Zwischen Selbstbestimmung und Zugehörigkeit - Vesna Glavaski - E-Book

Zwischen Selbstbestimmung und Zugehörigkeit E-Book

Vesna Glavaski

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Beschreibung

Die Nachfrage nach IT-Freelancern ist nach wie vor sehr hoch und bedingt die hohe Marktmacht dieser Gruppe von Solo-Selbstständigen. Ihre Interessen und Strategien, mit denen sie diese durchzusetzen versuchen, sind ebenso von spezifischen Paradoxien geprägt, wie auch ihre Arbeitsanforderungen und das Arbeitssetting: radikale Selbstbestimmung vs. Teamzugehörigkeit, Konkurrenz vs. Kooperation, Flexibilität vs. mangelnde Sicherheit. Im Feld der projektgebundenen IT-Arbeit kristallisieren sich die Ambivalenzen selbstständiger Arbeit zwischen Freiheit und Marktzwang und gewähren damit einen guten Einblick auf individuelles sowie kollektives Interessenhandeln dieser Gruppe von Erwerbstätigen.

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Vesna Glavaski

Zwischen Selbstbestimmung und Zugehörigkeit

Interessenhandeln von Solo-Selbstständigen in IT-Projekten

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die Nachfrage nach IT-Freelancern ist nach wie vor sehr hoch und bedingt die hohe Marktmacht dieser Gruppe von Solo-Selbstständigen. Ihre Interessen und Strategien, mit denen sie diese durchzusetzen versuchen, sind ebenso von spezifischen Paradoxien geprägt, wie auch ihre Arbeitsanforderungen und das Arbeitssetting: radikale Selbstbestimmung vs. Teamzugehörigkeit, Konkurrenz vs. Kooperation, Flexibilität vs. mangelnde Sicherheit. Im Feld der projektgebundenen IT-Arbeit kristallisieren sich die Ambivalenzen selbstständiger Arbeit zwischen Freiheit und Marktzwang und gewähren damit einen guten Einblick auf individuelles sowie kollektives Interessenhandeln dieser Gruppe von Erwerbstätigen.

Vita

Vesna Glavaski ist Arbeitssoziologin. Sie vernetzt und berät Interessenvertretungen und Initiativen von Solo-Selbstständigen bei der Interessenartikulation und zu Fragen der Organisierung.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Dank

1.

Einleitung

1.1

Gesellschaftlicher Problemzusammenhang und Gegenstand

1.2

Feld, Forschungsinteresse und Fragestellung

1.3

Aufbau der Untersuchung

2.

Arbeit in der IT-Branche: Veränderte Rahmenbedingungen und die Perspektive der hochqualifizierten Beschäftigten

2.1

Das flexibel-marktzentrierte Produktionsmodell

2.1.1

Flexibilisierung der Arbeits- und Produktionsweise im Zuge straffer Profitsteuerung

2.1.2

Marktgrenzenverschiebung, externe Flexibilisierung und der strategische Einsatz von flexiblen Beschäftigungsformen

2.1.3

Exkurs: Folgen der Marktgrenzenverschiebung am Beispiel der Leiharbeit

2.2

Ökonomisierung und Internationalisierung in der IT-Branche

2.2.1

Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zur Informatisierung

2.2.2

Veränderte Unternehmens- und Produktionsstrukturen im globalen Informationsraum

2.2.3

Marktzentrierter Kontrollmodus und Globalisierung 2.0

2.3

Folgen für die Beschäftigten

2.3.1

Standardisierung und Wandel der Fachlichkeit

2.3.2

Offshoring und ein neues Unsicherheitsempfinden

2.3.3

Das Ende der kommunitaristischen Betriebskultur

2.3.4

Veränderte Interessenidentität und paradoxe neue Anforderungen

3.

Solo-Selbstständigkeit

3.1

Über Solo-Selbstständigkeit

3.1.1

Definition und Hauptmerkmale

3.1.2

Ursachen und Motive für Solo-Selbstständigkeit

3.1.3

Soziale Absicherung, Geschlecht und Prekarität

3.2

Feldbeschreibung: Solo-Selbstständige in der IT-Branche

3.2.1

Soziodemografische Daten, Arbeitsmarktlage und soziale Absicherung

3.2.2

Gründe für die Selbstständigkeit

3.2.3

Belastungen und Ressourcen von IT-Freelancern

3.2.4

Interessenvertretung von Solo-Selbstständigen (in der IT-Branche)

3.2.4.1

Neue Intermediäre: Agenturen und Genossenschaften

3.2.4.2

Selbstständigen-Verbände

4.

Method(ologi)e, Falldarstellungen und Erkenntnisse aus der Empirie

4.1

Methodologische Perspektive, Feldzugang und Datenerhebung

4.2

Die Grounded Theory Methodologie und der Auswertungsprozess

4.3

Falldarstellungen

4.3.1

James K.: Selbstständiger IT-Projektmanager im Bereich Qualitätssicherung

4.3.1.1

Solo-Selbstständigkeit als Berufseinstieg

4.3.1.2

Beziehungsarbeit

4.3.1.3

Institutionalisiertes Misstrauen

4.3.2

Rupert B.: Freiberuflicher IT-Business-Consultant im Bereich SAP-Training

4.3.2.1

Entscheidungsfreiheit

4.3.2.2

Fehlendes Zugehörigkeitsgefühl

4.3.3

Marianne M.: Selbstständige im Bereich Projekt Management Office

4.3.3.1

»Internen-Externen-Problematik«

4.3.3.2

Ambivalenz

4.3.3.3

Interessengemeinschaft

4.3.4

Jörg P.: Selbstständiger im Bereich Software-Testing

4.3.4.1

Position der Stärke

4.3.4.2

Gleichheit unter Ungleichen

4.3.4.3

Autorität und Rigidität

4.3.5

Willy S.: Selbstständiger IT-Spezialist im 1st-Level-Support

4.3.5.1

Status und Anerkennung

4.3.5.2

Vor- und Nachteile

4.3.5.3.

Heroische Solo-Selbstständigkeit

4.3.6

Phil A.: Freiberuflicher IT-Projektmanager mit Schwerpunkt SAP

4.3.6.1

Fremd- und Selbstanforderungen

4.3.6.2

Neues Selbstbewusstsein

4.3.6.3

Komfortable Ambivalenz

4.4

Zwischenfazit: Selbstbestimmung und Zugehörigkeit in der beruflichen Selbstständigkeit

4.4.1

Selbstbestimmungsinteresse und Zugehörigkeitswünsche – eine Spannungslage

4.4.2

Umgangsstrategien mit der Spannungslage

4.4.2.1

Umgangsstrategie: Herstellung von Differenz

4.4.2.2

Umgangsstrategie: Herstellen einer Einheit

4.4.3

Der Effekt auf die Interessen- und Bedürfnisebene

5.

Fazit: Diskussion der Ergebnisse

5.1

Ambivalente Grundstruktur: IT-Freelancer und andere Solo-Selbstständige im Vergleich

5.1.1

Sowohl Selbsterhaltung…

5.1.2

…als auch Selbstbestimmung

5.2

»Eine absurde Arbeitssituation« und die Konfliktarena der Scheinselbstständigkeit

5.3

Auswege aus dem strategischen Dilemma

Literatur

Dank

Die vorliegende Arbeit wurde an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation eingereicht. Mein besonderer Dank gilt meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Hans J. Pongratz sowie meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Stephan Lessenich, die mich beide mit großem Vertrauen in meine empirischen Kenntnisse und Fähigkeiten unterstützt haben. Hans Pongratz möchte ich einen großen Dank dafür aussprechen, dass er bis zum Ende eines langen und bei weitem nicht einfachen Prozesses nicht nur fachlichen Rat, sondern auch Richtung und Struktur gegeben hat. Stephan Lessenich danke ich für die Möglichkeit, in seinem Kolloquium von ihm und anderen Doktorand*innen zu lernen, und viele Male mit neuen Erkenntnissen dankbar und ermutigt, die Rückfahrt von München nach Frankfurt antreten zu können.

Für die finanzielle Ermöglichung meines Promotionsvorhabens bedanke ich mich herzlich bei der Hans-Böckler-Stiftung, die meine Arbeit durch ein Promotionsstipendium von 2016 bis 2019 gefördert hat.

Dass ich ohne die Bereitschaft der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner diese Studie nie hätte erstellen können, ist selbstredend. Dennoch ist es nicht selbstverständlich, sich die Zeit zu nehmen, und ein so ehrliches Interesse für sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben zu zeigen, wie es die hier Befragten mir gegenüber an den Tag legten. Ein herzliches Dankschön an sie alle.

Liliana Cvetkovski möchte ich für das emsige Korrigieren und das Empowern bei den allerletzten Schritten Danke sagen. Mit Constanze Oth und Sonja Kleinod habe ich nicht nur das Privileg geteilt, qualitative Sozialforschung ›im Turm‹ in Frankfurt zu studieren. Mit ihnen habe ich auch alle Freuden und Leiden der Sozialisation einer kritischen, qualitativen Sozialwissenschaftlerin geteilt: Interpretieren und Diskutieren, Verstehen und Missverstehen, Zweifeln und Verzweifeln, Entscheidungen treffen und diese durchhalten. Letzteres ging vor allem mit ihrer Hilfe. Danke dafür und für das viele Gegenlesen, die vielen Ermutigungen.

Ganz besonders möchte ich meinen Eltern und meiner Schwester danken. Sie haben es über diese Zeit wahrlich nicht leicht gehabt mit mir, dennoch nie an mir gezweifelt und mir immer zugetraut, die Herausforderung zu meistern. Ein Teil der gesellschaftlichen Anerkennung, nun promoviert zu sein, gebührt auch meinen Eltern – die sehr viel dafür gearbeitet und hinter sich gelassen haben, damit ich gut und selbstbestimmt leben kann. Genau das tue ich – dafür danke ich Euch von Herzen.

Leipzig, Juni 2022

Vesna Glavaski

1.Einleitung

»Unsere gemeinsame Vorgeschichte, und damit die Vorgeschichte dieses Buchs, beginnt etwa um das Jahr 2001 herum. Die New Economy war gerade zusammengebrochen und hatte uns in ihrer Spätphase unabhängig voneinander tiefe Einblicke in die Unternehmens- und Arbeitswelt beschert. Wir waren hin und her getaumelt zwischen Internet-, Trend- und Werbeagenturen, die heiße Luft mit je nach Bedarf angepasster Temperatur verkauften. Es hatte anfangs durchaus Spaß gemacht. Dann war es unbequem geworden. […] Unser Lebensgefühl im Berlin der Post-New-Economy-Ära war stark geprägt durch diese neue soziale Dynamik, und wir verdienten Geld nebenbei, indem wir Artikel für Zeitungen schrieben, uns als Freelancer in Agenturen verdingten und uns gegenseitig Jobs zuschoben. […] Die Vorstellung, genau zu wissen, wo man den übernächsten Dienstag von zehn bis neunzehn Uhr verbringen wird, wird nicht schön durch einen monatlichen Scheck. Sie wird nur erträglicher. Wir hatten aber keine Lust mehr, den Weg des geringsten Leids zu gehen; wir wollten den Weg der größten Freude.«

(Friebe/Lobo 2006: 13 f.)

1.1Gesellschaftlicher Problemzusammenhang und Gegenstand

Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis mit geregelten Arbeitszeiten, dem Anspruch auf arbeits- und sozialrechtlichen Schutz und der Sicherheit, dass morgen die eigene finanzielle Lage noch so aussieht wie heute, galt lange Zeit als Garant der Stabilität in einer Gesellschaft, in der jede Arbeit besser ist als keine Arbeit. Die Selbstständigen-Forschung, so wie auch im obigen Zitat formuliert, zeigt, dass die abhängige Beschäftigung längst nicht mehr als normativer Maßstab für alle Erwerbstätigen gilt (vgl. Abbenhardt 2018; Lorig 2018; Betzelt 2006: 63). Denn Millionen von Menschen in Deutschland haben in den letzten dreißig Jahren die Erfahrung gemacht, dass ihr Arbeitsplatz bei weitem nicht mehr sicher ist, dass ihre Arbeit aufgrund globaler Finanz(markt-)Ströme von billigeren Arbeitskräften übernommen wurde, dass ihre Qualifikation oder ein Job kein existenzsicherndes Gehalt garantieren. Das gewandelte Verhältnis von fiktivem Kapital und Realkapital veränderte auch die Vorzeichen, unter denen Arbeitskraftnutzung erfolgt, sowie die wohlfahrtsstaatliche Programmatik und die Funktion des Sozialstaats im Postfordismus (vgl. Lessenich 2008; Dörre 2003). Dieser Verursachungszusammenhang führte zum Anstieg sogenannter atypischer und nicht selten prekärer Beschäftigungsverhältnisse, zu denen auch die Solo-Selbstständigkeit zählt (vgl. Keller/Seifert 2013).

»Die Deregulierungen am Arbeitsmarkt – die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ist nur ein Bestandteil eines umfassenden Maßnahmenpakets, das vom Gesetzgeber im Laufe des letzten Jahrzehnts verabschiedet wurde – führten zu einem explosionsartigen Anstieg nicht-standardisierter Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, geringfügiger Beschäftigung, Solo-Selbständigkeit und Teilzeitarbeit.« (Holst/Nachtwey 2010: 289; Hervorh. V.G.)

Aufgrund von Unternehmensstrategien der Flexibilisierung und Externalisierung von Beschäftigung, um die Produktionskapazitäten »auf Kosten und zulasten anderer« (Lessenich 2018: 25) zu erhöhen, werden Solo-Selbstständige zunehmend auch im Kernbereich globaler Wertschöpfung von Unternehmen und Betrieben eingesetzt (vgl. Tünte 2017). Der systematische Einsatz dieser flexibilisierten, atypischen Beschäftigungsform gehört zu den charakteristischen Folgen eines globalen, finanzdominierten Akkumulationsregimes, dessen Stabilisierung und Reproduktion durch Strukturen, Praktiken und Mechanismen der Externalisierung erfolgt (vgl. Lessenich 2018: 50).1 Das Leben in der »Externalisierungsgesellschaft« (ebd.: 31) des Finanzmarktkapitalismus ist somit, wie es die Autoren des eingangs zitierten Buches beschreiben, für viele Menschen »unbequem geworden« (Friebe/Lobo 2006: 13). Alternativ zum nicht mehr ›normalen‹ Normalarbeitsverhältnis etablieren sich also flexible Formen der Beschäftigung. Flexibilität kann für die Erwerbssubjekte mit einer Zunahme an Freiheitsgraden und zugleich mit weniger Stabilität einhergehen.

»Unter Umständen enthält Flexibilität ein Versprechen größerer Selbstbestimmung in der Arbeit. Solche für die Beschäftigten potenziell attraktiven Seiten der Flexibilität werden aber immer wieder durch wachsende Arbeitsbelastung, das Schüren von Konkurrenz und das gezielte Hereinholen von Marktzwängen in die Arbeitsorganisation, somit von durch eigenes Handeln nicht zu kontrollierenden Risiken, auch solchen der Weiterbeschäftigung, konterkariert.« (Kronauer/Linne 2005: 13)

Selbstredend sind von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Veränderungs- und normativen Erosionsprozessen nicht alle gleichermaßen betroffen. Für einige Gruppen von Erwerbstätigen werden auch positive Folgen einer gestiegenen individuellen Autonomie konstatiert: Hochqualifizierte Wissensarbeiter*innen werden dabei tendenziell auf der Gewinner*innenseite verortet, »denen die geringer qualifizierten ›Tagelöhner‹ einer neuen ›Dienstleistungsklasse‹ als Verlierer gegenüber stehen (Voß/Pongratz 1998; Drucker 1993); zahlreiche Übergangsformen werden konzediert.« (Betzelt 2006: 62) Diese Perspektive wurde bisher in etlichen sozialwissenschaftlichen Diskursen und empirischen Untersuchungen der letzten dreißig Jahre vor allem in Bezug auf Angestellte diskutiert und beforscht (dazu u.a. Voß/Pongratz 2003; Nickel u.a. 2008; Hürtgen/Voswinkel 2014), auch am Beispiel der Beschäftigten in der IT-Industrie (vgl. u.a. Rau 2010; Kämpf 2008; Boes/Trinks 2006, Boes/Baukrowitz 2002). Die Selbstständigen-Forschung widmete sich größtenteils den Verlierer*innen, den »Proletaroide[n] oder prekäre[n] Selbständigen« (vgl. Candeias 2008: 72). Sie werden in der »Zone der Prekarität« (Dörre 2005: 60) oder an der Schwelle zu dieser verortet, da für viele die Arbeits- und Lebensführung von Prekarisierung gekennzeichnet ist (vgl. Bührmann/Pongratz 2010), wie u.a. für solo-selbstständige Kulturschaffende (vgl. Hanemann 2016; Manske 2007), für Handwerksdienstleister*innen (vgl. Lorig 2018) oder ambulante Pflegekräfte (Schürmann/Gather 2018).

Doch ist Prekarität nicht überall (vgl. Dörre 2012a: 33) und sie ist vor allem nicht im Feld der IT-Freelancer zu finden. Für diese ist gerade die Abgrenzung gegenüber einer Fremdzuschreibung als schutzbedürftig oder ›abhängig selbstständig‹ ein konstitutiver Bestandteil ihres beruflichen Selbstverständnisses.2 In der Debatte um die positiven wie negativen Folgen der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen werden daher IT-Freelancer häufig als Gewinner*innen wahrgenommen (vgl. Betzelt 2006: 62). Denn als »Stars einer digitalen Bohème« (Dörre 2009c: 63) stimmen sie selbst »ein Loblied auf flexible Arbeit, Selbstunternehmertum und modernes Jobnomadentum« an (ebd.). Ihre Kritiker*innen unterstellen ihnen opportunistisches Erwerbshandeln und eine unsolidarische Grundhaltung.

IT-Freelancer wurden bislang in betriebswirtschaftlichen (vgl. Kaiser u.a. 2012; Süß u.a. 2013), arbeitspsychologischen und gesundheitssoziologischen Untersuchungen beforscht (vgl. Kaiser u.a. 2012; Gerlmaier/Latniak 2011; Borchert/Urspruch 2007), sowie in wenigen qualitativen Studien im Bereich der arbeitssoziologischen Solo-Selbstständigen-Forschung (vgl. Apitzsch u.a. 2016; Gottschall/Henninger 2005a; Vanselow 2003).

Bei der Solo-Selbstständigkeit handelt es sich um ein äußerst heterogenes Feld. Zwischen den IT-Freelancern und den »modernen Tagelöhnern« (vgl. Lorig 2018: 254) befindet sich wohlbemerkt eine ganze Bandbreite an sozialen Lagen, an Qualifikationsniveaus, sozialpolitischen Bedarfen und an individuellen und kollektiven Erfahrungshintergründen sowie an ihren konkreten Arbeitsbedingungen. Auch wenn die meisten Solo-Selbstständigen nicht regelmäßig in Unternehmensabläufe ihrer Auftraggeber*innen eingebunden sind, so setzen doch Unternehmen verschiedener Branchen externe, selbstständige Arbeitskräfte ein. In den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen steigt der Anteil selbständiger Ingenieur*innen (vgl. Bromberg 2007) und in der Kulturwirtschaft arbeiten freie Mitarbeiter*innen in strategisch bedeutsamen Projekten von Werbe- und Marketingagenturen (vgl. Manske 2007) ebenso wie in der Verlagsbranche (vgl. Tünte 2017). In all diesen Fällen sind die Solo-Selbstständigen formal keine Angehörigen des Einsatzbetriebs, aber dennoch mehr oder weniger fest in die Abläufe der strategisch bedeutsamen Kernbereiche des Betriebs eingebunden. Jenseits der klassischen Berufsfelder sogenannter Fester Freier Mitarbeiter*innen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Medienanstalten und der Honorardozent*innen an Musik- und Volkshochschulen ist diese Art des Einsatzes von Solo-Selbstständigkeit in Unternehmen vor allem für die IT-Branche typisch.

1.2Feld, Forschungsinteresse und Fragestellung

Selbstständigkeit in der IT-Branche bedeutet in der überwiegenden Mehrheit der Fälle, keine eigenen Mitarbeiter*innen zu beschäftigten.3 Im Jahr 2017 waren im hier fokussierten Tätigkeitsbereich IT-Dienstleistungen, Software und Beratung insgesamt 772.000 Erwerbstätige zu verzeichnen (vgl. Destatis 2019). Davon waren 2017 schätzungsweise 100.000 aktiv am Markt agierende Freelancer, wohlbemerkt in der gesamten ITK-Branche (Informationstechnologie und Telekommunikation), Tendenz steigend (vgl. IfD-Allensbach 2018: 2).4 Die Nachfragestruktur nach externen IT-Fachkräften ist nach wie vor sehr hoch: 2020 sind genauso viele Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt vakant, wie es IT-Freelancer gibt (vgl. Mohilo 2020). Die Gründe seitens der auftraggebenden Unternehmen, IT-Freelancer regelmäßig einzusetzen, bestehen in der schnellen Verfügbarkeit der benötigten Arbeitskraft, der fehlenden Qualifikation innerhalb des eigenen Unternehmens und auf dem regulären Arbeitsmarkt sowie in einem zeitlich begrenzten Bedarf (vgl. IT-Freiberufler-Studie 2016). Zudem spielen Kosteneinsparungen eine Rolle. Freelancer ›einzukaufen‹ ist billiger, als sie als teure Fachkräfte einzustellen. Die Motive der Unternehmen werden oftmals in Marktforschungsstudien abgebildet (vgl. Lünendonk 2017; IT-Freiberuflerstudie 2016; IT-Sourcing-Studie 2012). Die Frage, wieso diese Erwerbstätigen die Solo-Selbstständigkeit der Festanstellung vorziehen, wäre hingegen für eine subjektorientierte (Arbeits-)Soziologie (vgl. Nickel u.a. 2008; Egbringhoff 2007; Voß/Pongratz 1997; Bolte 1995) interessant – kann doch angenommen werden, dass IT-Freelancer nicht einzig durch finanzielle Vorteile motiviert sind.

IT-Freelancer arbeiten vor Ort in temporären gemischten Projektteams zusammen. Projektbedingt kooperieren sie eng mit den Beschäftigten ihrer Auftraggeber*innen und anderen Externen. Sie werden nicht selten über mehrere Jahre von dem-/derselben Kund*in beauftragt, sind in die Unternehmensabläufe integriert, nehmen regelmäßig an Meetings teil, haben unter Umständen Mail-Adressen des Kundenunternehmens, werden zu Weihnachtsfeiern eingeladen. Sie verdienen z.T. ein Vielfaches ihrer internen Projektkolleg*innen. Die Kund*innen erwarten von den »High Potentials« (Trautwein-Kalms/Ahlers 2003) Commitment in Form von Kund*innenorientierung, hoher Leistungsfähigkeit, fachlicher sowie sozialer Kompetenz, Eigenverantwortung und Selbstorganisation, Professionalität und Integrität. Ein Teil der Projektarbeit besteht aus regelmäßigen Meetings, an denen sie teilnehmen müssen. Damit besteht ein informelles Anwesenheitsprinzip, das mit einem Bewährungssystem einhergeht: Wer nicht kommt und sich nicht bewährt, der wird nicht weiter bzw. nicht wieder beauftragt. Werden Budgets gekürzt oder der Verdacht der Scheinselbstständigkeit gewittert, sind die IT-Freelancer die ersten, die von den Auftraggeber*innen ›freigesetzt‹ werden, da sie sich schließlich nicht in einem Arbeits- sondern einem Auftragsverhältnis befinden. Damit bleiben ihnen auch die mit einem Arbeitsvertrag verbundenen sozialen (Schutz-)Rechte verwehrt. Wie alle Solo-Selbstständigen sind sie für ihre eigene Daseinsfürsorge verantwortlich. Ihre unternehmerischen Absichten beweisen sie u. a. darüber, dass sie keine Weisungen seitens der Kund*innen erhalten, dass sie ihre eigenen Arbeitsmittel organisieren und ihre Arbeitszeit selbstbestimmt einteilen. Ihr Arbeitssetting ist, wie hier angedeutet, von spezifischen Ambivalenzen und Paradoxien geprägt.

Vor dem Hintergrund des hier skizzierten Problemzusammenhangs steht im Zentrum des Forschungsinteresses die Frage nach den zentralen, sichtbaren und weniger sichtbaren Motivlagen und Interessenpositionen der IT-Freelancer. Da auch sie als die Gewinner*innen der Externalisierungsgesellschaft einer subjektorientierten Forschungshaltung entsprechend geformte und betroffene und zugleich formende und gestaltende Subjekte sind (vgl. Bolte 1995: 17), sind neben ihren Interessenlagen auch ihre Strategien zu beleuchten, mit denen sie den paradoxen Arbeitsanforderungen begegnen.

»Die Subjekte werden zum Ausgangspunkt soziologischer Analysen gemacht und stets als ›Produkte und Produzenten‹ gesellschaftlicher Strukturen verstanden. Sie gelten nicht als ,passive Marionetten der Verhältnisse‹ (Voß/Pongratz 1997: 15), sondern immer auch als aktiv gesellschaftliche Strukturen verarbeitende Handelnde.« (Egbringhoff 2007: 146)

Wie begegnen die IT-Freelancer, affektiv oder auch konkret handlungspraktisch, den spezifischen strukturellen Bedingungen ihres Arbeitssettings? Ist ihr Interessenhandeln eher von individualistischen Orientierungen geprägt? Und welche Vorstellungen von Kollektivität haben diese Solo-Selbstständigen? Letzteres ist besonders aus Sicht einer kollektiven, gewerkschaftlichen Interessenvertretung von Bedeutung. Diesen Fragestellungen wurde in einer qualitativen Erhebung mittels Expert*inneninterviews und leitfadengestützen, problemzentrierten Interviews mit sechs IT-Freelancern nachgegangen. Im Fokus der empirischen Untersuchung stehen folgende leitende Forschungsfragen nach den Interessen- und Handlungsdimensionen Solo-Selbstständiger in IT-Projekten:

Welches sind die spezifischen Motiv- und Interessenlagen der IT-Freelancer?

Vor welchem Hintergrund sind sie entstanden und wie lassen sie sich subjekt- und kapitalismustheoretisch einordnen?

Welche Umgangsstrategien lassen sich identifizieren, mit denen die Freelancer ihre Interessenposition versuchen zu artikulieren, und welchen Effekt haben die Strategien und Techniken?

Mit welchen Interessenlagen haben es kollektive Interessenakteur*innen zu tun, wollen sie hochqualifizierte, gut situierte Solo-Selbstständige als Zielgruppe erreichen?

Erkenntnisse aus dem hier untersuchten Feld können weiteren Aufschluss über »Ungleichheitsmuster« (Lessenich 2018: 29) in Unternehmen und Betrieben geben, ähnlich wie dies Untersuchungen zu Leiharbeit (vgl. Holst u.a. 2009; Holst/Nachtwey 2010) oder zu Onsite-Werkverträgen (vgl. Hertwig 2015) ermöglichten. Schließlich kommen auch im IT-Projektsetting

»durchaus prägnante und besondere Benachteiligungs- und Privilegierungsdynamiken zustande, was darauf zurückzuführen ist, dass sich die Entwicklung der unterschiedlichen Arbeitskraftpotenziale ›mit Ausprägungen sozialer Ungleichheit in engerer Wechselwirkung‹ verknüpfen.« (Nickel u.a. 2008: 225).

Dieser Zusammenhang wird anhand der Internen-Externen-Konstellation in IT-Projekten betrachtet und lässt, über den Vergleich mit anderen Solo-Selbstständigen, allgemeinere Aussagen über die »berufliche[n] Selbstansprüche« (Voswinkel 2011a: 3) dieser Erwerbssubjekte zu. Außerdem erlaubt der hiesige Gegenstandsbereich, in Richtung (hyper-)flexibler, neuerer Formen der selbstständigen Beschäftigung (z.B. Crowdwork) im digitalen Kapitalismus zu denken (vgl. Boes/Langes 2019; Staab 2019; Waitz 2017; Leimeister u.a. 2016) und regt weiterführend an, Prognosen über die aktuelle und zukünftige normative Orientierungsfunktion des Normalarbeitsverhältnisses und seiner Alternativen zu diskutieren.5 Schließlich geht es um die Frage, wie Menschen in Zukunft arbeiten wollen,

1.3Aufbau der Untersuchung

Um das Arbeitssetting von Solo-Selbstständigen in der IT-Branche, ihre Motiv- und Interessenlagen und ihre Umgangsstrategien mit den spezifischen Arbeitsanforderungen zu verstehen, werden in Kapitel I die makroökonomischen Rahmenbedingungen und ihre Genese erläutert, unter denen flexible und atypische Beschäftigungsformen in Unternehmen Einzug erhalten. Dafür wird das theoretische Konzept eines flexibel-marktzentrierten Produktionsmodells herangezogen, in dessen Rahmen interne und externe Flexibilisierungsstrategien zur Anwendung kommen.6

Die Finanzialisierungs- und Vermarktlichungsprozesse werden in Kapitel II auf die Entwicklungen in der IT-Industrie übertragen, wofür informatisierungstheoretische Ausführungen hinzugezogen werden. Viele der IT-Freelancer waren zuvor in IT-Unternehmen als Arbeitnehmer*innen beschäftigt und erfuhren dort ihre beruflich-fachliche Sozialisation. Daher geht es abschließend in Kapitel II um die Perspektive der hochqualifizierten Angestellten in der IT-Industrie auf die erlebte Erosion ihrer stabilen Arbeitsverhältnisse in der nachfordistischen Phase.

In Kapitel III soll es explizit um die Solo-Selbstständigkeit als arbeitssoziologisches Phänomen und seine arbeits- und sozialpolitischen Implikationen gehen. Im ersten Teil des Kapitels werden aktuelle arbeitssoziologische Perspektiven auf Solo-Selbstständigkeit sowie bisherige sozio- und erwerbsstrukturelle Daten vorgestellt. Anschließend geht es um Strukturmerkmale von Solo-Selbstständigkeit in der IT-Branche. Zudem werden neuere Befunde zur Interessenvertretung von Solo-Selbstständigen im Allgemeinen und zu aktuellen Interessenkonflikten hochqualifizierter Selbstständiger im Besonderen vorgestellt.

In Kapitel IV steht die Empirie im Vordergrund. Nachdem die methodologische Perspektive und das methodische Vorgehen erklärt worden sind, schließen sechs Falldarstellungen an. Im letzten Teil des Kapitels IV wird auf Grundlage der Datenauswertung ein fallübergreifendes, analytisches Zusammenhangsmodell vorgestellt, in dem die latenten und manifesten subjektiven Sinnstrukturen der Befragten im Fokus stehen.

Im Schlusskapitel V wird ein theoretisch-konzeptioneller Zusammenhang zwischen der Subjektebene aus Kapitel IV und der Strukturebene aus Kapitel II und III hergestellt. Dieser dient als Grundlage, um in einem letzten Schritt einen handlungspraktischen Ausblick auf Fragen kollektiver gewerkschaftlicher Interessenvertretung zu geben, welche die Interessenlagen und Bedarfe von hochqualifizierten Solo-Selbstständigen in Unternehmen zukünftig stärker berücksichtigen möchten.

2.Arbeit in der IT-Branche: Veränderte Rahmenbedingungen und die Perspektive der hochqualifizierten Beschäftigten

»Zentrales Element dieser Veränderungen ist die Steuerung betrieblicher Abläufe nach Marktprinzipien. Dies bezieht sich sowohl auf die Stärkung des eigenverantwortlichen Marktagierens von Unternehmenseinheiten als auch auf die übergreifende Steuerung durch Markt- resp. Finanzkennziffern. Dezentrale Autonomie vor Ort und zentrale Steuerung kommen so auf widersprüchliche Art und Weise zusammen. Dies führt einerseits zu neuen Handlungs- und Gestaltungsspielräumen in den dezentralen Unternehmenseinheiten, andererseits aber auch zu neuen Begrenzungen (z.B. durch zentrale Budgetvorgaben). Zugleich ereignet sich dabei ein Formwandeln von Kontrolle resp. Herrschaft.«

(Nickel u.a. 2008: 32; Hervorh. im Original)

Um das Arbeitssetting von Solo-Selbstständigen in der IT-Branche, ihre Motiv- und Interessenlagen und ihre Umgangsstrategien mit den spezifischen Arbeitsanforderungen zu verstehen, bedarf es zunächst eines genaueren Blickes auf die Genese der makroökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen flexible Beschäftigungsformen zum Einsatz kommen. Dass Beschäftigungskapazitäten und -formen flexibel an Markterfordernisse angepasst wurden, ist Ergebnis des Zusammenwirkens eines historisch-spezifischen Produktionsmodus und entsprechender Geschäfts- und Managementstrategien moderner Unternehmensführung. Diese wirken sich auf die Arbeitssubjekte in subjektivierender Weise aus und haben ambivalente Folgen für die Beschäftigten (vgl. Pongratz/Voss 1997; Schreyögg/Conrad 2002; Brinkmann/Dörre 2006). So werden ihnen beispielsweise große Autonomiegewinne in Aussicht gestellt, zugleich aber Abhängigkeitsmechanismen durch die Hintertür wieder hereinholt. Gerade die Umkehrung des postfordistischen Autonomieversprechens und die ambivalenten Folgen für die Beschäftigten lassen sich Ende des 20. Jahrhunderts nicht nur bei den Industrieangestellten, sondern auch besonders bei modernen Wissensarbeiter*innen in der IT-Industrie beobachten (vgl. Dörre 2003). »Die stark kundenbezogene Arbeit der IT-Fachkräfte hat sich schon früh als Einfallstor für die Vermarktlichung von Unternehmensstrukturen und Arbeitsbeziehungen erwiesen […].« (Trautwein-Kalm/Ahlers 2003: 243)

Vor diesem Hintergrund wird der Einsatz von IT-Freelancern in Unternehmen in der vorliegenden Untersuchung aus zwei Perspektiven erfasst: Zum einen richtet sich der Blick auf die ökonomischen Voraussetzungen flexibler und atypischer Beschäftigung im Allgemeinen. Zum anderen werden die Folgen der Reorganisations- und Flexibilisierungsprozesse für die Beschäftigten am Beispiel der IT-Industrie im Besonderen betrachtet. Den breiten konzeptionellen Rahmen der vorliegenden Untersuchung bilden regulationstheoretische Überlegungen, da sie gerade eine solche Verbindung von makroökonomischen Entwicklungen zu arbeitssoziologischen Phänomenen ermöglichen (vgl. insbes. Dörre u.a. 2012). Dabei werden in Kapitel 2.1. die Beobachtungen eines »neuen Marktregimes« von Dörre (2003) skizziert, welches den Übergang der »fordistischen« zur »postfordistischen Formation« markiert (Hirsch 2002) und dessen Triebkraft der »Finanzmarktkapitalismus« (Windolff 2005) ist.7 Daran anschließend folgt ein Rückgriff auf das Konzept der Marktgrenzenverschiebung von Brinkmann (2011). Dieses liefert organisationstheoretische Erklärungen zum Einsatz interner und externer Flexibilisierungsstrategien in Unternehmen und deren Auswirkungen auf Beschäftigungsstrukturen. Die in 2.1. ausgeführten Finanzialisierungs- und Vermarktlichungsprozesse werden in Kapitel 2.2. konkret auf die Entwicklungen in der IT-Industrie übertragen. Dafür wird die Informatisierungstheorie von A. Boes (2002) hinzugezogen, die den Effekt der Finanzialisierung und damit einhergehender Internationalisierung der IT-Dienstleistungsarbeit erfasst. Im Teilkapitel 2.3. wird abschließend erläutert, wie sich das berufliche Selbstverständnis der Beschäftigten in der IT-Industrie im Zuge der »Paradoxien moderner Managementkonzepte« (Boes/Kämpf: 2009: 55) wandelt.

2.1Das flexibel-marktzentrierte Produktionsmodell

Die Arbeitskraftnutzung unterliegt in den unterschiedlichen historischen Phasen der kapitalistischen Produktionsweisen sich wandelnden Verwertungslogiken, die Ausdruck verschiedener Produktionsmodelle sind. Regulationstheoretisch gesprochen fand seit der Nachkriegsperiode Mitte des 20. Jahrhunderts ein Wandel von einem fordistischen zu einem postfordistischen, »flexibel-marktzentrierten Produktionsmodell« (Dörre 2003: 7) statt (vgl. Hirsch/Roth 1986; Dörre 2003a). Der Fordismus und der Postfordismus werden dabei nicht einzig als Ausdruck von Produktionsmodellen, sondern als komplexe Akkumulationsregime einer jeweils hegemonialen kapitalistischen Formation verstanden. Ich orientiere mich am Forschungsgegenstand und konzentriere mich auf die Sphäre der Arbeit, sprich auf Produktionsmodelle und Regulationsmodi der Arbeit.8

Für die Phase des fordistischen Produktionsmodells von 1950 bis Ende 1970 war der spezifische Zusammenhang von tayloristisch organisierter Arbeitsteilung und industrieller Massenproduktion (bei gleichzeitiger spezialisierter Herstellung in Kleinbetrieben), hoher Beschäftigung mit kontinuierlichen Nominallohnsteigerungen sowie steigender Massenkaufkraft kennzeichnend. Das wesentliche Kennzeichen des fordistischen Produktionsmodells war »der Primat der Produktions- über die Marktökonomie« (Dörre/Brinkmann 2005: 88) und die sogenannte dekommodifizierte Erwerbsarbeit, die eine zentrale Position einnahm (vgl. Castel 2000). Diesem Prinzip nach kam es zu einer relativen Abkoppelung der betrieblichen Abläufe von direkten Marktanforderungen. Weil also die Nachfrageseite gestärkt wurde, wurden die Marktrisiken für die Arbeitnehmerschaft beschränkt (vgl. Dörre/Brinkmann 2005; Brinkmann 2011).

»Arbeit – in der fordistischen Formation vornehmlich in der Anordnung des »Normalarbeitsverhältnisses« – nahm folglich die Schlüsselposition für gesellschaftliche Teilhabe ein und ermöglichte einem Großteil der Gesellschaftsmitglieder eine längerfristige Planungsperspektive, geregeltes Einkommen und soziale Absicherung.« (Lorig 2018: 26)

Arbeitsplatzsicherheit und Einkommenssteigerung der Erwerbstätigen und damit verbunden die Möglichkeit zur sozialen, materiellen und betrieblichen Teilhabe galt als »Kompensation für die Beschäftigten und Depravierung, die im tayloristischen Arbeitsprozess und in bürokratische regulierten Lebenszusammenhängen empfunden wurden […].« (Hirsch/Roth 1986: 58 f.)

Eine weitere Errungenschaft dieser Epoche ist der institutionalisierte Basiskompromiss zwischen Arbeitgeber- und (homogenen) Arbeitnehmerinteressen, bei dem der Interessengegensatz durch den für diese hegemoniale Formation charakteristischen, keynesianischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat garantiert und moderiert wurde. Dessen Leistung bestand in der faktischen Transformation des Interessengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit in einen Verteilungskonflikt. Die Seite der Arbeitsnehmer*innen nahm im Grundsatz die an sie gestellten Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise an und konnte im Gegenzug durch Einkommens- und Beschäftigungssicherheit an dem wirtschaftlichen Wachstum teilhaben (vgl. Brinkmann 2011: 18). Zudem gewährte der keynesianische Wohlfahrtsstaat die Transferleistungen für Nicht-Erwerbstätigte in dem Maße, dass er damit wiederum die nötigen Nachfragevoraussetzungen für die Massenkaufkraft förderte (vgl. ebd.). Das »fordistische Versprechen« (Brinkmann 2011: 20) bestand in diesem Zustand einer Dekommodifizierung von Arbeitskraft, bei dem also die Beschäftigten durch sozialpolitische Programme relativ vor den Marktabhängigkeiten und Marktkräften geschützt wurden (vgl. ebd.).9

Diese günstige, gegenseitige Bedingung von abhängiger Erwerbsarbeit, Konsummodell und Produktivitätsgewinn sowie der Ausdehnung sozialer Rechte stieß allerdings, regulationstheoretisch gesehen, historisch an ihre Grenzen. Dörre (2009) entwickelt in diesem Zusammenhang die These, dass »sich seit den 1970er-Jahren Konturen einer neuen kapitalistischen Formation herausgebildet haben, die […] als Finanzmarktkapitalismus bezeichnet wird.« (ebd.: 22) Mitte der 1970er-Jahre setzte die Erosion der fordistischen Formation und ihres Wohlstandsversprechens ein. Die sogenannte »Krise des Fordismus« (Hirsch/Roth 1986: 78) wurde allen voran durch drei makroökonomische Umstände ausgelöst: den Einbruch der nationalstaatlichen Wachstumspolitik durch den Bruch transnationaler Abkommen und Regulationsmodi (Auflösung des Bretton-Woods-Systems als Abschaffung des Systems fester Wechselkurse), die Expansion der Wachstumsspielräume und der Arbeitskraftressourcen, die zu dem Ende der »inneren Landnahme« (Hirsch/Roth 1986: 51) führten, die Sättigung der mittlerweile industrialisierten Haushalte, die die Basis der Massenkaufkraft und damit auch der Selbstreproduktion jenes Wachstumszirkels bilden.10 Diese Entwicklungen in ihrer Kombination führten letztendlich zu der Ablösung des fordistischen durch das postfordistische, flexibel-marktzentrierte Produktionsmodell (vgl. Dörre 2003).11

Als Lösung der ökonomischen Sezession Mitte der siebziger Jahre, die Ausdruck systemimmanenter Verteilungskonflikte war, setzte das Kapital zur »Freisetzung der kapitalistischen Wirtschaft von den bürokratisch-politischen und korporatistischen Kontrollen der Wiederaufbaujahre zur Wiederherstellung angemessener Gewinnspannen« (Lorig 2018: 29) an. Zunehmend wurde erkennbar, dass die tradierten fordistischen Verhaltensmuster und Organisationsstrukturen immer stärker diskursiv von einem »neuen Geist des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello 2003) herausgefordert wurden, dessen zentrale Botschaft ein weit reichender Glaube an den Markt als Koordinationsform war. »Vorgetragen wird er [der Glaube; V.G.] von interessierten Akteuren, deren Ziel es ist, die finanz- und betriebswirtschaftliche Logik auf weite Bereiche der Gesellschaft, Unternehmen und Individuen auszudehnen.« (Brinkmann 2011: 21) Als strategische Krisenlösung trat das Kapital die »Flucht in den Markt« (Streeck 2013: 55) an. Sie bestand in der Liberalisierung des Warenmarktes für Auslandsimporte, der Privatisierung der Staatsunternehmen, der Deregulierung der Märkte für Kapital und Arbeit sowie der Flexibilisierung der Arbeits- und Produktionsweise (vgl. Dörre 2003b; Holst et al 2009). Ein zentraler Effekt dieser krisenbedingten Maßnahmen ist die nachhaltige Veränderung der Arbeitskraftnutzung und eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der lohnabhängigen Beschäftigten. Die bislang dekommodifizierte Arbeitskraft wird nun den Marktrisiken deutlich unvermittelter ausgesetzt, da die fordistischen Errungenschaften, wie etwa Standards in Bezug auf Arbeitsplatzsicherung, Arbeitszeiten, Entlohnung, soziale Absicherung sowie tarifvertragliche und rechtliche Normierungen der Arbeitsverhältnisse, zu bröckeln begannen (vgl. Brinkmann 2011: 89). Nachhaltige Wirkung entfalteten auch die zunehmenden Aufkündigungen sozialpartnerschaftliche Verhandlungs- und Kompromissarrangements seitens der Unternehmen (vgl. Hirsch/Roth 1986: 139).

Als Triebkraft dieser gesamtgesellschaftlichen Restrukturierungsprozesse, die nicht als Überwindung der fordistischen Formation, sondern eher als ihre Modifizierung und Modernisierung begriffen werden können, gilt der liberalisierte, globale Kapitalverkehr und damit verbunden der Aufstieg internationaler Finanzmärkte (vgl. Dörre 2003b; auch Dörre/Brinkmann 2005).12 Fortan wird die Kapitalverwertungslogik nicht primär über Innovation, Produktion sowie Konsumption von Waren und Dienstleistungen organsiert. Gewinne werden viel eher über die Wertsteigerung der Finanzanlagen und daraus resultierender Gewinnabschöpfung erzielt. Die Ende der 1980er-Jahre eingetretene relative Marktsättigung und die Bedeutungszunahme des Finanzmarktes sowie im Zuge dessen die Liberalisierung des weltweiten Finanzverkehrs zogen weitereichende Folgen nach sich, die auch die Organisations- und Institutionsebene betrafen: »Der fordistische Primat der Produktions- gegenüber der Marktökonomie kehrt sich um. Unternehmens- und Betriebsorganisation orientieren sich an Käufer- ebenso wie an Finanzmärkten und bilden entsprechende Organisationsstrukturen aus.« (Dörre 2009a: 38)13 In Bezug auf die Arbeitskraftnutzung wurden in Folge des Veränderungsdrucks und der Internationalisierung der Produktmärkte drastische Flexibilisierungsmaßnahmen eingeführt, viele Unternehmen begannen zunehmend neben der Produktion auch die Arbeitskraftnutzung zu flexibilisieren (vgl. Kratzer u.a. 2003; auch Kalleberg 2003). Etwas verzögert, Mitte der 1990er-Jahre, setzten sich dann finanz- und kapitalmarktorientierte Steuerungsformen der Konzern- und Unternehmensführung durch.14 Diese Hegemonie des Finanz- gegenüber dem Realkapital wird als Finanzialisierung verstanden:

»But now FIRE [Finance, Insurance, Real Estate] also appears as an industry in which significant growth has taken place over the postwar period. These data could be interpreted as providing evidence for both the post-industrial thesis and for financialization.« (Krippner 2011: 32)15

Finanzialisierung wird als Strategie eines gewandelten Akkumulationsregimes verstanden, welche neue Bereiche für die kapitalistische Verwertungsmaschinerie erschließen soll und dabei gravierende Auswirkungen auf Arbeit und Beschäftigte hat (vgl. Hertwig 2015: 73). Nachdem sich ein Regime etabliert hat, in dem Investmentfonds als kollektive Mehrheitsaktionäre eine spezifische, neue Machtposition gewinnen und »eine Anpassung der Unternehmen an die operatorische Logik der Finanzmärkte erzwingen« (Windolf 2005: 34) konnten, schlugen die Spannungen des finanzialisierten, marktzentrierten Produktionsmodells in konzentrierter Form auf die Lohnabhängigen zurück (vgl. Dörre 2009a, Holst u.a. 2009). Ein Hauptmerkmal des flexibel-marktzentrierten Produktionsmodells besteht darin, dass

»es immer größere Bereiche der Arbeitsgesellschaft marktförmigen Steuerungsmechanismen und Finanzkalkülen überantwortet. Eine makroökonomische Konstellation mit unsicheren, umkämpften Märkten motiviert die mikroökonomischen Akteure zu – allerdings aktiv und eigenverantwortlich betriebenen – Anpassungsleistungen. Dabei fungiert die Shareholder-Value-Steuerung von Unternehmen als Bindeglied zwischen einem unsteten, fragilen Umfeld und einer flexiblen Produktionsweise, die dessen Unsicherheiten in (betrieblichen) Organisationskontexten zu bearbeiten sucht.« (Dörre/Brinkmann 2005: 86)

Mit dem Begriff des Shareholder-Value-Prinzips ist eine finanzmarkt-kapitalistische, aktionärsbasierte Unternehmensführung (auch als interne Finanzialisierung bezeichnet) gemeint. »Was der Marktfundamentalismus allgemein vorgibt, sucht die Shareholder-Value-Bewegung (Flingstein 2001) auf der Ebene der Unternehmenssteuerung umzusetzen.« (Dörre 2012b: 122) Mit dessen Durchsetzung kommt es zum veränderten Zugriff auf die Beschäftigten und ihre Subjektivität durch das Kapital (vgl. Dörre/Brinkmann 2005; Kratzer 2003). Seine ideologische Überhöhung findet dieses Prinzip in dem neuen, »marktzentrierten Kontrollmodus« (Dörre 2003a: 20), dessen spezifische, indirekte Wirkung darin besteht, dass die Beschäftigten mit verstetigter Konkurrenz konfrontiert werden. Neben dem äußeren Arbeitsmarkt werden nun innerhalb der Betriebe unterschiedliche Beschäftigungsformen eingesetzt und mittels »fragmentierter Belegschaften« (Holst/Dörre 2017) der Druck auf die Erwerbstätigen erhöht, um hier nur eine negative Folge zu nennen (vgl. ebd.; auch Holst u.a. 2009; Marrs 2008). Zudem kommen interne wie externe Flexibilisierungsinstrumente zur Anwendung mit denen innerhalb kürzester Zeitspannen möglichst große Profite erzielt werden sollen. Das bedeutet, die straffe Profitsteuerung durch das Shareholder-Value-Prinzip hängt in dem flexibel-marktzentrierten Produktionsmodell systematisch mit dem gezielten Einsatz atypischer Beschäftigung wie u.a. der Solo-Selbstständigkeit in Unternehmen zusammen, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird.

2.1.1Flexibilisierung der Arbeits- und Produktionsweise im Zuge straffer Profitsteuerung

Ab Mitte der 1990er-Jahre wurden mit dem Shareholder-Value-Prinzip kapitalmarktbasierte Steuerungsformen in weltmarktorientierten Unternehmen, vor allem im Zentrum des »kooperativen Kapitalismus« (Brinkmann u.a. 2006a), in den stilbildenden Betrieben der Automobil- und Zuliefererindustrie, in der Metall-und Elektroindustrie und in der ITK-Industrie umgesetzt (vgl. Dörre/Brinkmann 2005). Dörre beschreibt Shareholder-Value als ein »unternehmensinternes Wettkampfsystem«, welches sich durchgesetzt hat und hinter dem sich »heteronome, gelegentlich widersprüchliche und vor allem beständig im Wandel befindliche Managementpraktiken verbergen.« (2012: 121)16 Dieses Prinzip sollte, nur dem Anspruch nach, die Machtbefugnisse der als opportun angesehenen Managereliten eindämmen und über eine Umverteilung der Eigentumsverhältnisse in den Unternehmen das Allgemeininteresse der Unternehmen wieder in den Vordergrund stellen (ebd.: 123). Eine zweite Prämisse dieses Leitbildes bestand in der Behauptung, die institutionalisierten Kompromissbildungen in mitbestimmten Unternehmen seinen für die beschleunigte Dynamik eines global agierenden Kapitalismus zu schwerfällig (ebd.). Neue Anteilseigner an den Unternehmen wurden allen voran Investment- und Pensionsfonds, Versicherungen, Hedgefonds und Investmentbanken, die zugleich institutionelle Anleger, sprich Kreditgeber waren. Sie konnten »in das entstandene Machtvakuum eindringen […] und wachsenden Einfluss auf Strategie und Struktur der Unternehmen ausüben.« (Lorig 2018: 33) Die Idee einer höheren Effizienz bestand darin, dass letztlich alle Beteiligten von einer straffen Ausrichtung der Unternehmensprozesse an den Aktionärsinteressen profitieren würden. Damit stellten die neuen Eigenkapitalgeber die eigentliche Akteursgruppe dar, an deren Ansprüchen auf kurzfristige Gewinnmaximierung die Unternehmensorganisation ausgerichtet wurde. Die Renditeerwartungen, die sogenannte Gewinnmarge dieser Shareholder, wurden zum zentralen Bezugspunkt unternehmerischen Handelns und zur veränderten normativen Grundlage des Managements und dessen Entscheidungen (vgl. Brinkmann 2011: 23 f.).17

Die dabei erklärte Steuerungsgröße ist die kurzfristige (Mindest-)Profitabilität der Unternehmen, die »unter optimaler Ausnutzung externer wie interner Flexibilisierungsinstrumente gewährleistet wird.« (Lorig 2018: 35) Was folgte, war eine lückenlose Anpassung der (Binnen‑) Strukturen in den Unternehmen an (Finanz-)Markterfordernisse und eine Veränderung der Art und Weise, wie Arbeitskraft genutzt und Arbeit organisiert, kontrolliert wird. In der Unternehmenssteuerung setzte sich ein kurzfristiger Zeithorizont durch, dessen Modus Operandi der flexible und schnelle Arbeitskräfteeinsatz wurde. Betriebe sollten durch die eigenen personellen Ressourcen konjunkturellen Anforderungen flexibel begegnen können, sprich die Arbeitskräfte und Betriebe mit der Marktlage »atmen« (Dörre 2009a: 39) können, um die erforderlichen Gewinnmargen zu erreichen.18 Die Gewinnmarge als Steuerungsgröße motivierte die Unternehmen geradezu zu Flexibilisierungsstrategien (Dörre 2003: 18). Diese erfolgten sowohl nach innen über neue ganzheitliche Managementkonzepte wie das Lean Management als auch nach außen, über gerichtete Maßnahmen und Instrumente der Flexibilisierung.19

Als interne Flexibilisierungsmaßnahmen wurden Profit- und Costcenter eingerichtet, eine Wettbewerbskultur zwischen den Beschäftigten mittels Kennziffersteuerung (Benchmarking), Scorecards etc. etabliert (vgl. Dörre 2009a: 37 f.; Lehndorff/Voss-Dahm 2006).20 Parallel erfolgte die externe Flexibilisierung von vor allem nicht zum Kerngeschäft definierten Betriebsbereichen und Unternehmensteilen. Insofern sie einer Bewertung ihres Beitrags zur kurzfristigen Profitmaximierung durch Mindestrenditen nicht standhalten konnten, kam es zu Ausgründung, Werksaufspaltung und Auslagerungen (vgl. Flecker 2005). »Die straffe Profitsteuerung wird eingesetzt, um Reorganisationsstrategien zu legitimieren, die auf Kostensenkung, vor allem aber auf eine Beteiligung der abhängig Beschäftigten am Marktrisiko hinauslaufen.« (Dörre 2003b: 14) In dieser finanzmarktorientierten Formation werden folglich Wettbewerbsvorteile primär über Rekommodifizierung, sprich eine wieder stärkere Unterwerfung der Arbeitskraft unter Markterfordernisse sowie eine »konstante Tendenz eines Abbaus wohlfahrtstaatlicher Sicherungsverbürgungen« (Lessenich 1999: 10) bei zeitgleicher Prekarisierung der Lohnarbeit realisiert: »Auf die Produktion auf Abruf folgt meist auch die Arbeit auf Abruf.« (Doleschal 1989, zitiert nach Holst u.a. 2009: 11)21 Nicht zuletzt gehört zu diesem Rückbau sozialstaatlicher und arbeitsregulatorischer Errungenschaften des Fordismus die zunehmende Aufkündigung sozialpartnerschaftlicher Verträge, wie beispielweise der Ausstieg von IBM aus dem Flächentarifvertrag, sowie die Expansion tariffreier Zonen – schlicht die Schwächung der Gewerkschaften (vgl. Dörre 2002; Dörre/Röttger 2005; APuZ 2010).

2.1.2Marktgrenzenverschiebung, externe Flexibilisierung und der strategische Einsatz von flexiblen Beschäftigungsformen

Die Hegemoniefähigkeit dieses Prinzips der Orientierung am (Finanz-)Markt wird mit der analytischen Konzeption der »Vermarktlichung« (Moldaschl 1998) beschrieben. Vermarktlichung soll hier als Metapher für eine gesamtgesellschaftliche Orientierung an den ökonomischen Prinzipien verstanden werden (Sauer 2005). Im Zuge dieser Verallgemeinerungstendenz wird der Markt mit all seiner Kontingenz und Dynamik zur treibenden Kraft permanenter Reorganisation der Binnenstrukturen, sprich zum Strukturierungsmoment innerhalb der betrieblichen Organisationen (vgl. Lorig 2018: 37).22

»Ob Subunternehmer, Freelancer, Leiharbeiter, oder Werkvertragler, ob ertragsabhängiger Leistungslohn, Programmentgelt oder Vertrauensarbeitszeit, ob Centerstrukturen, interne Märkte oder Outsourcing: die erklärte Unbegrenztheit des Prinzips spart keinen Unternehmensbereich noch traditionelle Demarkationen aus.« (Brinkmann/Dörre 2006: 136)

Brinkmann (2011) betrachtet diesen »politischen Prozess« (ebd.: 10) der vermarktlichten Dezentralisierung und Flexibilisierung, bei dem das Verhältnis zwischen Organisation und Umwelt, aber auch die Verhältnisse innerhalb der Organisation justiert werden, als »Verschiebung der Marktgrenzen« (ebd.: 45). Aus dieser organisationssoziologischen Perspektive werden über den Prozess der Vermarktlichung Organisationen und Institutionen zum Markt hin geöffnet, in Zuge dessen sich eine Struktur und Kultur der völligen Kund*innenorientierung etabliert (vgl. ebd.: 46). Marktkompatible Flexibilität wird dann neben den bereits erwähnten Managementstrategien auch mit entsprechenden Beschäftigungsstrategien erreicht und die Betriebsgrenzen so transformiert, dass beispielsweise (kurzfriste) Personalbedarfe durch externe Dienstleister bedient werden können. Externe sowie interne Flexibilisierungsstrategien kommen so zum Einsatz und werden miteinander und innerhalb ihrer Variabilität kombiniert (vgl. Hohendanner/Bellmann 2006: 241; Dütsch/Struck 2011; Keller/Seifert 2006), sodass das Konkurrenzprinzip Einzug in die Unternehmen und zwischen die Beschäftigten(gruppen) hält (vgl. Brinkmann 2011: 49).23 Die »althergebrachten Demarkationslinien zwischen Organisation und Umwelt, zwischen ehedem reguliertem und nunmehr kommodifiziertem Gelände« (ebd.: 48) werden verschoben.

Um die Profitabilität des Unternehmens zu sichern bzw. des Standorts zu etablieren, dient der verstetigte Einsatz von externen Flexibilisierungsinstrumenten als ein »Sicherheitsnetz« (Holst/Nachtwey 2010: 281). Eine spezifische Situation, die Konkurrenz innerhalb der Belegschaften produziert, stellt die externe Flexibilisierungsstrategie des Outsourcings dar (vgl. Lehndorff/Voss-Dahm 2006: 137). Outsourcing meint das mittel- und langfristige Auslagern bestimmter Betriebs- und Unternehmensteile an Fremdfirmen, externe Dienstleister, Subunternehmen. Für IT-Abteilungen von Unternehmen heißt das konkret, dass bisher innerbetrieblich erfüllte IT-Aufgaben an einen oder mehrere rechtlich unabhängige Dienstleistungsunternehmen ausgelagert werden. Die IT wird dann durch externe Dienstleister betreut, die eigene oder freiberufliche Arbeitskräfte oftmals bei dem Kundenunternehmen vor Ort einsetzen. Externe Flexibilisierung wird also nicht innerhalb eines bestehenden betrieblichen Beschäftigungsverhältnisses, sondern »über den Markt vollzogen, indem Aufträge an Fremdfirmen vergeben oder Arbeitskräfte nur zeitweise über ›atypische‹ Arbeitsvertragsformen, auf freiberuflicher Basis oder über Leiharbeitsfirmen beschäftigt werden.« (Hohendanner/Bellmann 2006: 241). Es etabliert sich eine Konkurrenzkultur zwischen Unternehmenseinheiten und den zunehmend heterogenen Beschäftigtengruppen, die sich nun in internen Arbeitsprozessen und auf einem internen Arbeitsmarkt gegenüberstehen. Die nachfolgende Tabelle stellt die hier erwähnten Varianten der Marktgrenzenverschiebungen dar, die Brinkmann (2011) als »Spielarten ein und derselben programmatischen Kommodifizierungstendenz« beschreibt (ebd.: 49).

Marktgrenzenverschiebung

von Arbeit

von Organisationen/Bereichen

durch interne Flexibilisierung

1

variable Entlohnungsmodelle,Vertrauensarbeitszeit, Intrapreneure

2

Interne Märkte: Profit-Center-Strukturen

durch externe Flexibilisierung

3

Einsatz von Freelancern, Leiharbeitern, Werkverträgen

4

In-/Outsourcing

Tab. 1:Varianten der Marktgrenzenverschiebung

Quelle: Brinkmann 2011: 49

»Marktgrenzenverschiebung durch Outsourcing verkörpert letztlich eine Neuordnung inner- und zwischenorganisationaler Arbeitsteilung.« (Brinkmann 2011: 64) In den USA begann diese Form der Transaktionskostensenkung, sprich die Auseinandersetzung mit der Frage, ob es günstiger ist, extern einzukaufen oder selbst herzustellen (make-or-buy), bereits in den 1980er-Jahren, und zwar in den US-amerikanischen ITK-Unternehmen.24 HP und IBM galten nicht nur als Vorreiter interner Flexibilisierung durch »internal markets« (vgl. Brinkmann 2011: 56 ff.). Die Auslagerungen bei Eastman Kodak 1989 waren Vorboten einer generellen Entwicklung in der IT-Branche (vgl. ebd.: 63), bei der die sogenannte externe qualitative Flexibilität insofern erhöht wurde, als dass »Teams innerhalb des Unternehmens untereinander und mit externen Bewerbern um Aufträge konkurrieren.« (Lehndorff/Voss-Dahm 2006: 137)25

Diese innerorganisationale und personale Konkurrenz mündet schließlich im strategischen Einsatz atypischer Beschäftigungsformen, zu denen auch die Solo-Selbstständigkeit zählt. Denn gerade die atypischen Beschäftigungsformen ermöglichen bei dem Kostenmanagement das erwähnte »atmen« des Betriebes mit der Marktlage, indem sie als variable, volumenbasierte und nachfrageorientierte Sachkosten die Personalkosten ersetzten (vgl. Brinkmann 2011: 64).26 Im Kontext dieser vermarktlichten Binnenstruktur und flexiblen Beschäftigungsorganisation von wachsenden und schrumpfenden Belegschaften in Abhängigkeit von der Kund*innennachfrage und konjunkturellen Schwankungen nehmen atypische und zunehmend von Prekarisierung bedrohte Beschäftigungsformen zu (vgl. Holst u.a. 2009; Dörre 2009b; Keller/Seifert 2013). Im Zeitraum von 1993 bis 2010 nahm die Gesamtzahl der atypischen Beschäftigten (ohne Solo-Selbstständige wohlgemerkt) von ca. 20 Prozent bis zum Jahr 2010 auf knapp das Doppelte (38 Prozent) zu (vgl. Keller/Seifert 2013: 27).27 Im Jahr 2016 waren 39,6 Prozent aller Beschäftigten in abhängiger Arbeit atypisch beschäftigt (die meisten in den westdeutschen Flächenländern), davon sind 70 Prozent Frauen und 30 Prozent Männer (WSI Datenbank 2017). Dies bildete den Höchststand seit dem Jahr 2003.

Bei dem arbeitssoziologischen Begriff der »atypischen Beschäftigung« handelt es sich um eine Sammelkategorie heterogener Erwerbverhältnisse, deren »Einsatz auf andere Formen der betrieblichen Flexibilität abzielt als die Referenzkategorie der Normalarbeitsverhältnisse.« (Brehmer/Seifert 2007: 3) Darunter gehören überwiegend Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung, Leiharbeit, aber auch Mini- und Midijobs sowie Werkverträge. Unter einer breit gefassten Definition zählen als »Zwitterform« (Keller/Seifert 2006: 235) auch die freie Mitarbeit bzw. die Solo-Selbstständigkeit dazu (vgl. Keller/Seifert 2013; Wagner 2010).28 Die Voraussetzung für eine Ausbreitung atypischer und oftmals prekärer Arbeitsformen wurde durch den politischen Umbau des Sozialstaates von einem Status und Schutzrechte garantierenden hin zu einem gewährleistenden und aktivierenden Staat geschaffen (vgl. Lessenich 2008).29 Die Materialisierung dieses politikprogrammatischen Ziels stellten die sogenannten Harzt-Gesetzte (»Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«) in den Jahren 2002 bis 2005 dar, die die maßgebliche Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und eines sich ausweitenden Niedriglohnsektors zu verantworten haben (vgl. Keller/Seifert 2013: 34; auch Lessenich 2008: 89 ff).30

Atypische Beschäftigungsformen, so kann gesagt werden, sind der stärkste Ausdruck einer »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik« (Lessenich 2008: 95), die schließlich die »Delegitimierung nicht-erwerbstätiger Lebensformen zum gesellschaftspolitischen Programm erhebt.« (ebd.: 95 f.)31 Mit dem aktivierenden Sozialstaat setzt sich diskursiv das Leitbild durch, jede Arbeit sei besser als keine Arbeit, welches den Druck auf die Erwerbstätigen erhöht, tatsächlich jede noch so prekäre Arbeit anzunehmen (vgl. Lorig 2018: 56). Gerade wegen ihres Effekts auf eine sich herausbildende »Zone der Prekarität« (Castel 2000) haben externe Flexibilisierungsstrategien, allen voran die Leiharbeit und in jüngeren Untersuchungen auch die Werkverträge, viel arbeitspolitische und -wissenschaftliche Aufmerksamkeit bekommen (vgl. insbes. Lorig 2018; Hertwig u.a. 2015; Siebenhüter 2013; Brinkmann/Nachtwey 2014; Däubler 2011; Koch 2012; Holst u.a. 2009). Ökonomischen Analysen zufolge wirkten sich die atypische Beschäftigungsform insbesondere auf Einkommen, Qualifizierung und Beschäftigungsstabilität negativ aus (vgl. Brehmer/Seifert: 2007) und potenzierten im Vergleich zum Normalarbeitsverhältnis die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen (vgl. Keller/Seifert 2013; Dörre 2009b; Brinkmann u.a. 2006b).32

Entsprechend der Zunahme atypischer, präkerer Arbeit wuchs auch das arbeitssoziologische Forschungsinteresse in Bezug auf die Ausbreitung der (Solo-)Selbstständigekeit und die mit ihr häufig einhergehenden erhöhten Prekarisierungsrisiken (vgl. Lorig 2018; Tünte 2017; Schürmann 2013; Bührmann/Pongratz 2010a; Manske 2007).33 Im Falle der IT-Freelancer, das soll an dieser Stelle betont werden, ist allerdings der These von Keller und Seifert (2006) zu folgen,

»dass atypische Beschäftigungsverhältnisse nicht umstandslos als prekär anzusehen sind, sondern das ihre Auswirkungen neben dem Individualeinkommen von Kontextfaktoren (vor allem der Familien- und Haushaltssituation) sowie ihrer rechtlich-institutionellen Ausgestaltung (Integration in die sozialen Sicherungssysteme) abhängen.« (ebd.: 235)

Jenseits der Prekaritätspotenziale bestimmter Erwerbsformen trägt die externe Flexibilisierung im Zuge der Marktgrenzenverschiebung, so kann zusammengefasst werden, maßgeblich zu einer »Polarisierung der Arbeitsbedingungen und einer Fragmentierung der Arbeitenden« (Dörre 2003: 16) bei.34 In Kombination mit der Schwächung kollektiver betriebs- und arbeitsrechtlicher Regelungen der fordistischen Ära und der »Aufweichung der Norm des Normalarbeitsverhältnisses« (Sesselmeier 2007: 68) beginnt in den krisenhaften 2000er-Jahren die »Zone der Integration« (Castel 2000) auch für (hoch-)qualifizierte Angestellte zunehmende Unsicherheitsrisiken zu bergen und zu weitreichenden und ambivalenten Folgen für die Arbeitsbedingungen der hochqualifizierten Beschäftigten und ihren Interessenlagen zu führen (vgl. Doogan 2001; Boes/Baukrowitz 2002; Boes/Trinks 2006; Kämpf 2008; Haipeter 2016; Hürtgen/Vosswingel 2014).35 Dieses Spannungsfeld zwischen »job stability« und »employee unsecurity« (Doogan 2001) ist Resultat einer mit der Marktgrenzenverschiebung hergestellten Unsicherheit, einer »manufactured unsecurity« (ebd.), die als abstraktere Herrschaftsform, als »marktzentrierte Steuerungs- und Kontrollform« ( Dörre 2003) fungiert. Die neue »Zone der Verwundbarkeit« (Brinkmann u.a., 2006b: 35) führt zu ebenso neuen Effekten einer »Stabilisierung des Instabilen« (ebd.: 61) auf der Ebene subjektiver Bewältigungsformen (vgl. ebd.). Repräsentative Befragungen belegten, dass Mitte der 2000er-Jahre die Angst vor der Erwerbslosigkeit »bis in die Zone der Normalbeschäftigung« (Brinkmann u.a. 2006b: 40) hineinreichte und das subjektive Unsicherheitsempfinden gar über das reale Ausmaß der Bedrohung hinausging (ebd.).36

Gerade in dem Feld der ITK-Branche, den wissensintensiven, informatisierten Dienstleistungsbereichen fühlten sich die Beschäftigten zunehmend verunsichert, obwohl dort nach wie vor relative Beschäftigungssicherheit herrschte (vgl. Boes/Trinks 2006; Boes/Kämpf 2009a). So verblasst die Verheißung, der Mensch stehe im Mittelpunkt der Arbeitsprozesse, nach der Krise der New Economy, war, »der gegen die Gewährung von Sicherheit gerichtete Impuls sei geblieben.« (Lehndorff 2006: 9) Denn auch für die hochqualifizierten Beschäftigten in den ITK-Unternehmen war die »Zeit der Stammplatzgarantien« (ebd.) vorbei. Empirisch konnte aufgezeigt werden, dass tiefgreifende Veränderungstendenzen in den Unternehmen, wie z.B. Dezentralisierung, eine verstärkte Orientierung am Shareholder-Value oder Restrukturierungs- und Kostensenkungsprogramme »die Arbeitssituation und Rolle der Führungskräfte beeinträchtigen und im Sinne von ›Widerspruchserfahrungen‹ (Boes/Trinks 2006) auch zu ersten Rissen in den Interessen- und Arbeitsorientierungen der leitenden Angestellten führen.« (Boes /Kämpf 2010: 612)

2.1.3Exkurs: Folgen der Marktgrenzenverschiebung am Beispiel der Leiharbeit

Ein prominentes Beispiel für atypische Beschäftigung und deren spaltende Wirkung und Funktion ist die Leiharbeit (als abhängige Beschäftigung). Weniger prominent ist die solo-selbstständige Arbeit auf Werkvertragsbasis innerhalb von Betrieben (vgl. Hertwig u.a. 2015). Erstere wurde arbeits- und industriesoziologischen Untersuchungen am ausführlichsten unterzogen, da sich ihre Nutzungsform von einem flexiblen, beschäftigungspolitischen Instrument zur kurzfristigen Anpassung der Personal- an die Produktionsbedarfe zu einem strategischen Instrument der Konzern- und Unternehmensführung wandelte und eine neue Qualität der Beschäftigtendynamiken in den Betrieben ausgemacht werden konnte (vgl. Holst u.a. 2009; Holst/Nachtwey 2010).37 Mit dem strategischen Einsatz dieser neuen Beschäftigtengruppe sind nämlich die »strukturellen Voraussetzungen für eine konkurrenzorientierte Steuerung der Arbeit« geschaffen worden (vgl. Holst u.a. 2009: 24). Unter den externen Flexibilisierungsstrategien diente allen voran die Leiharbeit, laut frühen arbeits- und industriesoziologischen Prognosen im Zusammenhang mit der Verschiebung bzw. Öffnung der Unternehmen für den Markt, dem Aufbau einer parallelen, als Puffer gehandhabten, doch immer noch äußeren Randbelegschaft. Die Marktgrenze hat sich jedoch, so korrigieren Host/Nachtwey (2010), qualitativ so verschoben, dass sie »beinahe durchlässig geworden« (ebd.: 290) ist und die externen Arbeitskräfte, in ihrem Beispiel die Leiharbeiter*innen, nun auch im Kernbereichen der Produktion in verstetigter Weise tätig sind. Mit der Leiharbeit geht für die Stammbeschäftigten das Signal einer nicht nur diffusen, sondern tatsächlichen Ersetzbarkeit einher. Seit der Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ) durch das erste »Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« aus dem Jahr 2002 (auch als Hartz I bekannt) hat sich die Zahl der Leiharbeiter*innen in einer Dekade auf über 900.000 Beschäftigte vervielfacht (vgl. Brinkmann/Nachtwey 2014: 82).38 Mittlerweile bilden also diese Beschäftigten eine »interne Reservearmee, von der auf vielfältige Art und Weise Druck auf die Stammbelegschaft ausgeht.« (Holst/Nachtwey 2010: 290) So lassen sich die internen Beschäftigten auf Konzessionen hinsichtlich der internen Flexibilität bereitwilliger ein, um sich vor möglichen externen Flexibilisierungsmaßnahmen zu schützen.39 »Leiharbeit kann dabei auch dazu dienen, die interne Konkurrenz unter den Beschäftigten zu erhöhen und die Stammbelegschaft hinsichtlich ihrer Forderungen und Leistungsbereitschaft zu disziplinieren (Brinkmann u.a. 2006b).« (Hertwig 2015: 76)40

Auch wenn im internationalen Vergleich auf dem deutschen Arbeitsmarkt Formen der internen Flexibilisierung quantitativ überwiegen (vgl. Keller/Seifert 2006) und sich die Mehrzahl der Arbeitnehmer*innen nach wie vor in einem Normalarbeitsverhältnis befindet (vgl. Jansen 2020: 51), sind externe Flexibilisierungsformen sowohl arbeitspolitisch als auch subjekttheoretisch besonders brisant. So betont Brinkmann (2011), dass es sich im Vergleich zu internen Märkten, die eine »konzeptionelle Vorstufe zum Outsourcing« (ebd.: 62) darstellen, bei dem Outsourcing um die »eigentliche externe Flexibilisierungsstrategie« handelt, da nicht nur eine fiktive, sondern eine definitive Marktgrenze zwischen die Unternehmensbereiche geschoben wird (ebd.). »Für die betroffenen Beschäftigten stellt dieser Schnitt die radikalste Variante von Marktgrenzverschiebungen dar: Es wird ihnen die Organisationsmitgliedschaft gekündigt.« (ebd.) Obwohl sie also vor Ort mit den Beschäftigten des/der Kund*in bzw. des entleihenden Betriebes Seite an Seite zusammenarbeiten und unter Umständen dieselben Tätigkeiten ausführen, sind Leiharbeiter*innen »Betriebsbürger zweiter Klasse« (Brinkmann/Nachtwey 2014: 96), die formal solo-selbstständigen Werkvertragler*innen sind

»gar keine Betriebsbürger. Sie sind zwar integraler Teil des Produktionsprozesses, aber nicht des betrieblichen demos (im Finalbetrieb). Wenn sie über industrielle Bürgerrechte verfügen, dann lediglich über solche der vom Arbeitsgesetz festgeschrieben Mindeststandards.« (ebd.)

Das bedeutet, dass die formale Organisationsmitgliedschaft den Grad an sozial-betrieblicher Inklusion und Exklusion wesentlichen bestimmt. Zwar verschwindet die Tätigkeitssegmentierung innerhalb der Belegschaft. Die Statusdifferenz zwischen dem Beschäftigtenstatus bleibt jedoch erhalten. Über diesen Mechanismus sind die Leiharbeiter*innen indirekt gezwungen, »Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zu demonstrieren, um sich die knappen Chancen auf Übernahme zu erhalten, während die Stammkräfte arbeitspolitisch diszipliniert werden können.« (Holst/Nachtwey 2010: 295)

2.2Ökonomisierung und Internationalisierung in der IT-Branche

Die theoretischen Ausführungen im vorangegangenen Kapitel sollen nun um die informatisierungstheoretische Perspektive ergänzt werden.41 Zwar treffen die beschrieben gesellschaftlichen Veränderungen auf alle Branchen zu, doch in unterschiedlich starker Ausprägung. In dem Segment der Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK) lassen sich wesentliche Aspekte dieser Transformationsprozesse in idealtypscher Weise ablesen (Boes 2003: 135). Zum einen, weil branchenübergreifend für immer mehr Beschäftigtengruppen digitalisierte Informationen und Informationssysteme das zentrale Arbeitsmittel sind. Neue Technologien bestimmen nicht nur, was produziert wird. Sie verändern auch die Art und Weise, wie in den Betrieben und Unternehmen Güter und Dienstleistungen hergestellt und vertrieben werden und wie sich dabei die Produzent*innen verhalten. Informationstechnologien und Informationssysteme auf Basis von digitalen Technologien bilden somit die technologische und konzeptionelle Grundlage der neuen Stufe »innerer Landnahme« (Dörre 2009a). Zum anderen sind Informationen und Informationssysteme in der globalen Leitindustrie ITK zugleich Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand (vgl. Boes u.a. 2016a: 62). Dieser Umstand führt dazu, dass in der ITK-Branche die neuen flexibel-marktzentrierten Produktionsmodelle zuerst Anwendung finden: »Sie macht sich selbst zum Pilotprojekt global vernetzten Arbeitens und führt die Suche nach neuen globalen Geschäftsmodellen an.« (Boes u.a. 2012a: 322) Insbesondere der Bereich der Softwareentwicklung und IT-Dienstleistungen (im Folgenden IT-Branche/IT-Indutsrie) ist insofern »enabler und forerunner« (Boes u.a. 2016 a: 68) der Digitalisierung und Globalisierung der wissensbasierten Dienstleistungsarbeit (ebd.).42 Auch die ideologischen Aspekte und Auseinandersetzungen um die Zukunft der Arbeit kulminieren in der IT-Branche. Begriffe wie »New Economy«, »Wissensarbeit« oder »immaterielle Arbeit« verleiteten oft genug zu der Annahme einer »vermeintlich rationalisierungsresistenten« Branche (Boes 2003: 136). Was aber hinter diesen Begriffen verborgen bleibe,

»ist die neue Widersprüchlichkeit der Arbeit. Sie resultiert gerade daraus, dass eine spezifische Form der Autonomie im Arbeitsprozess und eine verstärkte Ökonomisierung die beiden untrennbar verbundenen Momente eines Prozesses sind. Dies wirft eine Reihe neuer Widerspruchskonstellationen auf der Seite der Beschäftigten auf […].« (Boes 2003: 136)

Im Folgenden wird zunächst in die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zur Informatisierung eingeführt, um dann auf die Herausbildung eines neuen »Unternehmenstypus 2.n« (Boes et al: 2014) einzugehen. Dieser neue Unternehmenstypus ist deswegen für die neue Phase des Kapitalismus charakteristisch, weil er wesentlich auf einem »digital-marktzentrierten Produktionsmodus« (Menz u.a. 2019: 196) basiert und in diesem als Leitbild fungiert. Das postfordistische IT-Unternehmen passt im Zuge der Marktgrenzenverschiebungen in Kombination mit der globalen Informatisierung seine Geschäfts- und Managementstrategien an die Regime-Erfordernisse an und verändert seine Produkt- und damit auch Leistungsspektren. Das alles zieht weitreichende Folgen für die wissensintensiven Dienstleistungserbringung nach sich. Es wandeln sich nicht nur die Qualifikations- und Kompetenzanforderungen. Auch das Interessenhandeln der Beschäftigten in der IT-Industrie verweist auf eine veränderte berufliche Identität der Beschäftigten in Folge der Ökonomisierungs- und Flexibilisierungsprozesse (vgl. Boes u.a. 2012c: 52 f.): »Die Herausbildung neuer Arbeitskrafttypen sowie neuer Formen der Interessenauseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital ist hier besonders weit fortgeschritten.« (Boes 2003: 135).

2.2.1Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zur Informatisierung

Mit dem Aufstieg neuer Informations- und Kommunikationstechnologien im Kontext polit- und sozio-ökonomischer Entwicklungen sowie veränderter Produktions- und Kontrollmodi befassen sich Arbeitswissenschaftler*innen unter dem Schlagwort der »Informatisierung« (Schmiede 1996). Informatisierung wird definiert als »Materialisierung des Informationsgebrauchs, um geistige Tätigkeit anderen zugänglich zu machen, zu der u.a. die nichtstoffliche materielle Produktion wie IT-Dienstleistungen und Softwareentwicklung gehören.« (Boes u.a. 2005: 9) Der theoretische Ansatz, stetig durch empirischen Forschungsprojekte des IFS weiterentwickelt (vgl. Baukrowitz/Boes 1996; Baukrowitz u.a. 2001; Boes 2005, Boes/Kämpf 2004; Kämpf 2008; Boes u.a. 2009, Boes u.a. 2012c; Boes u.a. 2015; Boes/Langes 2019), fasst Informatisierung dabei als einen historischen Prozess auf, in dem sich die Art und Weise abbildet, wie Kopfarbeit organisiert wird. In einem »neuen Raum der Produktion« (Boes u.a. 2014), so die leitende These, werden Dienstleistungen und Wertschöpfungsketten digital vernetzt und weltweit zugänglich gemacht. Es bildet sich ein neuer »globaler Informationsraum«, in dem sich »ein regelrechter Sprung der Produktivkräfte in der Gesellschaft abzeichnet.« (Boes et al 2016b: 32)43 Im Zentrum des Informatisierungsprozesses stehen geistige Tätigkeiten menschlicher Arbeit, bei denen Informationen und Informationssysteme fortwährend erzeugt, reproduziert und weiterentwickelt werden.44 Ursprung ist das individuelle Wissen, das als Information in Informationssysteme hineingegeben und damit zu einem Produkt wird, das kollektiv verfügbar und bearbeitbar ist. Historisch betrachtet bildet genau dies die Voraussetzung dafür, dass Wissensarbeit bzw. Kopfarbeit als eigenständige Form menschlicher Arbeit existiert. Damit wurde sich ebenso wie die Handarbeit rationalisierbar, operationalisierbar und wurde zum Gegenstand arbeitsteiliger Prozesse. Die vom Individuum ausgehenden Informationen werden überindividuell und arbeitsteilig nutzbar, womit die geistigen Tätigkeiten von der materiell-stofflichen Seite des Arbeitsprozesses getrennt werden. Informatisierung vollendet die Trennung von Hand- und Kopfarbeit und schafft mit der Informationsebene eine neue Handlungsebene, die die geistige Arbeit zu einer eigenständigen Form menschlicher Arbeit macht (vgl. Boes u.a. 2016a: 60).45

Diese neue informatisierte Handlungsebene ermöglichte es erst, zunehmend steuernd und planend in die Sphäre der Handarbeit einzugreifen. Als Folge wuchs diejenige Beschäftigtengruppe, die über diese für den Produktionsprozess relevanten Informationen verfügte, sie verwaltete und in entsprechende Informationssysteme einfügte: die Ingenieur*innen, die kaufmännischen Angestellten und die Bürofachkräfte (vgl. Boes u.a.: 2016a: 60). Zudem bildete die Informationsebene die Voraussetzung für eine Objektivierbarkeit von Wissensprozessen und damit für objektive Produktions- und Arbeitsabläufe. Zum einen führte dies zur Verwissenschaftlichung dieser Abläufe. Zum anderen bekamen Informationssysteme in den bürgerlich-kapitalistischen Unternehmensvarianten, die Boes u.a. als Unternehmen 1.n bezeichnen, das Potenzial eines Steuerungs- und Kontrollinstruments im Arbeits- und Produktionsprozess.46 Sie wurden zum zentralen Bezugssystem für das Management (Boes et al 2016a: 65).47