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Zwischen uns das Vergessen Psychological Romance / Romantic Suspense Ein Sturz, ein Gedächtnisverlust – und ein Leben voller Lügen. Lisa Dombusch wacht nach einem schweren Unfall auf und erkennt ihre eigene Welt nicht wieder. Ein Mann behauptet, ihr Freund zu sein, doch irgendetwas stimmt nicht. Stück für Stück kehren Erinnerungen zurück – bruchstückhaft, schmerzhaft und verwirrend. Dann begegnet sie Ramon, einem geheimnisvollen Künstler. Seine Nähe löst etwas in ihr aus, etwas, das sie nicht einordnen kann. Warum fühlt sich ihre Verbindung zu ihm so vertraut an, obwohl sie ihn angeblich gerade erst kennengelernt hat? Während Lisa versucht, die Wahrheit über ihren Sturz und die letzten Monate herauszufinden, muss sie lernen, wem sie wirklich vertrauen kann – und wem nicht. Zwischen Angst, Lügen und Leidenschaft steht sie vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: ihre Freiheit oder die Liebe. „Zwischen uns das Vergessen“ ist eine packende Psychological Romance über Erinnerung, Manipulation und die Suche nach sich selbst – ein Roman voller Spannung, Leidenschaft und psychologischer Tiefe.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwischen uns das Vergessen
vonFinja Lindholm
Triggerwarnung:Dieses Buch enthält Darstellungen von emotionalem Missbrauch, Manipulation, Gedächtnisverlust, medizinischen Eingriffen, toxischen Beziehungen und psychischer Gewalt. Einige Szenen können für empfindliche Leser:innen belastend sein.
Bevor du diese Geschichte öffnest, solltest du wissen:
Manche Wahrheiten tragen Schatten, die schwerer sind als jede Lüge.
In diesen Seiten wirst du Spuren von Angst finden, den Nachhall von Stimmen, die nicht die Wahrheit meinten, und Erinnerungen, die mehr zerstören können, als sie heilen.
Lies weiter, wenn du bereit bist
– aber vergiss nicht, dass selbst das Herz Grenzen kennt.
Dunkelheit.
Kein weiches, beruhigendes Schwarz, sondern eine Dunkelheit, die flimmert, pulsiert, flackert. Ein unregelmäßiger Rhythmus, als würde die Welt selbst nicht wissen, ob sie noch da sein will oder nicht. Geräusche dringen hinein wie durch Wasser: dumpf, fern, verzerrt. Stimmen, vielleicht. Schritte. Ein Piepen.
Schmerz.
Er schießt ihr durch den Schädel, heiß, scharf, unbarmherzig. Ein einziger Blitz, der alles andere überlagert. Lisa will schreien, aber da ist kein Ton. Nur ein ersticktes Kratzen in ihrer Kehle, so trocken, dass jeder Atemzug wehtut.
„Lisa? Hörst du mich?“
Eine Stimme. Klarer als die anderen, näher. Tief, warm, fast beruhigend. Doch sie kennt sie nicht.
Ihre Augen öffnen sich nicht sofort. Es dauert, als müsse sie sich daran erinnern, wie man das macht. Erst ein Zittern der Lider, dann ein Spalt, durch den grelles Licht brennt. Weiß. Alles ist weiß. Wände, Decke, Lampen. Steriles Weiß, das sie blendet und verschluckt.
„Alles gut, bleib ganz ruhig.“
Die Stimme wieder. Näher. Ein Schatten beugt sich über sie, verschwimmt im Licht. Konturen lösen sich erst langsam heraus: dunkles Haar, eine gerade Nase, Augen, die sie mustern. Besorgt. Fast zu besorgt.
„Ich bin hier. Du bist nicht allein.“
Sie will etwas sagen. Einen Namen, eine Frage. Aber ihre Lippen formen nur ein tonloses Zittern. Der Mann streicht ihr über die Stirn. Seine Berührung ist warm, sanft. Aber es ist die Berührung eines Fremden.
***
Lisa blinzelt, zwingt ihre Augen, klarer zu sehen. Nach und nach fügt sich die Welt zusammen: Schläuche, ein Tropf, das monotone Piepen eines Monitors. Krankenhaus. Ihr Herz stolpert.
Krankenhaus. Warum?
Die Erinnerungen sind wie ein zerbrochener Spiegel: Splitter, scharf und gefährlich, aber kein Bild. Sie weiß, wie Krankenhausluft riecht – scharf, nach Desinfektion. Sie weiß, wie das Piepen einer Maschine klingt. Aber sie weiß nicht, warum sie hier liegt.
Der Mann bemerkt ihr Zittern. „Du hattest einen Unfall“, sagt er. Seine Stimme ist fest, kontrolliert, als hätte er diesen Satz schon viele Male geübt. „Du bist gefallen. Aber es wird wieder.“
Unfall. Gefallen. Ihre Gedanken klammern sich an die Worte, doch sie finden keinen Halt. Gefallen – wohin? Wann? Warum?
„Ich bleib bei dir, Lisa“, fügt er hinzu, und sein Daumen streicht immer noch über ihre Stirn, als würde er sie beruhigen wollen. „Ich bin dein Freund. Miles.“
Dein Freund.
Das Wort schlägt ein wie ein fremdes Gewicht. Es passt nicht. Es fühlt sich zu groß an, zu nah. Und doch blickt er sie an, als hätte er jedes Recht darauf.
Lisa will protestieren. Will fragen, will wissen. Aber die Dunkelheit kommt zurück, diesmal nicht flackernd, sondern schwer. Sie sinkt hinein, tiefer, als würde sie unter Wasser gezogen.
Die letzte Empfindung, bevor alles schwarz wird, ist sein Blick. Warm. Besorgt. Und doch – etwas darin, das sie frösteln lässt.
***
Als sie die Augen wieder öffnet, ist die Welt stiller. Nicht leiser – sondern gedämpfter, als hätte jemand die Geräusche in Watte gepackt. Nur das monotone Piepen neben ihrem Bett bleibt, stur, unbeirrbar, wie ein Herzschlag, der nicht ihrer ist.
Ihre Kehle brennt. Trockenheit kratzt, jedes Schlucken tut weh. Mit Mühe bewegt sie die Lippen. „W… Was…?“ Es klingt wie ein Hauch, kaum hörbar.
„Hey.“ Die Stimme ist sofort da. Näher. Sanft, aber auch wachsam. Der Mann sitzt an ihrem Bett, als hätte er die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie zurückkehrt. „Trink einen Schluck.“
Er hält ihr einen Becher an den Mund. Kaltes Wasser rinnt über ihre Lippen, zu hastig, zu fremd. Sie hustet, röchelt, verschluckt sich beinahe. Er legt eine Hand auf ihre Schulter. „Langsam, Lisa. Ganz langsam.“
Lisa. Ja. Das ist ihr Name. Das weiß sie. Es fühlt sich vertraut an, so tief verankert wie der eigene Atem. Und doch klingt es seltsam aus seinem Mund, als gehöre er nicht dazu.
„Wo…?“ Sie versucht es noch einmal.
„Krankenhaus.“ Er lächelt, schwach, beruhigend. „Du hattest einen Unfall. Aber du bist in Sicherheit. Ich bin hier.“
Ihre Augen wandern zu ihm. Dunkles Haar, akkurat geschnitten. Ein Gesicht, glatt rasiert, symmetrisch. Gutaussehend, auf eine Art, die fast unpersönlich wirkt, wie ein Bild aus einer Zeitschrift. Er trägt ein Hemd, hellblau, viel zu ordentlich für ein Krankenzimmer. Seine Hände sind gepflegt, Nägel sauber, Haut weich. Alles an ihm wirkt kontrolliert.
„Miles“, sagt er, als hätte sie gefragt. „Ich bin dein Freund.“
Das Wort bleibt zwischen ihnen hängen. Schwer. Lisa spürt, wie ihr Herz stolpert. Freund. Er sagt es mit einer Selbstverständlichkeit, die sie verunsichert. Sollte sie sich nicht sicher sein? Sollte sie ihn nicht erkennen?
Sie sucht in seinem Gesicht nach Erinnerungen. Nach einem Gefühl, das aufsteigt. Da ist – nichts. Nur Leere.
„Ich… erinnere mich nicht“, flüstert sie.
Einen Moment lang zuckt etwas in seinem Blick. Kaum sichtbar, ein Riss in der Fassade. Doch dann lächelt er wieder, weich, verständnisvoll. „Das ist normal. Du hattest eine schwere Verletzung am Kopf. Die Ärzte haben gesagt, es kann dauern, bis alles wiederkommt. Aber es wird. Wir schaffen das.“
Wir. Ein einfaches Wort. Ein Versprechen. Aber in ihrem Bauch breitet sich Kälte aus, als gehörte sie nicht zu diesem „Wir“.
Sie will fragen, will mehr wissen. Doch ihre Augenlider sind schwer, ihre Gedanken gleiten ab. Sie fällt wieder in Schlaf – diesmal ohne Widerstand, als wäre es leichter, im Nichts zu verschwinden, als Antworten zu suchen.
***
Als sie erwacht, ist es Nacht. Das Zimmer liegt im Halbdunkel, nur das Licht der Geräte wirft flache Schatten an die Wand. Draußen im Flur klappern leise Schritte. Irgendwo fällt eine Tür ins Schloss. Sie dreht den Kopf. Der Mann – Miles – sitzt noch immer da. Aufrecht, als hätte er keinen Schlaf nötig. Ein Buch liegt auf seinen Knien, aufgeschlagen, aber er liest nicht. Er beobachtet sie. Ihre Kehle zieht sich zusammen. Ein Instinkt, kein Gedanke.
„Wie spät…?“
Er legt das Buch zur Seite, steht sofort auf. „Kurz nach Mitternacht. Aber du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Ruh dich einfach aus.“
Seine Stimme ist sanft, kontrolliert, makellos. Aber es ist die Ruhe eines Mannes, der nichts dem Zufall überlässt.
Lisa sieht ihn an. Versucht, den Fremden in ihr Herz zu lassen. Versucht, das Gefühl zu finden, das zu seinen Worten passt. Doch es kommt nicht. Da ist nur ein Loch.
„Wir sind zusammen“, sagt er plötzlich, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Seit einem Jahr. Es war… nicht immer leicht. Aber wir haben uns.“
Seit einem Jahr. Ein Jahr – ausgelöscht. Sie versucht, sich zu erinnern. Bilder, Gesichter, Orte. Aber die Zeit ist wie eine schwarze Wand, gegen die sie prallt. Sie weiß Dinge: wie man eine Gabel hält, wie man eine Telefonnummer wählt, wie man Van Gogh von Monet unterscheidet. Aber sie weiß nicht, wer dieser Mann ist.
Und doch sitzt er hier, mitten in der Nacht, mit einem Blick, der sie nicht loslässt.
***
Am Morgen weckt sie ein Stimmengewirr. Kein sanftes Erwachen, sondern das abrupte Aufreißen in eine Welt voller Bewegung. Schritte auf dem Linoleum, das Klicken von Kugelschreibern, das Rascheln von Papier. Jemand zieht den Vorhang beiseite, und grelles Tageslicht ergießt sich in den Raum.
„Guten Morgen, Frau Dombusch.“ Eine Frau im weißen Kittel lächelt sie an, routiniert, freundlich. „Wie fühlen Sie sich?“
Lisa öffnet den Mund. Die Worte bleiben stecken. Wie fühlt sie sich? Ihr Kopf pocht, ihre Glieder sind schwer, ihre Gedanken zäh wie Nebel. „Ich… weiß nicht.“
„Das ist normal.“ Die Ärztin notiert etwas auf einem Klemmbrett. „Sie hatten ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Es ist ein Wunder, dass Sie so schnell ansprechbar sind. Aber gewisse Gedächtnislücken sind typisch. Wir beobachten Sie die nächsten Tage, dann sehen wir weiter.“
Gedächtnislücken. Das Wort brennt sich in ihr fest.
Miles tritt näher, stellt sich an ihr Bett, so selbstverständlich, als gehöre er dorthin. „Sie hat gestern schon ein paar Fragen gestellt“, sagt er, „aber ich habe ihr erklärt, dass es dauern kann.“
Lisa starrt ihn an. Ein Teil von ihr möchte ihn bitten, nicht für sie zu sprechen. Ein anderer Teil hat Angst, die Worte laut auszusprechen.
„Sehr gut“, sagt die Ärztin. „Vertraute Personen sind wichtig in dieser Phase.“
Vertraut. Das Wort hallt in ihr nach wie ein Hohn.
Die Untersuchung zieht sich. Reflexe, Licht ins Auge, einfache Fragen. „Wissen Sie, welcher Tag heute ist?“ – Nein. „Können Sie mir sagen, wer Bundeskanzler ist?“ – Ja. „Erkennen Sie diesen Mann?“ Die Ärztin deutet auf Miles.
Lisa stockt. Ihr Blick bleibt an ihm hängen, an den klaren Linien seines Gesichts, den ordentlichen Haaren, den Augen, die sie mustern. Und wieder: nichts. Kein Blitz, kein Funke. Nur Leere.
„Ich… weiß es nicht.“
Einen Herzschlag lang wird es still. Dann räuspert sich Miles, setzt ein Lächeln auf, sanft, nachsichtig. „Sie braucht Zeit.“
Die Ärztin nickt. „Das ist völlig in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Doch Lisa macht sich Sorgen.
***
Später, als die Ärztin den Raum verlässt, bleibt Miles allein bei ihr. Er richtet das Kissen hinter ihrem Rücken, schenkt ihr Wasser nach, legt die Decke zurecht. Jede Bewegung ist bedacht, kontrolliert.
„Du musst dich nicht unter Druck setzen“, sagt er leise. „Die Erinnerungen kommen zurück. Ich werde dich daran erinnern, wer du bist. Wer wir sind.“
Seine Hand streift ihre. Warm. Fest. Aber nicht bittend, nicht suchend – vielmehr so, als beanspruche er sie.
Lisa lächelt schwach, aus Höflichkeit. Doch innerlich bäumt sich etwas auf. Ein Instinkt, roh und unformuliert. Etwas stimmt nicht.
Sie schließt die Augen, tut so, als sei sie müde. Doch hinter den Lidern pocht ein Gedanke: Warum fühlt sich dieser Mann fremd an, wenn er doch angeblich ihr Zuhause ist?
***
Die Stunden ziehen vorbei wie unter Glas. Stimmen, Schritte, das Rauschen des Flurs – alles klingt gedämpft, als läge die Welt einen Raum entfernt. Lisa liegt da, reglos, während Miles immer wieder aufsteht, sich setzt, durchs Zimmer geht. Manchmal liest er, manchmal tippt er auf seinem Handy. Doch selbst dann fühlt sie seinen Blick, wie eine unsichtbare Hand, die sie festhält.
Als die Nacht hereinbricht, kehrt Ruhe ein. Die Geräusche draußen verebben, das Piepen der Maschine wird lauter, rhythmischer. Miles bleibt noch eine Weile sitzen, dann erhebt er sich. „Ich gehe kurz nach Hause. Schlaf ein bisschen. Morgen bin ich wieder hier.“
Ein Kuss auf die Stirn, zögerlich, als wolle er ihr nichts aufzwingen. Doch auch darin liegt etwas Endgültiges, Besitzergreifendes. Sie hält still, zu überrascht, um auszuweichen.
Die Tür schließt sich. Zum ersten Mal ist sie allein.
Stille. Echte Stille, so schwer, dass sie ihr in die Ohren dröhnt. Lisa liegt da, die Hände auf der Decke, den Blick an die Decke geheftet. Sie weiß, sie sollte schlafen. Aber der Schlaf kommt nicht.
Da ist etwas in ihr, ein Kribbeln unter der Haut, ein Zittern tief in den Knochen. Kein Schmerz, kein klarer Gedanke – nur ein Gefühl: Etwas stimmt nicht.
Sie schließt die Augen. Atmet tief. Und da ist es. Ein Bild. Flüchtig, unscharf. Ein dunkler Raum, Holz, Staub in der Luft. Und ein Geräusch – ein Schrei. Ihr Schrei. Dann eine Hand, die nach ihr greift. Fest, grob. Ein Ruck. Lisa reißt die Augen auf. Schweiß auf ihrer Stirn. Herzschlag, viel zu schnell.
War das eine Erinnerung? Oder nur ein Traum?
Sie versucht, sich zu konzentrieren, den Fetzen festzuhalten. Doch je mehr sie es versucht, desto mehr zerfällt das Bild. Nur das Gefühl bleibt: Angst. Und ein dumpfer, heiserer Klang, eine Stimme, die ihren Namen ruft.
Aber es war nicht Miles’ Stimme. Ganz sicher nicht.
***
Sie drückt den Kopf tiefer ins Kissen, zittert. Alles in ihr schreit nach Sicherheit, nach einem Anker. Doch der Mann, der behauptet, dieser Anker zu sein, ist ein Fremder. Ein Fremder, der sie mit „Wir“ und „Freund“ umgibt, als sei es die Wahrheit.
Lisa legt die Hände auf ihre Brust, spürt den hämmernden Puls. Sie muss schlafen. Muss. Doch immer wenn sie die Augen schließt, sieht sie wieder den dunklen Raum. Wieder die Hand. Wieder die Stimme.
Und jedes Mal, wenn sie fast vergisst, dass sie Angst hat, kehrt der Gedanke zurück: Wenn Miles die Wahrheit sagt – warum fühlt es sich dann so falsch an?
***
Ein Klirren weckt sie. Metall auf Metall, sanftes Klappern. Lisa öffnet die Augen – das Zimmer ist vom ersten grauen Licht durchzogen. Eine Krankenschwester beugt sich über den Nachttisch, prüft den Tropf, notiert Werte.
„Guten Morgen, Frau Dombusch.“ Ein freundliches, routiniertes Lächeln, das keine Antwort verlangt. „Wie geht’s Ihnen?“
Lisa zögert. Ihre Stimme klingt fremd, kratzig. „Ich… weiß nicht.“
Die Schwester nickt, als sei das die einzig richtige Antwort. „Das dauert, das ist normal.“ Mit geübten Handgriffen wechselt sie die Infusion, streicht die Decke glatt. Ein Geruch von Kaffee hängt an ihr, warm, vertraut, beinahe tröstlich.
„Sie haben Glück gehabt“, sagt sie beiläufig, ohne aufzusehen. „Acht Meter, hat man mir erzählt. Dass Sie überhaupt ansprechbar sind, ist erstaunlich.“
Acht Meter. Die Zahl schneidet durch Lisas Gedanken wie eine scharfe Kante. Acht Meter – das ist kein Stolpern, kein Ausrutschen. Das ist Fallen. Tief. Brutal.
Ihre Kehle wird trocken. „Ich… bin gestürzt?“
Die Schwester wirft ihr einen kurzen Blick zu, abwägend, fast erschrocken. „Das hat man mir gesagt. Aber Details weiß ich nicht. Das müssen Sie mit den Ärzten klären.“
Und schon geht sie, als hätte sie zu viel gesagt.
***
Lisa bleibt zurück, das Wort hallt in ihrem Kopf nach. Acht Meter.Ihr Körper fühlt sich schwer an, müde. Sie sieht an sich hinunter: unter dem Hemd Verbände, Pflaster, blaue Flecken. Arme, die nicht ganz zu ihr gehören. Beine, die sie nicht bewegen will. Sie versucht, sich den Sturz vorzustellen. Doch die Bilder entziehen sich. Nur ein Gefühl taucht auf, stark und klar: Panik. Luft, die ihr entgleitet. Der Boden, der näherkommt. Der Schmerz, der alles verschlingt.
Ihre Hände krallen sich in die Decke. Ein Zittern läuft durch sie, kalt und heiß zugleich.
In diesem Moment öffnet sich die Tür. Miles tritt ein, frisch gekämmt, gebügeltes Hemd, wie aus einer anderen Welt. „Da bist du ja wach“, sagt er mit einem Lächeln, das zu perfekt wirkt. „Wie geht’s dir?“
Lisa sieht ihn an. Sucht in seinem Gesicht nach Vertrautheit. Aber das Einzige, was sie spürt, ist Distanz.
„Die Schwester hat gesagt… acht Meter.“
Sein Lächeln gefriert für einen Sekundenbruchteil. Dann nickt er, setzt sich an ihr Bett. „Ja. Es war ein Unfall. Aber das ist vorbei. Du musst dich nicht mehr erinnern, wenn es zu schwer ist.“
Nicht erinnern. Seine Worte sollen beruhigen – aber sie klingen wie ein Befehl.
***
Lisa beobachtet ihn, wie er die Hände faltet, wie seine Schultern entspannt wirken, sein Blick voller Fürsorge. Alles an Miles schreit: Ich bin hier. Du kannst mir vertrauen. Doch je länger sie ihn ansieht, desto mehr spürt sie das Gegenteil.
„Warst du dabei?“, fragt sie leise. Ihre Stimme bricht fast.
Miles blinzelt. „Dabei?“
„Beim… Sturz.“ Das Wort schmeckt bitter auf ihrer Zunge.
Ein Zögern. Dann ein Kopfschütteln. „Nein. Ich kam später. Sie haben mich angerufen, im Krankenhaus. Es war…“ Er seufzt, als müsse er einen Schmerz heraufbeschwören, „… der schlimmste Moment meines Lebens.“
Lisa senkt den Blick. Irgendetwas daran fühlt sich falsch an. Nicht die Worte – die Art, wie er sie sagt. Perfekt gesetzt, wie ein Zitat, das er auswendig gelernt hat.
Ihre Finger spielen nervös mit der Bettdecke. „Und… wo bin ich gefallen?“
„Das weißt du nicht mehr?“ Seine Stimme klingt sanft, aber da liegt etwas darunter, ein Ton, der sie zusammenzucken lässt.
„Nein.“
Ein Atemzug lang mustert er sie. Dann legt er seine Hand auf ihre, fest, warm, unerschütterlich. „Du musst dir das nicht antun, Lisa. Vertrau mir. Wir lassen die Vergangenheit ruhen. Wichtig ist nur, dass du wieder gesund wirst. Alles andere… kommt von allein.“
Sie nickt schwach, weil es leichter ist, nicht zu widersprechen. Doch in ihr tobt etwas. Wenn alles andere von allein zurückkommt – warum wirkt es, als wollte er genau das verhindern?
***
Die Nacht senkt sich erneut über das Zimmer. Draußen fährt ein Wagen mit Blaulicht vorbei, die Reflexionen huschen über die weiße Wand, blau und unruhig. Lisa liegt wach, die Augen aufgerissen, unfähig zu schlafen.
Und wieder taucht es auf. Das Bild. Der dunkle Raum, die Hand, der Schrei. Nur dieses Mal schärfer. Eine Bewegung am Rand – jemand, der sie ansieht. Augen, tief und dunkel. Ein Gesicht, das sich ihrem Gedächtnis entzieht, aber etwas in ihr vibrieren lässt.
Ihr Herz rast. Sie flüstert in die Dunkelheit, ohne es zu wollen: „Wer bist du…?“
Keine Antwort. Nur das monotone Piepen der Maschine.
Doch da ist ein Gefühl, das sie nicht abschütteln kann: Dieser Fremde in ihrem Traum – er ist der Schlüssel. Nicht Miles. Nicht das Krankenhaus.Er.
Der Himmel über der Stadt ist grau, als sie zum ersten Mal wieder im Rollstuhl hinausgeschoben wird. Die Luft riecht nach Regen, nach nasser Erde und kaltem Asphalt, und Lisa hat das Gefühl, als würde sie ein fremdes Land betreten.
Miles geht neben ihr, die Hand lässig auf der Lehne ihres Stuhls. „Endlich raus hier“, sagt er mit einem Ton, der gleichzeitig Erleichterung und Besitzanspruch verrät.
Sie hebt das Gesicht in den Wind. Jeder Zug kalter Luft brennt in ihrer Lunge wie eine Erinnerung daran, dass sie lebt. Dass sie überlebt hat. Aber alles fühlt sich taub an, als gehörte ihr Körper noch immer nicht ganz ihr selbst.
Der Wagen, ein schwarzer SUV, steht bereits bereit. Ein Fahrer hält die Tür auf. Lisa blinzelt irritiert. „Hab… hab ich etwa einen Chauffeur?“
Miles lacht leise. „Nur heute. Ich wollte, dass es dir an nichts fehlt.“
Die Fahrt ist still. Sie lehnt den Kopf ans Fenster, beobachtet die Straßen, die an ihr vorbeiziehen. Straßenschilder, Geschäfte, Gesichter von Fremden – jedes Detail müsste vertraut sein, doch nichts rührt etwas in ihr. Alles wirkt glatt, ausradiert, wie ein Film, den man ihr vorspielt, ohne dass sie je darin mitgespielt hat.
„Wo… wohne ich?“ Die Frage entgleitet ihr unwillkürlich.
Miles wirft ihr einen schnellen Blick zu, überrascht, dann lächelt er, als hätte er die Antwort schon geübt. „In unserem Haus. Am Stadtrand. Du wirst es lieben. Es ist… perfekt für uns beide.“
Unser Haus. Die Worte fühlen sich schwer an, fremd.
Als der Wagen schließlich in eine Auffahrt rollt, verschlägt es ihr für einen Moment die Sprache. Vor ihr erhebt sich ein modernes Anwesen, Glasfronten, klare Linien, ein Garten, in dem kein Grashalm fehl am Platz wirkt. Alles makellos, alles still. Kein Lachen, keine Stimmen. Nur Perfektion.
„Hier… hier wohne ich?“
Miles nickt und beugt sich zu ihr. „Hier gehörst du hin.“
Ein Schauer läuft ihr über den Rücken, und sie weiß nicht, ob er von Angst oder von der Kälte des Windes kommt.
***
Im Haus ist alles hell und groß. Der Duft von frischen Blumen liegt in der Luft, irgendwo tickt eine Uhr, zu leise, um tröstlich zu sein. Miles führt sie durch Räume, die aussehen wie aus einem Magazin: ein makelloses Wohnzimmer, eine Küche ohne Gebrauchsspuren, ein Schlafzimmer, das nach Parfum riecht, nicht nach Leben.
„Das ist unser Zuhause“, sagt er wieder, und er klingt stolz, fast zärtlich. „Du musst dich nicht anstrengen, Lisa. Alles ist hier, alles wartet nur auf dich.“
Sie geht durch die Räume, als würde sie eine fremde Bühne betreten. Jeder Gegenstand wirkt so sorgfältig arrangiert, dass es beinahe grotesk ist. Kein Staub, kein Chaos. Kein Hinweis auf ihr altes Ich.
Sie bleibt vor einem Regal stehen. Fotos in silbernen Rahmen. Sie selbst, in einem Sommerkleid, lachend neben Miles. Noch ein Bild – sie am Meer, Wind im Haar, seine Hand auf ihrer Schulter. Alles Szenen aus einem Leben, an das sie sich nicht erinnern kann.
Ihre Finger zittern, als sie ein Foto aufnimmt. „Das bin ich?“
Miles nickt. „Natürlich. Wir beide. Glücklich.“
Doch je länger sie das Bild betrachtet, desto mehr fühlt sie es: die Fremdheit. Die Frau dort sieht aus wie sie – aber ihre Augen lachen nicht.
Lisa stellt den Rahmen zurück. Ihre Brust zieht sich zusammen, ein stummes Pochen beginnt in ihrem Kopf.
„Es wird dauern“, sagt Miles leise, nah an ihrem Ohr. „Aber glaub mir: Du wirst dich wiederfinden. Und wenn nicht – dann fangen wir eben neu an.“
Sie antwortet nicht. Denn in ihrem Inneren wächst ein Gedanke, still und bohrend: Vielleicht war ich nie diese Frau auf dem Bild. Vielleicht will er, dass ich es werde.
***
Die Nacht im Haus fühlt sich an wie ein Test.
Lisa liegt im großen Bett, frisch bezogene Laken, ein Duft von Lavendel in der Luft. Miles hatte sie behutsam hineingeführt, die Vorhänge zugezogen, als wolle er ihr die Dunkelheit ersparen. Nun ist er verschwunden, irgendwo im Haus, vielleicht im Arbeitszimmer.
Doch sie hört ihn. Schritte auf dem Parkett. Ein leises Klirren von Glas. Türen, die geöffnet und wieder geschlossen werden. Dieses Haus ist riesig, und jeder Laut trägt sich wie ein Echo durch die Räume.
Sie zieht die Decke enger um ihren Körper. Ihre Augen starren in die Dunkelheit, bis sich Konturen formen: der Schrank, der Stuhl, der Spiegel gegenüber. Alles wirkt größer, bedrohlicher in der Nacht.
Irgendwann muss sie weggedriftet sein, denn plötzlich ist sie wieder mittendrin – in diesem scharfen, zu grellen Film in ihrem Kopf.
Ein Auto. Regen. Ihre Hände klammern sich um das Lenkrad. Das Licht der Scheinwerfer frisst sich durch den Nebel. Und da – ein Aufblitzen. Metall, Funken, ein Geräusch, das wie splitternde Knochen klingt.
Sie schreckt hoch, der Schrei bleibt in ihrer Kehle stecken. Ihr Herz rast, Schweiß klebt an ihrem Rücken. Der Spiegel gegenüber fängt ihr eigenes Gesicht auf: blass, die Augen weit aufgerissen, als hätte sie gerade den Tod gesehen.
Die Tür öffnet sich. Miles. „Alles gut?“ Seine Stimme ist leise, aber scharf vor Alarm.