Abschied von Chautauqua - Stewart O′Nan - E-Book
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Abschied von Chautauqua E-Book

Stewart O'Nan

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Beschreibung

Emily Maxwells Mann ist gestorben. Nun soll das Sommerhaus am Lake Chautauqua im Staat New York verkauft werden. Ein letztes Mal trifft die ganze Familie dort zusammen – eine alte Tradition. Eine Woche Ruhe will man, aber die Harmonie ist brüchig, mit Emilys Tochter Meg, der Alkoholikerin, deren Bruder Ken, der beruflich vor dem Absturz steht, seinem schwierigen Sohn Sam und seiner Tochter Ella, die sich unversehens in ihre Cousine verliebt. Nicht zu vergessen: Rufus, der Hund, der ganz eigene Sorgen hat. «Das wirkliche Leben findet in diesem Roman statt.» (taz)

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Stewart O'Nan

Abschied von Chautauqua

Roman

Aus dem Englischen von Thomas Gunkel

Für Dewey, unseren Rufus

Anders als alles

womit er verglichen wird –

der Sommermond.

Bashō

Gestern Nacht träumte mir,

ich sei wieder in Manderley.

Daphne du Maurier

Samstag

1

Sie fuhren mit Arlenes Wagen, weil der eine Klimaanlage hatte und Emily sich nicht sicher war, ob der Olds es schaffen würde. Außerdem war Arlenes Wagen größer, ein Kombi, da passten bei der Rückfahrt mehr Sachen rein.

Emily wusste, dass sie der Versuchung nicht würde widerstehen können. Selbst den kleinsten Verlust fand sie unerträglich – ein in der Spülmaschine angeknackstes Glas, ein im Trockner eingegangener Pullover. Sie würde den Taurus voll alten Plunder packen, für den sie zu Hause keinen Platz hatte. Alles würde im Keller landen und neben dem zweiten Kühlschrank vermodern, der immer noch klirrend voll war mit Henrys Iron Citys. Sie trank kein Bier, doch sie brachte es auch nicht über sich, die Flaschen eine nach der anderen zu öffnen und die schäumende Flüssigkeit in den Ausguss zu schütten, deshalb blieben sie dort stehen, allmählich verrosteten die gewellten Ränder der Kronkorken, und das Gemüse bekam einen metallischen Beigeschmack. Sie wusste, dass sie alles Mögliche aufheben würde, auch wenn Henry über das Durcheinander den Kopf geschüttelt hätte.

Sie fuhr zum letzten Mal dorthin, sah zum letzten Mal das Sommerhaus. Um den Verkauf würde sich ihr Anwalt – eigentlich der von Henry – kümmern. Sie war dem Mann nur einmal begegnet, letzten Herbst, als sie halb betäubt Henrys Nachlass durchgegangen war. Alles andere hatten sie telefonisch geregelt oder über Federal Express, was ihr verschwenderisch vorkam und vermutlich auf ihre Kosten ging, doch Henry hatte sich dreißig Jahre auf Barney Pontzer verlassen, und in dieser Angelegenheit vertraute sie seinem Urteil mehr als ihrem eigenen.

Das Sommerhaus lag ungefähr drei Stunden entfernt, je nachdem, wie dicht der Verkehr auf der 79 war. Samstags konnte dort viel los sein. Emily wollte gegen neun aufbrechen, damit sie mittags da waren, aber Arlene verspätete sich, machte großes Getue wegen Rufus und breitete umständlich ein ausgeblichenes Steelers-Handtuch über den Rücksitz. Emily versicherte ihr, dass er an diesem Morgen kein Futter bekommen hatte, doch Arlene ließ sich nicht davon abhalten, das Handtuch in den Ritzen festzustecken. Genau darüber hatten sie sich bereits gestritten, als sie an Weihnachten Kenneth besucht hatten. Es war völlig sinnlos. Der Wagen stank nach Arlenes Luckies, daran würde sich auch nichts ändern.

«Ihm geht’s gut», beteuerte Emily.

«Sicher ist sicher.»

«Er hat damit keine Probleme mehr.»

«Ich dachte mehr wegen der Haare.»

«Ich bitte dich», sagte Emily lachend, «ein Handtuch hilft da auch nicht weiter. Wenn wir angekommen sind, sauge ich den Sitz ab.»

«Irgendjemand muss sich drum kümmern.»

«Ich mach das.»

Diese ewigen Auseinandersetzungen, dachte Emily. Sah Arlene denn nicht, dass es diesmal anders war? Henry führte die Engstirnigkeit seiner Schwester auf ihre Lehrerinnentätigkeit zurück, doch Emily fand, das war bei Arlene eher angeboren. Arlene schien ständig auf der Hut zu sein, zu befürchten, dass sie irgendwie betrogen wurde. Das ergab einen Sinn: Henry war das Nesthäkchen gewesen, der Liebling ihrer Eltern, Ingenieur wie sein Vater. Ein Leben lang hatte Arlene um jedes bisschen Zuwendung kämpfen müssen.

Aber sie sind alle tot, hätte Emily am liebsten gesagt. Du kannst jetzt damit aufhören.

Rufus hatte Hüftprobleme, und Emily musste ihm in den Wagen helfen. Arlene sagte kein Wort, während sie das Handtuch zurechtzupfte. In Wahrheit wurde es Rufus beim Autofahren immer noch übel, aber er musste sich nicht mehr übergeben. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, den Kopf unten zu lassen, sodass ihm von dem endlosen Karussell der Bäume und Felder nicht länger schwindlig wurde, doch er zuckte und hickste noch immer, als würde er sich erbrechen. Aber er sabberte nur, und ihm hingen lange, klebrige Speichelfäden aus dem Maul, die sich wie Spinnweben in seinem Fell verfingen. Und es stimmte schon, er haarte stark. Diesen Sommer hatte eine Affenhitze geherrscht. Vor den Fußleisten im Schlafzimmer hatten dunkle Fellbüschel gelegen, die sich, sobald man mit dem Staubsauger kam, überall verteilten, doch bei einem Springerspaniel war das normal.

Konnten sie oder Arlene etwa behaupten, sie seien würdevoller gealtert? Rufus war vierzehn und hatte jeden Sommer am See verbracht. Er hatte es sich verdient, ein letztes Mal mit Emilys Enkeln herumzutollen, ein letztes Mal beim Steg zu schwimmen, ein letztes Mal auf dem kühlen Verandaboden zu dösen. Falls nötig, würde sie Arlenes Sitze absaugen.

Das Haus war abgeschlossen, die Fenster zu, der Anrufbeantworter an. Die Post ließ sie lagern, das Gemüsefach hatte sie gründlich sauber gemacht. Im Olds war vorsichtshalber nur ganz wenig Benzin, für den Fall, dass jemand in die Garage einbrach, um ihn zu stehlen. Ihre Nachbarin Marcia hatte einen Schlüssel und die Nummer in Chautauqua. Falls Emily etwas vergessen hatte, dann fiel es ihr zumindest nicht ein.

«Auf geht’s», sagte Emily und schaute auf Henrys alte Armbanduhr, die sie am Handgelenk trug.

Arlene fuhr langsam, beugte sich übers Lenkrad und starrte über ihre Hände hinweg wie ein Schiffslotse bei Nebel. Es war bereits heiß, und die Klimaanlage war ein Geschenk des Himmels. Die Schatten der Bäume zeichneten sich scharf auf den menschenleeren Gehsteigen ab. In den von der Dürre braun gefärbten Gärten drehten sich die Sprinkler ruckartig im Kreis. Herrlich, in Bewegung zu sein und die reglose Stadt zu verlassen, als würden sie aus einem großen Palast fliehen, während alle anderen schliefen.

Auf dem Boulevard of the Allies herrschte überraschenderweise nur wenig Verkehr, unten floss braun und träge der Monongahela, und am anderen Ufer zuckelte ein Kohlenzug. Die kilometerlangen Fabriken waren verschwunden, nur noch ebene, von Maschendrahtzäunen geschützte Felder waren zu sehen. Als sie den grünen Allegheny überquerten, erhoben sich hinter ihnen die funkelnden neuen Gebäude der Innenstadt, der Brunnen am Point versprühte perfekte weiße Bögen, und unten tuckerte ein Frachtkahn flussaufwärts – ein Blick wie auf einer Ansichtskarte. Sie wusste, in einer Woche würde sie zurückkommen und all das hässlich finden – oder bloß entmutigend, denn es würde sie daran erinnern, was sie aufgegeben hatte und wie wenig noch übrig war.

Die Zeit, das war jetzt das Problem (das war schon immer so, nur hatte sie niemanden mehr, der ihr darüber hinweghalf, niemanden, auf den sie sich konzentrieren konnte). Morgens im Garten, nachmittags am Swimmingpool des Edgewood Clubs und abends lesen, während im Radio Brahms gespielt wurde. Sie brachte die Tage auf ihre eigene ruhige Art herum, wartete stets den rechten Augenblick ab und versuchte, Kenneth und Margaret nicht damit in den Ohren zu liegen, dass sie mit den Kindern zu Besuch kommen sollten. Und es war in Ordnung, dass sie in Gedanken oft bei Henry war, es war ja noch nicht so lange her, dass sie nicht mehr an ihn denken durfte. Der Winter war eine harte Prüfung gewesen, weil es früh dunkel geworden war, doch sie hatte ja ihre langjährigen Gewohnheiten – britische Kriminalromane aus der Bücherei, das neue Sonderprogramm von PBS, Mittagessen mit Louise Pickering. Ihr blieben ihre Gesundheit, ihre Zähne, ihre Erinnerungen. Sie wollte keine dieser alten Frauen werden, die immer nur laut von vergangenen Zeiten träumten und von ihren toten Ehemännern sprachen, als würden diese bloß im Nebenzimmer etwas trinken. Vor Henrys Krankheit hatte sie das nie für möglich gehalten. Jetzt befürchtete sie, dass sich diese Veränderung bereits vollzogen hatte, als hätte sie – wie Henry – die Krankheit erst bemerkt, nachdem sie bei ihr deutliche Spuren hinterlassen hatte.

Weit unten, zu ihrer Linken, entstand durch den Zusammenfluss von Allegheny und Mon der Ohio, das Wasser aufgewühlt wie umgerührte Farbe in einer Dose, die überlappenden Wellen verbargen die starke Unterströmung. Sie stellte sich vor, wie sie dem Wasser folgte und die ganze Nacht durch die kleinen Orte am Fluss mit ihren Backsteinkneipen, ihren Reihenhäusern und rostenden Pick-ups fuhr, mit der Eisenbahnlinie an den toten Nebenarmen und Strudeln entlang flussabwärts, weiter nach Cairo, St.Louis, New Orleans. Sie lebte schon über vierzig Jahre in Pittsburgh; doch jetzt hielt sie hier plötzlich nichts mehr.

«Das neue Stadion ist fast fertig.» Arlene deutete mit dem Kopf zum anderen Ufer, und es stimmte, dort wurde sogar am Wochenende gearbeitet, auf dem Gerüst rings um die Fassade einzelne Bauarbeiter, davor ein oranger Kran mit einem riesigen Steelers-Transparent.

«Sie haben heute ein Spiel», sagte Emily. «Dabei ist es gerade mal August.»

«Gegen Buffalo.»

«Na toll, wir fahren direkt ins feindliche Territorium.»

«Vielleicht kauf ich mir endlich dieses T-Shirt.»

Das war ein alter Witz. Die Bills trainierten in Fredonia, und in den Lebensmittelläden wimmelte es von Bills-Fanartikeln, der Gang mit der Saisonware eine Ansammlung von Mützen, Gläsern und Bierkühlern, Lampen, Nummernschildern und Chip-n-Dip-Tellern. Fans kreuzten in Winnebagos auf, die in den Mannschaftsfarben gespritzt waren, und einige ihrer Nachbarn in Chautauqua ließen blaurote Fahnen wehen.

Seltsam, wie sich alles veränderte. In ihrer Jugend in Kersey, in den bewaldeten Hügeln im Herzen von Pennsylvania, hatten all ihre Freundinnen Buffalo und Pittsburgh als ihre Rettung betrachtet, als den einzigen Ausweg aus ihrem Städtchen. Pittsburgh war ihnen verlockender erschienen als Buffalo, eine Vorstellung, deren Naivität Emily jetzt traurig fand. Sie war eine richtige Landpomeranze gewesen; Henry hatte sie immer wieder daran erinnert. Damals hatten die beiden Städte für sie einen großen Zauber besessen, und Emily hatte sich bemüht, mit der Radiotruhe ihres Vaters die dort ansässigen Sender zu empfangen. Beide Städte waren berühmt gewesen für harte Knochenarbeit. Jetzt wirkten sie wie Überbleibsel einer vergangenen Zeit, hoffnungslos und leer, die Schwerindustrie abgewandert oder zugrunde gegangen. Sie und Henry hatten wie alle anderen ihre Flitterwochen in Niagara Falls verbracht. Sie hatten sich in Regenjacken auf der Maid of the Mist fotografieren lassen. Emily konnte sich noch erinnern, wie sie Henry geküsst hatte, wie ihnen das Wasser übers Gesicht geströmt war.

Sie war jahrelang nicht in Buffalo gewesen und würde vermutlich auch nicht mehr hinfahren.

«Hat es in Buffalo irgendwelche Bills gegeben?», fragte Emily.

«Hat es in Pittsburgh irgendwelche Piraten gegeben?»

«Abgesehen von Andy Carnegie und Mr.Frick.»

«Wie geht’s Rufus?»

«Alles in Ordnung», erwiderte Emily, bevor sie sich umdrehte, um nachzusehen. Rufus hatte die Pfoten übereinander gelegt, ließ den Kopf darauf ruhen und sah Emily schuldbewusst an. In beiden Winkeln seiner wulstigen Lefzen klebte Sabber. «Er ist ein braver Bursche.»

«Rufus, der Dussel.» Diesen Spitznamen benutzten die Kinder, aber er stammte von Arlene und klang nicht gerade liebevoll.

«Sei nett.»

«Bin ich doch. Solange er auf dem Handtuch liegt.»

«Macht er ja.»

Arlene zündete sich eine Lucky an, und Emily machte das Fenster auf. Die hereinströmende Luft klang wie das Rauschen einer Lötlampe. Der Rauch löste sich nicht auf, sondern trieb nur noch stärker in ihre Richtung.

«Scheibenkleister», sagte Arlene und schlug aufs Lenkrad.

«Was ist denn?»

«Ich hab den Film vergessen. Ich wollte Bilder vom Haus machen.»

In Erinnerung an alte Zeiten, dachte Emily. «Du kannst dir doch dort einen besorgen.»

«Ich weiß, aber… ich hab extra einen gekauft. Ich weiß genau, wo er liegt, mitten auf dem Küchentisch.»

«Du kannst dir einen von mir leihen, ich habe genug dabei.»

Emily hatte nicht vorgehabt, Fotos vom Sommerhaus zu machen, nur von Kenneth und Margaret und den Kindern. Als Mrs.Klinginsmith, die Maklerin, von ihr ein neueres Foto haben wollte, hatte sie keins gefunden. Mrs.Klinginsmith hatte gesagt, das sei nicht schlimm, sie werde selbst eins machen, und hatte sofort eine Digitalkamera aus ihrer riesigen Tasche gezogen. Emily und Henry hatten Hunderte von Fotos vom Haus gemacht, doch immer nur als Hintergrund. Sie besaßen unzählige Videos– Sam und Ella beim Krocketspielen, Sarah und Justin, wie sie den noch jungen Rufus aus den todgeweihten Geranien verscheuchen.

Im Winter hatte sie sich ein paar davon angeschaut und versucht, Henry irgendwo zu entdecken, aber er stand hinter der Kamera, war bestenfalls, in seinen Stuhl zurückgelehnt, als Schatten auf der Veranda zu sehen. Das einzig gute, das sie fand, zeigte, wie er mit Sam und Ella Wiffleball spielte. Kenneth hatte es wohl von jenseits der Home Plate aufgenommen, denn Lisa stand an der ersten Base, und Henry hatte seine Pirates-Kappe seitwärts aufgesetzt, warf den Ball mit einem albernen, weit ausholenden Armschwung von hinten durch die Beine, ein lockerer Lob, den Ella glatt an ihm vorbeischmetterte. Dann kam plötzlich Ellas siebter Geburtstag, und Emily wusste, dass Henry filmte, denn Lisa brachte den Kuchen mit den brennenden Kerzen herein, Emily stand singend neben Sams Stuhl, das Haar vom Schwimmen ganz wirr, und sie hielt das Band an und spulte zurück.

«Jetzt kommt der gute alte Radioball», witzelte Henry. «Man hört ihn, kann ihn aber nicht sehen.»

Sie hatte sich die Szene nur ein paar Mal angesehen und sich beim letzten Mal direkt vor den Fernseher gestellt, als wäre sie Henry dadurch näher.

Als die Enkel noch klein waren, hatten sie immer Videoaufnahmen gemacht, und es war etwas Besonderes gewesen, wenn sie sich vor dem Fernseher versammelten und alles anschauten, doch seit letztem Herbst hatte sie die Kamera nicht mehr benutzt. Weihnachten war sie bei Kenneth und Lisa gewesen und Ostern bei Margaret (Jeff war kurz zur Eiersuche da gewesen, hatte abends jedoch etwas anderes vorgehabt). Auch heute war es ihr nicht in den Sinn gekommen, die Kamera mitzunehmen, und jetzt bedauerte sie es.

Sie betrachtete die grasige Böschung neben dem Highway, trotz der Dürre bedeckt von rosafarbenem Berglorbeer, auf einer Seite ein künstlich angelegter Abflussgraben. Die Bäume erstrahlten hell, doch dahinter herrschte völlige Dunkelheit. Sie fragte sich, wie tief der Wald wohl war und was für Tiere in ihm lebten, war aber eigentlich nicht daran interessiert, es diente ihr bloß als Ablenkung, um sich nicht länger mit Dingen beschäftigen zu müssen, die sie nicht ändern konnte.

Nicht nur beim Autofahren schweifte sie mit den Gedanken ab. Beim Fernsehen oder Lesen drehte sich in ihrem Kopf alles um ihre unabänderlichen neuen Lebensumstände, so wie Rufus seine Kette draußen um die Platane wand. Genau wie er riss sie bloß die Rinde ab und hinterließ weitere tiefe Narben. Um den Schmerz zu lindern, schwelgte sie in Erinnerungen, die sich in eine eigene Welt verwandelten, einen Traum, den sie durchstreifen konnte. Der Traum kam ihr wirklich vor, und dann verschwand er, und sie blieb mit der Küche zurück, dem fast vollen Abfalleimer, der Fliege, die im Erdgeschoss herumschwirrte und gegen die Fenster flog, bis Emily mit einer Zeitschrift Jagd auf sie machte.

Arlene war hinter einem silbernen Tankwagen eingezwängt. Ein Strom von Autos brauste links an ihnen vorbei, während Arlene hektisch in die Spiegel und über die Schulter blickte. Dann bot sich eine Lücke. Im letzten Moment sagte Arlene: «Das schaffe ich nicht», und blieb auf ihrer Spur. Sie wartete, bis alle überholt hatten, blinkte dann ungelenk und zog an dem Lastwagen vorbei, in dem sie ihr verzerrtes Spiegelbild sahen. Auf einem grünen Schild an dem Lastwagen stand ÄTZMITTEL. Daneben, auf einem anderen Schild, war ein Reagenzglas abgebildet, aus dem eine Flüssigkeit auf eine vor Schmerz bebende Hand tropfte.

«Niedlich.»

«Was ist niedlich?», fragte Arlene, die sich auf ihre Fahrbahn konzentrierte.

Emily erklärte es ihr.

«Was glaubst du, was die transportieren?»

«Irgendeine industrielle Säure, denke ich.»

So eine Antwort – unverbindlich, aber vielversprechend – hätte Henry nie gegeben. Emily hatte keine Ahnung, was sich in dem Tank befand, und es war ihr auch egal. Irgendeine Chemikalie. Der Fahrer brachte sie zu einer Fabrik, dort wurde etwas hergestellt, das die Leute kauften und zu Hause aufstellten und benutzten, bis es kaputtging, auf den Dachboden verbannt oder verkauft und schließlich weggeworfen wurde, und dann verrostete es auf einer Schutthalde oder verrottete auf einer Mülldeponie unter einem Berg von Abfall, während Tag und Nacht weitere Lastwagen vorbeirollten.

Rechts lag ein totes Tier am Straßenrand. Ein geflecktes Hirschkalb, der Hals widernatürlich zurückgebogen, die Nase mit schwarzem Blut bedeckt, Blutspuren auch auf der Straße. Arlene hatte es offenbar gesehen, sagte aber nichts – vermutlich, um Emily zu schonen.

Sie wollte etwas sagen, wollte Arlene daran erinnern, dass sie ein Mädchen vom Lande war und aus einer Familie begeisterter Jäger stammte, dass sie es kannte, wenn die Nebenstraßen im Frühling und Herbst mit fetten, durchnässten Beutelratten und platt gefahrenen Waschbären übersät waren. Sie hatte sich wirklich an den Tod gewöhnt. Auf der Welt gab es genauso viel Totes wie Lebendiges. Noch mehr. Überall, wo man hinschaute, waren Friedhöfe, vertrocknete Blätter, leblose Fliegenkörper. Und doch drehte sich die Welt weiter, so grün und geschäftig wie immer.

Nicht der Tod rührte sie im Stillen zu Tränen, sondern Trennung. Beim Fernsehen musste sie immer schniefen und sich die Augen wischen, wenn Soldaten aus Zügen winkten, Mütter ihre Kinder in Schulbusse setzten oder es auf Kreuzfahrtschiffen Konfetti regnete. Es musste gar kein fesselnder Film sein. Der Werbespot einer Telefongesellschaft genügte schon. Und die Qualität spielte keine Rolle – es konnte eine ganz augenfällige, manipulierende, sepiabraun eingefärbte Zeitlupe sein, und doch war Emily hinterher völlig mitgenommen. Das war komisch, denn im wirklichen Leben bereitete ihr ein Abschied keine Probleme, sie verabschiedete sich einfach und ging (das führte sie auf die strengen lutheranischen Grundsätze ihrer Mutter zurück). Sie und Henry hatten ein Jahr Zeit gehabt, sich voneinander zu verabschieden, und sie war zufrieden damit, wie sie es bewerkstelligt hatten. Es hatte nichts mehr zwischen ihnen gestanden, sie hatten sich alles gesagt. Aber warum quälten sie dann diese klischeehaften Szenen so sehr?

«Ich hab Pappteller mitgenommen», sagte Arlene.

«Ich auch. Wie steht’s mit Servietten?»

Nach ihrer Ankunft mussten sie beim Golden Dawn einkaufen gehen.

«Wir sollten eine Liste machen.» Emily kramte in ihrer Handtasche. «Papiertücher, Film… was noch?»

Kuchen von einem Stand an der Straße. Es war noch eine Woche lang Brombeerzeit. Mit dem Mais konnten sie noch bis morgen warten und dazu im Lighthouse zwei gegrillte Hähnchen besorgen. Mussten sie anrufen und welche vorbestellen? Wahrscheinlich, denn es war Wochenende. Pfirsiche. Tomaten. Außerdem mussten sie noch zu dem Käseladen fahren und ein großes Stück von dem extra scharfen Cheddar holen, den die Kinder so gern aßen.

Eine lange Autofahrt, die Klimaanlage machte es langsam zu kalt. Wald, Krähen, Polizei. Sie war die Strecke schon so oft gefahren, und doch gab es immer noch Überraschungen. Sie hatte die Scheune vergessen, die sie den Kindern immer gezeigt hatten, als sie noch klein waren, die ausgeblichene Reklame matt, aber noch lesbar: KAUEN SIE MAIL POUCH. GÖNNEN SIE SICH DAS BESTE. Ein Rastplatz war abgesperrt, mitten auf dem leeren Parkplatz stand unerklärlicherweise ein aufgemotzter Lieferwagen, die Heckfenster facettiert wie bei einem Diamanten. Die immergleichen Wolken zogen sich bis zum Horizont, wie eine Flotte, die dampfend aus dem Hafen auslief. Der Wald wurde von Weideland abgelöst, von geduckten roten Scheunen und mit Kletten und Mohrrüben zugewucherten Feldern. Kurz vor Mercer gerieten sie in ein Gewitter mit so starkem Regen, dass Arlene auf die Bremse trat und Emily sich auf einen Zusammenstoß gefasst machte. Zwei Kilometer weiter war es sonnig, und von den Hügeln erhob sich ein Regenbogen.

«Wünsch dir was», sagte Emily, schuf Platz in ihren Gedanken und dachte besonnen, als würde sie zu Gott sprechen: Ich wünsche mir, dass sie es alle verstehen werden.

Sie verließen die 79, fuhren in östlicher Richtung am Lake Erie entlang, und Arlene reihte sich vorsichtig auf die vierspurige Interstate 90 ein. Auf dem Rücksitz schnappte Rufus nach Luft, schnaufte und schluckte kräftig, und um Arlene zu beschwichtigen, drehte sich Emily auf dem Sitz um und redete ihm gut zu.

«Alles in Ordnung», sagte sie, doch sie schien Rufus nicht überzeugt zu haben. Benommen und verwirrt hob er den Kopf.

«Nein!», befahl Emily. «Platz!»

Er gehorchte, doch seine Schnauze wurde von einem Schluckauf geschüttelt.

«Soll ich anhalten?», fragte Arlene.

«Schon in Ordnung. Es ist nicht mehr weit.»

«Es dauert noch eine Stunde.»

«Vierzig Minuten», verbesserte Emily. «Fahr einfach. Er wird sich schon nicht auf deine kostbaren Sitze erbrechen, und wenn doch, dann mach ich sie wieder sauber.»

«Ich wollte bloß helfen», sagte Arlene.

«Tut mir Leid. Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst.»

«Ich mag ihn, ich will nur nicht, dass er in mein Auto kotzt.»

«Tja, so was machen Hunde nun mal, das kann ich nicht ändern.» Emily seufzte über den kleinlichen Streit und den ärgerlichen Umstand, dass sie im Unrecht war. «Hör mal, ich weiß zu schätzen, dass du fährst, und es tut mir Leid, dass er nicht der beste Mitfahrer ist. Ich will nicht unhöflich sein, ich will bloß, dass wir ankommen.»

«Ich hab wirklich nichts gegen ihn», sagte Arlene, als hätte sie Emilys Entschuldigung angenommen.

Das Schild, das sie im Staat New York begrüßte, war voll gelber Paintball-Kleckse, die Tafel mit dem Namen des neuen Gouverneurs ein dunkleres Grün. Wenn Kenneth und Margaret die Grenze überquerten, hatten sie immer die Füße vom Boden gehoben und die Hände in die Luft gehalten, das hatten sie im Bus zum Sommerlager der Kirche gelernt. Emily überlegte, ob sie das jetzt tun sollte, wusste aber, dass Arlene völlig verdutzt sein würde.

Sie konnte Henry geradezu sagen hören, sie solle sich abregen, konnte geradezu sehen, wie er sie von der Seite ansah, um ihr zu bedeuten, dass sie gegenüber Arlene – oder noch öfter gegenüber Margaret, deren ganze Persönlichkeit anscheinend darauf ausgerichtet war, Emily auf die Palme zu bringen – nicht so streng sein solle. Sie war immer noch nicht darüber hinweg, wie Margaret Jeff behandelt hatte. Jeff anscheinend auch nicht, denn er hatte Margaret verlassen. Dass es wahrscheinlich ihr einziger gemeinsamer Wesenszug gewesen war, der Jeff schließlich vertrieben hatte, fand Emily passend. Für Margaret war es der eindeutige Beweis, dass ihre Mutter mal wieder ihr Leben zerstört hatte. Offiziell lebten die beiden erst ein knappes Jahr getrennt, doch Margarets seltene Anrufe und Kenneths Äußerungen deuteten darauf hin, dass die Scheidung wahrscheinlicher war als eine Versöhnung.

Würde Emilys Mutter jetzt nicht denken, dass sie sie immer zu Recht aufgefordert hatte, sich zu beruhigen und den Mund zu halten? «Warum kannst du denn nicht nett sein?», hatte ihre Mutter einmal gefragt und sie fest am Unterarm gepackt, aber was hätte Emily da schon antworten sollen? Emily sah bei ihrer Tochter dieselbe hilflose Wut, und auch sie konnte sie nicht retten. Und wer würde Emily retten, wenn sich alles aufstaute?

Henry hatte es getan, sein sanftes Herz der perfekte Balsam für ihres. Jetzt, wo er tot war, hatte sie Angst, griesgrämig zu werden und ihre Wut an Freunden und Verwandten auszulassen. Manchmal kam es ihr vor, als würde genau das passieren. Es war schwer zu sagen. Es war, als würde sie nochmal in die Wechseljahre kommen, diese verrückten Stimmungsschwankungen – oder als wäre sie schwanger. Die Hälfte der Zeit hatte sie keine Ahnung, warum sie sich so und nicht anders fühlte, und konnte nur Henrys Tod als Entschuldigung anführen.

«Da», sagte Arlene, als sie sich einem Schild näherten. «Noch dreißig Kilometer.»

Die Route 17 war hier so neu, dass die Brücken sich noch im Bau befanden. Orange-weiß gestreifte Pylone leiteten die beiden Fahrspuren in eine von Betonmauern begrenzte Rinne. Arlene beugte sich dichter übers Lenkrad, und Emily setzte sich aufrecht hin, als wollte sie sie unterstützen. Arbeiter waren nirgends zu sehen, doch hinter einem staubigen Tankfahrzeug stand ein Streifenwagen der Staatspolizei.

Arlene fuhr so langsam, dass ihnen der Polizist egal sein konnte, aber Emily wurde ganz starr, als hätte man sie bei irgendetwas ertappt, und zuckte unwillkürlich zusammen. Henry war immer schnell gefahren, hatte fest auf den Olds V-8 vertraut.

«Ganz schön gerissen», sagte Emily.

«Und an einer Baustelle ist das Bußgeld doppelt so hoch.»

«Selbst wenn niemand arbeitet. Was für ein Wucher.»

Die Abfahrt nach Panama kam und dann, auf einem brachliegenden Feld, eine Reklametafel für Panama Rocks, wo sie mit Kenneth und Margaret gewesen waren, als die beiden noch klein waren. Margaret war damals pummelig gewesen und hatte sich geweigert, Fat Man’s Misery auszuprobieren; sie hatte davor gestanden, während sich die Übrigen durchzwängten, die von Flechten überzogenen Wände kalt an ihren Bäuchen. Sie hatte immer irgendwie abseits gestanden, und es war Emily nicht gelungen, sie einzubeziehen.

Rufus lag wieder zusammengekauert da, über seiner Nase ein getrockneter Sabberfaden. «Wir sind gleich da», beteuerte Emily.

Sie nahmen die Abfahrt zum Institut, folgten einer holprigen Asphaltstraße, vorbei an windschiefen Neoklassizismusbauten mit Waschmaschinen auf den Veranden und an gemeinsam grasenden Pferden und Kühen. Der Asphalt war stellenweise zerbröckelt, Splitt prallte klirrend gegen den Boden des Wagens, im Straßengraben wuchsen Wildblumen. Das erinnerte sie an Kersey, an die bergigen Abkürzungen durch den Staatswald mit den vielen Bodensenken und Haarnadelkurven. Die alten Gehöfte waren genauso, die Zuckerbäckergotik auf den Hügeln, vor dem Wind geschützt durch einen Ring aus Eichen und Weiden, Briefkästen, die aus getünchten Milchkannen hervorragten, Teiche mit kurzen Stegen, von denen die Kinder ins Wasser springen konnten, Enten, die sich auf einem umgedrehten Ruderboot sonnten. Sie könnte hier leben, könnte das Haus in der Stadt aufgeben und beobachten, wie sich der Nebel bei Einbruch der Dunkelheit über die Bäume breitete, wie die Kühe muhend nach Hause kamen.

Hinter einer leichten Steigung tauchte noch eine Reklametafel auf: LEER GEFAHREN? TANKEN SIE AUF BEI JESUS.

Na, das wäre schön, dachte sie.

«Der Mais ist hoch», sagte Arlene.

«Die Gegend liegt so weit nördlich, dass sich der See darauf auswirkt.»

«Hoffentlich regnet es nicht wie letztes Jahr.»

Wegen Henry war Emily letztes Jahr nicht da gewesen, doch sie hatte die Horrorgeschichten gehört – die Kinder hatten sich den ganzen Tag mit Videospielen beschäftigt und sich gestritten. Sie sah vor sich, wie Arlene das Haus verließ, sich einen Poncho überwarf, ihren Spaziergang bei der Fischbrutanstalt machte und ihre Luckies mit der hohlen Hand vor dem Regen schützte.

«Bestimmt nicht», sagte Emily. «Und falls doch, wird uns schon irgendwas einfallen. Zum Beispiel Karten spielen.»

«Ich weiß noch, dass Justin unheimlich gern Schach gespielt hat.»

«Und Ella findet das mit dem Fernsehen nicht so schlimm. Sam ist derjenige, der immer ausflippt.»

«Vielleicht sollten wir ein Zeitlimit setzen. Wer kommt als Erstes an?»

«Kenneth.»

«Vielleicht solltest du mal mit Lisa sprechen.»

«Ich kann’s versuchen», sagte Emily.

«Habt ihr beide euch wieder versöhnt?»

«Wir sind höflich zueinander. Sagen wir es mal so.»

«Meine Güte.» Arlene fuhr langsamer, um ein riesiges viktorianisches Haus zu betrachten, das in knalligen Senf- und Himbeertönen gestrichen war. PLUMBUSH BED AND BREAKFAST verkündete ein verspieltes Plakat, das wie ein Kneipenschild über der Tür hing. Von der Veranda blickte man auf einen behelfsmäßigen Heuwagen auf der anderen Straßenseite und, weiter hinten auf dem abfallenden Feld, auf die braun verfärbte Karosserie eines Pickups.

Näher am See sahen sie noch mehr neue Häuser, alles Fertigbau, alles von derselben Firma. Eins hatte eine Satellitenschüssel von der Größe eines kleinen Flugzeugs, bei einem anderen hing eine Bills-Fahne im Erkerfenster.

«Man fragt sich, ob sie die das ganze Jahr hängen lassen», sagte Arlene.

Schließlich erreichten sie die Kreuzung an der 394, direkt oberhalb vom Institut. Das Andriaccio’s war noch da, der Parkplatz voll wegen des Mittagsandrangs. Die plötzliche Betriebsamkeit – ein Junge, der an zwei Krücken über den Parkplatz humpelte, ein großer Mann in Shorts, der einem älteren Paar zum Abschied die Tür aufhielt – schien sie zum Mitmachen aufzufordern. Oder reizte Emily das Institut selbst, die Vorstellung von einem erholsamen, erlesenen Sommer? Während sie auf eine Lücke im Verkehr warteten, betrachtete Emily über die Spitzen des Eisenzauns hinweg die winzigen Übungshütten, schlicht wie Toilettenhäuschen, ordentlich aufgereiht wie Gräber, und sie malte sich aus, wie ein aufgeweckter Teenager sich voller Hingabe seinem Instrument und den berühmten Komponisten widmete. Als sie vorbeifuhren, kurbelte Emily das Fenster herunter und hoffte, den geschmeidigen Klang einer Oboe oder das tiefe Seufzen eines Cellos zu hören. Aber da war nichts.

«Emily, sieh doch», rief Arlene ungläubig. «Das Putt-Putt.»

Der orangeweiße Zaun stand noch, aber bis zu den Betonblocktoiletten war alles abgerissen, und vorn stand ein Schild mit der Aufschrift ZU VERPACHTEN.

«Kenneth wird ziemlich enttäuscht sein.»

«Man sollte meinen, mit dem Institut direkt daneben könnten sie genug Geld verdienen.»

«Offensichtlich nicht», sagte Emily.

Sie kannte hier alles: den Weihnachtsladen, den stickigen Waschsalon, wo sie immer noch ihre Bettlaken und Handtücher wuschen, die Grundschule, die jetzt als Lagerhalle genutzt wurde. Am Fußgängerüberweg vor dem Eingang des Instituts, wo als Warnung neben der Hausmeisterhütte ein leerer Streifenwagen stand, fuhren sie langsamer, dann rollten sie an den saftig grünen Fairways des Clubs vorbei (dort gab es anscheinend genügend Wasser). Henry hatte gern auf diesem Golfplatz gespielt. Am sechsten Grün war ein Teich, und Henry hatte seinen Abschlag immer nach rechts verzogen und war durch das Schilf neben dem Fahrweg gestapft. Einmal hatte er eine Schlange entdeckt und kam mit seinem Neuner-Eisen herausgerannt. Sie hatte das ganze letzte Jahr keinen Schläger angerührt. Sie musste mit Kenneth herfahren und ihre traditionelle Runde spielen. Das würde das einzige Mal sein, dass sie allein wären.

Und da war das Wagon Wheel mit seinen verrosteten Schildern:

DELIKATESSEN

ZEITUNGEN

EIS

FILME

Und der We Wan Chu-Campingplatz mit Hüttenvermietung, inzwischen mit eigener Website.

«Jetzt hab ich alles gesehen», sagte Emily.

«Das hing letztes Jahr schon.»

Am Manor Drive fuhr Arlene langsamer, und Rufus stand auf und verschmierte mit der Nase die Fensterscheibe. Die Kurve überzeugte ihn, dass er sich besser wieder hinlegte. Er lag jetzt eindeutig neben dem Handtuch, aber Emily kümmerte sich nicht darum.

Der Zufahrtsweg lag völlig im Schatten, war gerade mal breit genug für ein Auto. Die Vereinigung hatte ein Schild mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 25Stundenkilometern aufgestellt. Der Polizist mit dem Trampolin und dem Irish Setter war zu Hause, aber nicht die Leute mit dem hässlichen Kinderschwimmbecken. Die Nevilles waren in großer Zahl da, die Einfahrt gesäumt von Kleinbussen und Geländewagen, ihr altes Volkswagen-Cabrio in der offenen Garage. Zwei kleine Mädchen, die Emily nicht kannte, fuhren in Badeanzügen und Tennisschuhen auf ihren Fahrrädern durch den Garten.

Zwischen den Häusern konnte Emily den See erkennen, ein Laserboot, das in der Nähe des Ufers krängte.

«Scheint windig zu sein da draußen», sagte sie, doch Arlene hatte wegen ein paar älteren Kindern auf Fahrrädern gebremst – sie sahen aus, als gehörten sie zu den Craigs, und hielten Tennisschläger in den Händen. Ein blondes Mädchen winkte ihnen zu, und sie winkten unwillkürlich zurück, wie man es unter Nachbarn tat.

Etwas weiter hinten stand in einer schattigen Einfahrt ein roter Cadillac mit einem Kennzeichen aus Florida. «Die Wisemans sind da», sagte Emily froh, denn letztes Jahr hatte Herb Wiseman einen Herzinfarkt gehabt, und sie waren nicht hergekommen.

«Beide oder bloß Marjorie?»

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diesen Wagen fährt, oder was meinst du?»

«Wir müssen mal rübergehen», sagte Arlene.

Das Haus der Lerners stand zum Verkauf, auch über Mrs.Klinginsmith, und als Emily das Schild sah, war sie enttäuscht. Sie fragte sich, wie viel sie wohl verlangten.

Rufus war wieder aufgestanden und betrachtete alles.

«Er weiß Bescheid», sagte Arlene.

Emily konnte schon einen Teil des Sommerhauses sehen, verdeckt von der großen Kastanie neben der Garage. «Na ja», sagte sie, «zumindest ist es nicht abgebrannt.»

Als sie näher kamen, sah sie die orangen Taglilien rings um den Briefkasten. Aus dem Briefkasten schaute irgendetwas hervor – ein Werbeprospekt in einer Plastikhülle–, und sie dachte, dass es verboten sein sollte, Werbung in den Briefkasten zu stecken, wenn niemand zu Hause ist. Das war eine offene Aufforderung zum Diebstahl.

Sie bogen auf das Gras, fuhren über herabgefallene Zweige. Das Haus sah gut aus, richtig anheimelnd. Sie hatte den neuen Anstrich noch nicht gesehen, grau mit roten Fensterläden und weißer Einfassung. Kein Wunder, dass die Käufer so viel bezahlten. Zwei neue Stahlbänder hielten den Schornstein zusammen, die alte Fernsehantenne war verschwunden. Sie hatten sogar die Garage gestrichen, das Moos von den Schindeln gekratzt. Es sah besser aus als je zuvor, fast schon künstlich. Sie fragte sich, was Henry wohl dazu gesagt hätte.

Rufus scharrte am Fenster.

«Platz», befahl Emily, doch er war zu aufgeregt.

Arlene hielt an, und Emily ließ ihn raus. Er rannte auf die andere Seite des Hauses, hockte sich hin und blickte über die Schulter. Noch etwas, was sie sauber machen musste. Das Handtuch war voller Haare, ein Büschel in einem Sabberfleck; der Sitz war in Ordnung, obwohl ihn Arlene wortlos mit der Hand abwischte.

«Ich wasche das Handtuch», sagte Emily und knüllte es zusammen.

Als Rufus fertig war, kam er zurück, tänzelte um die beiden herum, als wollte er, dass sie ihm folgten, und rannte dann geradewegs zum Steg. Arlene schenkte ihm keine Beachtung und öffnete die Heckklappe.

«Lass uns erst mal die Lebensmittel reinbringen», sagte Emily. Sie fand die Schlüssel, drehte den glänzendsten in der Küchentür, hakte den ölverschmierten Arm der Fliegentür fest, damit sie offen blieb. Drinnen roch es muffig wie in einem Treppenhaus. Emily sah die Schlüssel durch (alle mit Aufklebern in Henrys sauberer Handschrift versehen) und ging wieder nach draußen, um das Wasser anzustellen.

Die Spinnen waren fleißig gewesen, waren fett wie Boviste, ihre Netze verziert mit Mücken, gesprenkelt mit baumwollartigen Eierkokons. Über den Reglern hing ein feuchter Zettel mit Anweisungen an der Wand, die Henry für Kenneth aufgeschrieben hatte. Sie drückte auf den Schalter, und die Pumpe sprang ächzend an. Das Wasser hier war weich und stank nach Schwefel. Es rief ihr ins Gedächtnis, wie sie vor dreißig, nein, fast vierzig Jahren, als die Kinder noch klein waren, im See geschwommen waren und die Badesachen hinterm Haus an die Leine gehängt hatten. All diese Sommer waren längst vorbei, doch wie genau konnte sie sich – erst in diesem Moment – daran erinnern. Sie wollte sie noch einmal durchleben, diese langen Augusttage, die Krocket- und Wiffleballspiele und die Lagerfeuer, das Wasserskifahren. Vermutlich kamen sie deshalb jedes Jahr her, wegen dieses Gefühls von Ewigkeit und von Zuflucht.

Sie schloss das Pumpenhaus hinter sich ab. Auf dem Weg zur Garage rutschte sie auf einer bemoosten Steinplatte aus und wäre fast gestürzt. «Wie dumm», sagte sie. Jedes Jahr vergaß sie, wie tückisch die Steinplatten waren. Man sollte meinen, dass sie irgendwann mal dran denken würde.

Niemand hatte die Garage aufgeräumt. Henrys Plunder lag überall herum: Bierkartons und Körbe, Kühlboxen und Eimer, seine Angelausrüstung, Benzinkanister für das Boot, Kisten voll staubiger Iron City- und Genesee-Flaschen, ein stählerner Abfalleimer voll Feuerholz. An der hinteren Wand hingen ein schlaffes Rettungsfloß und drei Barbusige-Meerjungfrauen-Fender, die Kenneth als Jugendlichen immer verlegen gemacht hatten. Durch das trübe Fenster auf der Rückseite sah sie Rufus ganz am Ende des Stegs. Am liebsten hätte sie sich zu ihm gesetzt, doch Henrys Werkbank fesselte ihre Aufmerksamkeit.

Auf einer Seite lag seine Werkzeugschürze, als würde sie auf ihn warten. Der Rest war ein Durcheinander aus verbeulten Arbeitshandschuhen und Plastikbechern voller Schrauben, aus aufgerollten gelben Nylonschnüren, einer Handschleifmaschine, Farbsprühdosen und WD-40, Nägeln in zerknitterten Papiertüten, Holzkitt, einer verkrusteten Spritzpistole, Wespenspray, alten Einschraubsicherungen, eingerissenem Schleifpapier, Farbrührern aus dem True Value in Mayville, einer verbogenen Klampe, einem Kanister 3IN 1-Öl, einem zerkratzten Golfball und einer dunklen Glühbirne. Emily widerstand der Versuchung, irgendwas davon zu berühren, stand da, atmete den Geruch ein und genoss das Durcheinander. Sie würde Kenneth fragen, ob er das Werkzeug haben wollte. Wahrscheinlich würde er alles mitnehmen, nur damit nichts weggeworfen wurde. Er kam ganz nach ihr.

Drinnen durchforstete Arlene die Schränke. «Wo ist die Schale, in die wir immer das Obst gelegt haben?»

«Das ist die grüne.»

«Ist das die richtige?»

Emily sah über der Geschirrspülmaschine und links vom Herd nach, dann auf dem Drehtablett unter der Arbeitsplatte. «Die hier.»

«Ich kann mich nicht erinnern, dass es die war. Aus irgendeinem Grund dachte ich, sie wäre orange.»

«Ist es noch viel?», fragte Emily.

«Nein, das war’s.»

«Hast du was dagegen, wenn ich vor dem Essen kurz zum Steg gehe?»

«Geh nur. Hier ist sowieso nicht genug Platz für uns beide.»

Der Wind wehte vom See herüber und kräuselte leicht das Wasser. Unter der Kastanie war es kühl, doch als sie den Steg betrat, erwärmte sich ihr Gesicht. Der Wasserstand war ein, zwei Meter niedriger, der See voller Unkraut. Auf dem Grund funkelten perlmuttfarbene Muscheln. Rufus lag ausgestreckt da und hob den Kopf, um zu sehen, wer kam. Das Boot stieß platschend gegen die Anlegestelle, und die Leinen knarrten. Die schöne lachsfarbene Abdeckplane, die Henry gekauft hatte, war voller Möwenkot. Die Käufer hatten ein eigenes Boot, deshalb hatte Mrs.Klinginsmith vereinbart, dass Smith Boys in Ashville es zum Ausschlachten kaufte. Emily hatte sich nicht widersetzt. Das Boot war fast dreißig Jahre alt, und der Außenbordmotor gab regelmäßig seinen Geist auf. Komisch, von wie vielem sie sich jetzt trennen konnte – wie wenigem eigentlich.

Sie erreichte den breiten L-förmigen Steg und ging um Rufus herum, um sich auf die Bank zu setzen. Er stand auf und legte sich vor ihre Füße. Sie bückte sich und streichelte ihn, kraulte ihn geistesabwesend hinter den Ohren.

«Du bist sicher froh, dass du nicht mehr im Auto liegst. Ja.»

Er sah sie an, als hätte sie etwas ungeheuer Wichtiges gesagt. Seine Augen waren verschleiert vom grauen Star; in letzter Zeit stieß er öfter gegen Türen. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn er sein Wasser nicht mehr halten konnte.

«Dir geht’s gut», sagte sie. «Alles in Ordnung.»

Auf dem nächsten Steg strich der Wind über eine Holzente, deren Flügel sich langsam in entgegengesetzter Richtung drehten, wie bei einer Uhr, die verrückt spielte. Emily lehnte sich zurück und blickte zum anderen Ufer. Es war so trocken gewesen, dass sich bei einigen Bäumen bereits die Blätter verfärbten, doch sie waren nicht leuchtend rot, sondern hatten einen matten, kraftlosen Farbton. Sie fragte sich, ob die Bäume eingehen oder sich wieder erholen würden, und begriff dann, dass sie es nie erfahren würde. Sie konnte sich an einen umgestürzten Redwood erinnern, den sie mal vor einer Ewigkeit in Kalifornien gesehen hatten, auf einer verwegeneren Reise, als die Kinder noch klein waren. Die Jahresringe waren unterschiedlich dick gewesen; die dünnsten hatten auf Dürrejahre hingedeutet. Vielleicht würde auch dieses Jahr so sein, und das nächste war wieder besser.

Sie blickte auf die Wellen hinaus, als könnten sie ihr eine Antwort geben. Rufus setzte sich auf, schob seine feuchte Schnauze unter ihre Hand. Er hatte kein Frühstück bekommen, und jetzt, wo er nicht mehr im Auto lag, war er hungrig.

«Ich weiß», sagte sie, «du warst sehr geduldig.»

Nächstes Jahr musste einfach besser werden.

Sie war so in Gedanken, dass sie aufgehört hatte, Rufus zu streicheln. Er hatte sich umgedreht und dem See zugewandt, und als er den Kopf zurücklegte und sie fragend anblickte, schien er zu schielen. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, und Emily fragte sich, wie er gegenüber der Welt immer noch so offen, so willfährig sein konnte.

«Du bist wirklich ein Dussel», sagte sie.

Sie spürte den kantigen Schädel unter ihren Fingernägeln, die Streichrichtung seines Fells. Die Sonne schien, aber es wehte ein heftiger Wind, die Flügel der Ente drehten sich und durchschnitten die Luft wie Propeller. Emilys Haare peitschten ihr ins Gesicht.

«Komm», forderte sie ihn auf, erhob sich und ging mit ihm zusammen zum Haus zurück. Arlene brauchte Hilfe beim Mittagessen.

2

«Da ist er!», rief Lise den Kindern zu. Ken wandte den Blick von der Straße, als würde er ihr gehorchen.

Unterhalb von ihnen, mehr als einen Kilometer entfernt, erstreckte sich im schräg einfallenden Nachmittagslicht weit und silbern das Wasser, ein Boot zog eine schwarze fächerförmige Spur. Bäume blitzten auf und versperrten die Sicht, ein Wall aus Bäumen, dann eine Lücke, noch eine Lücke. Dann herrschte wieder freie Sicht, und über einen Weinberg hinweg konnten sie weit hinausblicken, ein richtiges Kalenderfoto.

«Wacht auf», sagte Lise, «ihr verpasst ja alles!»

Ken sah im Rückspiegel nach ihnen. Sie waren groggy vom Schlafen. Durch ihre neue Zahnspange hatte Ella aufgeworfene Lippen. Sie streckte die Hände über den Kopf und stöhnte. «Ja, ja.»

«Juchhu», sagte Sam mit unbeweglicher Miene.

«Zieht euch schon mal die Schuhe an», forderte Lise sie auf, obwohl sie noch zwanzig Minuten im Wagen sitzen würden.

Ken staunte, wie gelassen sie sein konnte. Es lag nicht bloß an seiner Mutter (sein Vater, das Sommerhaus, die ganze Reise) und auch nicht an dem Job, obwohl er darauf gefasst war, von seiner Mutter ausgelacht zu werden wegen der Ironie, dass ausgerechnet er den ganzen Tag lang die Fotos anderer Leute entwickelte, und zu hören, das geschehe ihm ganz recht, weil er bei Merck gekündigt habe. Dann würde Lise nicht mehr zu bremsen sein, und dann gute Nacht.

Es lag an allem. Obwohl er wusste, dass es nur vorübergehend war, hatte er auf der ganzen Fahrt von Boston an Geld gedacht. Auf dem Weg aus der Stadt hatten sie an einem Geldautomaten gehalten, und er hatte festgestellt, dass sie auf ihrem Girokonto im Soll standen. Das verstand er nicht. Er hatte ihre Rechnungen genau im Auge behalten. Er war sich sicher, dass er ein ausreichendes Polster geschaffen hatte.

«Ich benutze die Karte zum Kauf von Lebensmitteln», hatte Lise gesagt. «Wahrscheinlich liegt es daran.»

«Ja», hatte er geantwortet, «das könnte hinkommen.»

«Wir müssen doch was essen.»

«Ich weiß», hatte er leidenschaftslos gesagt, «ist schon in Ordnung», denn er hatte gemerkt, dass Sam und Ella auf dem Rücksitz lauschten und sein Versagen offenbar wurde.

So sollte die Reise nicht beginnen. Er hatte fünfhundert Dollar vom Sparbuch abheben müssen, und jetzt ging ihm der Kontostand nicht aus dem Kopf. Sein nächster Scheck vom Fotolabor war erst Anfang des Monats fällig.

Zum Teil lag es offenbar an dem Sommerhaus. Den ganzen Juli hatte er an seinen Vater gedacht, an die Einschränkungen in dessen Leben, daran, ob er glücklich gewesen war. Am schwersten war zu verstehen, warum er mit ihrer Mutter zusammengelebt hatte, denn beide waren völlig gegensätzlich gewesen.

«Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat», hatte er gesagt. «Wie viele Jahre?»

Lise hatte lachend nachgerechnet. «Achtundvierzig?»

«Ich hätte es mit ihr keine fünf Minuten ausgehalten.»

Das Komische daran war, dass er und sein Vater sich sehr ähnlich waren, was Ken so lange wie möglich abgestritten hatte und Meg unter vier Augen immer wieder zur Sprache brachte. Einmal, als sie bekifft gewesen war, hatte sie ihn am Telefon damit aufgezogen: «Mein Gott, du bist schon genau wie er!» Nur der Gedanke, wie verletzt Meg sein würde, hatte ihn davon abgehalten, mit vollem Ernst zu entgegnen: «Und du bist genau wie sie.»

Lise hätte mit ihrer Familie eine Woche nach Cape Cod fahren können, hatte sich aber bereit erklärt, ein letztes Mal mitzukommen. Jetzt, wo sie die Veterans Bridge überquerten und versuchten, die Fähre nach Stow zu entdecken – da lag sie, neben dem alten Kasino in Bemus Point, sie nahm gerade Autos an Bord–, zog sich Lise ein bisschen aus der Verantwortung. Sie wusste, wie wichtig diese Woche für seine Mutter war.

«Hör mal», sagte sie. «Ich weiß, dass du dich aus dem Staub machst, sobald wir da sind.»

«Tu ich nicht.»

«Doch, das tust du, du machst dich auf die Suche nach Fotomotiven.»

Er schüttelte den Kopf, weil er wusste, dass es stimmte. Nicht dass er irgendwelche Motive finden würde.

«Lass mich nur nicht allein mit ihr, okay?»

«Arlene ist doch da.»

«Und was ist mit Meg?»

«Die kommt wahrscheinlich erst gegen Abend.»

«Interessant, dass sie immer als Letzte kommt und wir immer als Erste da sind.»

«Was soll ich dazu sagen?», fragte er. «Ich bin der gute Sohn.»

«Da würde man nie drauf kommen, wenn man sieht, wie sie dich behandelt.»

«Ich kann’s verkraften.»

«Das sollte aber nicht nötig sein.»

Er zuckte mit den Schultern. So schlimm war sie gar nicht. Sie war seine Mutter, das konnte er sich nicht aussuchen.

Sie überquerten die Brücke, er verließ die 17 und wartete an dem Stoppschild, bis die Straße frei war (das Schild war verbogen und zerkratzt, als wäre es von einem Lastwagen gestreift worden, die Kratzspuren voller Rost; dafür würde er sein Weitwinkel brauchen, aber er sah bereits vor sich, wie langweilig das Foto aussehen würde, wie aus den Sechzigern). Hinter ihm schauten Ella und Sam aus dem Fenster, hinüber zu Hogan’s Hut, einer Mischung aus Tankstelle, Gemischtwarenhandlung und Eisdiele, wo sie auf der Hinfahrt manchmal anhielten. Er hatte vorgehabt, ihnen nach neun Stunden Autofahrt eine Abwechslung zu gönnen, hatte sich schon seit Binghamton darauf eingestellt, doch es war einfach zu spät. Er bog ab und trat das Gaspedal durch, konzentrierte sich auf die Gangschaltung, sah durchs Sonnendach nach den Fahrrädern und beobachtete, wie Hogan’s Hut im Rückspiegel immer kleiner wurde – zum Glück protestierten die Kinder nicht.

Das hier war nicht schwierig gewesen. Doch sobald Meg mit ihren Kindern ankam, würde Chaos herrschen, und seine Mutter war den Lärm nicht gewohnt. Die ganze Woche würde er zwischen allen Stühlen sitzen, genau wie als Kind, würde versuchen, Konflikte zu entschärfen oder wenigstens das Unvermeidliche hinauszuzögern, und dann würde man ihm vorwerfen, er habe sich für die falsche Seite entschieden, obwohl er doch bloß den Frieden bewahren wollte. Er begriff nicht, wie sein Vater das ein Leben lang geschafft hatte. Ken musste bloß diese Woche überstehen, musste bloß die Stunden zählen, wie er es als kleiner Junge getan hatte.

Als Meg einmal im Sommerlager gewesen war, hatte er jeden Dienstag und Donnerstag im Putt-Putt verbracht; sein Vater hatte ihn hingebracht und wieder abgeholt. Dort gab es den ganzen Tag Preise zu gewinnen; seine Taschen waren voller Rabattgutscheine gewesen. Mittags hatte er Milky Ways gegessen. Die Zeit war wie im Fluge vergangen, und aus den Lautsprechern waren «Hold Your Head Up» und «Uncle Albert/​Admiral Halsey» erklungen, die Woche für Woche auf Platz 1 und 2 gestanden hatten. Zwischen den Songs war Musik aus den Übungshütten auf der anderen Straßenseite rübergeweht, schrille Rohrblattinstrumente und die dunklen Töne der Hörner. Am Ende des Sommers hatte er alle Bahnen beherrscht, sein Resultat auf etwas mehr als dreißig Schläge heruntergeschraubt und sogar ein Turnier gewonnen. Seine Mutter besaß ein ausgeblichenes Foto von ihm, auf dem er mit seiner Trophäe lächelnd vor der Windmühle stand (die Trophäe war noch in Pittsburgh, in dem Mansardenzimmer, in das er gezogen war). Er war so stolz gewesen, hatte sich gefühlt wie ein Glückspilz. «Ich hätte dich nicht erkannt», hatte Lise gesagt, als sie das Foto sah. Er hätte dasselbe sagen können. Den Jungen, der die Trophäe hochhielt, gab es nicht mehr.

Er fragte sich, ob er je wieder so glücklich sein würde. Glücklich über Ella und Sam vielleicht, aber das war eine andere Art von Glück.

An der Boston University hatte es ihn fasziniert, sich wieder in Lichtstudien und langen Gesprächen über Kunst und seine Lieblingsfotografen zu verlieren, doch die Arbeiten, die er dort angefertigt hatte, waren ihm inzwischen peinlich, kamen ihm steril und gestelzt vor, bloß wie eine Ausweitung seiner technischen Fähigkeiten. Der Blick, zu dem ihm Morgan verhelfen wollte, hatte sich verflüchtigt. Seine neuen Sachen waren auch nicht viel besser, und nach den Rückschlägen der letzten paar Jahre musste er sich eingestehen, dass er vielleicht nicht talentiert genug war. Die Liebe, sein Glück mit Lise hatten ihm schon einmal den richtigen Blick verliehen. Konnte das wiederkommen und ihn noch einmal überraschen? Und wenn nicht, was dann? Würde er werden wie sein Vater, im Stillen damit beschäftigt zurechtzukommen, so ruhig und stoisch, dass er unergründlich wirkte, losgelöst von allem außer seinen Gedanken und dem neuesten Projekt an seiner Werkbank?

Er hatte nur eine Kamera mitgebracht – die Nikon. Die Holga war bloß aus Plastik, die zählte nicht. Durch sie sollte er lernen, sich auf sein Auge zu verlassen oder, noch besser, auf seinen Bauch. Ihr schlichter Aufbau sollte ihn dazu bringen zu sehen.

Was er sehen würde, war das Sommerhaus. Die Veranda, der See. Das würde er sich zur Aufgabe machen, als wäre er wieder an der Universität. Zwanzig Rollen schwarzweiß, zwanzig Rollen Farbe. Eine Woche voller Licht, wenn das Wetter es zuließ. Früher hätte ihn das einmal erfüllt.

«Habt ihr die Schuhe an?», fragte Lise.

«Ja», antworteten sie.

«Mom?», fragte Sam.

«Was ist?»

«Zählt ein Game Boy als Videospiel?»

«Ja», sagte Lise.

«Ella hat gesagt, es ist keins.»

«Hab ich nicht»

«Auf dieser Reise ist es eins», sagte Lise.

Aus Protest seufzte Sam tief.

«Hört mal.» Lise drehte sich um und warnte beide mit erhobenem Zeigefinger. «Wir sind hier, um Grandma zu besuchen, und nicht, um Videospiele zu spielen. Ich erwarte, dass ihr höflich seid und mithelft. Und Sam, von dir will ich kein Seufzen mehr hören. Wenn dich jemand um etwas bittet, tust du es. Klar?»

«Ja», sagten beide.

«Danke.» Lise blickte wieder nach vorn. «Das gilt auch für dich, Freundchen.»

«Jawohl», sagte Ken.

Zu ihrer Rechten glitt ein Farmstand vorbei, vor dem sich mehrere Kleinbusse drängten. KUCHEN, stand auf einem handgeschriebenen Schild. Er dachte, dass sich dort vielleicht ein Motiv finden ließe – die schräg geparkten Autos, die geschnittenen Orchideen in einem weißen Eimer–, konnte aber keins entdecken und fragte sich, ob alle Urlaubsorte so schmerzlich vertraut waren.

«Gibt es Kuchen zum Nachtisch?», fragte Sam.

«Hättest du gern Kuchen zum Nachtisch?», entgegnete Lise.

«Ja.»

«Da ist noch einer», sagte Ken und nutzte ihre gute Laune aus.

«Wie wär’s, wenn wir Grandma mit einem Kuchen überraschen?», fragte Lise. «Was für einen sollen wir nehmen?»

«Apfel!», rief Sam.

«Ella-bella?», fragte Lise.

«Ist mir egal. Nur keinen Pfirsichkuchen.»

Er parkte hinter einem anderen Geländewagen, der aus Virginia stammte. Ella blieb im Wagen, während sie sich aufteilten. Sam ging direkt zu den Kuchen, die in den Fächern einer altmodischen Riesenvitrine aufgereiht waren, alle in mit Drahtclips verschlossenen Plastiktüten, auf einem winzigen Zettel die Zutaten aufgelistet. Sam musste sich auf die Zehenspitzen stellen. Ken fand die Kuchen teuer, doch nach dem Fiasko am Geldautomaten wollte er die Sache nicht aufbauschen. Sie hatten seinen Lieblingskuchen, Kirsch mit Gittermuster. Lise hatte ihm zu Weihnachten so einen gebacken.

«Was ist Peck-tin?», fragte Sam.

Ken musste zugeben, dass er es nicht wusste. Vielleicht wusste es Mom. Sam sah sich alle Apfelkuchen genau an und schnappte sich dann mit beiden Händen den größten.

Sie fanden Lise beim Obst und Gemüse. Pektin war so was Ähnliches wie Gelee; es hielt die Kuchenfüllung zusammen, wie ein Verdickungsmittel. «Seid ihr so weit?»

Er hob eine Flasche Grad A-Ahornsirup hoch, um den Preis untendrunter zu lesen.

«Ich glaube, das nennt man Zeitschinden», sagte sie.

«Da hast du wohl Recht.»

Während sie darauf warteten, dass das Mädchen den Kuchen eintippte, legte Lise einen Strauß Wildblumen auf den Tresen. «Fürs Haus.»

«Ein Friedensangebot.»

«Es kann nicht schaden», meinte sie.

«Wir haben Apfel genommen», verkündete Sam im Wagen und hielt den Kuchen auf dem Schoß.

«Na toll», sagte Ella, aber die allgemeine Stimmung war umgeschlagen, alle lachten über sie und machten sich lustig über ihre düstere Miene.

«Schätze, du willst nichts davon haben», sagte Lise.

«Das hab ich nicht gesagt.»

«Mmmm», machte Ken, «Pektin!»

Sie fuhren los, hinter ihnen stieg ein Gespenst aus Staub auf und verschwand wieder, als sie auf die Straße bogen, als hätte es die Verfolgung aufgegeben.

Es waren nur noch zwei Kilometer, da lohnte es sich nicht, um eine neue CD zu bitten. Er hatte sich seit achthundert Kilometern an den Gedanken gewöhnen können, dass er seine Mutter besuchte, doch erst jetzt, wo sie fast da waren, wurde es für ihn wirklich, eine Sache, mit der er fertig werden musste, und obwohl er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als herzukommen, fühlte er sich betrogen und in die Falle gelockt, und die Vergangenheit hüllte ihn ein wie das schwüle Wetter. Seit der Beerdigung war es das erste Mal, dass sie alle zusammenkamen.

Er hatte keine Zeit, seine Gedanken weiterzuspinnen. Zur Linken glitten wie zur Warnung das Antiquariat vorbei (NEUE HARDCOVER FÜR 2DOLLAR), die Campingplätze mit ihren aus Sperrholz ausgesägten Yogi-Bär-Figuren, die die Wohnmobile willkommen hießen, und der Willow Run Golf Club, eine Bankrott gegangene Farm, die man in einen Par 3-Platz verwandelt hatte und wo ihm sein Vater nicht nur die richtige Schlagtechnik, sondern auch das Zeremoniell des Spiels beigebracht hatte, bevor Ken auf den Platz in Chautauqua durfte. Hinter der Kurve kauerte die Snug Harbor Lounge, eine örtliche Spelunke mit einem transportablen Schild, auf dem die Band angekündigt wurde, die an diesem Abend spielte, daneben ein funkelnder alter Firebird, der zum Verkauf stand. Und dann brausten sie an der Fischbrutanstalt vorbei, die quadratischen Teiche ordentlich aufgereiht wie die Fächer einer Eiswürfelschale, und aus Gewohnheit wandte er den Blick mehrmals verstohlen von der Straße ab und suchte auf der anderen Seite nach Reihern.

Er dachte, dass er mit der Holga hingehen und die Fische im Pumpenschacht fotografieren würde – dunkle Schatten im Wasser. Die Aussicht, etwas zu tun zu haben, beruhigte ihn, nahm dem Schild zum Manor Drive viel von seinem Schrecken.

«Da sind wir», sagte er und bog ab, wobei er den Geländewagen gewohnheitsmäßig, mit geübten Handbewegungen durch die scharfe Kurve lenkte.

Wie gut er diesen Ort kannte, sogar die Bäume – den knorrigen, verkrümmten Holzapfelbaum im Garten der Nevilles, der nach seiner und Megs Überzeugung in irgendeinem unterirdischen Ort der Finsternis wurzelte; die beiden großen Eichen, die die Straße einklemmten und auf einer Seite den Asphalt aufgewölbt hatten wie einen Teppich. Er kannte jedes Sommerhaus und inzwischen sogar die großen Häuser, wusste, dass jedes die ungezwungenen Stunden der darin wohnenden Familie barg, das beiläufige Verstreichen des feuchten Sommers. Wenn sie wegfuhren, würden diese langen Tage immer noch da sein, würden im Winter unter dem Schnee warten, der See unter seiner Eisdecke wie die im Schlamm kauernden Hechte und Muskellungen, ihr Herzschlag verlangsamt zu einem kaum hörbaren Pochen. All die Kartenspiele bei Gin Tonic und die Hühnchensalat-Sandwiches auf dem Steg würden auf sie warten und die Zweige der Weiden im Wind schaukeln, doch sie würden nicht zurückkehren, und egal, wo sie nächstes Jahr hinfuhren, er würde diesen Ort vermissen, würde ihn immer vermissen.

Er merkte, dass er in Panik geriet, und hielt den Atem an.

«Alles in Ordnung?», fragte Lise.

«Die Wehmut hat mich ganz plötzlich überwältigt.»

«Meinst du, das hat vielleicht was mit deinem Vater zu tun?»

«Vielleicht. Keine Ahnung.»

Wieder merkte er, dass Ella und Sam ihnen zuhörten. Auf einer langen Autofahrt erfuhren die beiden mehr über ihre Eltern als das ganze Jahr zu Hause.

Da war das Haus, versteckt hinter der großen Kastanie, da der Briefkasten mit den Taglilien seiner Mutter. Sie waren mit Arlenes Wagen gekommen. Er fuhr den Geländewagen an die Seite, unter die Kastanie, damit sie beide aussteigen konnten. Die Zweige scharrten am Wagendach.

«Die Fahrräder!», rief Lise, er trat auf die Bremse, würgte den Motor ab, und feste Kastanienkapseln prallten aufs Dach.

«Verdammt nochmal», sagte er, denn er war den ganzen Tag vorsichtig gewesen, hatte abgeschätzt, wie hoch die Fahrräder waren, und beim Geldautomaten und an den Tankstellen überprüft, wie viel Spielraum sie hatten.

Lise öffnete ihre Tür und stellte sich aufs Trittbrett.

«Wie sieht’s aus?»

«Ich glaube, wenn du zurücksetzt, ist alles in Ordnung.»

Dröhnend startete er den Motor.

«Warte, bis ich eingestiegen bin», sagte sie.

Er spürte, wie er vor Wut die Zähne zusammenbiss, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Das war genau das, was er nicht ausstehen konnte. Er hatte die Fahrräder gar nicht mitnehmen wollen. Die Kinder fuhren doch kaum damit.

Seine Mutter und Tante Arlene kamen aus dem Haus, und Rufus sprang um sie herum. Seine Mutter lachte und sagte etwas.

Er ließ das Fenster runter.

«Ihr habt Probleme mit dem Baum, wie ich sehe», sagte sie.

«Ich muss bloß zurücksetzen. Wenn du uns Rufus so lange vom Leib halten könntest.»

Verstimmt trat sie beiseite, denn sie verstand es nicht als Scherz. «Dann mal los», sagte sie, «er ist weg.»

Er blickte über die Schulter und sah, dass Ella die Stirn runzelte, den Kopf gesenkt, als wäre ihr seine Fahrerei peinlich.

Er ließ die Kupplung kommen. Die Zweige schlugen gegen die Speichen, knallten aufs Dach, rissen sich dann sirrend los und ließen Blätter herabregnen.

«Alles klar?», rief er.

«Alles klar», bestätigte seine Mutter, und er stellte den Motor ab.

«In Ordnung», sagte Lise zu den Kindern, «alle helfen, das Gepäck reinzubringen.»

Die drei nahmen die Sache gemeinsam in Angriff, Lise gab die Taschen heraus, froh, dass sie etwas zu tun hatte, und überließ Ken die Begrüßung seiner Mutter.

Sie kam lächelnd auf ihn zu, und aus Gewohnheit beugte er sich vor, schlang die Arme um ihre knochigen Schultern. Er brachte es nicht fertig zu sagen, dass sie gut aussehe, denn jedes Mal, wenn er sie jetzt sah, erschütterte ihn ihr hagerer Körper. Er umarmte sie nur flüchtig und fragte in zu ernstem Ton: «Wie geht es dir?»

«Ich bin noch ziemlich mitgenommen, aber ich werd’s überstehen. Und was ist mit dir?»

«Mir geht’s genauso.»

Das war nicht gelogen. Irgendwann würde der richtige Augenblick kommen, um ihr von dem Job zu erzählen.

«Ich freue mich so, dass Lisa mitkommen konnte.»

«Sie wollte es nicht versäumen», sagte er und merkte, wie falsch das klang. «Die Farbe sieht gut aus.»

«Natürlich. Jetzt, wo wir das Haus verkauft haben, sieht es toll aus.»

Lise kam mit den Blumen in der einen und einem Matchbeutel in der anderen Hand, Kens Kameratasche über der Schulter. Seine Mutter nahm den Strauß widerstrebend entgegen und berührte sie am Arm, als würde sie Lise beim Fangenspielen abschlagen. «Ich bin so froh, dass du mitkommen konntest.»

«Sei nicht albern, Emily», sagte sie und ging auf die Tür zu.

Sam befreite sich aus einer Umarmung von Grandma, während Ella, die erwachsen wirken wollte, seine Mutter lange umarmte und ihr tröstend den Rücken tätschelte. Sie waren beide groß und knochig, und ihre Brillen sahen fast gleich aus. Obwohl er und Lise immer sagten, wie viel Ella von seiner Mutter hatte – die Launenhaftigkeit, die Liebe zu Büchern–, hatte ihre Ähnlichkeit, wenn sie sich gegenüberstanden, fast etwas Komisches, zwei Schwestern, getrennt durch sechzig Jahre.

Arlene roch nach Zigaretten und gab ihm einen Lippenstiftkuss auf die Wange. Sie beugte sich verschwörerisch vor.

«Ich weiß nicht, ob’s dir deine Mutter gesagt hat, aber wir hätten dieses Jahr gern einen Stopp für Videospiele.»

«Lise hat ihnen schon eine Standpauke gehalten.»

«Wie haben sie’s aufgenommen?»

«Ella hat nichts dagegen, das war zu erwarten. Und Sam, na ja…»

«Ich glaube, das wird kein Problem, solange es nicht regnet.»

«Wie ist denn die Wettervorhersage?», fragte er, aber niemand wusste es.

Sie begrüßten auch Rufus, und Ella kniete sich hin und schlang die Arme um ihn. Er lag im Schatten der Kastanie, während sie ihre Tennisschläger und Schlafsäcke ausluden, Sams Rucksack voller Krieg der Sterne-Legosund Pokémonkarten, der von Ella voll gestopft mit Nagellackfläschchen und entliehenen Büchern. Merck hatte Ken manchmal in das Werk in Baltimore geschickt, dabei hatte er gelernt, wie man die Sachen für eine Woche in einer einzigen Tasche unterbrachte. Irgendwann würden seine Kinder lernen müssen, sich zu entscheiden, auf bestimmte Dinge zu verzichten. Er befürchtete, dass seine Nachsicht irgendwann schlimme Auswirkungen haben würde, und führte sie darauf zurück, dass seine eigene Kindheit größtenteils idyllisch gewesen war und er die Härte des Lebens erst mit Mitte zwanzig kennen gelernt hatte, als wäre er bis dahin von seinen Eltern in einen Kokon gehüllt worden, der zu gleichen Teilen aus Liebe und Geld bestand.

Als er die Taschen durchs Wohnzimmer trug, wollte er sich die vertrauten Bilder von Segelbooten, den hässlichen orangen Zottelteppich, das Mobile aus spanischen Galeonen, das einem immer in die Augen stieß, nicht ansehen. Es war, als käme man auf eine Party voller guter Freunde, und die Erinnerungen, die jedes Möbelstück und all der Nippes auf dem Kaminsims im Vorbeigehen weckten, kreisten wie aufgeschnappte Gespräche. Er dachte, dass er später noch Zeit hatte, malte sich aus, wie er alles mit der Holga festhalten würde.

Er schleppte die Taschen nach oben, in das lange Zimmer unter dem Dachfirst, wo sie schlafen würden. Auch dort war der Fußboden mit einem Zottelteppich ausgelegt, aber in Rot, Weiß und Blau, und die Kommodenschubladen und alles, was von dem geziegelten Schornstein zu sehen war, hatten sie anlässlich der Zweihundertjahrfeier in den gleichen Farben gestrichen. Die Wände waren aus einem alten himmelblauen Pressspan, weich wie Kork und an den Fugen schon bröckelig. Rings um die Nägel sah er die Spuren der Hammerschläge seines Vaters. Hier oben war die Vergangenheit überall zu spüren – Flaschendrehen und Stille Post, Meg, die ihren Zigarettenrauch aus dem Fenster blies und verbotenerweise Bier trank, während ihre Eltern die Lerners und Wisemans auf der Veranda bewirteten. Da vor dem Spiegel auf dem niedrigen Schrank stand die 7UP-Flasche mit dem gekrümmten