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"Beziehungen? Eigentlich ganz einfach. Wäre da nicht das Problem mit dem Wort eigentlich." Trotz prall gefüllter Ratgeber-Regale und Instagram-Reels, die vor Beziehungsweisheiten nur so funkeln, bleiben viele Fragen offen: Warum laufen Beziehungen im echten Leben so selten nach Plan? Warum prallen Liebe und Alltag oft wie zwei störrische Ziegen auf einer Hängebrücke aufeinander? Vielleicht, weil eine Beziehung eben nicht nur ein Gefühl ist, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus Erwartungen, Kommunikation, Rollenbildern – und unseren ganz eigenen Macken. Dieses Buch verbindet fundierte Erkenntnisse aus Psychologie und Soziologie mit lebensnahen Beispielen aus dem wahren Leben. Kein dröger Theorietext, sondern Szenen, die zum Lachen, Nachdenken – und manchmal auch zum Augenrollen einladen. Von den ersten Funken bis zu festgefahrenen Mustern, von fairen Verhandlungen bis zu dramatischen Streits, von Bindungsstilen bis zu Sex im 21. Jahrhundert – hier werden die Themen behandelt, die uns alle betreffen. Was dich erwartet: •Wissenschaftlich fundiert, aber leicht verständlich •Fallbeispiele, die direkt aus dem Alltag stammen •Humor, Realismus und ein Schuss Selbstironie •Aktuelle Themen wie Kulturwandel, Digitalisierung und Dating-Apps •Konkrete Strategien, die sofort im Alltag wirken Am Ende wirst du nicht nur andere, sondern auch dich selbst klarer sehen – und vielleicht entdecken, dass das kleine Wort "eigentlich" gar nicht so schlimm ist. Es kommt nur darauf an, wie wir darüber reden.
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Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Zwischen Nähe und Wahnsinn
Beziehungen machen glücklich. Oder auch nicht.
Nika Beluna
Titel: Zwischen Nähe und Wahnsinn – Beziehungen machen glücklich. Oder auch nicht.
Autorin: Nika Beluna (Pseudonym)
Texte: © Copyright by Veronika Offermann
Umschlaggestaltung: © Copyright by Veronika Offermann
Satz und Layout: Veronika Offermann
Verlag: Selfpublishing
Verantwortlich für den Inhalt gemäß § 5 DDG:
Veronika Offermann
Eschersheimer Landstraße 42
60322 Frankfurt am Main
Deutschland
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH
Köpenicker Straße 154a
10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Inhalt
Inklusion und Vielfalt
Wissenschaft trifft Leben
Schön, dass du da bist.
Der Anfang
Kompliziertes Zusammensein
Blick auf den Charakter mit den Augen von Erich Fromm
Menschen und deren Verhalten mit den Augen von Karen Horney
Warum wollen wir eine Beziehung?
Reise zu den Wurzeln
Zurück in die Gegenwart
Wunsch vs. Bedürfnis
Beziehung – eine gute Idee?
Die Pro-Seite
„Happy Story“
Die andere Seite der Nähe
„Horror-Story“ (oder: Wenn Liebe zur Last wird)
Liebe als Garant für Beziehungserfolg?
Hat Liebe eine Definition?
Liebe: Was ist das überhaupt?
Liebe in Sprache und Wissenschaft
Wenn Liebe ein Ablaufdatum hätte…
Ist das Konzept der romantischen Liebe im 21. Jahrhundert noch relevant?
„Wer liebt wie?“ – Was Geschlecht (nicht) erklärt
Wenn Liebe neu gedacht werden will
Wenn man sich nicht entscheiden kann - ein reflektierendes Intermezzo
Liebe in Endlosschleife - Szenarien, Muster, Einsichten
Worauf es im Alltag wirklich ankommt
Das Autark sein als Voraussetzung für die Liebe
Das Prinzip der inneren Quelle
Autarkie als psychologische Reife
Vom Ich zum Wir: Reife Beziehungen durch Selbsterkenntnis
Warum rückt Autarkie so sehr in den Fokus?
FoMO – die Angst, etwas zu verpassen
Zusammenfassung: Autarkie als Fundament der Liebe
Grundeinstellung gesucht – wie Erwartungen unsere Beziehungen formen
Verhandeln in der Liebe – zwischen Nähe, Freiheit und Fairness
Von Erwartungen und Enttäuschungen
Kompromisse – Balance oder Bilanz?
Das Ich im Wir – Selbstverwirklichung in der Partnerschaft
Verhandlungsstile in Theorie und Alltag
Rollenbilder im Wandel
Wie wir verhandeln – und was dabei auf dem Spiel steht
Von der Theorie zur Praxis – Das Verhandlungsgespräch
Kommunikation und Streit
Die Macht ist mit…Kommunikation
Bedürfnisse benennen – oder: Was Worte wirklich auslösen
Worte, die bleiben – auch wenn wir es anders meinen
Wenn einer zieht und der andere flieht – Dynamiken im Streitverhalten
Einführung in die Mentalisierung
Hörst Du mir zu?
„Was willst du eigentlich?“ – Der Streit, der alles sagt
Das Worum der Auseinandersetzungen?
Konfliktengagement: Wie wir streiten – und was das über uns verrät
Beliebteste Konfliktlösungsstile
Der eine drängt – der andere flieht
Zwischen Festhalten und Fliehen – Wie unsere Bindungsmuster Beziehungen formen
Streit als Beziehungsmerkmal – oder: Wie viel Drama ist gesund?
Vom Erkennen bis zum Loslassen – Sieben Phasen der Konfliktverarbeitung
Sprich, damit ich dich liebe – Praktische Regeln für ehrliche Nähe
„Darf ich dir was sagen?“ – Feedback als Chance, nicht als Sprengsatz
Wenn Worte verletzen
Verhaltensweisen, die Nähe verhindern
What about Sex?
Spießigkeit → sexuelle Freizügigkeit → Promiskuität
Sexyness unter Druck – vom Normkörper zur Selbstzensur
Die Revolution der Sexualität: Vom Druck zur Freiheit
Chancen und Herausforderungen durch Dating-Apps
Metrosexualität: Das Aufbrechen traditioneller Rollenbilder
Der Vibrator: Von medizinischem Gerät zu Symbol sexueller Freiheit
Jenseits des Offensichtlichen: Die unsichtbaren Fäden der Sexualität
Haltung. Kontext. Dauer.
Geschlechtsspezifische Perspektiven auf Sexualität
Prädiktoren für sexuelles Wohlbefinden
Sex im Alltag: die tägliche Dosis von Drama
Sexuelle Transzendenz
Wenn Treue bröckelt – Facetten der Untreue
Emotionale Intimität
Emotionale Intimität als Sparringspartner der Sexualität
Wenn das Herz brennt
Motivational partnership
Vertrauen – das unsichtbare Rückgrat
Gemeinsame Ziele
Frau Miller – Zwischen Fürsorge und Selbstverlust
Strategien, die nicht funktionieren
„Liebe rettet die Welt!“ – das Schlusswort
Anhang
Literatur
Über die Autorin
Liebe betrifft uns alle – unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung oder kulturellem Hintergrund.Die Gedanken in diesem Buch sind deshalb nicht exklusiv auf heterosexuelle Beziehungen bezogen, sondern gelten für alle, die sich mit Nähe, Bindung und dem Wahnsinn dazwischen beschäftigen.
Auch wenn der Fokus auf romantischen Beziehungen liegt, sind viele Prinzipien auf andere Formen menschlicher Verbindung übertragbar.
Dieses Buch ist in einer westlich geprägten Perspektive geschrieben. Ich weiß, dass es viele andere kulturelle Sichtweisen gibt, die hier nicht im Detail beleuchtet werden – und doch genauso wertvoll sind.
Ich habe mich bemüht, inklusiv und respektvoll zu schreiben. Sollte mir dabei etwas entgangen sein, freue ich mich über nachsichtige Gedanken.
Die in Fallbeispielen verwendeten Namen und Umstände wurden zum Schutz der Privatsphäre verändert.
Liebe in all ihren Formen ist nicht nur wertvoll – sie ist ein Wunder.
Auch wenn dieses Buch in einem persönlichen Ton geschrieben ist, wurzelt es in psychologischer Forschung und Theorie.Eine Auswahl der verwendeten Literatur findest Du am Ende des Buches.
* * *
Ohne den Satz „Du solltest ein Buch schreiben“ gäbe es dieses Buch nicht.Danke an alle, die ihn gesagt – oder gedacht – haben.
Danke an meine Leserinnen und Leser: für euer Interesse, euer Vertrauen, eure Zeit.An meine Klienten und Klientinnen: für eure Offenheit, eure Tiefe und euren Mut, euch wirklich zeigen zu lassen.An meine Wegbegleiter und Begleiterinnen – für Gespräche, Reibung, Rückenwind.An alle Zweifler: Auch euch verdanke ich vieles.
Danke an meinen Mann, der sagte: „Na endlich“ – und dann das Manuskript las, als hätte er nie etwas anderes getan.An meinen Mentor – ohne dich wäre ich eine Stimme weniger.An meine Eltern – für Fokus, Zuspruch, Realitätssinn.
Ohne euch wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.Und auch nicht nötig.
* * *
Stell dir vor, wir sitzen in einem ruhigen Raum. Es duftet nach Apfelkuchen, nach Tee, vielleicht auch ein Hauch Kaffee. Draußen ist die Welt beschäftigt – aber hier drinnen ist gerade Platz. Für Gedanken. Für ein Gespräch unter Freunden. Für uns.
Ich bin Psychologin, ja. Aber heute lasse ich den weißen Kittel im Schrank.Heute bin ich einfach jemand, der gern mit dir über das nachdenkt, was uns alle bewegt:Beziehungen. Liebe. Nähe. Und das leise Chaos, das manchmal damit einhergeht.
Keine Sorge, das hier wird kein Vortrag. Kein „zehn Schritte zur besseren Partnerschaft“.Das wird eher so eine Art gemeinsames Innehalten.Ein bisschen Staunen.Ein bisschen Lächeln.Und vielleicht ein paar Gedanken, die etwas in dir anstoßen – ganz ohne erhobenen Zeigefinger.
Wir reden über all die Beziehungen, die unser Leben formen:zu Eltern, Freunden, Kollegen, Nachbarn… und ja, auch zu denen, die uns Pakete bringen oder morgens den Kaffee machen.Aber vor allem reden wir über diese eine Sorte Beziehung, bei der die Emotionen Tango tanzen: die zu unseren Liebesmenschen.
Die Art Beziehung, bei der wir manchmal nicht wissen, ob wir weinen, lachen oder kurz das Land verlassen sollen.
Wir schauen uns gemeinsam an, was in uns wirkt. Warum wir ticken, wie wir ticken.Ich bringe dir Gedanken mit – aus meiner Erfahrung, meinem Wissen, meiner Neugier.Und du bringst dich mit – mit deiner Offenheit, deiner Geschichte, deinem Gefühl für das Leben.
Es geht nicht um Richtig oder Falsch.Nicht um Perfektion.Nur um ein bisschen mehr Verständnis. Für andere – und für dich.
Kein Ratgeber. Kein Rezept.Nur ein kleiner gemeinsamer Weg.Mit Gedanken, die sich anfühlen wie ein guter Tee: warm, ehrlich – und manchmal ein wenig belebend.
Wenn du magst, gehen wir los.Der Apfelkuchen ist noch warm.
* * *
Es war einmal...
Schon diese drei Worte wecken Erinnerungen – an Märchen, Prinzen, weiße Pferde, an eine Prinzessin mit wallendem Haar und einen Drachen, der pünktlich zum Happy End den Abgang macht.Jetzt steht dem Liebesglück nichts mehr im Weg, oder?Schön wär’s.
Wie war das bei Dir?Gab es in Deiner Kindheit jemanden, der Dir gezeigt hat, wie Liebe geht? Hast Du Erwartungen gespürt – vielleicht im Kreis Deiner Familie?Warst Du eher Optimist – orientiert an glücklichen Paaren?Oder doch eher Realist – einer, den die Nachrichten über Trennungen und Scheidungen nicht ganz kaltlassen?
Bei mir jedenfalls spielte meine Herkunft eine entscheidende Rolle.Aufgewachsen in der Ukraine war Liebe für mich – zumindest am Anfang – untrennbar mit Ehe und Familie verbunden. Und zwar im klassischen Sinn: wahre Liebe, am besten vom ersten Blick an, ein lebenslanger Bund. Kinder? Natürlich. Die logische, stolze Weitergabe des familiären Erbes.
So sah das Bild aus. Aber wie das mit Idealbildern oft ist: Irgendwann geraten sie ins Wanken.Mit der Zeit wurde deutlich, dass viele der vermeintlich funktionierenden Beziehungen in meinem Umfeld mehr Fassade als Fundament hatten. Was nach Liebe aussah, war oft gut eingeübtes Theater.
Erinnerst Du Dich an Malbücher?Die mit den klaren, vorgezeichneten Linien – Du sollst nur noch die Farben auswählen. Ich mochte das.Aber irgendwann kam mir der Verdacht: Vielleicht ist unser ganzes Leben genau so gedacht. Die Konturen stehen fest.Du musst sie nur noch passend ausmalen.
Ich begann früh, hinter die Kulissen von Beziehungen zu blicken. Und mit der Zeit formte sich daraus meine eigene Sicht auf das, was Liebe für mich bedeutet – meine Ethik, wenn Du so willst.
Ein kleiner Vorgeschmack?Ich fand den Drachen ehrlich gesagt überflüssig. Denn Drachen begegneten uns selten. Viel häufiger stellte sich die Frage, wie man mit einem ukrainischen Durchschnittsgehalt durch den Monat kommt. Meins lag damals bei etwa vierzig Euro.Zum Vergleich: Eine anständige Jeans – nichts Besonderes, aber tragbar – kostete in Kiew zu der Zeit etwa genauso viel.
Klingt das nach materialistischem Denken?Wahrscheinlich. Aber so war ich nicht. Ich war keine dieser atemberaubend schönen Prinzessinnen, die Prinzen magisch anziehen. Ich war… anders.Klar im Kopf. Unangepasst. Und – ehrlich gesagt – nicht besonders beliebt damit.
Ich wusste schon früh: Man braucht keinen Prinzen, um zu leben. Ein Zeremonienmeister hätte es im Zweifel auch getan.Aber mein eigentliches Problem war: Ich wollte gar keine Hochzeit.Das passte nicht ins vorgegebene Bild.
Also fing ich an, mein eigenes zu zeichnen.Ich konzentrierte mich darauf, Fähigkeiten zu entwickeln, die mich durchs Leben bringen – mit oder ohne Partner.Und je mehr ich mich mit Beziehungen beschäftigte, desto mehr rückte ein Begriff in den Mittelpunkt: gegenseitiger Respekt.Ich sagte das auch laut. Doch ernst genommen wurde ich selten.
Während andere ihre Hochzeitsfotos rahmten, bekam ich Sprüche zu hören wie:„Du willst doch nur nicht heiraten, weil dich keiner will.“Charmant, oder?
Und doch – viele Jahre später – hat sich etwas nicht verändert:Die Faszination für die Liebe.
Ganz gleich, ob man zwanzig oder fünfzig ist – fast alle sehnen sich nach einem Du.Nach einem Menschen, der bleibt. Der sieht. Der mitgeht.
Goldene Hochzeiten sind selten geworden – aber es gibt sie noch.Und ich frage mich: Was machen diese Paare anders?Wie gelingt es, gemeinsam zu wachsen – nicht nur nebeneinander zu existieren?Wie schafft man es, nicht nur einen Anfang, sondern auch eine Fortsetzung und vielleicht sogar ein Happy End zu leben?
Lass uns gemeinsam danach suchen.Vielleicht finden wir keine endgültigen Antworten –aber echte.Und wer weiß – vielleicht auch ein paar schöne.
„Sprich aus deinem Herzen, das sanft, einfach und echt ist. Die Menschen werden dich verstehen und dich mögen.“Haemin Sunim1
In einer Beratungssitzung sagte ein Klient einmal zu mir: "Sie machen die Dinge immer so einfach." Und er meinte das nicht vorwurfsvoll – eher überrascht. Meine Erklärungen erschienen ihm klar und logisch, aber ihre Umsetzung in der Praxis war, wie er sagte, deutlich schwieriger.
"Eigentlich ist es einfach" – das ist einer meiner Lieblingssätze. Wobei das "eigentlich" entscheidend ist. Denn alles Einfache scheint immer von den anderen getan zu werden.
Ich bin überzeugt: Das Leben lässt sich in Gedanken vereinfachen – aber das bedeutet nicht, dass es leicht zu leben ist. Besonders, wenn mehr als eine Person beteiligt ist. Dann vervielfacht sich die Anzahl der Variablen.
Unser Dasein ohne andere Menschen? Undenkbar. Wir erleben uns selbst durch Beziehung. Und Beziehung ist...kompliziert. Vielschichtig. Manchmal so unübersichtlich wie ein schlecht sortierter Wäschekorb.
Nehmen wir ein harmloses Beispiel: die Wochenendplanung. Paare, ob jung oder alt, berichten mir immer wieder, wie schwierig es sein kann, gemeinsame Freizeit zu gestalten. Die Probleme ähneln sich oft – unabhängig vom Alter oder Beziehungsstatus.
Ein älteres Ehepaar: Sie will am Samstagmorgen früh aufs Rad steigen und durch die Natur fahren. Er schläft lieber aus. Vorschläge wie „Elf Uhr wäre auch okay“ kontert sie mit: "Dann kann man ja gleich zu Hause bleiben." Er wiederum ist missmutig, wenn er sich aus dem Bett quält. Der Tag beginnt – sagen wir – angespannt.
Ein jüngeres Paar: Er ist sportlich ambitioniert und möchte, dass der Urlaub einem Triathlon gleicht. Sie, Altenpflegerin mit vollem Körpereinsatz unter der Woche, wünscht sich Ruhe. Sein Argument: Bewegung sei gesund. Außerdem sähen ihn seine Freunde als Vorbild. Ihr Argument: Stille sei auch gesund. Fazit: Konflikt.
Kennst du solche Situationen? Oder hast du schon mal diesen Satz gehört: „Du und mein Partner – ihr würdet euch gut verstehen!“?
Aber sind solche Alltagsbeispiele nicht zu banal für ein Buch über Beziehungen? Nein. Denn genau hier beginnt die Wahrheit.
Beziehungen bestehen aus Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Vorstellungen und Geschichten. Wenn es nur um unsere eigene Sicht ginge, wäre vieles einfacher. Aber so ist es nicht. Zwischen zwei Menschen liegt ein ganzes Universum.
Wir fragen uns oft: War mein Verhalten richtig? Habe ich zu viel gewollt – oder zu wenig? Wir wägen ab, wir zweifeln. Denn die andere Person bringt ihre eigene Welt mit – samt Erwartungen, Ängsten und Triggerpunkten.
Warum tun wir, was wir tun – und was hält uns zurück?
Die Komplexität des Zusammenseins beginnt mit der Komplexität unseres Selbst. Unsere Beziehungen sind durchzogen von Emotionen, Kommunikationsstilen, Prägungen, alten Verletzungen, sozialen Rollen und kulturellen Einflüssen.
Das Geschick, zwischen all diesen Faktoren zu navigieren, erfolgreiche Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, scheint maßgeblich unsere gesellschaftliche Wahrnehmung als gesund und erfolgreich zu beeinflussen.
Und dennoch: Das menschliche Gehirn ist ein wahres Beziehungstalent. Es erkennt Gefühle, reguliert Impulse, entwickelt Empathie, moralische Urteile – und schafft es, sich immer wieder neu auf andere einzustellen. Neurobiologisch gesehen sind wir soziale Wesen, keine Einzelkämpfer. Auch wenn wir uns manchmal so benehmen.
Aber selbst das bestverkabelte Gehirn kann nicht verhindern, dass Beziehung anstrengend ist.
Will ich einen Kaffee, weil ich müde bin, oder lockt mich der attraktive Barista?
Manchmal gehen wir zum Kaffeeholen nicht, weil wir müde sind – sondern weil der Barista uns anlacht. Oder weil wir der To-do-Liste ausweichen wollen. Oder beides.
Wir sind beeinflusst – durch die Gesellschaft im Großen wie im Kleinen. Der Staat, das System, unser Umfeld, die Nachbarn, die Kollegin mit dem zu lauten Lachen – sie alle wirken auf uns ein. Und wir wirken zurück.
Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Einfluss auf der sogenannten Mikroebene: Sie beschreibt das unmittelbare soziale Umfeld – Familie, Freundeskreis, Arbeitskollegen, Nachbarn – also all jene Menschen, mit denen wir täglich in Kontakt stehen und unser Leben gestalten.2
Die Sozialpsychologie untersucht genau das: Wie unsere Wahrnehmung, Gedanken, Gefühle und Handlungen durch andere beeinflusst werden.3 Sie analysiert unsere Rolle in einer Gruppe, die Dynamik innerhalb der Familie, unsere kleinen Aufstände im Büro – oder auch unser gesellschaftliches Engagement durch Wahlen und andere Formen der Teilhabe.4 Diese sozialen Einflüsse und Prozesse lassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten – innerhalb eines Individuums, zwischen Individuen oder innerhalb ganzer Gruppen.5
Wie nützt uns diese Erkenntnis? Durch diesen kurzen theoretischen Exkurs bekommst du vielleicht ein Gespür dafür, wie unterschiedlich Menschen ein und dieselbe Situation erleben können. Wir alle sind gezwungen, uns fortlaufend mit unseren eigenen Wahrnehmungen auseinanderzusetzen – und ebenso mit den Wirklichkeitsentwürfen anderer. Dabei wird schnell klar: Unsere Einschätzung von Menschen ist eng verwoben mit unseren Überzeugungen, Emotionen und inneren Prägungen.
Stell dir vor, du hältst jemanden für einen Verbündeten während diese Person in dir eher einen Rivalen sieht. Welche Art von Beziehung wird daraus wohl entstehen? Und wie einfach oder schwierig ist es, sich auf dieser Basis in einem gemeinsamen Raum zu begegnen?
Nehmen wir als Beispiel den Arbeitsplatz. Hier wird besonders deutlich, dass jeder Mensch bestimmte Rollen spielt. Manche sind klar definiert – etwa als Abteilungsleiterin oder Assistenz – andere sind diffuser, wie etwa die Rolle der „guten Seele“ oder des „unsichtbaren Mitläufers“.7 Die Gesellschaft versucht, solche sozialen Interaktionen zu normieren und zu regulieren. Doch unser inneres Erleben lässt sich selten in ein festes Raster pressen. Das „wahre Ich“ drängt immer wieder an die Oberfläche. Und wenn jemand versucht, eine Situation nach seinen Wünschen zu gestalten, wird sie dennoch stets auch durch das Miteinander geprägt.8
Und selbst wenn zwei Kollegen sich nicht ausstehen können, muss das nicht zwangsläufig in offenem Streit enden. Der Soziologe Erving Goffman widmete diesen Dynamiken ein ganzes Buch und beschrieb das Zusammenspiel von Menschen als "Ensemble" – also als eine Gruppe, in der alle Mitglieder trotz ihrer Unterschiede eine gemeinsame Aufgabe verfolgen. Dieses Ensemble ist mehr als eine Zweckgemeinschaft, aber weniger als eine Clique.
Denn anders als in Cliquen, wo es oft um Abgrenzung und Exklusivität geht, geht es in Ensembles um Kooperation trotz Differenz. Sobald jedoch Cliquenbildung einsetzt und zur Hauptbeschäftigung wird – etwa durch elitäres Verhalten oder bewusste Ausgrenzung – entstehen Spannungen.9 Und dann? Richtig: Konflikte.
Auch in Paarbeziehungen ist das spürbar. Gemeinsame Aufgaben und Ziele können eine tragende Säule für eine stabile Partnerschaft sein – sogar dann, wenn man sich nicht in allem einig ist.
Vielleicht fragst du dich jetzt, warum wir überhaupt bestimmte Rollen übernehmen – und warum wir uns manchmal so schwer damit tun, sie abzulegen. Die Antworten darauf liefert ein Blick in die Persönlichkeitspsychologie.
Sie hilft uns zu verstehen, was uns antreibt – und was uns ausbremst. Denn die Entscheidungen, die wir in unserem Liebesleben treffen, hängen eng mit unserer Persönlichkeit und unserer Sicht auf die Welt zusammen. Liebe ist kein Extra. Sie ist Teil unseres Lebensentwurfs. Eines Plans, der ganz schlicht heißt: Mein Leben.
***
Erich Fromm betont die Rolle soziologischer, politischer und ökonomischer Bedingungen in der Persönlichkeitsentwicklung.10 In seiner Analyse der Lebensverhältnisse von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert legt er dar, dass bestimmte Erfahrungen – wie Einsamkeit, Isolation und Entfremdung – zum Menschsein untrennbar dazugehören.11
Im 20. Jahrhundert erreicht der Wunsch nach individueller Freiheit und persönlicher Entfaltung einen historischen Höhepunkt – jedoch um einen hohen Preis: Der Verlust von Sicherheit und die wachsende Empfindung, als Einzelner bedeutungslos zu sein. Fromm erkennt in diesem Spannungsfeld aus Freiheit und Sicherheit eine Wurzel existenzieller Krisen. Der Versuch, unabhängig zu werden, kann zu einer tiefen Entfremdung führen – sowohl von der Natur als auch von der Gesellschaft.
Und doch: Menschen streben beharrlich danach, diesen inneren Konflikt zu lösen. Sie tun es nicht zufällig, sondern getrieben von fundamentalen existenziellen Bedürfnissen: dem Wunsch nach Bindung und sozialem Kontakt; dem Streben nach Kreativität – oder, wie Fromm es ausdrückt, dem Drang, die eigene passive, tierische Natur zu überwinden; dem Bedürfnis nach Wurzeln und Identität („Ich bin ich“ – und damit „Herr über mein Leben“); sowie dem Verlangen nach Treue zu bestimmten Werten und Überzeugungen.12
Diese Bedürfnisse führen uns – als soziale Wesen – in Beziehungen. Doch wie wir diese Beziehungen gestalten, ist unterschiedlich. Fromm beschreibt verschiedene soziale Charaktertypen, auch als Charakter-Orientierungen bekannt und unterscheidet hierbei nicht rigide, sondern erkennt in jedem von uns eine gewisse Beweglichkeit. Dennoch lassen sich zwei Grundtendenzen differenzieren – eine produktive und eine nicht-produktive Ausrichtung.
Letztere kann durchaus auch positive Eigenschaften wie Offenheit oder Optimismus zeigen. Doch sie offenbart sich oft in weniger hilfreichen Mustern: etwa in der Tendenz, sich das Gewünschte mit Gewalt zu nehmen – oder im Gegenteil, passiv zu warten, bis es „auf einem Silbertablett“ serviert wird. Sie zeigt sich im Horten von Dingen, Macht oder Zuneigung – oder in der Selbstvermarktung wie eine Ware, was Fromm als ein Symptom des Kapitalismus deutet.
Erst die produktive Orientierung, so Fromm, führt zu einem wahrhaft erfüllten Menschsein.14 Sie entfaltet sich in drei zentralen Bereichen: im Denken, im Handeln und im Fühlen.
Im Denken zeigt sie sich in einer tiefen, vernünftigen Durchdringung der Realität.Im Handeln äußert sie sich in schöpferischen Tätigkeiten.Im Fühlen schließlich lebt sie in einer Liebe, die Nähe und Unabhängigkeit vereint – die Einssein ermöglicht, ohne das Eigene aufzugeben.
Damit bestätigt sich, was zuvor bereits angeklungen ist: Liebe ist kein Add-On – sie ist ein elementarer Bestandteil unseres Seins. Und sie ist verknüpft mit Vernunft. Entscheidend ist dabei nicht, wie leidenschaftlich wir lieben oder wen – sondern WIE.
Die Qualität der Liebe ist entscheidend: geprägt von Fürsorge, Verantwortung, Respekt und tiefem Verstehen. Nur dann wird sie zu einer Haltung, die über bloße Emotion hinausgeht – und zu einer Kraft, die das Leben erfüllt und ordnet.
***
Auch Karen Horney war überzeugt: Menschen versuchen, ihre Beziehungen so zu gestalten, dass sie ein größeres Maß an Sicherheit erfahren. Sie identifizierte zehn zentrale „Überbedürfnisse“, die das menschliche Dasein prägen – und gliederte diese in drei Hauptkategorien, denen sie spezifische Interaktionsstrategien zuordnete.15
Der erste Typ, die nachgebende Persönlichkeit, orientiert sich auf andere Menschen hin – in der Hoffnung, durch Anpassung in Ruhe gelassen zu werden. Diese Illusion hat ihren Preis: Der Typus ist oft geprägt von Anhänglichkeit, Hilflosigkeit und Entscheidungsschwäche. Er sehnt sich nach Liebe und Schutz. Doch hinter dem Wunsch nach Bindung steckt nicht selten die Angst vor Einsamkeit – und das Bedürfnis, gebraucht zu werden. Die Schattenseite dieser Haltung kann sich in passiver Aggressivität äußern: eine stille Feindseligkeit, die hinter der scheinbar harmlosen Fassade brodelt.
Ganz anders agiert der abgesonderte Typ, der sich von anderen Menschen abwendet. Sein Leitspruch: „Ist mir egal.“ Was vordergründig nach Gleichgültigkeit aussieht, ist in Wirklichkeit oft eine Distanzierungsstrategie – ein Versuch, sich der Komplexität menschlicher Nähe zu entziehen. Ich teile Horneys Skepsis: Kaum jemandem ist wirklich alles gleichgültig. Diese Haltung führt vielmehr zu oberflächlichen Beziehungen, zu flüchtigen Vergnügungen – aber selten zu tiefer Verbundenheit oder Authentizität.
Der dritte Typ schließlich ist der feindliche: Er wählt die Orientierung gegen andere. Er setzt auf Dominanz, Feindseligkeit und Ausnutzung. Die innere Formel dieses Typs lautet: „Ich habe Macht, also bin ich unangreifbar.“ Selbst wenn dieser Mensch sich freundlich oder diplomatisch gibt – sein Verhalten ist oft von einem eigennützigen Kalkül durchdrungen. Es geht um Prestige, um Geld, um Kontakte oder – subtiler – um die Aneignung fremder Ideen und Leistungen für den eigenen Vorteil.
Diese nuancierte Typologie zeigt, wie unterschiedlich Menschen versuchen, ihre inneren Spannungen zu regulieren. Und sie offenbart gleichzeitig: Beziehungen sind selten einfach. Jeden Tag begegnen wir diesen Typen – nicht als Karikaturen, sondern in realen Abstufungen. Oft mischen sich mehrere Strategien, und die meisten von uns navigieren zwischen ihnen im Laufe ihres „ganz normalen Lebens“. Auffällig werden meist jene, denen es an Flexibilität mangelt – etwa Menschen mit neurotischen Störungen.
Als zusätzliches Schmankerl folgt hier ein Überblick über die zehn zentralen Bedürfnisse, die Horney als tief verwurzelt im Menschen betrachtete.16 Sie entstehen, so ihre These, bereits in der Kindheit – als Antwort auf basale Ängste, Unsicherheit und das Gefühl von Hilflosigkeit. Die daraus resultierenden neurotischen Tendenzen spiegeln sich im Verhalten wider:
Das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung
: Ein unstillbares Verlangen, bewundert und geliebt zu werden – gekoppelt mit einer starken Empfindlichkeit gegenüber Kritik.
Das Bedürfnis nach einem leitenden Partner
: Eine übermäßige Abhängigkeit von anderen, aus Angst vor Zurückweisung und Einsamkeit.
Das Bedürfnis nach klaren Grenzen
: Eine starke Orientierung an Regeln, Struktur und Einschränkungen als Schutz vor innerem Chaos.
Das Bedürfnis nach Macht
: Dominanz und Kontrolle als Mittel, um sich selbst zu behaupten.
Das Bedürfnis nach Ausbeutung anderer
: Aus Angst, selbst benutzt zu werden, greift man zu präventiver Ausnutzung.
Das Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung
: Ein ständiges Bedürfnis nach Bewunderung – verbunden mit der Abhängigkeit von der Meinung anderer.
Das Bedürfnis nach Selbstbewunderung
: Der Hang, ein idealisiertes Selbstbild zu erschaffen – und die Suche nach ständiger Bestätigung.
Das Bedürfnis nach Ehrgeiz
: Der Drang, „der oder die Beste“ zu sein – unabhängig von den Konsequenzen.
Das Bedürfnis nach Selbstversorgung und Unabhängigkeit
: Der Rückzug aus Verantwortung und emotionale Unnahbarkeit.
Das Bedürfnis nach Makellosigkeit
: Der Versuch, moralisch einwandfrei und tadellos zu erscheinen – als Schutzschild gegen Kritik und Selbstzweifel.
Soziale Beziehungen gleichen dem Prinzip von Yin und Yang – sie sind zugleich einfach und kompliziert. Einfach, weil sie lebensnotwendig sind wie das Atmen. Kompliziert, weil sie von zahllosen Nuancen, inneren Spannungen und äußeren Umständen beeinflusst werden – ein Tanz auf rutschigem Boden, bei dem jeder Schritt zählt.
„Die Einsamkeit ist not: doch sei nur nicht gemein:
So kannst du überall in einer Wüste sein.“
Angelus Silesius1
Wenn Menschen über ihr Liebesleben sprechen, klingen ihre Worte oft wie verschlüsselte Botschaften. Einerseits ist der Wunsch nach einer Beziehung klar spürbar – andererseits klingt da auch eine deutliche Sehnsucht nach der Freiheit des Alleinseins mit.
Viele von uns balancieren täglich zwischen dem Bedürfnis nach Nähe – etwa dem Wunsch nach jemandem zum Kuscheln – und der Sorge, dass im stressigen Alltag nicht einmal genug Raum für die eigenen Bedürfnisse bleibt. Geschweige denn für die Pflege einer Beziehung.
Manche befinden sich in typischen „Suchphasen“ – und sprechen dann von Opfern, die sie bereit sind zu bringen, ähnlich wie beim wiederholten Griff zum Salat während einer Diät.Doch es folgen auch Phasen der Müdigkeit. Dann meldet sich der innere Skeptiker und flüstert: „Es bringt ja doch nichts. Am Ende geht’s wieder schief.“Unser Liebesleben ist manchmal eine emotionale Achterbahn. Mit Loopings.
Was meinst Du:Wollen wirklich alle eine Beziehung?Und diejenigen, die eine haben – wollen sie sie wirklich?
Im Alltag begegnen uns die unterschiedlichsten Menschen. Einige äußern offen, dass sie sich eine Partnerschaft oder Familie wünschen – sei es bald oder irgendwann. Andere erklären, sie wollten sich nicht binden. Und dann gibt es jene, die niemals eine feste Beziehung angestrebt haben, sich nun aber in einer intensiven Partnerschaft wiederfinden.Das zeigt: Unsere Motive können sich ändern. Mit den Lebensphasen. Mit uns.
Und dazwischen? Liegt ein weites Feld an Lebensmodellen – etwa der Wunsch nach monogamen Bindungen auf Zeit. Nach Begleitungen durch bestimmte Lebensabschnitte.
Was auch immer die Variante ist – fast jeder Mensch strebt irgendwann eine engere Verbindung an. Wenn nicht aus eigenem Antrieb, dann vielleicht, weil es gesellschaftlich erwartet wird. Hand aufs Herz: Wenn jemand mit dreißig noch nie eine Beziehung hatte – finden wir das nicht zumindest… ungewöhnlich?
Gerade mit psychologischem Hintergrund ist in solchen Momenten mein Interesse geweckt. Nicht aus Neugier im Boulevard-Sinn, sondern weil ich spüre: Da gibt es etwas zu entdecken. Eine seltene Persönlichkeit, eine ungewöhnliche Geschichte – ein anderes Bild.
Worum geht es in diesem Kapitel?Nicht um eine Liste mit Gründen, warum Menschen Beziehungen eingehen. Sondern um einen offenen Blick auf die vielfältigen Motivationen und Rahmenbedingungen. Damit jede:r Leser:in sich ein eigenes Bild machen kann. Ich wette, die meisten dieser Bilder wären ziemlich farbenfroh.
Die Gründe für feste Beziehungen sind zahlreich – und sie wandeln sich mit der Gesellschaft, mit dem Zeitgeist.Gleichzeitig erkennen wir über die Jahrhunderte hinweg erstaunlich ähnliche Muster. Besonders, wenn man die Entscheidungen einzelner durch die Brille ihrer Persönlichkeitsstruktur betrachtet.
Auch Spiritualität spielt dabei eine Rolle, die oft unterschätzt wird. Für manche ist der Wunsch nach einer Familie einfach da – jenseits aller Analyse. In der vedischen Astrologie etwa kann eine starke Planetenkonstellation im sogenannten „Haus der Familie“ auf eine Art vorbestimmte Neigung zur Gründung einer Familie hinweisen.
Wichtig ist:Keine dieser Erklärungen ist allein „richtig“ oder „falsch“.Beziehungen – ob partnerschaftlich oder familiär – sind zutiefst persönliche Angelegenheiten.
Aber sich mit den eigenen Motiven auseinanderzusetzen, ist essenziell. Denn zu heiraten, „weil es alle tun“, steht wohl kaum im Einklang mit dem, was wir Selbstverwirklichung nennen.
Die Frage „Warum will ich überhaupt eine Beziehung?“ taucht nicht nur im Denken auf – sie begegnet mir auch immer wieder in der Praxis. In Form von Sätzen wie:„Warum halten meine Beziehungen nie länger als drei Jahre?“oder„Warum bin ich eigentlich noch in dieser Beziehung, obwohl ich innerlich längst ausgestiegen bin?“
Manchmal stellen sich keine Fragen – sondern treffen uns Entscheidungen. Zum Beispiel die Entscheidung, nicht zu gehen. „Ich bleibe, weil ich keine Kraft für eine neue Suche habe.“ Wenn ich dann frage: „Warum müssen Sie denn wieder suchen?“, entsteht oft ein Moment der Irritation.„Wie – warum?“„Ja genau. Warum?“
Auch unser soziales Umfeld trägt zur inneren Unruhe bei.Wer oft den Partner wechselt oder allein lebt, wird von Freunden und Familie nicht selten zum Gesprächsthema.„Wieso brauchst du ständig jemanden?“„Kannst du dich nicht mal entscheiden?“
Und wenn man allein bleibt? Dann kommen sie: die Wünsche nach einem Enkelkind. Die Verkupplungsversuche. Die subtilen Hinweise beim Kaffeetrinken. Eine Freundin aus meiner Clique antwortete einst trocken auf solche Versuche:„Was habe ich euch nur getan, dass ihr mich so leiden sehen wollt?“
Und dann sind wir mittendrin – im Herzen einer Familienfeier. Der Sekt perlt, die Sonne scheint, der Musso Chocolat schmilzt sündhaft auf der Zunge. Im schattigen Garten unter einer alten Eiche bilden sich kleine Grüppchen. Das Gespräch plätschert dahin. Dann fällt dieser eine Satz, der die Runde teilt: „Naja… Franziska ist halt anders. Die will ja Karriere machen.“
In diesem Satz liegt alles: Stolz, Skepsis, Neugier – und manchmal auch Missgunst. Einige nicken anerkennend. Andere seufzen leise. Solche Bemerkungen geben selten echte Antworten – aber sie säen Zweifel. Sie können verletzen. Oder verwirren. Und manchmal führen genau diese Gefühle die Menschen in die Therapie.
Denn was im Außen wie ein Urteil klingt, trifft im Inneren einen empfindlichen Punkt.
Die Frage: „Stimmt etwas nicht mit mir?“Oder ein unterdrückter Ärger.Oder sogar Neid – auf die Verehrer, die Karriere, das scheinbare Selbstbewusstsein.
Ich möchte hier niemanden verurteilen.Sätze brauchen Kontext. Und Kommunikation ist immer vielschichtig.Aber hinter solchen Bemerkungen liegt oft eine tiefere Botschaft – bewusst oder unbewusst.Darauf werden wir im Kapitel über Kommunikation noch genauer eingehen.
Worum geht es also in diesem Kapitel?
Eine Debatte, die älter ist als jede romantische Komödie – und vielleicht genau deshalb so zeitlos aktuell.Mit diesem Gedanken beginnt unsere gemeinsame Zeitreise.
***
Unsere Reise führt uns zurück ins antike Griechenland, rund 400 Jahre vor Christus.Dort begegnen wir einem Verständnis von Liebe und Ehe, das sich deutlich von unseren heutigen westlich-romantischen Vorstellungen unterscheidet.Sicher: Romantische Gefühle gab es wohl auch damals. Doch sie standen selten im Zentrum dessen, was eine Ehe bedeutete.
In jener Zeit galt die Ehe vor allem als soziale und wirtschaftliche Vereinbarung. Sie wurde meist arrangiert – mit dem Ziel, Vermögen zu sichern, gesellschaftliche Stellung zu wahren und legitime Nachkommen zu zeugen. Liebe spielte, wenn überhaupt, eine Nebenrolle. Die Ehe war kein romantischer Bund, sondern ein Grundpfeiler sozialer Ordnung.
Diese Epoche war geprägt von kulturellen Normen, strengen Moralvorstellungen und einer klaren Rollenzuteilung – Einschränkungen, die sowohl Abhängigkeiten als auch scheinbare Sicherheiten erzeugten.Interessanterweise: Wenn wir den historischen Kontext ausblenden würden, klängen manche dieser Strukturen gar nicht so fern von unserer Zeit.
Ein schillernder Kritiker jener Konventionen war Diogenes von Sinope – der vielleicht erste bekannte Gesellschaftsverweigerer. Leider sind keine eigenen Schriften von ihm erhalten.2-4 Doch seine Anekdoten sind überliefert – und sie haben es in sich.Diogenes lebte den Kynismus, eine Philosophie der Bedürfnislosigkeit. Sein Credo: Leben im Einklang mit der Natur – reduziert auf das Wesentliche. Essen, Trinken, Kleidung, Unterkunft, Sexualität – alles andere hielt er für überflüssig. Soziale Bindungen? Künstliche Bedürfnisse.
Seine Haltung könnte man heute mit einem Augenzwinkern so beschreiben: „Hauptsache dagegen.“
Legendär ist seine Konfrontation mit Platon: Als dieser den Menschen als „zweibeiniges, federloses Lebewesen“ definierte, brachte Diogenes einen gerupften Hahn in Platons Akademie und sagte: „Da ist er – Platons Mensch.“Daraufhin ergänzte Platon seine Definition um „mit flachen Nägeln“.
Diogenes, heute vielleicht als Zyniker verstanden, lebte radikalen Nonkonformismus. Obwohl er die Notwendigkeit von Sexualität für das Fortbestehen der Menschheit anerkannte, lehnte er die Ehe als zu enge Form sozialer Bindung ab.Seine Akzeptanz von Sexualität ohne Ehe zeigt paradoxerweise eine gewisse Nähe zu einem Konzept, das man seinem „Gegenspieler“ Platon zuschreibt: die Gemeinschaft von Frauen und Kindern – ein radikal utopisches Modell, das im Zentrum von Platons Staatsentwurf steht.
Wir wenden uns also Platon zu, Schüler von Sokrates, einer der Gründerväter westlicher Philosophie.Auch er kritisierte traditionelle Eheformen – nicht (nur) aus moralischen, sondern vor allem aus gesellschaftspolitischen Gründen. In seinem Werk „Der Staat“ sprach er über die Ungleichheiten, Konflikte und Loyalitätsprobleme, die aus familiären Bindungen und Besitzverhältnissen entstehen könnten. Seine Lösung: gemeinschaftlicher Besitz, inklusive gemeinsamer Kindererziehung – und eine Gleichstellung der Frauen. Eine radikale Vorstellung für seine Zeit.
Doch was sagt Platon eigentlich über die Liebe?
Immerhin ist er derjenige, der in seinem Dialog „Symposion“ die Liebe – oder besser gesagt: den Eros – in den Mittelpunkt stellt. Und trotzdem:Der Begriff der „platonischen Liebe“, so wie wir ihn heute kennen, stammt nicht direkt von ihm, sondern wurde viel später geprägt – von Marsilio Ficino, einem Philosophen und Platon-Kommentator der Renaissance.Ficino formulierte in „De amore“ seine Theorie des amore platonico, die sich stark auf Platons Ideen stützt, diese aber auch transformiert.5
So oder so: Platon legte einen der Grundsteine für die westliche Liebestheorie.Für ihn war Liebe (Eros) keine bloße Leidenschaft, sondern ein Zustand tiefgreifender seelischer Bewegung. Eros richtet sich auf die Idee des Schönen – das Eidos. Dieses Schöne kann sich in der äußeren Erscheinung, in edlen Handlungen oder in Kunstwerken manifestieren. Die Begegnung mit dem Schönen verändert den Betrachtenden – Platon spricht davon, dass man dadurch zu einem „gänzlich anderen Menschen“ wird.6
Allerdings: Platon ging davon aus, dass Frauen nicht in gleichem Maße zu dieser Form der Liebe fähig seien – ein Spiegel der damaligen Überzeugung von weiblicher „Unvollkommenheit“.Trotzdem würdigte er die Bedeutung ethischer Prinzipien in Beziehungen – und erkannte in der Liebe eine Ausnahme innerhalb seiner meist rationalen Weltanschauung.
Denn obwohl Platon Rationalität und Selbstkontrolle hochschätzte, räumte er der Liebe eine Sonderstellung ein:Sie war für ihn mehr als Gefühl – sie war ein Weg zu Erkenntnis.Eine Brücke zur Wahrheit.Ein Antrieb zur geistigen Entwicklung.7
Wir verlassen Platon – und begegnen seinem wohl berühmtesten Schüler: Aristoteles, aktiv etwa 300 v. Chr.
Im Gegensatz zu Platon hatte Aristoteles selbst eine Familie – was vielleicht seine positive Sicht auf die Ehe erklärt.Er war der erste Philosoph, der sich ausführlich mit dem Thema Ehe beschäftigte – und ihre Bedeutung für die Gesellschaft betonte.
Für Aristoteles war die Ehe ein Teil des oikos, der Haushaltsgemeinschaft, die Mann, Frau, Kinder, Besitz und sogar Sklaven umfasste.8
Er verstand sie als natürliche, grundlegende Einheit der Gesellschaft – mehr als eine Zweckgemeinschaft.In seiner „Politik“ stellte er die Ehe der Idee der kommunalen Frauen-Pläne Platons entgegen – und betonte ihre ethische Funktion:Die Ehe diene nicht nur der Fortpflanzung, sondern auch der Tugendentwicklung – und ermögliche eine intellektuelle und emotionale Partnerschaft.
Diese Haltung findet sich auch in seiner Freundschaftslehre, die er in der „Nikomachischen Ethik“ ausführlich entfaltet.9 Er betont, dass Freundschaft nur zwischen zwei lebendigen Wesen entstehen kann, da nur sie die Möglichkeit haben, Liebe zu erwidern und sich gegenseitig Wohltaten zu erweisen. Für Aristoteles ist Freundschaft die höchste Form zwischenmenschlicher Beziehung – geprägt von Gegenseitigkeit, Wohlwollen und Wertschätzung.
Lass uns einen Moment innehalten – und das feiern:Gegenseitige Wohltaten.
Zwei Seelen, die sich entscheiden, einander Gutes zu tun.Nicht aus Pflicht. Sondern aus freiem Willen.Das ist Beziehung im besten Sinne.
Aristoteles unterscheidet drei Arten von Freundschaften10:
Nutzfreundschaften
– zweckorientiert.
Lustfreundschaften
– basierend auf Vergnügen.
Vollkommene Freundschaft
– das Goldstück. Sie basiert auf gegenseitiger Wertschätzung der Persönlichkeit.
Die ersten beiden sind flüchtig – an äußere Umstände gebunden. Die dritte hingegen ist stabil, reift mit der Zeit und wird – wie ein guter Wein – besser mit jedem Jahr.
Diese Beschreibung lässt sich mühelos auf romantische Beziehungen übertragen. Und tatsächlich ergänzt Aristoteles: Eine solche Freundschaft ist nur möglich, wenn die Beteiligten sich lange kennen – und gemeinsam leben.
In meinen Augen liefert uns Aristoteles damit ein zeitloses Modell für erfüllte Beziehungen:Eine Verbindung, in der sich zwei Menschen als ganze Wesen begegnen – als Geliebte und als Freunde.
Oder, um es in den Worten von Meredith Brooks zu sagen, im Refrain ihres Songs „Bitch“ (1997):
I'm a bitchI'm a loverI'm a childI'm a motherI'm a sinnerI'm a saintI do not feel ashamedI'm your hellI'm your dreamI'm nothing in-betweenYou know you wouldn't want it any other way
Ein kraftvolles Bild für die Vielschichtigkeit unserer Identitäten. Denn genau diese Vielfalt – das Nebeneinander unserer Rollen, Stimmungen und Widersprüche – ist es, was Beziehungen so lebendig macht.