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„Manchmal muss man alles verlieren, um zu erfahren, wer man wirklich ist.“ Seit dem Verschwinden ihrer Schwester lebt Elara in einem Zwischenraum – zerrissen zwischen Erinnerungen, die sie nicht greifen kann, und einer Welt, die mehr verbirgt, als sie je geahnt hat. Als sie dem rätselhaften Silas begegnet, verändert sich alles. Er kennt die Schatten, die sie verfolgen. Und er kennt die Wahrheit, vor der sie sich fürchtet. Doch Silas ist kein Held. Er ist Teil jener Macht, die das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit bedroht. Je näher Elara der Wahrheit kommt, desto tiefer wird sie in ein uraltes Spiel gezogen – aus Magie, Erinnerung und Verrat. Und während ihre Gefühle für Silas wachsen, muss Elara entscheiden, woran sie glaubt: an die Welt, wie sie war. Oder an die, die sie selbst erschafft. Ein poetischer Romantasy-Roman über Mut, Verlust – und die Entscheidung, für sich selbst einzustehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
NebelherzDie Erbin des verlorenen SchwursvonFinja Lindholm
Manchmal, ganz früh am Morgen, wenn der Nebel noch zwischen den Häusern hing wie vergessenes Flüstern, glaubte Elara, etwas zu hören.
Nicht Stimmen. Nicht Worte. Etwas Älteres. Etwas, das vibrierte wie ein längst verklungener Klang – tief in ihrem Inneren.
Sie lag oft wach, bevor der Tag begann. Lauschte dem Pochen ihres Herzens und fragte sich, warum es manchmal im falschen Takt schlug. Als würde es sich an etwas erinnern, das nicht mehr da war. An jemanden. An einen Moment.
Aber das war Unsinn.
In der Stille Stadt gab es keine Geheimnisse. Kein Gestern, das sich verstecken konnte. Kein Heute, das sich verstellen durfte. Seit dem Großen Schwur konnte niemand mehr lügen. Nicht mit Worten. Nicht mit Blicken. Nicht einmal mit Gedanken – wenn man den Ältesten Glauben schenkte.
Doch Elara hatte gelernt, zu zweifeln. Und Zweifel war in dieser Stadt gefährlich.
Der Tag, an dem alles begann, war einer wie jeder andere. Kalt. Leise. Durchzogen von diesem Nebel, der sich selbst nie ganz auflöste, sondern sich immer irgendwo festklammerte. An Fensterscheiben. In den Haaren. In Lücken zwischen Sätzen.
Elara war elf, als sie zum ersten Mal spürte, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
Es war bei der Schwurzeremonie.
Alle Kinder der Stadt mussten sie ablegen, sobald sie alt genug waren. Sie standen auf dem Kreis aus weißem Stein im Zentrum des Platzes, hoben ihre rechte Hand und sprachen den Schwursatz. Wort für Wort. Wahrhaftig. Ohne Spielraum. Danach war man Teil der Stille.
Elara erinnerte sich nicht an die Worte. Nicht genau. Nur an das Gefühl.
Als hätte man ihr die Zunge umwickelt. Als hätte jemand in ihrem Kopf einen Vorhang zugezogen.
Alle anderen hatten gelächelt. Ihre Eltern, ihre Schwester. Die Aufseher in Grau. Nur Elara hatte geweint.
Nicht laut. Nicht sichtbar. Nur innen.
Etwas in ihr hatte geschrien. Etwas, das nicht sterben wollte.
**
Sie fragte ihre Mutter danach. „Warum fühlt es sich falsch an?“
Doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf und sagte: „Es ist richtig, wenn du es oft genug wiederholst.“
Also wiederholte Elara den Schwur. Jeden Tag. Morgens, bevor sie in die Schule ging. Abends, wenn sie ihre Gedanken notierte – so, wie es vorgeschrieben war.
Doch das Gefühl blieb. Ein feiner Riss unter der Haut. Eine Erinnerung, die nicht sein durfte.
**
Die Träume begannen im selben Jahr.
Sie waren wie Nebel selbst – formlose Schemen, flackernde Bilder. Eine Hand, die sich löste. Augen, in denen kein Licht war. Eine Stimme, die sie rief, aber keinen Namen hatte.
Und immer war da dieser Ort.
Ein Raum voller Bücher. So alt, dass die Seiten beim Umblättern zu Staub zerfielen. Ein Junge mit blassen Fingern. Ein Schwur, der nicht ausgesprochen werden durfte.
Sie erzählte niemandem davon. Nicht ihrer Freundin Mirelle, nicht ihren Freunden. Schon gar nicht den Aufsehern.
Denn Träume waren gefährlich.
Träume waren der erste Schritt zur Erinnerung. Und Erinnerung – echte, freie, ungefilterte Erinnerung – war das, was der Schwur verbannt hatte.
**
„Vergangenheit macht schwach“, hatte ihre Lehrerin einmal gesagt. „Nur wer sich dem Jetzt unterwirft, ist Teil der Wahrheit.“
Aber Elara hatte das Jetzt nie ganz gespürt. Es fühlte sich an wie ein Lied ohne Melodie. Wie ein Text ohne Stimme. Und tief in ihrem Inneren brannte etwas – wie eine Frage, die nie gestellt werden durfte.
**
In jener Nacht, kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag, träumte sie zum ersten Mal von ihm.
Nicht verschwommen. Nicht als Schatten. Sondern klar. Greifbar. Unheimlich echt.
Er stand am Rand eines gefrorenen Sees. Das Eis spiegelte den Himmel, obwohl kein Stern zu sehen war. Der Nebel schlängelte sich um seine Beine wie ein vertrautes Tier. Und seine Augen waren grau. Nicht tot – aber leer. Wie ein Versprechen, das gebrochen wurde.
„Du erinnerst dich nicht“, sagte er.
Elara wollte antworten. Aber ihre Stimme war fort. Sie spürte, wie der Boden unter ihr vibrierte. Wie der Nebel dichter wurde. Und wie ihr Herz zu schnell schlug – nicht aus Angst.Sondern aus etwas, das schlimmer war.
Erkenntnis.
Dann wachte sie auf. Schweißgebadet. Das Laken klamm. Die Luft zu dünn.
Und auf ihrer Zunge lag ein Name. Einer, den sie nie gehört hatte. Einer, der in ihr nachklang wie ein Echo, das nicht vergessen werden wollte.
**
Am nächsten Morgen war der Nebel dichter als sonst.
Elara stand am Fenster. Die Straßen der Stillen Stadt waren leer. Kein Laut. Keine Bewegung. Nur diese milchige Masse, die die Häuser verschluckte und die Wahrheit dämpfte.
Sie hob die Hand. Zeichnete mit dem Finger ein Wort an die beschlagene Scheibe.
Silas.
Und obwohl sie nicht wusste, wer das war – wusste sie doch: Etwas hatte begonnen.
Etwas, das nicht mehr aufzuhalten war.
Man gewöhnte sich an vieles. An das schrille Signal, das jeden Morgen um sieben durch die Lautsprecher kroch. An die gleichen Schritte im gleichen Takt, mit denen die Menschen zur Arbeit oder zur Schule gingen. An das Schweigen, das schwerer wog als jede Lüge.
Elara stand auf, als das Signal ertönte. Wie immer. Nicht, weil sie musste – sondern weil sie sonst auffallen würde.
Und auffallen… war in dieser Stadt keine gute Idee.
Sie schob die Bettdecke zurück, ließ die Füße auf den kalten Boden sinken und verharrte einen Moment. Draußen war es noch dunkel. Der Nebel klebte wie schmutziger Atem an der Fensterscheibe. Ein Dienstag, vermutlich. Oder ein Mittwoch. Manchmal fühlten sich die Tage gleich an.
Sie zwang sich zum Aufstehen. Der Boden war kalt, die Luft still. Nur ihr Atem formte kleine Wölkchen vor ihrem Gesicht. Neben dem Spiegel hing der Schwursatz – eingerahmt in Holz, schlicht, grau.
„Ich wähle die Wahrheit. Ich entsage dem Schweigen in mir. Ich diene der Klarheit, solange mein Herz schlägt.“
Elara sagte die Worte nicht laut. Sie bewegte die Lippen – ohne Ton. So wie jeden Morgen.
Denn irgendetwas in ihr sträubte sich. Nicht gegen die Worte selbst – sondern gegen das, was sie bedeuteten.
**
Die Schule lag nur ein paar Minuten entfernt. Ein flacher Bau aus Glas und Beton, mit flimmernden Wahrheitszeichen an den Wänden. Sobald man durch das Tor trat, wurde jede Bewegung, jeder Satz, jedes Zögern registriert. Unauffällig – aber präzise.
Elara kannte das Spiel. Lächeln, nicken, die Regeln kennen. Nicht zu viel, nicht zu wenig.
Und auf keinen Fall lügen. Nicht einmal aus Versehen.
„Guten Morgen, Elara“, sagte eine Stimme, als sie über den Hof ging.
Sie drehte sich halb um. Es war Mirelle. Saubere Zöpfe, klarer Blick, perfekte Aufzeichnungen.
„Morgen“, antwortete Elara, und ihr Ton klang weich genug, um glaubhaft zu wirken.
Mirelle musterte sie kurz. „Du hast gestern nichts zur Analyse gesagt.“
„Ich hatte nichts beizutragen.“ Die Worte kamen automatisch. Zu schnell.
Mirelles Blick blieb für einen Moment auf ihr liegen, wie eine Waage, die prüft, ob etwas nicht stimmt.
Dann nickte sie. „Okay. Ich frag nur.“
Elara wandte sich ab, bevor ihre Hände zu zittern begannen. Sie hasste es, wenn jemand länger hinsah. Wenn jemand zu viel spürte.
Denn sie wusste nicht, wie lange sie noch durchhielt – diesen Drahtseilakt zwischen Wahrheit und etwas anderem, das immer größer wurde.
**
In der zweiten Stunde ging es um Wortstruktur und Wahrheitspsychologie. „Was unterscheidet Wahrheit von Absicht?“ Die Stimme von Aufseherin Delan war messerscharf, wie immer.Ihr Haar war zu einem Knoten gebunden, der aussah, als könne man daran das gesamte System aufhängen.
Elara schrieb die Frage auf. Nicht, weil sie sie beantworten wollte. Sondern weil sie wusste, dass alles notiert wurde.
„Die Absicht kann lügen. Die Wahrheit nicht“, sagte jemand.
Ein paar Köpfe nickten. Elara schwieg.
Sie dachte an gestern Nacht. An den Traum. Die Stimme, die ihren Namen gerufen hatte.Das Bild eines Jungen am Rand eines Sees. Und an das Wort, das sie heimlich geschrieben hatte. Silas.
Nicht laut. Nicht in Gegenwart anderer. Nur auf beschlagenem Glas, das längst wieder getrocknet war.
Und doch… fühlte sie sich seitdem anders. Unruhiger. Als hätte sich etwas geöffnet. Ein Spalt, kaum sichtbar – aber da.
**
In der Mittagspause setzte sie sich auf die Bank unter den Baum am hinteren Ende des Schulhofs. Dort war es ruhiger. Die Sensoren schwächer.
Sie holte ihr Notizbuch hervor – das, was sie offiziell führte. Saubere Seiten. Ordentliche Aufzeichnungen. Gedanken zur Wahrheitslehre. Persönliche Reflektion. Emotionale Selbstbeobachtung. Alles, wie vorgeschrieben.
Aber zwischen den Zeilen – da lebte etwas anderes.
Ein zweites Ich. Ein Ich, das Fragen stellte.
Was, wenn die Wahrheit nur eine andere Form von Kontrolle ist? Was, wenn die Erinnerung nicht gelöscht, sondern verschlossen wurde? Was, wenn das Schweigen nicht schützt – sondern einsperrt?
Sie blätterte vor. Hielt inne.
Auf einer Seite hatte sie, vor Wochen schon, ein Wort notiert, das nicht im offiziellen Vokabular vorkam.
Erinnerungsmagie.
Sie hatte es nachts geträumt. Oder erfunden. Oder… erinnert?
Elaras Herz beginnt zu pochen. Sie spürt, dass ihr innerer Widerstand wächst – gegen das System, gegen die vermeintliche Sicherheit der Wahrheit. Silas‘ Präsenz aus dem Traum hallt weiter. Gleichzeitig wirkt die äußere Welt kontrolliert, ruhig, aber unterschwellig bedrohlich.
**
Nachmittags regnete es. Feiner, gerader Regen – fast lautlos. Als hätte selbst das Wetter gelernt, sich anzupassen.
Elara saß am Fenster des Geschichtsraums, beobachtete die Tropfen, wie sie sich sammelten, wieder trennten, neue Bahnen zogen. Sie mochte das. Wie Wasser seinen eigenen Weg fand. Auch wenn man versuchte, es zu lenken.
„Ab heute haben wir einen neuen Schüler“, sagte Aufseher Teron, ohne aufzublicken. Ein Rascheln ging durch den Raum. Nicht laut – ein bloßes Innehalten im Denken.
Elara wandte den Blick vom Fenster ab. Sah auf. Und spürte es sofort.
Die Luft veränderte sich. Nicht greifbar. Nicht messbar. Aber spürbar.
Der Junge trat ein. Langsam. Fast träge. Sein Blick streifte niemanden. Seine Schritte waren lautlos. Sein Gesicht… blass, markant, verschlossen.
Und dann waren da seine Augen. Grau. Nicht leer – aber wie verschlossen. Wie Nebel, der nicht verschwindet, egal wie nah man tritt.