sein Leben und sein Führungsverständnis erwuchsen. Im selben Jahr, in dem er zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt wurde, schrieb er die Grundlage für die zitierte Rede: »Wer sich Gottes Hand überlassen hat, der steht den Menschen frei gegenüber.«3

Je mehr man in Zeichen am Weg liest, desto deutlicher wird, dass diese Überantwortung keine kühle und distanzierte Lebensanschauung für ihn ist, die sich neben anderen einordnen lässt. Schon Ende der 1940er-Jahre schreibt Hammarskjöld:

Den Griff loslassen von der Gestalt, die vor der Welt einen Namen trägt; die das Bewusstsein durch sozialen Ehrgeiz und zügelnden Formwillen aufgebaut hat. Loslassen, um zu fallen, fallen – in blinder Hingabe vertrauen. Zu etwas anderem, einem anderen.4

Voraussetzung dafür, diesen Halt angesichts der Stürme der Weltpolitik nicht zu verlieren, war für Hammarskjöld vor allem: »Die innere Ruhe zu bewahren – mitten im Lärm. Offen zu bleiben, still, feuchter Humus in der fruchtbaren Dunkelheit, wo Regen fällt und Saat erwächst – egal, wie viele im trockenen Tageslicht Staub über den Markierungen aufwirbeln.«5

1954 formuliert Hammarskjöld ein Gebet, an das er sich einige Monate vor seinem Tod erinnert:

Gib mir einen reinen Sinn – dass ich dich sehe, einen demütigen Sinn – dass ich dich höre, einen liebenden Sinn – dass ich dir diene, einen gläubigen Sinn – dass ich in dir bleibe.6

Ich fasse Hammarskjölds Führungsverständnis in den folgenden drei Punkten zusammen. Und diese Grundlagen können aus meiner Sicht bis heute als Grundlagen geistlicher Leiterschaft dienen:

• Die Gewissheit, dass das eigene Leben im Dienst Gottes steht. Es geht nicht darum, Karriere zu machen, sich Positionen zu sichern oder eine Marke zu prägen. Man überlässt sein Leben und alles, was man hat, etwas Größerem als der eigenen Selbstverwirklichung. Das Ziel ist nicht die eigene Ehre, sondern die Ehre Gottes und das Wohl der Allgemeinheit.7

• Die tiefe innere Verankerung in Stille und Gebet. Mit ihrer Hilfe übersteht der Halt in Gott die Belastungen des Lebens und der Arbeit. Die Disziplin von täglicher Stille und Gebet rückt alles ins richtige Verhältnis und ermöglicht es, einen anderen Weg als den des Mainstreams einzuschlagen.

• Die Freiheit, nicht ständig die Bestätigung anderer Menschen zu suchen. Scheitern oder Kritik erschüttern nicht den eigenen grundlegenden Selbstwert, da man zutiefst in Gott verankert ist. Wird man bewundert oder ist man erfolgreich, wird das Selbstwertgefühl aus dem gleichen Grund nicht größer. Die Führung baut nicht auf der Resonanz anderer Menschen auf, sondern auf dem Widerhall dessen, was man selbst als Wille Gottes versteht.

Das Matthäusevangelium fasst im zwölften Kapitel eine solche Führung kompakt zusammen. Jesus hatte jeden Erfolg, von dem eine christliche Führungsperson nur träumen kann: »Viele folgten ihm und er heilte alle.« Was macht Jesus in dieser Situation des »Erfolgs«? Beruft er eine Pressekonferenz ein und berichtet von seinem Durchbruch? Geht er auf Vortragstournee durch die Kirchen des Landes, um sein Erfolgsrezept zu verraten? Schreibt er einen Bestseller über den Schlüssel zu effektiver Führung? Matthäus berichtet, dass Jesus »(ihnen) verbot zu sagen, wer er war«.

Damit erfüllte sich die Prophezeiung Jesajas über Jesus: »Dies ist mein Diener, den ich auserwählt habe. Ich liebe ihn und habe meine Freude an ihm. Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern Gerechtigkeit verkünden. Er wird weder kämpfen noch schreien; er wird seine Stimme nicht in der Öffentlichkeit erheben. Er wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen. Durch seine Treue wird er die vollkommene Gerechtigkeit durchsetzen. Und auf seinem Namen wird die Hoffnung der ganzen Welt ruhen.«

Matthäus 12,16-21

Punkt für Punkt wird hier das Gegenmodell zu einer Führungskultur des narzisstischen Zeitalters entworfen.

Jesus wird nicht durch seine Ausstrahlung, seine Kompetenz, seinen Dienst oder Erfolg definiert, sondern durch seine Beziehung zum Vater: »Dies ist mein Diener, den ich auserwählt habe. Ich liebe ihn …«

Er hat ein anderes Ziel als seine eigene Karriere, Einkommen oder Popularität: »Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern Gerechtigkeit verkünden.«

Er steigt nicht in die Debatte ein und verschwendet keine Energie für Konflikte, die ihm sicherlich Schlagzeilen einbringen, ihn aber auch von seinem Auftrag abbringen würden: »Er wird weder kämpfen noch schreien …«

Er strebt nicht danach, gesehen zu werden. Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als »gesehen zu werden« oder in den sozialen Medien unterwegs zu sein: »… er wird seine Stimme nicht in der Öffentlichkeit erheben.«

Er geht nicht über Leichen, um seine Ziele zu erreichen, und bedient sich nicht der Schwächen anderer, um seine eigene Position zu stärken. Er flieht auch nicht vor seinen eigenen Wunden, indem er hart gegen andere vorgeht: »Er wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen.«

Er richtet seinen inneren Kompass nicht nach den Widerständen der Umgebung aus, sondern behält die Ausrichtung seines Auftrags durch alle Trends hindurch bei. Und gerade weil er frei von dem Druck der Menschen ist, kann er zu ihrem Besten handeln. Gerade durch seine Hingabe zum Vater ist er die Rettung der Menschheit: »Durch seine Treue wird er die vollkommene Gerechtigkeit durchsetzen.«

Er will nicht als etwas Besonderes verstanden werden und versucht nicht, eine Marke mit attraktiven Eigenschaften aufzubauen. Da er frei ist von dem Bedürfnis nach Bestätigung, weckt seine Gegenwart Hoffnung, die bei anderen Leitenden früher oder später erlischt. »Und auf seinem Namen wird die Hoffnung der ganzen Welt ruhen.«

Eine Tür in der Mauer

Und wir? Wie weit kommen wir auf diesem Weg? Welche Möglichkeiten haben wir Menschen mit all unseren Wunden und Defiziten, die in einer von Sündenfall und Verzerrung geprägten Welt unvermeidbar sind? Ist Jesus nicht ein viel zu unerreichbares Ideal, das uns von vornherein das Gefühl gibt, für eine Führungsposition in der Gemeinde disqualifiziert zu sein?

Immer wieder habe ich in meinen eigenen Exerzitien vor dieser Frage gestanden. Oder besser gesagt, vor dieser Mauer. Wenn ich dann vor meinem Mentor, meistens einem Jesuiten aus Irland oder England, ins Seufzen verfiel, sah er mich nicht selten liebevoll an und fragte: »What is the invitation in this?« Nicht nur: Worin liegt hier die Herausforderung? Oder: Was kannst du daraus lernen? Sondern: Wozu lädt Gott dich hier ein?

Das ist ein himmelweiter Unterschied. Anstatt zum hundertsten Mal zu versuchen, sich zusammenzureißen, die Zähne zusammenzubeißen und sich anzustrengen, öffnet sich eine Tür in der Mauer, durch die Jesus flüstert: »Komm einen Schritt näher.«

Der norwegische Pastor und Exerzitienleiter Edin Lövås sagte immer: »Christ zu werden, bedeutet, eins zu werden mit Jesus Christus und seinen Interessen in der Welt.« Diese radikale Identifikation wird in der christlichen Kirche durch die Taufe symbolisiert. Paulus schreibt, dass wir durch die Taufe mit Christus gestorben und begraben sind. »Und genauso wie Christus durch die herrliche Macht des Vaters von den Toten auferstanden ist, so können auch wir jetzt ein neues Leben führen« (Römer 6,3-4).

Das heißt, dass es bei christlicher Führung nicht darum geht, sich zu verrenken, um das Niveau zu erreichen, das Jesus gelebt hat. Es geht darum, sich mit ihm vereinen zu lassen. Oder, wie Dag Hammarskjöld schreibt, die mühsam aufgebaute Führungsrolle loszulassen und sich in den fallen zu lassen, der der einzig würdige Leiter ist. So schreibt auch der Theologe und Märtyrer Dietrich Bonhoeffer: »Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen, … dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.«8

Man kann beten: »Guter Gott, gib mir Kraft für meinen Dienst.« Aber man kann auch beten: »Jesus, lass mich Teil deines Dienstes werden.« Der Unterschied zwischen den beiden Gebeten ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen dem mittelalterlichen ptolemäischen Weltbild, in dem die Sonne um die Erde kreist, und dem kopernikanischen, in dem die Erde um die Sonne kreist. Und genau wie bei Kopernikus und Galilei regt sich Widerstand angesichts dieser Revolution. So lange, bis wir entdecken, dass wir dadurch nicht bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen. Denn wenn die Sonne an ihrem Platz ist und wir uns nicht länger für das Zentrum der Welt halten, erwarten uns optimale Lebensbedingungen.

Gott nimmt ein Risiko in Kauf, wenn er einen Menschen für eine Leitungsaufgabe erwählt und ihn an der Kraft von Jesus teilhaben lässt. Man muss nicht in der Kirchengeschichte graben, ein Blick in den eigenen Erfahrungsschatz reicht, um die Verschiebung zu erkennen, die sich vollzieht, wenn die eigene Identität von der Verankerung in Gott diskret zum Erfolg im Dienst wandert. Zunächst unmerklich und scheinbar unschuldig. Doch umso verheerender, wenn man einmal in die Falle getappt ist.

Jesus ist sich dieses Risikos offenbar bewusst, als die 72 Jünger zurückkehren und atemlos berichten, dass selbst Dämonen ihnen gehorchen, wenn sie seinen Namen aussprechen. Was für Möglichkeiten! Was für eine Macht!

Was für eine fürchterliche Gefahr. Jesus antwortet:

Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen! Ich habe euch Vollmacht über den Feind gegeben; ihr könnt unter Schlangen und Skorpionen umhergehen und sie zertreten. Nichts und niemand wird euch etwas anhaben können. Aber freut euch nicht darüber, dass böse Geister euch gehorchen, sondern freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.

Lukas 10,18-20

Ausdrücklicher lässt sich eine Warnung vor Erfolg kaum formulieren. Warum? Vielleicht, weil es oft der Stolz über unsere eigenen Taten ist, der den Dämonen ihre Kraft zurückgibt, die sie eigentlich schon verloren hatten.

Unsere Identität und unser Selbstwert müssen sicherer verwahrt werden. Dass Ihr Name »im Himmel aufgeschrieben« ist, bedeutet, dass Sie in Ihrem ganzen Sein von Gott bewahrt sind. Von ihm, der allein weiß, wer Sie sind, und auf den Manipulation keinen Einfluss hat, komme sie nun durch menschliche Bestätigung oder Infragestellung.

Alle, die geistliche Leiterschaft übernehmen, treffen früher oder später auf zwei Spiegel. Im Spiegel des Teufels sehen wir uns wie in strahlendem Licht. Das wahre Ich bleibt jedoch verborgen. So werden wir geblendet von Funktion und Erfolg; alle Defizite oder Misserfolge werden verborgen. In diesem Spiegel wird es uns sehr schwer fallen, uns selbst zu erkennen. Er zeigt deutlich das Wesen des Teufels: Der Schein von Macht und Ehre verbirgt das schwarze Loch seiner Leere und seines Mangels an Wirklichkeit.

Der andere Spiegel ist das Angesicht Jesu. Es dringt sowohl durch den Glanz der Erfolge als auch durch die Schatten der Misserfolge und lässt uns unser wahres Ich erkennen. Die Blindheit, mit der wir in unserer Rolle mitunter geschlagen sein mögen, verzieht sich, und wir sind frei, uns selbst zu sehen. Auch dieser Spiegel ist eins mit seinem Urheber: Die Wahrheit ist Fleisch geworden in einem Menschen, an dem sich kein äußerliches Attribut von Ehre und Macht erkennen lässt.

Diese beiden Spiegel lassen sich in zwei Arten von Menschen erkennen. Der erste Spiegel zeigt sich in den Bewunderern, die nur das Strahlen der Erfolge sehen wollen, aber erschrocken fliehen oder aggressiv zurückschlagen, wenn sie das wahre Ich entdecken.

Der zweite Spiegel ist blind für den Glanz, aber enthüllt liebevoll und treu den Menschen, der man wirklich ist. Wir finden ihn bei Freunden, die nicht beeindruckt, vielleicht sogar nicht einmal an unseren Erfolgen interessiert sind, dafür aber Freundschaft suchen und geben – von Herz zu Herz.

Nicht gut genug

In unserer Wissensgesellschaft sind der Wert eines Menschen und seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt meistens eng mit Ausbildung, Weiterbildung und akademischen Erfolgen verknüpft. So wie Konsum von einem ständigen Gefühl des Mangels und der Unzufriedenheit genährt wird, lebt die Aus- und Fortbildungslandschaft von dem nagenden Gefühl, dass man für diesen oder jenen Job nicht gut genug sei. Schnell gerät man in Denkmuster wie: »Aber mit diesem neuen Kurs ließe sich mein Selbstwert steigern.«

Hier könnte die Kirche zur Abwechslung tatsächlich einmal von der Wirtschaft lernen. Normalerweise beeinflusst die Unternehmensphilosophie nur Bereiche, die absolut konträr zu Gottes Reich laufen. Ich erinnere mich an ein Interview, das die Zeitung Dagens Nyheter vor einigen Jahren mit dem damaligen Geschäftsführer von IKEA führte. In dem Infokasten stand zu seiner Ausbildung lediglich: Gymnasium.

Das wäre in der Kirche niemals möglich, dachte ich damals. Je nachdem, an welcher Stelle in der Kirchenleitung man steht, wird dort mehr oder weniger auf korrekte Lebensläufe geachtet. Das führt leider viel zu oft dazu, dass die unpassenden Leute mit der richtigen Ausbildung eingestellt und die geeigneten Leute abgelehnt werden, weil ihnen formell die Kompetenzen fehlen. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise zeigt sich dann meist recht schnell in der Gemeindearbeit.

Die Führungsriege von IKEA entschied sich für diesen Mann und schloss seine Kompetenzlücken intern mit den entsprechenden Kursen. Die Hauptsache war, dass er seine kreative Energie frei entfalten konnte und das Unternehmen gut führen würde.

Paulus schlägt nachdenkliche Töne an, wenn er im Korintherbrief über Opferfleisch schreibt, das anschließend verkauft wird. Ist es für Christen in Ordnung, dieses Fleisch zu essen? Es soll an dieser Stelle nicht um die Erörterung der Sachlage gehen. Paulus’ Reflexion zu Beginn geht bedeutend weiter.

Nun zu der Frage, ob wir Fleisch essen, das den Götzen geopfert wurde. Ihr meint, alle müssten sich eurer Erkenntnis anpassen. Wissen kann uns ein Gefühl von Wichtigkeit verleihen, doch nur die Liebe baut die Gemeinde wirklich auf. Wer behauptet, alle Antworten zu kennen, hat in Wirklichkeit kaum begriffen, auf welche Erkenntnis es ankommt. Doch wer Gott liebt, der ist von Gott erkannt.

1. Korinther 8,1-3

Das griechische Wort für »Wissen« in diesem Kontext ist gnosis. Die gnostischen Bewegungen waren zu jener Zeit noch nicht so ausgeprägt wie später im 2. Jahrhundert, als der Kirchenvater Irenäus mit ihnen konfrontiert wurde. Doch in vielen von Paulus’ Briefen lässt sich erkennen, dass sich gnostisches Gedankengut in den Gemeinden bereits ausgebreitet hatte.

Da war die Verachtung für das Körperliche, Irdische und Menschliche. Die Ansicht, dass Rettung vor allem durch den Intellekt komme, indem der Mensch sich verborgenes Wissen aneigne, das die gewöhnlichen Christen noch nicht verstanden hätten. Daraus erwuchs ein elitäres Denken, das innerhalb der Kirche eine Spaltung hervorrief zwischen geistlich Erleuchteten und der breiten Masse gewöhnlicher Christen, die die höhere Geistlichkeit anscheinend nicht begriffen. Ihnen fehlte das richtige »Wissen«.

Es ist eine brandgefährliche Mischung aus Elitedenken und gestärktem Selbstvertrauen, die jedem Wissen wie ein Schatten anhängt. Selbst säkulare Bereiche, die mit gnostischen Mythen nichts zu tun haben, sind davon nicht frei. Paulus hilft uns, die falschen Versprechungen in Bezug auf Wissen zu enthüllen, damit wir frei werden, uns Wissen anzueignen und dort anzuwenden, wo wir es wirklich brauchen.

Problematisch am Wissen ist nicht, dass es uns einen schlechten Dienst erweisen würde, wenn es um den Aufbau unseres Selbstwerts geht. Vielmehr ist es gar nicht in der Lage, etwas für unseren Selbstwert zu tun. Schließlich korrespondieren theoretische Kenntnisse nicht mit der Persönlichkeit. Wissen dient hauptsächlich instrumentellen Zielen. Es ist ein Werkzeug, das wir nutzen können, um etwas zu tun.

Dennoch begehen wir ständig den Fehler, unseren Selbstwert mit noch mehr Wissen steigern zu wollen. In solchen Situationen wird Wissen zu einer Schale um einen Hohlraum herum, der niemals gefüllt werden kann. Oder, wie Paulus sagt: Es verleiht uns ein Gefühl von Wichtigkeit, die mit unserem Inneren nicht übereinstimmt. Wir tendieren dazu, Selbstvertrauen (das durch mehr Wissen oft wächst) mit Selbstwert (der mit Wissen überhaupt nichts zu tun hat) zu verwechseln.

Die Liebe hingegen baut auf. Nur indem man gesehen und angenommen wird als die Person, die man ist, kann der eigene Selbstwert heilen und aufgerichtet werden – und nicht für das, was man kann oder weiß. Die Beziehung zu jemand anderem kann jenes Ich aufbauen. Dem stehen alles Wissen und alle Kompetenz der Welt machtlos gegenüber.

Das geschieht in menschlichen Beziehungen, vor allem aber in der Beziehung zu Gott. Im kontemplativen Gebet liegt der Fokus nicht mehr darauf, Gott für irgendetwas zu gebrauchen, sondern sich ihm seinetwegen zuzuwenden. Die Freiheit von jeglicher Agenda hinterlässt nach einiger Zeit auch Spuren im eigenen Selbstbild: Mein Wert liegt nicht länger in dem, was ich kann oder tue, sondern in dem, was ich bin. Ich ruhe vor dem Angesicht des anderen: ich – du. So erfolgt eine sanfte Verschiebung von Wissen (dem, was ich über Gott weiß) hin zu Liebe (dem, was Gott über mich weiß). Ich bin »von Gott erkannt«, wie Paulus schreibt.

Heute ist die Anziehungskraft gnostischer Mythen auf die Christen ziemlich begrenzt. Stattdessen ist die akademische »Gnosis« in vielen Bereichen umso attraktiver. Damit wir uns akademisches Wissen zunutze machen und uns von politischen und religiösen Beeinflussungen befreien können, ist es wichtig, dass wir unsere Grenzen kennen. Dafür müssen wir uns unter anderem auch der vorherrschenden Einstellung bewusst sein, dass mehr akademisches Wissen automatisch zu besseren Entscheidungen führt.

Diese Gleichung geht nicht auf. Wissen ist wie Intelligenz und Spiritualität eine unfassbare Ressource, die zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann. Zu glauben, dass mehr Wissen, mehr Intelligenz oder mehr Spiritualität immer den richtigen Weg weisen würden, führt geradewegs in die Katastrophe.

Schon in den vier Evangelien wird dieses Problem offenbar. In der Gruppe, die von Jesus aufs Schärfste kritisiert wird, die der am besten ausgebildeten Theologen. Die Schriftgelehrten und Pharisäer hatten viele Schriften gelesen, waren aber notorisch damit überfordert, in ihren eigenen Herzen zu lesen. Deshalb konnten sie schlechter zwischen Gut und Böse, Zentrum und Peripherie, Ziel und Mittel unterscheiden als viele andere, von denen die Evangelien berichten – Menschen mit weniger theoretischem Wissen, aber einem sichereren inneren Kompass.

Als die Jesuiten im 16. Jahrhundert ihre Hochschulen ausbauten, maßen sie dem Urteilsvermögen der Studenten höheren Wert bei als dem Wissen. Sie wussten, dass Wissen nur in Verbindung mit klugem Urteilsvermögen auch Gutes hervorbringen kann.9 Das Gleiche gilt für die Geistesgaben.

In die andere Richtung

Franziskus wurde manchmal »der zweite Christus« genannt. Nur wenige sind so glaubwürdig wie er in Jesu Nachfolge getreten. In einer Zeit, in der der Mittelstand in den mittelalterlichen Städten reich und mächtig wurde, schlug der Kaufmannssohn Francesco Bernardone die andere Richtung ein. Mit seinen Glaubensbrüdern baute er eine Gegenkultur auf, die auch der Welt heute noch etwas zu sagen hat. Es klingt seltsam paradox, dass ausgerechnet jener Mann, dem Jesus den Auftrag gab, die Kirche aufzurichten, die in Trümmern liegt, zu einem Heiligen wurde, vor dem selbst Menschen außerhalb der christlichen Kirche den größten Respekt haben.

Die Dominikaner, der spanische Schwesternorden der Franziskaner, nahmen sich der akademischen Ausbildung an, dominierten jahrhundertelang die Universität in Paris und brachten Theologen wie Thomas von Aquin hervor. Für Franziskus lag der Fokus jedoch woanders. In einem Brief an einen jungen Theologen, der den Brüdern mit seiner Expertise helfen wollte, schrieb er 1224:

Dem Bruder Antonius, meinem Bischof, wünsche ich, der Bruder Franziskus, Heil! Mir gefällt es, dass du den Brüdern die heilige Theologie nahebringst. Die Hauptsache ist nur, dass du durch dieses Studium nicht den Geist des Gebets und der Hingabe auslöschst, von dem die Regel spricht.10

Doch was besagt diese Regel? In der zweiten und endgültigen Version von 1223 schreibt Franziskus unter anderem:

Die von den Wissenschaften keine Kenntnis haben, sollen nicht danach trachten, Wissenschaften zu erlernen. Vielmehr sollen sie darauf achten, dass sie über alles verlangen müssen, den Geist des Herrn zu haben und sein heiliges Wirken, immer zu Gott zu beten mit reinem Herzen, Demut zu haben, Geduld in Verfolgung und Krankheit und jene zu lieben, die uns verfolgen und tadeln und beschuldigen.11

In seinen spirituellen Ratschlägen, einer kleineren Sammlung von Hinweisen an seine Brüder, schreibt er: »Selig der Diener, der sich nicht für besser hält, wenn er von den Menschen gelobt und erhoben wird, als wenn sie ihn für gering, einfältig und verächtlich halten; denn so viel ist der Mensch, als er vor Gott ist, und nicht mehr.«12

Letztendlich geht für Franziskus alles auf eine Grundlage zurück. So schreibt er in der ausführlicheren ersten Version der Ordensregel 1221: »Lasst uns alle ›aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzer Gesinnung, aus aller Kraft (vgl. Mk 12,30) und Stärke, mit ganzem Verstand (vgl. Mk 12,33), mit allen Kräften‹ (vgl. Lk 10,27), mit ganzer Anstrengung, mit ganzer Zuneigung, mit unserem ganzen Inneren, mit allen Wünschen und aller Willenskraft ›Gott den Herrn‹ (Mk 12,30 par.) lieben, der uns allen den ganzen Leib, die ganze Seele und das ganze Leben geschenkt hat und schenkt.«13

Hiermit greift er natürlich auf das zurück, was Jesus dem Schriftgelehrten antwortete, der fragte, was das Wichtigste im Leben sei:

Das wichtigste Gebot ist dies: »Höre, o Israel! Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft lieben.« Das zweite ist ebenso wichtig: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.

Markus 12,29-31

Wenn das also das Wichtigste im Leben ist, muss es auch das Ziel für jede christliche Theologie und die Ausbildung von Führungspersonen in der Kirche sein. Wenn das das Ziel ist, müssen auch die passenden Mittel gewählt werden, um dieses Ziel zu erreichen. Kurz gesagt:

Das Ziel der Ausbildung christlicher Leiter kann nicht sein, reines Wissen über Gott zu vermitteln, ja, nicht einmal, an ihn zu glauben. Das Ziel ist, Gott zu lieben.

Das Ziel so zu setzen, bringt aus meiner Sicht drei Voraussetzungen mit sich:

• Den Glauben, dass Gott existiert. Wie es der Hebräerbrief formuliert: »Wer zu ihm kommen möchte, muss glauben, dass Gott existiert und dass er die, die ihn aufrichtig suchen, belohnt« (Hebräer 11,6). Es ist unmöglich, eine Vorstellung oder Gedankenkonstrukt zu lieben. Der Gegenstand der Theologie ist Gott, nicht die Vorstellung, die Menschen von Gott haben. Das setzt voraus, dass Gott wirklich existiert, unabhängig davon, ob man an ihn glaubt oder nicht.

• Gott zu kennen. Jesus sagt zu der Frau aus Samarien: »Ihr Samaritaner wisst wenig über den, den ihr anbetet – wir Juden dagegen kennen ihn, denn die Erlösung kommt durch die Juden« (Johannes 4,22). Wir können niemanden lieben, den wir nicht kennen. Das setzt voraus, dass wir Gott kennenlernen können. Damit dieses Kennen nachhaltiger wird als unsere eigenen Vorstellungen von Gott, ist es entscheidend, dass er sich uns zu erkennen gegeben hat. Erst dann kann es eine Begegnung mit Gott als einem Du geben, statt nur mit einem Spiegelbild unseres Selbst. Das bedeutet wiederum …

• Beziehung. Als Philippus Jesus bittet, den Vater sehen zu dürfen, erwidert Jesus: »Philippus, weißt du denn nach all der Zeit, die ich bei euch war, noch immer nicht, wer ich bin? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen!« (Johannes 14,9). Nur ein Wissen, das auf Erfahrung beruht, führt zur Liebe. Theoretisches Wissen allein, also Wissen aus zweiter Hand, kann der Liebe keine Nahrung geben. Das bedeutet, dass das primäre theologische Gespräch ein Gespräch mit Gott ist, nicht über ihn. Das Gebet hat Priorität vor Büchern.

Faustregel

Aus dem, was Jesus uns mitgegeben hat, können wir eine Faustregel ableiten:

Stellt alles, was ihr im Leben erhaltet, in den Dienst Gottes.

Was Jesus über Geld sagt, kann auch für akademisches Wissen, Organisationsformen, Musik, Technik und alles andere, was wir in die Kirche einbringen, gelten: »Niemand kann zwei Herren dienen. Immer wird er den einen hassen und den anderen lieben oder dem einen treu ergeben sein und den anderen verabscheuen. Ihr könnt nicht gleichzeitig Gott und dem Geld dienen« (Matthäus 6,24).

Die Lösung ist nicht, sämtliches Geld loszuwerden. Niemand kommt auch nur einen Tag ohne Geld aus. Es geht darum, sich von dem Mythos zu lösen, Gott und Geld könnten als gleichwertige Partner in unserem Leben fungieren. Jesus sagt nicht, dass diese Vorstellung unangemessen ist. Er sagt, dass es unmöglich ist. Mächte funktionieren einfach nicht auf diese Weise. Entweder hat der eine oder der andere das Sagen – der Verlierer wird zum Diener degradiert.

Wir müssen uns also entscheiden, wer die Deutungshoheit hat. Gott oder das Geld. Gott oder die Theologie. Gott oder Managementmethoden. Erst wenn Jesus in diesen konkreten Themenfeldern Herr der Kirche wird, nehmen die anderen Mächte ihren rechtmäßigen Platz ein – als Diener. Und nur dann können sie zu lebensspendenden und heilenden Kräften werden. Dann können Finanzen, theologisches Wissen und Know-how für effiziente Organisationsstrukturen die Kirche bereichern, statt sie zu säkularisieren.

Nach dem gleichen Prinzip spielen in der Gemeindearbeit immer das Persönliche und das Strukturelle zusammen. Die Frage ist, wer ist der Herr und wer ist der Diener, was ist das Zentrum, was die Peripherie? Wir können unsere persönlichen Probleme niemals durch strukturelle Veränderungen lösen, genauso wenig, wie wir unser Sehnen nach Gott durch Gemeindearbeit stillen können. So wie die Frucht vom Baum kommt und nicht umgekehrt, werden Charakter und Nachhaltigkeit einer Arbeit durch Selbstwert und persönliche Beziehung zu Gott bestimmt.

Dazu ein einfaches Beispiel: Hält ein Pastor mit sicherem Selbstwertgefühl einen festlichen Gottesdienst, kann das ein befreiender Tanz vor Gottes Angesicht sein, bei dem die verschiedenen Momente im Gottesdienstablauf von Leichtigkeit, Freiheit und Freude geprägt sind.

Der gleiche Gottesdienst kann in den Händen eines unsicheren Pastors mit schwachem Selbstwertgefühl zu einer mechanischen Angelegenheit werden, weil er angestrengt darauf achtet, alles richtig zu machen. Die Unsicherheit des Pastors überträgt sich auf die Gemeinde, die dann nervös wird, weil sie merkt, dass etwas falsch läuft. Dabei sollte sie erfüllt sein von der Anbetung Gottes.

Nebengleise

Was ist eigentlich christliche Leiterschaft? Ich komme noch einmal auf Martin Lönnebos Formulierung zurück: »Jesus ist der Leiter der Gemeinde. Wer ihm nachfolgt, führt andere richtig.«

Schauen wir auf Paulus. Nach seiner dramatischen Umkehr erhält er von seinem unerwarteten geistlichen Mentor Hananias aus der Gemeinde in Damaskus folgenden Auftrag: »Der Gott unserer Vorfahren hat dich erwählt, seinen Willen zu erfahren und den Gerechten zu sehen und ihn sprechen zu hören. Du sollst seine Botschaft in die ganze Welt tragen und allen Menschen sagen, was du gesehen und gehört hast« (Apostelgeschichte 22,14-15).

Der Auftrag ist doppelt gelagert:

Erkenne Jesus, höre auf ihn. Und berichte, was du gesehen und gehört hast.

Das ist eine kurze Zusammenfassung davon, was christliche Leiterschaft bedeutet. Definiert man Leiterschaft als die Fähigkeit, Menschen in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen, liegt hierin ein einfacher und deutlicher Wegweiser. So sagte der katholische Bischof Walter Kasper vor vielen Jahren: »Das Problem der Kirche ist nicht mangelnde Anpassung an den Zeitgeist, sondern mangelnde Anpassung an Jesus Christus.«

Es liegt nicht in der Verantwortung der Leitenden, wie das Evangelium verstanden oder von den Menschen aufgenommen wird. Es geht vielmehr darum, wie treu gegenüber Jesus es präsentiert wird. Solange der Fokus auf dem liegt, worauf Hananias hinweist, ist die grundlegende Voraussetzung gegeben, Menschen gut zu leiten. Aber sobald es Leitenden darum geht, eine bestimmte Rolle zu erfüllen, haben sie den Fokus streng genommen schon verloren.

Leider wimmelt es für Leiter, die in Kirche und Gemeinde unterwegs sind, nur so von derartigen Nebengleisen:

• Man muss zwischen bestimmten Fraktionen in der Gemeinde balancieren.

• Man muss den Vorstand zufriedenstellen.

• Man muss bestimmte messbare Resultate liefern.

• Man muss als relevant und spannend hervorstechen.

• Man muss Kollegen übertrumpfen.

• Man muss sich an Positionen festbeißen.

• Man muss mehr verdienen.

• Man muss seine Spiritualität unter Beweis stellen.

• Man muss zeigen, dass man theologisch kompetent ist.

• Man muss dafür sorgen, dass alle sich wohlfühlen.

• Man muss seinen Selbstwert stärken.

All das führt dazu, dass wir ständig auf einer Skala zwischen Auftrag und Versuchung schwanken. Sobald diese Anforderungen aber beginnen, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, lenken sie uns schnell von dem Auftrag ab, Christus nachzufolgen und ihn zu bezeugen.

Aber ist das nicht der Auftrag aller Christen? Das gilt doch nicht nur für christliche Leiterinnen und Leiter? Exakt. Christliche Leiterschaft ist keine Position, die erobert und verteidigt werden muss. Sie ist eine Funktion, durch die Gottes Gnade andere Menschen befreit, Christus nachzufolgen.

Ein christlicher Leiter zeichnet sich in dieser Hinsicht also nicht durch eine bestimmte Besonderheit aus, sondern durch die Zugehörigkeit zu allen Christen. So begründet auch Paulus seinem guten Freund Timotheus gegenüber, wie er seinen Dienst versteht. Nicht seine lange theologische Ausbildung qualifiziert ihn, auch nicht seine spirituellen Gaben oder großen Erfolge in der Mission. Paulus hat einen anderen Ausgangspunkt für seine Führungsrolle:

Christus Jesus kam in die Welt, um Sünder zu retten – und ich bin der Schlimmste von allen. Aber Gott hatte Erbarmen mit mir, damit Jesus Christus mich als leuchtendes Beispiel für seine unendliche Geduld gebrauchen konnte.

1. Timotheus 1,15-16

Eben weil er so ist wie alle anderen, kann er allen anderen zeigen, welche Möglichkeiten die Gnade eröffnet. Der Leiter ist ein »Urtyp«, ein Vorbild für andere – nicht durch seine überlegene Ausbildung oder Spiritualität, sondern weil er Gottes Gnade erfahren hat.

Machtausübung, Dominanz, Kontrollbedürfnis und Unterdrückung lassen sich also vom Grundsatz her nicht mit christlicher Leiterschaft vereinbaren. Sie sind christlichen Leitenden genauso wesensfremd, wie sie Jesus selbst fremd sind. Nachfolge geschieht immer aus der Freiheit. Sonst ist sie keine Nachfolge. So ist es auch mit Leiterschaft bei der Nachfolge. Sie bedeutet, anderen Menschen zu sagen: »Ich werde niemanden steuern oder unterdrücken. Ich gehe in diese Richtung. Wer möchte, ist willkommen, mich zu begleiten.«

Mit Herzenslust

Wenn wir uns auf Jesus Christus fokussieren, führt das nicht dazu, dass Ihr eigenes Wertesystem und Ihre Leidenschaften erlöschen. Stattdessen erlischt der ständige Fokus auf die Trends und Erwartungen der Umgebung. Im Gewimmel aller anderen Spuren verliert man leicht die eigene Spur aus dem Blick. Das geschieht unmerklich und es dauert oft lange, ehe sich ein unbehagliches Gefühl einstellt und man sich fragt: »Will ich das hier eigentlich? Oder mache ich das nur, weil andere es wollen?«

»Ohne die Freude an deinem Gesetz wäre ich verzweifelt in meinem Elend«, heißt es im längsten Psalm (Psalm 119,92). In keinem anderen Buch der Bibel werden so oft die Worte »Lust« oder »Freude« gebraucht wie im Buch der Psalmen. Und nirgendwo sonst finden sich so viele Referenzen zum Gesetz des Herrn oder zum Wort des Herrn.

Was in den Ohren des modernen Menschen wie ein Gegensatz klingt, ist in Wirklichkeit eine sehr präzise psychologische Beobachtung: Es muss eine Übereinstimmung zwischen dem geben, was man sich zutiefst wünscht, und dem, was Gott mit dem eigenen Leben vorhat, seinen Vorstellungen. Sonst wird es langfristig nicht gut gehen.

Wenn ich mit Gott als meinem Gegenüber interagiere, dann merke ich schnell, was mich zutiefst anzieht, was ich eigentlich begehre. Das heißt nicht, dass Gott zu allem Ja sagt, was ich möchte. Es läuft also nicht wie in dem Kinderbuch Ferien auf Saltkrokan, wo Tjorven betet: »Lieber Gott, darf ich noch ein Stück Kuchen haben?« Und Gott ihr zusagt: »Ja, das darfst du.« Gott kann formidabel Widerstand leisten. Nicht, um mich zu brechen, sondern um mir zu helfen, zwischen flüchtigen Impulsen und tieferen Sehnsüchten zu unterscheiden.

Aus diesem Grund führte der Ordensgründer der Benediktiner Benedikt von Nursia die Regel ein, dass jeder, der ins Kloster eintreten wollte, vier oder fünf Tage vor der Tür des Klosters warten sollte, ehe er eingelassen wurde. Und wenn er eingelassen wurde, sollte man ihm zuerst alles zeigen, was auf dem Weg, der zu Gott führt, hart und mühevoll ist. Wollte man keine neuen Mönche haben? Doch, natürlich. Deshalb war es sowohl für das Kloster als auch für den angehenden neuen Mönch wichtig herauszufinden, ob er wirklich Gott suchte.14 Benedikt wusste: Menschen wenden sich aus vielen unterschiedlichen Gründen ans Kloster. Doch alle Gründe außer die Suche nach Gott würden früher oder später den Novizen und die Mitbrüder unglücklich machen und im Sande verlaufen.

In der Begegnung mit einem Du lernen wir uns selbst kennen und erfahren, was wir wirklich wollen. Das passiert nicht, indem wir uns in uns selbst versenken. Übermäßige Selbstbeschau führt eher zu Verwirrung darüber, wer wir eigentlich sind. Wir lernen uns und unseren Willen auch nicht dadurch kennen, dass wir uns in dem schnell vorbeifliegenden Flimmern anderer spiegeln.

Es ist unmöglich, Menschen so zu leiten, dass sie nach Herzenslust Jesus Christus nachfolgen, wenn die eigene Lust im Dienst fehlt. Kommunikation ist nicht, was gesagt wird, sondern was gehört wird. Menschen hören früher oder später ganz genau, ob ein Leitender nur von Pflichtgefühl angetrieben wird oder von einem echten Herzenswunsch. Ist Ersteres der Fall, ziehen sie schnell den Rückschluss, dass es nicht gerade lebenserfüllend ist, Jesus nahezukommen.

Hier geht es nicht um die Perioden der Dürre, des Widerstands und der Müdigkeit, mit der wir Menschen uns in unseren Beziehungen und auf der Arbeit immer wieder herumschlagen müssen. Es geht darum, wie wir mit diesen Zeiten umgehen. Gerade sie können notwendig sein, um die eigenen Grenzen zu erkennen und dadurch wieder zur Lust der Nachfolge zurückzufinden. Hier geht es vielmehr um die tiefere und langfristige Verschiebung, die das Herz anders ausrichtet und die zu einer immer größer werdenden Diskrepanz führt zwischen dem, wonach man sich eigentlich sehnt, und dem, womit man täglich arbeitet. Es geht um die entscheidende Ausrichtung des Lebens, die Jesus meint, wenn er sagt: »Denn wo dein Reichtum ist, da ist auch dein Herz« (Matthäus 6,21). Ist Jesus nicht länger die Freude des Herzens, wird diese Freude schnell von anderen Dingen in Beschlag genommen.

Da das für christliche Leiter ziemlich »verbotene« Gefühle sind, kann es lange dauern, bis sie sich selbst eingestehen können, was sie fühlen. Und meistens dauert es noch viel länger, bis man auch Gott gegenüber gestehen kann, dass man diese Gefühle hegt. »The show must go on« ist wohl nicht der Rat, den Gott in dieser Situation geben würde. Dieser Rat kommt nur vom Teufel, dem Vater der Lügen, der alles dafür tut, dass wir nicht mit der Wahrheit in Kontakt kommen.

Jede Wahrheit, wie wenig geistlich sie in dem Moment auch klingen mag, ist eine Möglichkeit, mit Gott in Kontakt zu kommen. Jede Lüge trennt uns von Gott, egal, wie geistlich sie auch klingen mag. Was wie der totale Zusammenbruch der Beziehung zu Gott erscheinen kann – ihm zu sagen, dass Sie keine Lust mehr auf das Ganze haben –, kann leicht zum Durchbruch in der Beziehung werden, der dazu führt, dass Sie endlich wieder bei Gott ankommen. Es ist wie in der Ehe: Erst, wenn man damit aufhört, sich mit aller Kraft bloß nichts anmerken zu lassen, und die Probleme auf den Tisch bringt, kann sich die Beziehung verbessern. Es ist der erste Schritt, ehrlich den Istzustand zu benennen.

Was uns das Bauchgefühl verrät

Was ist besser: in der Kirche zu sitzen und sich nach der Kneipe zu sehnen oder in der Kneipe zu sitzen und sich nach Gott zu sehnen?

Diese Frage ist ein klassischer Test für die Ausrichtung im Leben eines Menschen. Die eigenen Wünsche zu fassen zu bekommen und sich nicht einzubilden, etwas anderes zu wollen, ist entscheidend, um ein authentisches Leben in Freiheit zu führen. Aber das ist nicht immer so leicht. Unser Bauchgefühl weicht uns häufig aus.

Ein anderes Beispiel aus der Ehe. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen eine Einladung zu einem Fest, Ihre Partnerin bzw. Ihr Partner aber nicht. Wie reagieren Sie spontan? Sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl in Sekundenschnelle: »Schön, dass ich endlich mal allein unterwegs sein kann?«, oder sagt es eher: »Wie schade, allein gehen zu müssen«?