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Von der oft unerträglichen Entfernung zu denen, die uns am nächsten sind – und vom verzweifelten Wunsch, Liebe nachzuholen.
Ein erwachsener Sohn verliert seine Mutter. In den Wochen vor ihrem Tod gibt der Alltag den Rhythmus vor: es wird gekocht, auf Krankenhausfluren gewartet, gehofft und getrauert. In den Alltag schleichen sich Geschichten, Die, die immer erzählt wurden, und die, die dahinter durchschimmern. Was weiß der Sohn, in Deutschland zu Hause, von der Jugend seiner Mutter in der Türkei? Während Anil und seine Familie in der Gegenwart versuchen, zu begreifen, welchen Einfluss der nahende Tod ihrer Mutter auf sie hat, sucht Mürüvvet, die Frau, die seine Mutter einmal gewesen ist, im westtürkischen Aydin 1973 nach Wegen ins Leben. Inmitten politischer Umstürze gibt sie alles, um ihren Vater davon abzuhalten, sie nach Deutschland mitzunehmen. Sie fürchtet um ihre Träume, bis der Gedanke an Deutschland sie nicht mehr loslässt.
Ein Roman über einen Abschied aus der Türkei und einen Neuanfang in Deutschland, über die oft unerträgliche Entfernung zu denen, die uns räumlich am nächsten sind – und über den verzweifelten Wunsch, Liebe nachzuholen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Fikri Anıl Altıntaş
Zwischen uns liegt August
Roman
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Widmung
1. AKŞAMA DOĞRU – «Gegen Abend.»
11:47 Uhr an der Lahn
Eins
Zwei
Aydın, 8. August 1973
Aydın, 9. August 1973
Drei
12:31 Uhr an der Lahn
12:47 Uhr an der Lahn
Vier
Fünf
13:03 Uhr an der Lahn
Sechs
Aydın, 10. August 1973
13:42 Uhr an der Lahn
Sieben
Aydın, 13. August 1973
13:55 Uhr an der Lahn
2. DAHA ÇOK ERKEN – «Es ist noch viel zu früh.»
Acht
13:59 Uhr an der Lahn
Aydın, 15. August 1973
Neun
Zehn
Paris
Reeperbahn
Westerland
Aydın, 25. August 1973
Frühstückshaus
Himmelfahrt
Aydın, 27. August 1973
Aydın, 2. September 1973
15:01 Uhr an der Lahn
Bauchspeicheldrüsenkrebs
Elf
15:47 Uhr an der Lahn
3. BİRAZDAN – «Bald.»
16:12 Uhr an der Lahn
Aydın, 29. September 1973
İzmir
Zwölf
Treusein
Türkiye
16:47 Uhr an der Lahn
Dreizehn
Aydın, 3. Oktober 1973
17:12 Uhr an der Lahn
Aydın, 13. Oktober 1973
Gecekondu
Aydın, 30. Oktober 1973
4. GELMEK ÜZERE – «Unterwegs.»
Vierzehn
Aydın, 20. November 1973
17:53 Uhr an der Lahn
Aydın, 11. Dezember 1973
Aydın, 2. Januar 1974
5. AĞUSTOS KAPIYI ÇALDI – «August klopft an die Tür.»
18:43 Uhr an der Lahn
Begrüßung
Vorspeise
Hauptspeise
Nachspeise
Danksagung
Zum Buch
Vita
Impressum
Canım Annem.
1.
«Gegen Abend.»
Zu deinem Geburtstag habe ich dir deine Lieblingsblumen mitgebracht: einen Strauß mit pinkfarbenen und tiefroten Rosen. Durch die Haustür erkenne ich die Konturen deines Oberkörpers: Ein großer, schwarzer Fleck mit blauen Sprenkeln, das muss deine selbst gestrickte Weste sein. Du öffnest die Tür und gibst mir einen Kuss auf die Wange. Deine Hand halte ich sanft gegen meine Stirn. Du bist meine Mutter, ich kenne es nicht anders.
«Canım oğlum, çok teşekkür ederim. Eline, ayağına sağlık.»
Die weiße Tüte lege ich in das Ablagezimmer, das in der Vergangenheit Opas Zimmer war.
Ich bin heute früh aufgestanden, damit ich nicht zu spät ankomme. Du beginnst den Tag gerne mit mir. Wenn ich erst nach dem Frühstück da bin, sehe ich dir die Enttäuschung an. Ihr frühstückt meistens zwischen 10:00 und 11:00 Uhr. Am Telefon beschwerst du dich oft darüber, dass Baba so spät ins Bett geht, weil er auf seinem Handy bis in die Nacht Videos von Polit-Talkshows oder Konzerten auf Facebook anschaut, während parallel der Fernseher läuft. Zeitung liest er kaum noch. Damit du deine Ruhe hast, gehst du früher ins Bett.
Die Tür zum Wohnzimmer steht weit auf. Der Fernseher ist wie gewohnt zu laut. Dramatische Streichmusik im Hintergrund, ich höre Gesprächsfetzen von Nachrichtensprechern des oppositionellen Sözcü TV:
«ÇOK SAYIDA ÖLÜ VAR. CUMHURBAŞKANI ULUSAL YAS İLAN ETTİ. ÜLKE ŞOKTA. BUNA ALIŞMAMALIYIZ. TÜM SORUMLULARA SESLENİYORUM: ARTIK BU DEHŞETE BİR SON VERİN, YETER ARTIK.»
«ES GIBT MEHRERE TOTE. DER PRÄSIDENT RUFT STAATSTRAUER AUS. DAS LAND STEHT UNTER SCHOCK. DARAN DÜRFEN WIR UNS NICHT GEWÖHNEN. ICH APPELLIERE AN ALLE VERANTWORTLICHEN: SETZT DIESEM SCHRECKEN ENDLICH EIN ENDE, WIR HABEN GENUG.»
Baba ist mit allen einkaufen, sie kommen am frühen Abend zurück. Davor wollen sie ins Haus meiner Schwester, das Bad und die Küche müssen fertig renoviert werden. Zum Glück bin ich erst jetzt angekommen, sonst hätte ich mitgehen müssen. Du weißt, dass Handwerken mit Baba nie meine Sache war.
Heute hättest du wieder nicht durchschlafen können, sagst du, dein Magen mache dir Probleme, als du dich kurz auf den Stuhl in der Küche setzt. Ich umarme dich ein zweites Mal, du drückst deinen schwachen Körper an meine Brust. Auf dem Tisch hast du Çaygläser vorbereitet. Ich traue mich kaum, dir zu sagen, dass ich morgen schon weitermuss. Eine Lesung in Süddeutschland, das verstehst du sicher.
«Schade.»
«Ich weiß. Ich würde auch lieber länger bleiben. Aber dafür machen wir uns heute einen schönen Abend, tamam mı?»
«Tamam.»
Du drehst deinen Kopf weg, atmest laut vor dich hin und läufst ein paar Schritte. Ich weiß nicht, ob du enttäuscht bist oder angestrengt. Dieser Tage ist das schwer zu sagen.
Das Wetter im August hat noch nie enttäuscht, sagst du, selbst hier in Deutschland. Die Sonne scheint, es ist keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Zu deinem Geburtstag kommt die ganze Familie zusammen, wie du es wolltest. Die Liste der Zutaten für das Abendessen hat Defne in großer Schrift aufgeschrieben und auf den Glasschrank neben dem Herd geklebt, sodass es von jedem Punkt der Küche gut lesbar ist:
ZUTATEN FÜR Mantı. 500 g Mehl. 1 Ei. 1 TL Salz. Für die FÜLLUNG: 250 g Hackfleisch, Rind und Lamm gemischt. 1 Zwiebel. 2 EL Petersilie (glatt). Salz und Pfeffer und Paprikapulver. Für die SAUCE: 750 g türkischen Joghurt. 3 Knoblauchzehen. 3 EL Butter. 2 EL Paprikamark (scharf!). 1 EL Minze, getrocknet.
Wie schön, sage ich, Defne hat alles vorbereitet. Ich frage dich, ob du den Zettel gesehen hast.
«Ich weiß, wie man Mantı macht. Ich brauche kein Rezept.»
«Ist das so?»
«Tabii Anıl. Den Teig habe ich heute Morgen schon vorbereitet. Kümmere du dich um das Hackfleisch. Die Petersilie liegt im Kühlschrank.»
Du setzt dich an den Tisch, ziehst das Geschirrtuch zur Seite und greifst aus der weißen Plastikschale eine Handvoll Teig. Daneben liegt eine Aluminiumschale für das Hackfleisch bereit. Der Holzstuhl, auf dem du sitzt, hat schwarze Beine und eine helle Sitzfläche. Nach dem Umzug haben wir alles neu in der Küche gekauft, nur die Stühle wolltest du aus der alten Wohnung behalten. Du greifst mit deiner linken Hand in den Weizenmehlbeutel und wirfst eine Prise Mehl auf den Teig. Ich gehe zum Kühlschrank, hole die Petersilie heraus und werfe dabei einen Blick in die Küche: Nichts hat sich verändert, seit wir von deiner Krankheit wissen. Der Esstisch lehnt an der Wand, gegenüber die u-förmige Küchenzeile mit zwei großen Fenstern, die einen Blick in den Garten unserer Nachbarn eröffnen. Der Wasserkocher steht noch immer rechts neben der Spüle im Eck, der Mini-Backofen links neben dem Herd daneben. Der Fernseher links der Tür auf dem kleinen Vorsprung neben dem Airfryer, den ich dir vor ein paar Wochen erst kaufte, weil ich euch das Kochen erleichtern wollte. Es hat sich kaum etwas verändert. Und doch veränderten sich unsere Wege in diesem Raum. Du bist seltener in der Küche; Baba, Defne und ich hingegen öfter. Den Teig hast du inzwischen ausgerollt, und als ich es bemerke, berührt mich, wie vollkommen die Fläche noch immer aussieht. Keiner von uns kann das wie du. Während ich den Gedanken fasse, hast du schon angefangen, erste Quadrate aus dem flachen Teig auszuschneiden. Das Rezept sagt, dass man nicht zu viel Hackfleisch in den Teig verarbeiten soll.
12:00 Uhr würdest du sagen, es ist 11:47 Uhr. Mein Koffer steht noch im Flur. Ich wollte ihn hoch in mein Kinderzimmer tragen, aber du sagtest, dass wir erst alles vorbereiten sollten. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Einen Zeitpunkt für das Abendessen haben wir nicht festgelegt, ich weiß aber, dass 18:30 Uhr eine gute Zeit für dich ist. Unsere deutschen Nachbarn essen schon früher, gegen 18:00 Uhr, wie sie wollten wir jedoch nie sein.
Jeder deiner Griffe und Bewegungen ist mir vertraut. Ich weiß, wann du das Nudelholz vom Teig hebst und wieder eindrückst. Wann du kurz aufhörst und aufstehst, weil dir ein Gedanke gekommen ist. Dass du mich gleich dazu auffordern wirst, den Brotkorb vom Tisch zu nehmen, damit wir mehr Platz zum Ausrollen des Teigs haben. In deiner Schürze mit den Blumenmustern schneide ich die Petersilie für das Hackfleisch. Das Rezept sagt, ich solle sie so klein wie möglich schneiden. Sogar das Messer schärfe ich vor deinen Augen. Ich stehe wie ein Küchenchef an der Spüle, schaue bedächtig aus dem Fenster und ziehe das kleine Messer über den Wetzstein. Heute will ich dir zeigen, dass ich dir in der Vergangenheit zugehört habe. Es interessiert dich nicht mehr, ich verstehe das. Ich fülle dein kleines Glas mit stillem Wasser auf. Deine Hand lässt du in kreisenden Bewegungen kurz über deinen Bauch gleiten. Als ob ich nicht wüsste, dass du Bauchschmerzen hast. Gerade hast du keinen Durst. Ich verstehe, sage ich, aber später trinkst du was, ja?
«Tamam, tamam.»
Ich will den Sender wechseln, sicherlich laufen Fußballspiele im Fernsehen. Du drehst dich um und sagst: «Nein. Ich schaue Derya!» Derya teilt vormittags Häkeltipps und Kochrezepte im Hauptprogramm von TV8. Sie scheint die einzige Person zu sein, mit der du Zeit verbringst, wenn Baba nicht zu Hause ist.
Pünktlich um zwölf lässt die Uhr über dem Wasserkocher zwölf Mal ein kurzes Vogelgezwitscher erklingen. Auf der Arbeit würde ich jetzt Mittag machen, sage ich dir und versuche, dir ein Lächeln zu entlocken. Dein Blick bleibt am Teig hängen. Du sagst, ich solle das Hackfleisch zu Ende mischen. Wir brauchen Platz auf dem Tisch.
Wir sitzen im Auto auf dem Weg zu meiner Schwester. Baba fährt, ich sitze auf dem Beifahrersitz. Es ist Ende November 2022, die Straßen sind nasskalt. Defne wohnt eine kurze Autobahnstrecke entfernt. Am Straßenrand weiden Kühe, rechts fahren wir am Fußballfeld der SG Kinzenbach vorbei, in der Ferne stehen sich Burg Gleiberg und Burg Vetzberg gegenüber. Bis zur Autobahnauffahrt sind es viele Kurven, du, hinten links hinter Baba, hältst dich am Griff über dem Seitenfenster fest, weil es dir zu schnell geht. Heute nicht. Du bist diese Strecke oft gefahren, weil du deinen Enkel vermisst. Manchmal glaube ich, du brauchst ihn mehr als wir alle, um an das Leben zu glauben.
Im Krankenhaus hat man uns vor einer Stunde mitgeteilt, dass du an Krebs erkrankt bist. Die Ärzt:innen sagten, dass es keine leichte Zeit werden würde. Sie gaben uns einen Diagnosebescheid, blaue Info-Broschüren über «Leben mit Krebsdiagnose» und die Visitenkarte des behandelnden Arztes der Onkologie mit. In ein paar Tagen wirst du ins Krankenhaus zurückkehren, deine Chemotherapie fängt an.
Das Autofenster ist einen Spalt offen, und du schaust hinaus, den Mund einen Moment lang geöffnet, als ob du die frische Luft zwischen deinen Zähnen noch einmal spüren willst – wie das Essen, das dir nicht mehr bekommt. Ich drehe meinen Kopf Richtung Fenster, weg von Baba und dir. Meine Tränen wische ich weg, damit du es nicht mitkriegst. Und Baba nicht auch anfängt.
Auf Spotify suche ich die Lieder deiner Jugend. Erkin Koray, Moğullar, MFÖ. Du lehnst deinen Kopf leicht nach vorne und legst ihn auf der Kopflehne ab, ich drehe die Lautstärke auf. Du nickst langsam mit. Für einen kurzen Moment schließt du deine Augen und wirfst mir ein Lächeln nach vorne. Baba hat keine Ahnung von westlicher Musik, sagst du. Er lächelt für einige Hundert Meter mit. Es fühlt sich wie Hoffnung an. In deiner Jugend hast du zu den Liedern getanzt, in Aydın, mit deinen besten Freundinnen. Ich kenne das Bild, du bist die Schönste auf diesem kleinen Stück schwarz-weißem Papier, das Baba in seinem Geldbeutel mit sich trägt. Du hast volles, lockiges Haar und trägst einen schwarzen Einteiler, schwarze Mokassins und ein weißes Tuch um deinen Hals. Dein Lächeln legt sich wie die Sonne auf die grauen Häuser in der Nachbarschaft. Ich glaube, sowohl Baba als auch ich sehnen uns in diesem Moment nach deiner Jugend, weil du noch so viel vor dir hast. Du singst leise mit, bis kurz bevor wir bei meiner Schwester ankommen.
Als Baba vor dem Haus parkt, wartet dein Enkel schon am Eingangstor auf dich und ruft abwechselnd
Oma! Oma! Anneanne! Anneanne!
Sein Blick gilt nur dir. Wir kommen häufig zu Besuch, das ist alles nicht neu für ihn. Er ist zu jung, um zu verstehen, welche Welt hier gerade ins Wanken gerät. Ich biete dir an, mich bei dir einzuhaken und dich zur Tür zu begleiten. Du sagst, das ginge schon. Dein Gesicht verändert sich, als du Tamer siehst.
Anneannesinin gülü. Du fragst, ob er Hunger hat.
Defne hat Hähnchengeschnetzeltes gekocht, mit Reis und einem kleinen Bauernsalat: Kopfsalat mit Tomaten, Gurken, Zwiebeln und Granatapfelsirup, eine türkische Variante. Die Bauern, die wir in der Türkei kennen, machen ihren Salat auf dem Dorf genauso, also muss es ein Bauernsalat sein. Baba fängt an zu essen, bevor alles auf dem Tisch steht. Ich warte geduldig, bis alle einen großen Löffel vom Hähnchen bekommen. Defne setzt sich als Letzte hin. Um gemeinsam mit Tamer zu essen, hast du dich an den Rand der Sitzecke gesetzt. Du hörst ihm zu, im Kindergarten ist viel passiert.
Eline sağlık, kızım. Das Essen schmeckt sehr gut, sagen wir alle nacheinander. Unsere Blicke sind heute ruhig. Sie verlieren sich auf den pinken Tellern.
Die Bodenbeläge in der Onkologie sind blau gestrichen. Das ist eigentlich keine Krankenhausfarbe, aber gerade passieren viele unerwartete Dinge. Die Farbauswahl passt immerhin zum November. Baba, Defne, du und ich warten vor dem Büro des Ärzt:innenteams. Jeden Moment kommen die Ergebnisse der Tumorkonferenz. Unsere Köpfe Richtung Boden. Dein Blick richtet sich fest an die Wand.
In den nächsten Monaten werden unterschiedliche Maßnahmen angewendet, sagt man uns. Je nach allgemeinem Zustand, Blutwerten und abhängig davon, wie die Therapie anschlägt. Das sei keine einfache Situation, wichtig sei jetzt, Ruhe zu bewahren und die Mutter, so gut es geht, zu unterstützen. Die Ärzt:innen bemühen sich um mitleidige Gesichter und verständnisvolle Stimmen. Das ist ihr Job, ich kann es ihnen nicht abnehmen, das ist meine Rolle. Alle drei Wochen wirst du in die Klinik kommen müssen, um ein paar Tage zu bleiben. Wir nicken verständnisvoll, haben lauter Fragen, die wir nicht stellen. Das Zimmer steht bereit, die Schwestern warten darauf, dich mitzunehmen. Das Treffen dauert zehn Minuten.
Deine mitgebrachte Kleidung räume ich in den Spind, erkläre dir geduldig, wo du alles findest. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass du sie aus eigener Kraft anziehen kannst. Du beobachtest meine Schritte im Raum. Ich mache mehr als nötig, weil mir die Orientierung fehlt. Du fragst, wie meine Reise war und ob ich schon gegessen hätte. Ich setze mich kurz auf den Stuhl neben deinem Bett. Von hier aus hat man einen Blick über die ganze Stadt, sogar die Johanneskirche, die unweit meiner alten Schule liegt, ist deutlich zu erkennen. Ich streichle deine Haare. Du lächelst mich an. Dein Versuch, mich zu beruhigen, schlägt fehl.
İyi olacağım. Merak etme.
Ich werfe dir zum Abschied ein Küsschen hinter meiner FFP2-Maske zu.
Als wir die Tür des Krankenzimmers schließen, laufen Baba und ich gemeinsam zum Aufzug. Wir greifen gleichzeitig nach der Taste zum Erdgeschoss. Meine Hand ist schneller, ich habe mich in die Nähe gestellt. Er hat einen unsicheren Gang. Ich sehe das an seinem Fuß, der sich schwerer abrollt als sonst, als er sich an das andere Ende des Fahrstuhls positioniert. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich die Tür von selbst schließt. Die übrigen Fahrgäste schauen in gerader Linie auf die Wand. Sie lassen uns in Ruhe, obwohl alle hier im Raum viel Gesprächsbedarf hätten. Er dreht sich weg von den Gesichtern und dem Spiegel. Sein Blick gehört heute nur dir. Er hat Hoffnung. Sogar seinen hellbraunen Hut mit schwarzem Band hat er aufgesetzt, auch er will sich von seiner besten Seite zeigen.
Auf der Autofahrt ins Krankenhaus brach mein Vater in Tränen aus, obwohl er bei jeder Gelegenheit vermied, vor uns zu weinen. Er ist ein stolzer Mann. Einer, der oft gebrochen wurde und viele Scherben seines Herzens unaufgekehrt auf dem Boden liegen gelassen hat. Die Diagnose traf sein schwaches Herz mit einer Wucht, die wir Kinder nicht aufhalten konnten. Als mein Großvater in unserem Haus starb, hätte er sich niemals ausgemalt, dass Krankheit unser ständiger Begleiter werden würde. Wir wollten mit Krebs nie etwas zu tun haben, aber Krankheiten sucht man sich nicht aus, sie kommen einfach, erinnerten uns die Ärzt:innen. Mein Vater hatte der Aussage nichts entgegenzusetzen. Er schwieg, weinte, fuhr in Schlangenlinien die Bundesstraße auf und ab. Im Parkhaus angekommen, sagt er, dass sein Gegenstück schwach und verletzt ist. Wir alle müssen nun Zuversicht und Stärke ausstrahlen. Manchmal wünschte ich mir, er würde erkennen, dass Stärke nicht immer die Lösung ist. Er selbst schwach und verletzt ist, wir alle in uns selbst aufkehren müssen, um sich an Scherben nicht zu schneiden.
Im Aufzug bleibt mein Vater beharrlich. Lässt meinen festen Griff an seine Schulter ins Leere laufen. Mama ist hoffnungsvoll, also bleiben wir es auch, sage ich ihm, aber seine Tränen haben ihn fest im Griff. Bis wir das Erdgeschoss erreichen, lege ich meinen Arm um seine Schultern. Kurz bevor wir ankommen, gibt er dem Widerstand nach und lehnt sich an meine Schulter. Die Tür geht auf, wir wischen uns die Tränen mit unseren Jackenärmeln weg. Ein älteres Paar wartet darauf, in den Aufzug zu steigen.
Mürüvvet beugte sich über das niedrige Balkongeländer und schaute hinunter auf den Bürgersteig, wo ihre Freundin Efsun zwischen den neuen, weißen Murat Tofaş 124 stand. «Die gehören den Besitzern des dreistöckigen Hauses gegenüber», verriet sie ihrer Mutter. Die hätte Mürüvvet am liebsten festgehalten, wie immer, wenn sie auf dem Geländer stand und dessen Gefahr unterschätzte. «Besitzer von Hochhäusern fahren keinen Fiat, sondern Mercedes», entgegnete sie.
Mürüvvet hielt ihre linke Hand fest am Geländer und lehnte sich ein wenig vor, um Efsun fröhlich mit ihrer rechten Hand zu winken. Efsun rief laut in ihre Richtung: «Sana anlatacak şeylerim var!»
«N’oldu? Was ist passiert?»
«Ich habe ein Geschenk für dich!»
«Für was?»
«Für deinen Geburtstag!»
Das Wetter war kühl, die Nacht war unruhiger als gewöhnlich gewesen. Mürüvvet vergaß für einen kurzen Moment, wieso sie an diesem Tag früh aufgestanden war. Reflexartig antwortete sie Efsun, dass sie sich keine Mühe hätte machen müssen. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Efsun deutete mit ihrem Zeigefinger auf die Eingangstür des verrosteten, weißen Türbogens. Mürüvvets Wangen strahlten vor Vorfreude.
Efsun und Mürüvvet waren seit dem Kindergarten unzertrennlich. Ihre Wege waren immer parallel verlaufen. In der Schule hielten sie sich ihre Plätze nebeneinander frei. Als Efsuns Eltern vor einiger Zeit einen Garten mit Orangenbäumen außerhalb der Stadt kauften, überzeugte Mürüvvet ihre Mutter, dass Spaziergänge an der frischen Luft eine gute Freundin für sie wären, ein Ersatz, wenn ihr Vater schon abwesend war. Das Grundstück lag direkt neben dem von Efsuns Familie, und die beiden Mädchen verbanden bald viele Erinnerungen. Zu ihrem Geburtstag hatte Efsun ihr früher in der Schule ein rotes Samtband, bunt verzierte Stifte und sogar eine kleine Lederhandtasche mit einem Fach für den Haustürschlüssel geschenkt. Alle Geschenke hatten ihren Platz in Mürüvvets Zimmer, wie Trophäen ihrer Freundschaft lagen sie verstreut in ihrem Raum. Heute, an ihrem Geburtstag, wollte Efsun das Geschenk nicht wie üblich in der Schule übergeben.
Mürüvvet hörte Efsuns Schritte, die die Treppen zur Wohnung hochliefen. Und das künstliche Vogelgezwitscher der Klingel, die Efsun gedrückt hatte, weil sie wusste, dass Mürüvvet das Vogelgezwitscher gerne hörte. Die Haustür stand offen, die warme Luft strömte in die Wohnung. Mürüvvets Mutter ließ abends gerne durchlüften, um in der Nacht angenehmer schlafen zu können. An der Westküste war es in den Sommermonaten besonders heiß. Ihre Wohnung war neu errichtet, genau wie das gesamte Haus, in dem Mürüvvet mit ihrer Mutter und ihren zwei jüngeren Brüdern wohnte. Es war das neueste in der Nachbarschaft hier in der 1995. Straße im Zentrum von Aydın. Die Schule, die Innenstadt, das Krankenhaus und der Basar waren fußläufig erreichbar. Eine Ordnung, in der sich Mürüvvets Familie gerne bewegte.
Vor sieben Jahren, kurz bevor Mürüvvets Vater für die Arbeit nach Deutschland ging, wurde das Gebäude von der Stadt in Auftrag gegeben, wobei die Bauarbeiten wegen der Unruhen 1971 unterbrochen worden waren. Ihr Vater hatte über Freunde – das passierte oft – erfahren, dass eine neue Wohnung frei wurde: zentrale Lage, vier große Zimmer und ein Balkon mit Blick über die Stadt. Er schlug sofort zu, denn solche Möglichkeiten kamen selten. Seit einigen Jahren lebte Mürüvvet dort. Aus der kleinen Wohnung am Rand der Stadt, an der Landstraße Richtung Çine, mussten sie dringend raus. Mit drei jugendlichen Kindern war der Raum zu klein geworden.
Mürüvvets Mutter träumte damals schon von der Innenstadt, von einem Leben in der Menschenmenge. Ihre Yörük-Eltern waren regelmäßig umgezogen, aber mit dieser Gewohnheit wollte sie für Mürüvvet und ihre Brüder brechen. Endlich hatten sie ihre Traumwohnung bekommen, und sie wurde nicht müde, Mürüvvet zu erzählen, wie gerne sie dort lebten. Mit dem Geld, das ihr Vater monatlich aus Deutschland schickte, richtete ihre Mutter die Wohnung nach ihren Vorstellungen ein, ihr kleines Paradies inmitten von brüchigen Hochhäusern.
Im Möbelhaus İstikbal suchte sie sich neue Möbel aus: eine blaue, ausziehbare Couch für Gäste, mahagonifarbene Tische mit goldenen Verzierungen und stabile Betten aus Massivholz mit weichen Matratzen. Mürüvvet bemerkte, wie sehr ihre Mutter das Einrichten liebte, und auch wenn sie es nicht zugab, fand sie Freude daran, ihr dabei zuzuhören. Denn wenn ihre Mutter glücklich war, übertrug sich dieses Glück auf sie.
Mürüvvet hielt sich an die Regeln. Sie war keine Tochter, die über die Stränge schlug. Als ihr Vater nach Deutschland ging, hatte sie ihm versprochen, eine gute Tochter zu sein, und an dieses Versprechen hielt sie sich. Ihre Mutter erwartete das von ihr, denn ohne ihren Vater war sie eine der wenigen Personen, die ihrer Mutter zuhörte, während sie sich über die Schwierigkeiten des Lebens in diesem Land beschwerte. Oft genug weinte ihre Mutter draußen am Balkon, wenn sie dachte, ihre Brüder seien schon im Bett und Mürüvvet mit den Hausaufgaben beschäftigt.
Ersetzen konnte sie den Vater nicht. Bei der Geburt ihrer Brüder war sie bereits sechs Jahre alt. Sie wünschten sich, dass ihr Vater sie ab und zu zum Fußballspielen begleiten würde. Mürüvvets Beziehung zu den beiden beschränkte sich auf die Notwendigkeiten des Alltags. Sie übernahm die Verantwortung dafür, dass beide regelmäßig zur Schule gingen. Manchmal musste sie ihnen mit ihren Launen helfen und sie davon überzeugen, nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen, indem sie sich im Viertel auf die Suche nach den beiden machte. Sie war es gewohnt, Machtworte zu sprechen. Dass ihr Vater nach Deutschland gegangen war, als sie gerade elf Jahre alt war, ließ ihr keine andere Wahl. Doch dieser Abend sollte sie von jeglichen Verpflichtungen befreien.
Mürüvvet bemerkte Efsuns Gang im Treppenhaus. Ein lautes Tapsen ersetzte das gewohnte Hochschlendern. Mürüvvet hörte Efsuns Schritten Vorfreude an. Sie zog an der Türschwelle ihre Schuhe aus und schaute zuerst nach rechts ins Wohnzimmer, bis sie Mürüvvet am Balkongeländer stehen sah. Efsun begrüßte Mürüvvets Mutter mit einem «Merhaba, Münevver Teyze», überreichte ihr einen Korb mit frischen Feigen, die ihr Onkel selbst anbaute. Die Erntezeit hatte begonnen. Efsuns Garderobe fiel Mürüvvet sofort auf. Sie trug einen kurzen schwarzen Rock mit schwarzer Strumpfhose und eine helle, durchsichtige Bluse, die sie gestern auf dem Basar des Bulvar gekauft hatte. Dazu hatte sie ihre schwarzen Ledersandalen an, die sie in einem Laden gegenüber der Karanlık-Steinbrücke zwischen Zafer-Viertel und Ramazan-Paşa-Viertel im Stadtteil Pınarbaşı gefunden hatte. Mürüvvet hatte die Sandalen schon länger ins Auge gefasst, doch Efsun hatte sie zuerst gekauft. Nachkaufen, wollte Mürüvvet ihrer Mutter heute Morgen sagen, wäre trotz enger Freundschaft eine Grenzerfahrung. Sie umarmte Efsun lange, gab ihr zwei Küsschen auf die Wangen und hielt ihre Hände fest. So hatten sie es schon seit ihrer Kindheit gemacht, weil sie das bei ihren Müttern gesehen hatten. Schließlich ließen sie langsam los, und Efsun wühlte in ihrer Handtasche. Aus dem Augenwinkel sah Mürüvvet ein Stück Papier, das sie nicht erkennen konnte. Efsun zog eine Karte heraus und strich sie Mürüvvet abwechselnd leicht über ihre linke und rechte Wange, als wäre sie eine Hochzeitstänzerin, die Geld von fremden Leuten entgegennimmt. Verwirrt drückte Mürüvvet Efsuns Hand weg und griff nach dem Papier. Als sie den Namen «Erkin Koray» las, vibrierte es in ihrem Bauch. Es waren Tickets für das Konzert heute Abend auf dem Platz der Republik, ein Konzert, über das die gesamte Schule seit Wochen sprach. Sie warfen sich ein strahlendes Lächeln zu, und Mürüvvets Augen funkelten vor Freude. Sie umarmten einander fest, und es war, als ob ihre Welten ineinanderflossen, Efsun fügte einen weiteren Wangenkuss hinzu. Mürüvvet war sich sicher: Das würde einer der besten Abende ihres Lebens werden. Für einen kurzen Augenblick überkam sie der Gedanke an die Ticketpreise. Zu teuer seien die Karten. Das wäre nicht nötig gewesen. Doch Efsun strich ihr beruhigend über die Schulter und versicherte, es sei mit ihren Eltern abgesprochen. Ihr Vater habe eine Zusatzzahlung von seinem Arbeitgeber erhalten; bei Aydın Tekstil liefen die Geschäfte wieder besser. Mürüvvet suchte und fand den klärenden Blick ihrer Mutter.
«Wenn Adnan Menderes eine Sache für Aydın getan hat, dann die Errichtung der Fabrik im Norden der Stadt», hielt ihre Mutter fest.
Mürüvvet kannte Menderes – immerhin waren unzählige Straßen, Parks und Schulen nach ihm benannt. Doch für Politik hatte sie an ihrem Geburtstag keine Zeit. Sie winkte den Kommentar ihrer Mutter ab.
Auf ihr Drängen tranken beide einen Çay. Efsun forderte Mürüvvet auf, sich schnell anzuziehen. Wenn sie in zehn Minuten nicht loskämen, würden sie zu spät zum Konzert sein. Mürüvvet versprach Efsun, ihr Bestes zu geben. Mit niemand anderem ging sie lieber aus als mit Efsun: zu den Festen in der Stadthalle, wo sich alle Jugendlichen trafen, um zu tanzen, und um neue Platten im Laden von Mehmet Topçu im Güzelhisar-Viertel zu kaufen.
Efsun zog Mürüvvet mit sich, und gemeinsam spannten sie Linien durch ihr Leben, an denen sie sich in der Stadt orientierten.
Heute würden sie sich nicht verspäten, dachte Mürüvvet, während sie ihrer Mutter einen hastigen Kuss auf die Stirn gab. Sie präsentierte Efsun im Treppenhaus ihre Garderobe: einen schwarzen Einteiler, graue Strümpfe, schwarze Mokassins und ein weißes Tuch um ihren Hals. Ihr Mantel war in der Wäsche; sie griff nach dem ihrer Mutter. Um 22:00 Uhr mussten sie zurück sein, mahnte ihre Mutter, «oder früher, falls der Strom wieder ausfallen sollte».
Es war Freitagabend, fünfundzwanzig Grad – für Aydın ein kalter Tag. Man sagte sich in der Stadt, dass, wenn an solchen Tagen die leichte Brise blieb, die Abende nicht mehr heiß würden, sondern auf leisen Sohlen dem Herbst entgegengingen.
Aydın versank in der abendlichen Sommersonne in eine treibende Ekstase. Mittags drängte die Hitze die Menschen in ihre eigenen vier Wände, mit dem Abend stieg die Geräuschkulisse ins Unermessliche. Familien saßen auf ihren Balkons, das Geräusch von klirrendem Geschirr hing über den Straßen. Die Tagelöhner, die auf den Weizen- und Wollfeldern außerhalb der Stadt arbeiteten, kehrten in ihre Häuser zurück. Es schien, als würde der Tag für die Stadt erst beginnen, wenn der blaue Himmel sich in ein tiefdunkles Schwarz übertrug.
Das Konzert fand nur fünfzehn Gehminuten von ihrer Wohnung entfernt statt. Mürüvvet und Efsun joggten los, gingen unter dem Gebäudekomplex hindurch, der die Seitenstraßen mit dem Boulevard Vali Konağı verband. Tevfik Amca, der Schneider, der seinen Laden in der Unterführung hatte und ein enger Freund der Familie war, fragte, ob sie ebenfalls zum Konzert gingen.
«Tabii, Amca», riefen sie ihm zu und grüßten ihn mit einer herzlichen Handbewegung. Gegenüber dem Adnan-Menderes-Krankenhaus sah Mürüvvet, dass sich eine große Menschenmenge versammelte. Die Straßen waren in Aufruhr: Junge Menschen stellten sich der Geräuschkulisse des Abends entgegen. Es war wie Festtagsstimmung, als ob das Fußballderby zwischen Aydınspor und Altınordu auf dem Spielplan stand. Mürüvvet stellte in den Straßen um die Cumhuriyet Caddesi, unweit des Atatürk-Platzes, fest, dass einige schon jetzt mit selbst gemachten Fan-T-Shirts herumliefen. Sie versammelten sich vor den Moscheen, kreischten laut, und vorbeifahrende Autos hupten. Selbst die Polizei konnte sich nicht verkneifen, bei ihrer Runde das Radio laut aufzudrehen, sobald ein Song von Erkin Koray ertönte. Immer dann, wenn sie der Illusion verfielen, unbeobachtet zu sein, waren sie sichtbar. Denn Polizisten hörten nicht Erkin Koray. Für alle, denen die Orientierung fehlte, wurde Mürüvvet an diesem Abend zu einem kleinen Leuchtturm in einer Stadt.
Efsun und Mürüvvet stellten sich in die Mitte des Platzes, unweit der Bühne. Es war die größte, die sie je in ihrem Leben gesehen hatten. Mindestens zehn Meter lagen zwischen dem Boden und der Bühnenfläche. Unmittelbar vor ihnen lief er auf die Bühne und grüßte das Publikum. Erkin Koray war seiner Zeit voraus: seine schulterlangen Haare, sein bunt besticktes Hemd und sein Rollkragenpullover. Er hätte alles sagen können, die Menschenmenge hörte auf ihn. Doch er brauchte nicht zu sprechen. Sein erstes Lied war «Silinmeyen Hatıralar». Mürüvvet und Efsun sprangen vor Aufregung in die Luft, umarmten sich und sangen die Textstellen tanzend voreinander vor, wie sie es in den Wochen zuvor oft auf dem Pausenhof der Schule getan hatten. Auch ihre Freundinnen, denen sie begegneten, taten es ihnen gleich. Die Freude ließ sie im Takt in die Höhe springen, dem nächtlichen Himmel kamen sie näher als je zuvor. Wenn es einen Mittelpunkt der Welt gab, dann musste er heute Aydın sein.
Die letzten Akkorde waren gespielt, das Dröhnen der Verstärker lag noch in ihren Ohren, und Erkin Koray verabschiedete sich nach tosendem Applaus von der Bühne. Seine Haare waren von Schweiß getränkt, wie die Stirnflächen aller Menschen um sie herum. Nach über zwei Stunden ging das Konzert zu Ende. Efsun fragte Mürüvvet, ob ihr das Geschenk gefallen habe. Mürüvvet umarmte sie so lange, bis ihre Gedanken verschmolzen. Es war der Auftakt für ihr letztes gemeinsames Schuljahr. Sie sprachen es nicht aus, sie wussten es.
Der kalte Abendwind war verflogen. Kurz vor 22:00 Uhr kam Mürüvvet wieder nach Hause. Ihre Mutter sah sie vom Balkon aus in die Straße laufen und winkte ihr zu. «Hadi gel artık, du bist bestimmt müde.»
«Bin ich nicht», antwortete Mürüvvet. Beide lächelten. Ihre Brüder lagen schon im Bett.