Betrug - Zadie Smith - E-Book
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Betrug E-Book

Zadie Smith

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Beschreibung

Die gefeierte Bestsellerautorin Zadie Smith überrascht mit einem literarischen historischen Roman, der sich um einen der bekanntesten Gerichtsfälle Englands dreht: Der Tichborne-Fall, der Arm gegen Reich aufwiegelte. London 1873. Mrs. Eliza Touchet ist die schottische Haushälterin und angeheiratete Cousine des einstmals erfolgreichen Schriftstellers William Ainsworth. Eliza ist aufgeweckt und kritisch. Sie zweifelt daran, dass Ainsworth Talent hat. Und sie fürchtet, dass England ein Land der Fassaden ist, in dem nichts so ist, wie es scheint.  Mit ihrer Schwägerin besucht sie die Gerichtsverhandlungen des Tichborne-Falls, in der ein ungehobelter Mann behauptet, der seit zehn Jahren verschollene Sohn der reichen Lady Tichborne zu sein. Andrew Bogle, ehemaliger Sklave aus Jamaika, ist einer der Hauptzeugen des Prozesses. Eliza und Bogle kommen ins Gespräch und der Wahrheit näher. Doch wessen Wahrheit zählt? Basierend auf realen historischen Ereignissen ist »Betrug« ein schillernder Roman über Wahrheit und Fiktion, Jamaika und Großbritannien, Betrug und Authentizität und das Geheimnis des Andersseins.

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Seitenzahl: 564

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Zadie Smith

Betrug

Roman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Zadie Smith

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Widmung

Band Eins

1  Ein kapitales Loch

2  Ein später Ainsworth

3  A New Spirit of the Age

4  Die Dame des Hauses

5  Gefallen an William

6  Das Mysterium des Schmerzes

7  Eine Seite Speck

8  Die Schwestern Ainsworth

9  »Ich bin Schriftsteller«

10  »Mein Lebensmai ist nur ein Sorgenfrost«

11  Einhundert Pfund im Jahr

12  Zu Gast in Elm Lodge, Frühjahr 1830 

13  Trinkkur in Kilburn Wells

14  Gnade

15  Neun Monate

16  Eine absonderliche Wendung

17  Zu Gast in Chesterfield

18  Gaunersprache in Chesterfield

Band Zwei

1  Ein neuerlicher Umzug 

2  Tichborne-Debatten

3  Weitere Tichborne-Debatten

4  Hurstpierpoint, West Sussex

5  Ein weiteres Päckchen

6  Cuckfield Park

7  »Von einer literarischen Laufbahn rate ich ab«

8  Jamaika, im Roman

9  Hilary St. Ives, 1869 

10  St. Lawrence’s Fair

11  »Das sind unsere Reichtümer«

12  Jamaika, in der Wirklichkeit

13  Jamaika-Debatten

14  Einig, uneins zu sein

15  Ein Nachtrag zu Tichborne

16  Chapman sieht einen Geist

17  Zu Gast bei Gilbert

18  Ein Talent zur Freude, 1832 

19  Ein Ausflug unter Damen, 1830 

20  Bow Bridge House

21  Ein Ausflug unter Damen, 1870 

22  Horsham

23  »Sir Roger«

24  Andrew Bogle

25  Der Anwärter

Band Drei

1  Kensal Lodge, Juli 1834 

2  Das erste Unersättliche

3  Der Blick von der Treppe

4  Der Sünde Sold

5  Entschädigungen

6  Dickens tot!

7  Im Zug unterwegs

8  Die Äthiopier

9  Anwalt Atkinson spricht seine Empfehlung aus

10  Der Spinnrocken

11  Was können wir je über andere wissen?

12  Etwa Bogle!

13  Zu Gast bei Lady Marguerite Gardiner Blessington, Frühjahr 1836 

14  Schwerwiegendere Fragen

15  Gespräche über Lord Byron

16  Dreiecksverhältnisse

17  Von der Grausamkeit

18  Von der Beweglichkeit

19  Le Monde Bouleversé

Band Vier

1  Künstler & Autor

2  Zeitgemäße Literatur

3  Am Court of Common Pleas, 11. Mai 1871 

4  Dramatis Personae

5  Die Vorzüge der Improvisation

6  Komödie vor Gericht

7  Negative Capability

8  »Sind Sie Arthur Orton?«

9  Nicht ihre Feder

10  Was ist wirklich?

11  Nichts hat Bestand

12  Eine Erinnerung

13  All Souls

14  Auch nur eine Seele

15  Vertagt bis November!

16  Ein höchst erheiterndes Stück aus dem Punch

Band Fünf

1  London Daily News, Freitag, 10. November 1871 

2  Zu Fuß nach Willesden

3  Jack Sheppard, 1838 

4  Die »Newgate-Kontroverse«

5  Wie ein Ei dem anderen

6  Vergebung per Stereoskop, 1845 

7  Beim Lumpensammler

8  Niemanden zum Schicken

9  Bogle Glauben schenken

10  Alles verloren!

11  Ein Antrag

12  Andrew, Henry & Eliza

13  Eine Sehenswürdigkeit

14  Bogles Geschichte

Band Sechs

1  Auf Hope

2  Züchtigung

3  Nonesuch Bogle & Mulatto Roger

4  ›im who speak sense here nah speak true‹

5  Ein Dinner

6  Das große Unwetter

7  Erbschaften

8  Myra

9  Fruchtlos

10  »Myras Andrew«

11  Die letzte Heimkehr

12  Um Liebe & Profit

13  Mr. Edward Tichborne

14  Wildes Gerede

15  Pragmatismus

16  Stammbaum

17  Eine Übernachtung im Brown Hen

18  Ein kapitales Haus

19  Ein junger schwarzer Bogenschütze

20  Die Ordnung der Dinge

21  Im Falle eines weltweiten Krieges

22  Bittere Ernten

23  Maschine

24  Cato Street

25  Thistlewood! Wedderburn!

26  Die ewige Wiederkehr der Johanna

27  Der prophetische Traumkreis der Little Johanna

28  Hundszahngras, 1826 

29  Aus dem Land gebracht

30  Europäische Flitterwochen

Band Sieben

1  D wie Doughty

2  Upton Park in Poole

3  Der Weihnachtsaufstand 1831 

4  Reformen, 1834 

5  Miss Elizabeth

6  Black Bogle

7  Wer bin ich in Wahrheit?

8  »Sklaverei«

9  Addieren & Subtrahieren

10  Tichborne Park

11  Liebe oder Besitz?

12  Protektion, 1853 

13  Sicherheit

14  Jane Fisher

15  Salzwasser

16  Die Warnung der Johanna

17  Die Warnung der Lady Mabella de Tichborne

18  Was ist wirklich?

19  Die Tür geht nach innen auf

Band Acht

1  Appelle an die Öffentlichkeit, 1873 

2  Freiheit!

3  Magnetismus

4  Ein öffentliches literarisches Dinner, Manchester Town Hall, 12. Januar 1838 

5  Zweifach gesegnet

6  Sommer 1872 

7  Die Free Trade Hall von Manchester

8  Die Fassade

9  Zu Gast bei den Ainsworth-Töchtern, 28. Oktober 1838 

10  Die Welt des Sentiments

11  Baumwolle & Zuversicht

12  Was wäre, wenn?

13  Regina vs. Castro, 23. April 1873 

14  Eine Frage der Länge

15  Der zwölfte Bote

16  Nur die Hälfte der Geschichte

17  Festlichkeiten im Sussex Hotel an der Bouverie Street, 12. Dezember 1840 

18  Die erste Seite von The Tower of London

19  Eine Theorie der Wahrheit

20  Das Mysterium um Bogle – und Luie

21  Offenes Land

22  Gnade

23  Was können wir je über andere wissen?

24  Ein früheres Mysterium um Bogle, 1840 

25  »Das große Problem endlich gelöst«, 1844 

26  Friss oder stirb

27  Hinter den Kulissen

28  Eine Theorie

29  Unendlichkeit, 1851 

30  Abverkauf, 1852 

31  Die Jahre in Brighton, 1853–1867 

32  Grand Unions

33  Eine Reise nach Manchester, Fastnachtsdienstag 1863 

34  Kenealy resümiert, Dezember 1873 

35  Keine Fragen

36  Ein dunkles Geheimnis

37  Ende

38  Narren & Eiferer

39  Die große Zusammenkunft der Empörten

40  Nach den Hackney Downs, 11. Dezember 1875 

41  Ein Armenbegräbnis, 1877 

42  Eine Zufallsbegegnung im Zug

43  Auf und davon

Nachwort

Danksagung

Zitatnachweis

Inhaltsverzeichnis

Sprache und Sprachgebrauch in diesem Roman folgen der historischen Epoche, in der er spielt. Die Übersetzung orientiert sich bei kritischen Begriffen, Sprachfärbungen und Vergleichen eng am Original.

Inhaltsverzeichnis

Für Darryl und Devorah

Inhaltsverzeichnis

Band Eins

Ich sah sie niedergehen, die großartige Stadt London, und wieder neu errichtet werden – sofern das etwas zählt. Ich sah sie wachsen, immer weiter wachsen, bis sie ihre jetzige Größe erreichte. Ihr werdet meinen Erzählungen kaum Glauben schenken, und doch kann ich mich noch entsinnen, wie unser Elendsviertel hier – dies schauderhafte Vagabundeneck – offenes Feld war, mit Hecken ringsumher und Bäumen. Ein wahrhaft reizvolles Fleckchen Erde.

William Harrison Ainsworth

1 Ein kapitales Loch

Auf der Schwelle stand ein verdreckter Bursche. All der Schmutz ließe sich wohl letztendlich abschrubben – im Gegensatz zu den zahllosen rötlichen Sommersprossen. Kaum älter als vierzehn, konnte er die mageren, schlackernden Marionettenbeine nicht still halten und beförderte Ruß in die Diele. Und doch sah die Frau, die ihm aufgemacht hatte – leicht zu erheitern und stets empfänglich für Schönheit –, sich nicht imstande, ihm darum gram zu sein.

»Kommst du von Tobin?«

»Ja, Missus. Ich komm für die Decke. Eingestürzt, stimmt’s?«

»Aber wir hatten doch um zwei Leute gebeten.«

»Alle in London, Missus. Beim Dachdecken. Können Sie sich nicht vorstellen, Madam, was da in London an Dächern gedeckt werden muss …«

Natürlich sah er, dass sie alt war, doch sie gab sich weder wie eine alte Frau, noch klang sie wie eine. Ansehnlich, mit hoher Büste, wies ihr Gesicht nur wenige Falten auf, und ihr Haar war schwarz. Gleich oberhalb ihres Kinns zog sich eine Linie entlang, wie ein umgedrehter Halbmond. So viele Widersprüche konnte der Bursche nicht enträtseln. Er beugte sich über das Blatt, das er in der Hand hielt, las zögernd ab:

»St. James-is Villas Nummer eins, St. James-is Road, Tunbridge Wells. Der Name ist Touch-it, stimmt’s?«

Aus den Tiefen des Hauses war ein dröhnendes Ha! zu hören. Die Frau verzog keine Miene. Dem Jungen erschien sie milde und hart zugleich, so wie die meisten Schotten.

»Jede Aussprache des Namens meines verstorbenen Mannes ist gleichermaßen abstrus. Ich selbst ziehe die französische Variante vor.«

Hinter ihr in der Diele erschien jetzt ein bärtiger, wohlgepolsterter Mann. In Pantoffeln und Morgenmantel, mit grau meliertem Schnurrbart und einer Zeitung in der Hand, schritt er zielstrebig auf einen hell erleuchteten Wintergarten zu. Zwei King-Charles-Spaniel sprangen wild bellend hinter ihm her. Er warf eine Bemerkung über die Schulter – »Wieder gelangweilt und gefährlich heute früh, was, Cousinchen?« – und war verschwunden.

Mit neu erwachter Tatkraft wandte sich die Frau dem Besucher zu: »Sie sind hier im Hause von Mr. Ainsworth. Ich bin Mrs. Eliza Touchet, seine Haushälterin. Wir haben im zweiten Stock ein kapitales Loch – einen regelrechten Krater. Die Stabilität des gesamten Stockwerks ist gefährdet. Aber wie ich in meinem Schreiben schon dargelegt habe, handelt es sich dabei um eine Aufgabe für mindestens zwei Männer.«

Der Bursche blinzelte dümmlich. Konnte das wirklich von den vielen Büchern gekommen sein?

»Wie es dazu kam, braucht dich nicht zu interessieren. Warst du unlängst Schornsteine ausfegen, Kind?«

Die Bezeichnung »Kind« kränkte den Besucher. Tobin war ein angesehenes Unternehmen: Er selbst hatte immerhin schon Fußbodenleisten in Knightsbridge angebracht. »Es hat geheißen, das ist ein Notfall, keine Zeit zu verlieren. Sonst gibt’s immer Dienstboteneingänge.«

Dreist, doch Mrs. Touchet war dennoch erheitert. Sie gedachte der glücklicheren Zeiten im altehrwürdigen Kensal Rise. Dann im kleineren, zauberhaften Brighton. Und nun in dieser Bleibe, bei der kein Fenster fest im Rahmen saß. Sie gedachte des Abstiegs und des Umstands, dass sie ihm nicht entkommen konnte. Da lächelte sie nicht mehr.

»Wenn man ein ehrbares Haus betritt«, erwiderte sie und hob ihre Röcke an, um dem Dreck auszuweichen, den er auf der Schwelle hinterlassen hatte, »ist es klug, sich für alle Eventualitäten zu rüsten.«

Der Junge zog die Mütze vom Kopf. Es war ein heißer Septembertag, da konnte man kaum klar denken. Eine Schande, an so einem Tag überhaupt einen Finger krumm zu machen! Aber solche Besen wie die waren nun mal das Kreuz, das er zu tragen hatte, und September hieß Arbeit, immer nur Arbeit.

»Kann ich jetzt reinkommen oder nicht?«, brummelte er in seine Mütze.

2 Ein später Ainsworth

Rasch eilte sie ihm über den schwarz-weißen Rautenboden der Diele voraus und nahm auf der Treppe zwei Stufen auf einmal, ohne auch nur ans Geländer zu fassen.

»Wie heißt du?«

»Joseph, Ma’am.«

»Es ist ein wenig eng hier – Vorsicht mit den Bildern.«

Bücher säumten den Treppenabsatz wie eine zweite Wand. Die Bilder zeigten Venedig, einen Ort, an den er nie so recht hatte glauben können, aber man sah ja immer diese verstaubten alten Drucke in den Häusern der Leute, da musste wohl doch etwas dran sein. Die Burschen dort in Italien taten ihm leid. Wie sollte man eine Türschwelle fliesen, vor der die ganze Zeit Wasser schwappte? Wie Leitungen verlegen, wenn kein Keller da war, um die Rohre zu fassen?

Dann standen sie vor dem Bibliotheksdesaster. Die kleinen Hunde – so blöd sie auch aussahen – tippelten bis dicht an den Rand, aber keinen Schritt weiter. Joseph war bemüht, die gleiche Haltung einzunehmen, wie Tobin selbst es immer tat, breitbeinig, mit verschränkten Armen, und nickte beim Anblick des Lochs so trübsinnig vor sich hin, wie man es angesichts einer Dirne oder eine Kloake täte.

»So viele Bücher. Wozu braucht er die denn alle?«

»Mr. Ainsworth ist Schriftsteller.«

»Wie – dann hat er die alle selbst geschrieben?«

»Eine überraschend große Anzahl davon.«

Der Junge machte einen Schritt nach vorn und spähte in den Krater, als stünde er am Rand eines Vulkans. Sie trat neben ihn. Drei Bände tief hatten diese Regale Geschichte gefasst: die Könige und Königinnen, die Kleidung, Nahrung, Schlösser, Seuchen und Kriege längst vergangener Tage. Dann jedoch hatte die Schlacht bei Culloden das Fass zum Überlaufen gebracht. Alles, was Bonnie Prince Charlie behandelte, lag nun unter Bergen von Schutt begraben unten im Salon oder ruhte in den Armen des bibliothekseigenen Perserteppichs, der durch das Loch gesackt war und nun als riesiges, pendelndes Etwas in der Luft hing wie ein umgedrehter Heißluftballon.

»Tja, also wissen Sie, Madam, mit Verlaub« – der Junge hob ein staubiges Buch auf und drehte es mit Kronanwaltsmiene in der Hand –, »allein das Gewicht von der ganzen Literatur, die Sie hier haben, das ist ja fürchterlich belastend für ein Haus, Mrs. Touchet. Fürchterlich belastend.«

»Da hast du vollkommen recht.«

Lachte sie ihn etwa aus? Vielleicht war »Literatur« ja nicht das richtige Wort gewesen. Vielleicht hatte er es auch falsch ausgesprochen. Mutlos ließ er das Buch wieder fallen und zog seinen Zollstock hervor, um das Loch auszumessen.

 

Als er sich eben wieder aufrichten wollte, kam ein Kleinkind hereingelaufen, glitt auf dem bisschen Parkett aus, das noch übrig war, und brachte dabei eine Farnpflanze zu Fall. Dem Kind auf den Fersen war ein hübsches, vollbusiges Persönchen mit vorgebundener Schürze, das die Kleine gerade noch erwischte, bevor sie einmal durch das ganze Haus fallen konnte. »Clara Rose! Ich sag dir doch – du darfst hier nicht rein. Verzeihung, Eliza.« Das galt der kratzbürstigen Schottin, die darauf entgegnete: »Das macht doch nichts, Sarah, aber womöglich ist es an der Zeit für Claras Mittagsschlaf …« Die kleine Clara wiederum reagierte auf den festen Griff um ihre Mitte mit Geschrei: »Nein, Mama, NEIN!« – was offenbar der Dienstmagd galt. Der Tobin-Bursche ließ jede Hoffnung fahren, diesen merkwürdigen Haushalt zu durchschauen. Er sah zu, wie die Dienstmagd das Kind am Handgelenk packte, zu fest, wie es dort, wo er herkam, die Mütter machten. Und weg waren sie. »Ein später Ainsworth«, kommentierte die Haushälterin und richtete den Farn wieder auf.

3 A New Spirit of the Age

Unten lag die Morning Post neben einem unberührten Frühstück. William saß in tiefes Grübeln versunken, den Sessel zum Fenster gedreht. Im Schoß hielt er ein Päckchen, das in braunes Papier gewickelt war. Als er die Tür hörte, fuhr er auf. Ob er wohl nicht wollte, dass sie ihn so betrübt sah?

»Eliza! Meine Damen! Da seid ihr ja. Ich dachte schon, ihr hättet mich verlassen …«

Die Hunde ließen sich hechelnd zu seinen Füßen nieder. Er senkte den Blick nicht zu ihnen und streichelte sie auch nicht.

»Ich fürchte, William, es wird mindestens eine Woche dauern.«

»Hmm?«

»Die Decke. Tobin hat uns nur einen Jungen geschickt.«

»Ach so.« Als sie Anstalten machte, sein Frühstück wegzuräumen, hielt er sie mit ausgestreckter Hand davon ab. »Lass. Sarah soll sich darum kümmern.« Dann stand er auf und glitt auf seinen Pantoffeln davon, stumm wie ein Schatten.

Da war wohl etwas nicht in Ordnung. Ihre erste Eingebung war ein Blick in die Zeitung. Sie las die Titelseite, überflog den Rest. Keine Freunde, die unerwartet verstorben oder erschreckend erfolgreich waren. Keine ungewöhnlichen oder besonders betrüblichen Nachrichten. Weiteren Arbeitern sollte das Wahlrecht gewährt werden. Verbrecher sollten nicht mehr länger in die Strafkolonien nach Australien deportiert werden. Der Anwärter, hatte sich herausgestellt, sprach kein Wort Französisch, obwohl der echte Roger Tichborne die Sprache in seiner Kindheit und Jugend fließend beherrscht hatte. Sie stellte alles auf das Tablett zurück. Nach ihrer Einschätzung ging Sarahs Ansicht inzwischen dahin, das Frühstücksgeschirr als unter ihrer Würde zu betrachten. Doch es war keine neue Dienstmagd eingestellt worden, um sie zu ersetzen, und so oblagen diese Dinge jetzt Mrs. Touchet.

Als sie sich zum Gehen wandte, stieß sie mit dem Fuß an etwas – das Päckchen. Es war ein Buch, gerade so weit ausgepackt, dass der Titel zu lesen war: A New Spirit of the Age von R.H. Horne. Sie hatte dieses Buch lange nicht zu Gesicht bekommen. Wenngleich nicht lange genug, um es zu vergessen. Sie hob es auf, sah sich einmal verstohlen im Zimmer um – warum, wusste sie selbst nicht recht. Dann schlug sie es auf, in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht täuschte, es sich womöglich um eine Neuauflage handelte. Doch es war genau die gleiche Sammlung literaturkritischer Schriften und darin, fast ganz zum Schluss, genau der gleiche kurze, vernichtende Absatz über ihren armen Cousin.

 

Vor zwanzig Jahren hatte die Publikation des Buches nur ein einziges Dinner verdüstert und auch den Morgen danach noch ein wenig verdorben. Damals war William noch nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Sie legte die beiden Hälften des aufgerissenen Packpapiers wieder zusammen. Kein Poststempel. Adressiert jedoch war das Ganze in gestochener Handschrift an den Mann, dessen Lebenswerk darin wie folgt zusammengefasst wurde: »durchgängig fad, bis auf die besonders abstoßenden Stellen«.

4 Die Dame des Hauses

Ein Elend an diesem Haus in Tunbridge: Man hörte alles, in jedem Zimmer, vom Keller bis zum Dach. Doch vormittags gegen elf ging William stets mit den Hunden spazieren. Kaum hatte sich die Haustür hinter ihnen geschlossen, begab sich Mrs. Touchet auf die Suche nach Sarah. Sie fand sie unten im Salon, wo sie mit dem Kind auf den Knien lag, umringt von aufgeklappten Büchern mit geborstenen Rücken. Drei Stapel waren im Entstehen begriffen, offenbar nach Größe geordnet. Mrs. Touchet erkundigte sich, ob sie behilflich sein könne.

»Nein, wir kommen bestens klar, Eliza, vielen Dank, also ohne Sie, will ich damit sagen … Und Sie müssen sich doch selbstredend auch ums Mittagessen kümmern.« Auch dessen Zubereitung oblag jetzt Mrs. Touchet. »Hui, Clara! Schau dir das mal an! Die sind alle von deinem Daddy! Ainsworth, Ainsworth, Ainsworth, Ainsworth, Ainsworth.« Das zumindest konnte sie lesen, die arme Frau. Sie strahlte vor Stolz über das ganze Gesicht. Eliza verabscheute den Teil von sich, der sich verpflichtet sah, korrigierend einzugreifen:

»Aber das sind Zeitschriften, Sarah, keine Romane. Sie gehören hier herüber, zu Bentley’s Miscellany und Fraser’s Magazine … Ainsworth’s Magazine – es hatte viele verschiedene Mitwirkende. Aber William hat die Zeitschrift ins Leben gerufen und war über etliche Jahre ihr Herausgeber. Also derjenige, der die Beiträge auswählt und redigiert. Zurzeit redigiert er ja auch Bentley’s, fragt sich nur, wie la…«

»Der Herausgeber! Das ist der Anführer, Clara. Gibt nichts Höheres als den Herausgeber!« Wie sie da so nebeneinander knieten, sahen sie beide aus wie Töchter, Seite an Seite. »Uuuh, und schau ihn dir hier mal an!« Die kleine Clara hatte nach der Juli-Ausgabe des Fraser’s Magazine von ’34 gegriffen, der Nummer 50, und prompt die Seite mit dem ansehnlichen Porträt von William als jungem Dandy aufgeschlagen. »Und was da alles drunter steht! Schau nur!« Mutter und Tochter schauten. Wie nicht anders zu erwarten, blieb das folgenlos. Mrs. Touchet seufzte, trat heran und las den beiden die Lobhudeleien vor. Sarah lauschte aufmerksam und klatschte anschließend zufrieden in die Hände.

»Ha! Davon wird er sich selbstredend auch sehr geehrt gefühlt haben« – dies im Ton größter Herablassung, als hätte sie es selbst verfasst. »Was bist du für ein schlaues Kindchen, Clara Rose, dass du einfach so ein Bild von deinem Daddy findest – und wie gut er damals aussah, und all die netten Sachen, wo da über ihn gesagt werden! Das ist mal ein Glück, was?«

Doch Mrs. Touchet zweifelte nicht daran, dass sich in etlichen der Zeitschriften, die da vor ihnen lagen, Ähnliches finden würde. Niemand konnte William übertriebene Zurückhaltung vorwerfen, wenn es darum ging, sich in den Vordergrund zu spielen.

»Stell dir nur mal vor, da wird so viel über einen und von einem geschrieben, dass unter dem Gewicht von den vielen Wörtern der Boden durchbricht! Hahaha!«

»Sarah, darf ich Sie um etwas bitten?«

»Aber selbstredend« – die kleinen Knubbelfinger behaglich im Schoß gefaltet, wie die Queen höchstpersönlich – »sprechen Sie ganz offen.«

»Nun, heute Morgen ist ein Päckchen eingetroffen …«

»Ja, das stimmt.«

»Sie haben nicht zufällig gesehen, wer es abgegeben hat?«

»Es hat vor der Tür gelegen. Da hab ich’s reingeholt und ihm gegeben, wie’s selbstredend jeder getan hätte.«

Aus irgendeinem Grund war Sarah auf die Vorstellung verfallen, das Wort »selbstredend« zeuge von vornehmer Ausdrucksweise.

»Sarah, ich möchte Sie bitten, künftig zunächst mir Bescheid zu geben, wenn etwas mit der Post kommt – Briefe, Bücher oder auch Päckchen, die vielleicht abgegeben werden –, bevor Sie es William aushändigen.«

»Und das will er so haben, ja?«

Eliza errötete, mehr aus Zorn als aus Verlegenheit.

Sarah wusste ihren Vorteil zu nutzen: »Weil ich mir nämlich gar nicht vorstellen kann, dass die Haushälterin und die Dame des Hauses irgendwelche Geheimnisse untereinander haben, von denen der Hausherr nie nichts weiß« – vorgebracht mit großem Ernst und nur mit dieser einen kleinen doppelten Verneinung – »das kommt mir nämlich gar nicht richtig vor und auch nicht so, wie’s sein soll. Ich weiß nämlich noch ganz genau, als wir das neue Haus eben erst bezogen hatten, da haben Sie gesagt, das große Bild von ihm, wo er noch ganz jung ist – das, haben Sie gesagt, soll nicht wieder aufgehängt werden, weil er das nämlich nie nicht mehr sehen wollen würde, wo er doch jetzt so alt ist, haben Sie gesagt – und dann kommt er das erste Mal rein und ruft: ›Wo ist mein alter Maclise?‹, und damit hat er das Bild gemeint, weil das ja nämlich so ein Maclise gemalt hat – und dann war er selbstredend nicht erfreut, weil sich nämlich rausgestellt hat, er mag dieses Bild von sich ganz besonders gern, also werd ich ihn selbstredend selber fragen, wie er das mit der Post sieht, würd ich sagen, mit Verlaub, Mrs. Touchet.«

»Selbstredend.«

Der Weg nach draußen führte Eliza an den lebhaften Augen des alten Porträts von Maclise vorbei. Lebhafte Augen, lebhafter Backenbart, lebhafte Locken – nichts, was im Moment der Fertigstellung nicht zugetroffen hätte. Hübsch wie eine Frau, rotwangig wie ein Wickelkind. Auch das war William einmal gewesen.

5 Gefallen an William

Draußen in der Diele musste sie sich erst einmal auf die Treppe setzen und einige lange, tiefe Atemzüge nehmen. In dieser Verfassung fand ihr Cousin sie vor. Er war erhitzt von der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Wärme und in ein Gespräch mit sich selbst über seine Selbstgespräche vertieft.

»Ich habe mir gesagt: ›Ich werde an die alten Gefilde in Manchester denken; ich werde meine Erinnerung an die Stadt, wie sie einst war, nehmen und sie auf den Jakobitenaufstand übertragen. Auf dem Weg von hier bis zum Bahnhof werde ich mir alles zurechtlegen und mich dann sogleich an den Schreibtisch setzen und anfangen.‹ Aber nein. Aus irgendeinem Grund, Eliza, bin ich heute …«

Eliza kannte den Grund, wusste jedoch auch, dass darüber zwischen ihnen Schweigen zu herrschen hatte. Sie erhob sich und folgte ihm in sein Schreibzimmer. Er nahm am Schreibtisch Platz, schlug auf den Friesbezug und stöhnte.

»Nun, William, womöglich liegt es ja am Stoff … Du hast schon so viel über die ferne Vergangenheit geschrieben.«

»Du störst dich am Gegenstand?«

Beileibe nicht: Das Jahr 1745 lag Mrs. Touchet sogar sehr am Herzen. Ihre Mutter war leidenschaftliche Jakobitin gewesen – das familieneigene Porridge-Geschirr trug das Siegel der Stuarts –, und ihr Vater war als Knabe nach Edinburgh gebracht worden, um dort Bonnie Prince Charlie in den Holyrood Palace einziehen zu sehen. Dennoch konnte sie nicht heucheln, die verlorene Sache als einen guten Stoff für William zu erachten, für den sich noch das kleinste historische Ereignis als äußerst ergiebig erwies. Beim Blick in die Zukunft hatte sie ein sehr klares Bild von sich selbst vor Augen, wie sie in einem halben Jahr am Tisch sitzen und sich etwa durch eingehende Beschreibungen der unterschiedlichen Behausungen auf den Äußeren Hebriden quälen würde, womöglich auch durch eine erschöpfende Auflistung der diversen Kilts, die von der Royal Company of Archers getragen wurden …

»Ich sehe es dir an. Du verziehst das Gesicht. Du störst dich daran.«

»Nun, womöglich wäre ein etwas aktuelleres oder persönlicheres Thema …«

Ein gepeinigtes Zucken: »Clitheroe war kein Erfolg.«

»Aber das war ja auch ein Buch über die Kindheit.«

Ein Seufzen: »Derzeit sehr en vogue.« Das war ein Zitat, und Mrs. Touchet bedauerte zutiefst, es jemals gesagt – jemals überhaupt diesen Vorschlag gemacht zu haben. Mervyn Clitheroe las sich kein bisschen wie Jane Eyre. Die Lektüre hatte sie mit dem seltsamen Eindruck zurückgelassen, dass William nie ein Kind gewesen sein konnte und auch keine Kinder kannte.

»Jetzt denke ich eher an dein Leben als Mann.«

»Eliza, mein Leben als Mann erschöpft sich haargenau hierin.« Er griff nach einem Federhalter, ließ ihn jedoch gleich wieder verzweifelt sinken, ohne die Darbietung zu Ende zu bringen. Auf irgendeine Weise war aus dem ansehnlichen jungen Burschen der Dreißiger mit seinem vom Makassar-Öl glänzenden Haar dieser bärtige, hängebackige, niedergeschlagene alte Mann geworden.

»Und all die anregenden Dinner?«

Seine Mundwinkel zogen sich so traurig abwärts, als wollte er sagen: Darauf ist mir der Appetit vergangen.

»Tatsache ist, William, Romane bestehen aus fesselnden Charakteren, und du warst dein Leben lang von fesselnden Charakteren umgeben.«

»Hmmm. Der Ansicht warst du aber damals nicht.«

»Der Ansicht war ich immer! Ich war nur ungehalten, weil ich ständig Port nachfüllen musste.«

»Hmmm.«

»William, falls du damit andeuten möchtest, ich sei einer jener törichten Menschen, denen der gegenwärtige Ruhm mancher Zeitgenossen die Erinnerung trübt, dann lass dir gesagt sein, ich habe mir schon vor langer Zeit mein Urteil über dich und all deine klugen Freunde gebildet, und an diesem Urteil hat sich nichts geändert.«

Doch während sie noch sprach, dachte sie, wenig loyal, an das Buch, A New Spirit of the Age – das eben jetzt auf einem Haufen zersplitterter Bodendielen im Garten verbrannte. Es versammelte sie alle, die Geister einer früheren Zeit, denen sie einst die Gläser gefüllt und Brathuhn serviert hatte. Gezählt, beschrieben, umschmeichelt, verrissen, beurteilt. Und Williams Eintrag mit Abstand der kürzeste. Eine Tatsache, die der Herausgeber in seinem Kapitel über ihren Cousin zur Gnade einem Mann gegenüber erklärte, den es in der Öffentlichkeit gemeinhin zu schonen gelte, werde er doch im Privaten hoch geachtet und geschätzt. Sie hatte Richard Horne noch gut im Gedächtnis: Er gehörte zu den aufgeweckten jungen Männern, die sie seinerzeit regelmäßig in Kensal Rise verköstigt hatte, und in ihrer Erinnerung hatte er, im Einklang mit allen anderen dort am Tisch, großen Gefallen an William gefunden. Aber Gefallen an William zu finden und seine Bücher zu lesen, das waren schon seit jeher zwei Paar Schuhe. Was Eliza wiederum bestätigte, dass ihre Äußerung zutraf – wenn auch in sehr eingeschränktem Maße. Sie hatte sich vor langer Zeit ihr Urteil über William und seine Freunde gebildet, hatte stets gewusst, wer Talent besaß und wer nicht, und sofern ihr Cousin nicht weiter nachbohrte, sah ihr verschwiegener, ironischer und doch so allmächtiger Gott geflissentlich darüber hinweg.

6 Das Mysterium des Schmerzes

Den ganzen Herbst hindurch behielt Mrs. Touchet die Post fest im Blick. Doch William erwähnte das Päckchen nie, und es traf auch nichts Ähnliches mehr ein. Ende November dachte sie längst nicht mehr daran. Sie war mit schwerwiegenderen Fragen beschäftigt. Tunbridge hatte sich als Fehlgriff erwiesen: Der Garten war klein und dunkel, und wenn William am Schreibtisch saß, hörte er den Zug. Im Frühjahr würden sie erneut umziehen. Doch was sich für William darauf beschränkte, den entsprechenden Satz zu äußern, bedeutete für seine Cousine viele Monate des Planens und Organisierens. Nachts plagten Truhen ihre Träume. Es handelte sich um dieselben Truhen wie im Jahr zuvor, nur dass sie jetzt allesamt gefüllt waren, und der Traum bestand darin, dass sie diesen Umstand ein ums andere Mal Kutschfahrern mit ausdrucksloser Miene auseinandersetzen musste. Sie war gereizt gegen jeden, konnte weder mit Sarah noch mit dem Kind oder den Hunden die Fassung wahren, geschweige denn mit der Zuständigen Abteilung des örtlichen Standesamts.

Sie missverstehen mein früheres Schreiben. Im vorliegenden Fall besteht der ausdrückliche Wunsch, dass die Trauung, obschon in einer Kirche abgehalten, durch Beurkundung in Kraft tritt, ohne Aufgebot.

Das Formular traf im Februar ein. Der Bräutigam war für Papierkram zu beschäftigt. Nachdem er erst kürzlich die Aufstände von Manchester als Erzählstoff verworfen hatte – »vorläufig zumindest« –, nahm er nun einen Roman in Angriff, der »teilweise auf Jamaika« spielen sollte, obschon er nie auch nur einen Fuß auf die Insel gesetzt hatte. (»Gewiss, Eliza, aber ich habe schließlich auch die Zeit der Restauration nicht miterlebt, war kein Straßenräuber und bin Guy Fawkes nie begegnet.«) Die Braut wiederum konnte allenfalls ein X zu Papier bringen. Es oblag also Mrs. Touchet, die Personalien zu ergänzen. Bei der Niederschrift der Angaben wurde sie von Schwindel ergriffen:

Sarah Wells, 26Jahre alt, gebürtig aus Stepney; Magd

William Harrison Ainsworth, 63Jahre alt, gebürtig aus Manchester; Witwer

Magd! Auch nur in einer Hinsicht. Weiter unten auf dem Formular meuchelte sie in gnadenlosem Eigennutz mit einem Federstrich Sarahs Eltern, weil es ihr zu sehr widerstrebte, »Schuhputzer« respektive »Dirne« als ihre jeweilige Profession anzuführen. Und da nach einem Kind nicht gefragt wurde, gab sie auch keines an. Im Gegensatz zu solchen schmerzlichen Auslassungen war es ihr eine wehmütige Freude, die Namen des liebenswerten, hochanständigen Thomas Ainsworth, Anwalt, gebürtig aus Manchester, seit Langem verstorben, und seiner reizenden, wenngleich geistlosen Frau Ann, ebenfalls seit Langem verstorben, zu notieren. Beinahe drei Jahre lang war sie mit dem Neffen der beiden verheiratet gewesen. Die guten Leute hatten sich großherzig auf ihrer Hochzeit, bei der Taufe ihres Sohnes und bei der Beisetzung ihrer kleinen Familie sehen lassen, nachdem das Scharlachfieber sie im Abstand von fünf Tagen dahingerafft hatte. Mrs. Touchet wusste noch gut, wie Ann, das freundliche Igelgesicht von schwarzem Crêpe umhüllt, bei der Totenwache versucht hatte, sie zu trösten.

»Schmerz ist ein Mysterium. Wer kann schon sagen, warum er uns heimsucht! Wir können ihn nur ertragen.«

»Aber ich weiß ja, warum.«

»Ach, arme Eliza! Sie werden doch nicht glauben, es ließe sich ein Sinn aus dieser Tragödie ziehen! Sie bleibt ein Mysterium, weiter nichts.«

»Nein. Sie ist eine Strafe.«

Aus Elizas Sicht mussten Anns vernebelte, wirre Vorstellungen von der absoluten Wirklichkeit eine unvermeidliche Folge des Umstands sein, dass sie in der falschen Kirche aufgewachsen war, als einziges Kind eines unitarischen Predigers.

7 Eine Seite Speck

An einem bitterkalten Nachmittag im März nahm Eliza in der Kirchenbank neben Williams Töchtern Platz, alle drei mittleren Alters, während die vierte und jüngste auf ihrem Schoß zappelte. Gleich vor ihr saß Gilbert, Williams bedauernswerter Bruder, der eigentümliche Laute von sich gab und mit dem Kopf wackelte. Sollten entweder die Laute oder das Wackeln überhandnehmen, so hatte sie Anweisung, ihn an der Schulter zu fassen und hinauszugeleiten. Den Rest der »Hochzeitsgesellschaft« bildeten Bräutigam und Braut sowie der Pfarrer. Christ Church. Ein bloßes Dutzend Jahre alt, glich sie von vorne einem mittelalterlichen italienischen Kloster und von hinten einem altenglischen Pfarrhaus. Doch durch die Tür und die schmalen protestantischen Fenster fiel die eine, wahre römisch-katholische Sonne herein und verlieh dem Raum, allem zum Trotz, etwas Heiliges. Von diesem Schein ließ sie sich nun davontragen. Fort zu einer froheren Zeremonie, an einem nassen Julitag vor mehr als zehn Jahren. In das kleine Dorf Dunmow. Zu just dem Augenblick, als der Regen – der alles zu verderben drohte – sich mit einem Mal verzog, die Sonne durchkam und zwei Paare, gekleidet für eine Hochzeit auf dem Lande, in buttriges Licht tauchte. Das eine Paar, jung und schön, kam aus dem Dorf; das andere, älter und ehrwürdig, aus Deutschland – es waren alte Freunde von William. Alle vier wurden sie auf Korbstühlen emporgehoben, und das ganze Dorf – Frauen mit Blumen im Haar, Männer im Ausgehanzug – geleitete sie die Landstraßen entlang, bis sie das Rathaus von Dunmow erreichten, das seinerseits mit Mohn und Siebenstern herausgeputzt war. Dort thronte dann William auf einem Podium und hielt eine endlose Rede, ganz wie ein Pfarrer, obwohl sich seine Rede in Elizas Erinnerung ebenso gnädig wie radikal einkürzen ließ:

»Wir haben uns heute hier versammelt, um eine uralte Tradition des Dorfes wiederzubeleben, namentlich den Wettstreit um die ›Dunmow Flitch‹« – die Menge jubelte, Blumensträuße wurden geschwenkt –, »ein festlicher Brauch, der, obschon so alt, dass wir ihn bereits bei Chaucer finden, in den letzten hundert Jahren nicht mehr begangen wurde, denn wie so viele Traditionen unserer verarmten Insel ist auch er der erbarmungslosen Maschinerie namens ›Fortschritt‹ zum Opfer gefallen« – halbherzige Buhrufe –, »weshalb es mich umso mehr erfreut, an ihn erinnern und ihn bewahren zu dürfen, ganz augenfällig in meinem Roman The Flitch of Bacon, or The Custom of Dunmow, dessen Popularität ich, so meine kühne Vermutung, wohl auch die heutige Einladung verdanken dürfte!« Verwirrung unter den Dorfbewohnern, eifriges Nicken seitens des Bürgermeisters …

Eine Seite Speck sollte demjenigen Paar als Preis gebühren, das »vor einem Gericht aus Gleichgesinnten« beweisen konnte, ein Jahr lang glücklich verheiratet gewesen zu sein, ohne in den vergangenen zwölf Monaten auch nur ein böses Wort gewechselt zu haben. Das Gericht bestand aus Mrs. Touchet, dem Bürgermeister und William. Es war eine höchst vergnügliche Angelegenheit, und zum Schluss hatte William – nicht dazu gemacht, auch nur einen Menschen zu enttäuschen – beiden glücklichen Paaren eine Speckseite zugesprochen. Es waren auch etliche Zeitungsreporter aus London zugegen, und so war William wohl der Glücklichste überhaupt. Anschließend strömten alle in den Sonnenschein hinaus und formierten sich zum Festumzug. Jemand hatte ein Lied aus dem Roman vertont:

You shall swear by Custom of Confession,

That you ne’er made nuptial transgression;

Nor since you were married man and wife

By household brawls or contentious strife,

Or otherwise at bed or at board

Offended each other in deed or word:

Or since the parish clerk said Amen

Wished yourselves unmarried again:

Or in a Twelvemonth and a Day

Repented not in thought any way.

In seinen Liedern zeigte William sich von seiner besten Seite. Der Umzug endete an einem mit Gänseblümchen getupften Feld, wo beide Paare – dem Brauch gemäß – auf Steinen niederknieten und ihre Speckseiten in Empfang nahmen. Darauf folgten Lustbarkeiten. Zu viele Lustbarkeiten: Im Zug zurück nach London stellte Eliza sich schlafend, um die Nachwirkungen übermäßigen Cider-Genusses zu verbergen. Seither setzte sich der lächerliche Brauch Jahr um Jahr fort, so hatte sie es wenigstens gehört; sie waren nie mehr hingefahren. Nur eine Macht konnte der Ainsworth’schen Begeisterung überhaupt das Wasser reichen, und das war das Tempo, mit dem sie verflog. Dennoch, wie viel glücklicher als heute war er an jenem Tag gewesen!

 

William und Sarah schritten durch die Stille zum Altar. »Mutters Kleid«, zischte Fanny – die älteste und strengste der Töchter – der bodenständigen Emily und der stets gekränkten Anne-Blanche ins Ohr, die daraufhin lautlos zu weinen begann. Nachdem die Mutter der Mädchen gestorben – und Mrs. Touchet dauerhaft ins Haus der Ainsworths gezogen – war, hatte es zu ihren ersten Pflichten gezählt, die Kleider der verstorbenen Mrs. Ainsworth sorgfältig in Seidenpapier zu verpacken und sie zu verwahren, auf dass die Töchter sie einmal tragen konnten. Wenn eine Frau so jung stirbt – mit nur dreiunddreißig Jahren –, sind ihre Kleider noch bestens erhalten. Sie benötigen nur geringfügige Änderungen, um auch dreißig Jahre später der Mode zu entsprechen. Doch niemand sonst trug sie wie Frances. Die erste Mrs. Ainsworth war zierlich und blond gewesen. Elegant. In diesem Kleid. In all ihren Kleidern. Und erst beim Gedanken an diese einmalige, lang verstorbene, geliebte Frau – der nie eine Speckseite als Preis gebührt hätte – fand sich Eliza in der Lage, die Tränen hervorzubringen, die einem solchen Anlass gebührten.

8 Die Schwestern Ainsworth

Zurück im Haus brachte die Braut Clara für deren Mittagsschlaf zu Bett. Erneut drängte sich das Bild einer Totenwache auf. So grimmig war die Stille im Salon, durchbrochen nur von Gilberts Wackeln und Wimmern. Eliza kämpfte den aufsteigenden Ärger nieder. Sie hatte diese Mädchen praktisch großgezogen: Sie war ihnen zugetan. Doch warum konnten sie nicht einfach heiraten? Mehr wurde schließlich nicht von ihnen erwartet. Einzig Anne-Blanche, der Jüngsten, war es gelungen, und das auch erst kürzlich, im ehrwürdigen Alter von siebenunddreißig Jahren; ihr Mann besaß nicht einmal echtes Vermögen. Fanny und Emily wohnten mit Gilbert in Reigate und betreuten ihn. Und doch waren sie einst allesamt Schönheiten gewesen, die viel Bewunderung hervorriefen. Irgendwo war wohl etwas aus dem Lot geraten.

Anne-Blanche weinte. Emily machte Tee. Fanny brachte es fertig, eine Anzahl sehr gezielter Fragen zu stellen, die nicht einmal den Versuch machten, ihre monetären Beweggründe zu verbergen. Wie es denn letztlich mit dem Haus ihrer Großeltern in Manchester ausgegangen sei? Verkauft – mit Verlusten. Außerdem hatte William sich vor einem bloßen halben Jahr gezwungen gesehen, Beech Hill, den Landsitz, zu verkaufen. Bentley’s Miscellany hatte er erst kürzlich an Bentley zurückverkauft. Im Grunde, das mussten sie sich eingestehen, konnten sie sich London nicht mehr leisten.

»Aber wie ich sehe, wurde ein neuer Feuilletonroman begonnen?«, warf Emily tapfer ein. »On the South Seas?«

Der fragliche Roman, sein sechsundzwanzigster, trug den Titel The South-Sea Bubble: A Tale of the Year 1720. Er wurde kapitelweise in einem Wochenblatt namens Bow Bells veröffentlicht, im Jahre 1868 jedoch von niemandem mehr gelesen, nicht einmal von Eliza, der das vollständige Manuskript zur Verfügung stand.

»Agaaaarjjjjuuuu«, jammerte Gilbert kopfwackelnd. »GUGGA-AWUU!«

»Sch-sch-sch … Ist ja gut.« William legte dem alten Mann liebevoll die Hand an die Wange. »Niemand ist ärgerlich, lieber Bruder. Wir beratschlagen nur, was für alle das Beste ist.«

Für Mrs. Touchet war es keineswegs das Beste, Fanny und Emily aufzufordern, gemeinsam mit ihnen nach West Sussex zu ziehen, doch sie ahnte inzwischen, dass dies unausweichlich in Kürze bevorstand. Wie um es vorwegzunehmen, eilte nun Sarah herein, in einem alten Hauskleid, auf der Nase ein wenig Ruß, der gewaltige Busen frei von den Zwängen des Brautkleids ihrer Vorgängerin.

»He, ihr ratet nie, was der Kohlenjunge mir grad erzählt hat! Geht die verflixte Mutter von diesem Tichborne doch einfach hin und stirbt! Es steht schon in allen Zeitungen. Da erklär mir doch bitte mal einer: Wer soll dem Fettsack denn jetzt noch glauben?«

9 »Ich bin Schriftsteller«

Als Mrs. Touchet erstmals herbeigerufen wurde, um die Ainsworth-Töchter zu retten, waren sie noch zu klein, um es zu bemerken. Fanny war drei, Emily erst ein Jahr alt und Anne-Blanche noch ein Wickelkind. Ihre junge Mutter, nie allzu robust – und mit drei Kindern in ebenso vielen Jahren heillos überfordert –, schrieb Eliza um Hilfe an. Der junge Ehemann weilte in Italien. Und warum weilte er in Italien?

So genau kann ich Ihnen das nicht sagen; ich bin literarisch nicht sehr bewandert und begreife seine Erklärungen nicht, die im Allgemeinen höchst literarisch sind. Es gab die Hoffnung, er werde seinem Vater ins Rechtswesen nachfolgen – immerhin ist er ja gelernter Anwalt. Mein eigener Vater hat den Versuch unternommen, ihn als Buchhändler und Verleger aufzubauen, aber wie Sie selbst wissen, hat William keinen Kopf fürs Geschäftliche. Vergangenen Monat hat er, nach Verlusten für alle Beteiligten, die Unternehmung nun aufgegeben. Ich hatte ihn so verstanden, dass er den Anwaltsberuf wiederaufnehmen wolle. Doch nun ist er, zu unser aller Überraschung, nach Italien gereist. Er sagt, er sei beinahe fünfundzwanzig, müsse Schönheit sehen und schreiben.

Ich füge seinen letzten Brief aus Venedig bei, der zahlreiche Beschreibungen der dortigen Landschaft enthält. Und hoffe, ich gehe nicht fehl in der Erwartung, dass Sie, die Sie in Ihrem Leben selbst so tiefer Mühsal ausgesetzt waren, mich auch in meiner begleiten und leiten können.

Stets die Ihre in tiefer Zuneigung,

Anne Frances

Elm Lodge, Kilburn

am 12. März 1830 

In der überfüllten Postkutsche, die sie in Chesterfield bestieg, hatte Eliza versucht, sich über die Lage klar zu werden. Was William anging, überraschte sie nur, dass er noch Überraschen hervorrief. Sie konnte nicht behaupten, ihn gut zu kennen, doch die ersten Worte, die er je zu ihr gesagt hatte, lauteten: Ich bin Schriftsteller und beabsichtige nicht, jemals etwas anderes zu sein. Ein Satz, der ihr seither nicht mehr aus dem Sinn gegangen war: William war damals fünfzehn Jahre alt gewesen. Sie selbst einundzwanzig und seit Kurzem mit seinem Cousin James Touchet aus Derbyshire verheiratet. Beim Dinner im Hause der Manchester-Ainsworths war sie froh gewesen, die weitere Familie als vergnügte, umgängliche und wenig theatralische Leute zu erleben, ohne die Neigung zum Hitzigen und Schwermütigen, die sie damals bereits bei ihrem Mann beobachtete. Theater fand dennoch statt: Nach dem Dessert wurde den Jungverheirateten ein selbst geschriebener Programmzettel ausgehändigt (Ghiotto: Tödliche Rache – ein neues dramatisches Schauspiel von William Harrison Ainsworth), und sie wurden ins Souterrain geleitet, um dem Einakter beizuwohnen, der von den Brüdern Ainsworth selbst aufgeführt wurde. Schmerzlich die Erinnerung daran, dass Gilbert damals der Feschere von beiden war und auch der bessere Schauspieler. Doch wer konnte aus solchen Dialogen schon viel machen? Rast fort, ihr Elemente! Grollt, ihr Donner! Zuckt auf, merkwürd’ge Flammen, flücht’ge Gäste! Schon in der Jugend hatte William die literarische Bedeutung der Witterungsverhältnisse aufs Gravierendste überschätzt. Sein Stück war schauderhaft – und lang. Hinterher kam er angesprungen und überhäufte sie mit Aufmerksamkeit, als würde er ihr eheliches Unglück irgendwie erahnen. Er hatte lange Wimpern, ein reizendes Gesicht wie ein junges Reh. Und schäkerte wie ein gestandener Mann. Sie gewann den Eindruck eines ungewöhnlich vorwitzigen, getriebenen Knaben, dessen Ambition seine Fähigkeiten bei Weitem überstieg.

Und doch! Wenige Wochen später traf in Chesterfield ein Exemplar von Arliss’s Pocket Magazine ein, auf dessen Seiten sich Ghiotto fand. Sogar ein Pseudonym hatte er sich zugelegt: T. Hall. Weitere Ausgaben folgten, stets versehen mit freimütigen, selbstgefälligen Schreiben:

Verehrte Mrs. Touchet,

diesen Monat ist es mir eine große Freude, Ihnen ein literarisches Pastiche unseres »Mr. Hall« zu übersenden, in dem er vorgibt, auf das lang vergessene Werk des Dramatikers »William Aynesworthe« aus dem 17. Jahrhundert gestoßen zu sein – und ihn entsprechend ausgiebig zitiert, haha –, und ich wage zu hoffen, dass dieser tollkühne Fälschungsakt das Publikum ebenso begeistern wie hinters Licht führen wird, vor allem aber Ihnen so viel Vergnügen bereitet wie seinem bescheidenen Verfasser die Niederschrift.

Ergebenst, Ihr

W. Harrison Ainsworth

Nicht lange danach folgte das erste Buch, unter Verwendung eines neuen Pseudonyms: Gedichte von Cheviot Ticheburne. Es war Charles Lamb gewidmet, mit dem der ehrgeizige junge Mann damals bereits Umgang pflegte. Mrs. Touchet konnte sich nicht für die Gedichte erwärmen: Sie waren ganz durchdrungen von romantischer Sehnsucht nach »lang verlor’nen Kindertagen auf freiem Feld« und jener »Zeit unbeschwerten Schulhofspiels, zu bald vergangen«, obwohl sie wusste, dass der Dichter selbst erst vor einem Monat die Schule abgeschlossen hatte und nun in der Kanzlei seines Vaters lernte. Die Juristerei hemmte den Wortschwall für kurze Zeit. Der einzige Brief, den sie von William in jenem Herbst erhielt, brachte die traurige Kunde, sein Bruder sei kopfüber vom Pferd gestürzt, ein Unfall, von dem damals noch alle glaubten, Gilbert werde »bald davon genesen«.

10 »Mein Lebensmai ist nur ein Sorgenfrost«

Mit achtzehn schickte er den ersten Band mit Erzählungen. Er konnte es unmöglich ahnen, doch die December Tales erreichten Eliza just an einem Tag tiefster Verzweiflung und Not – einem Tag, den sie bereits zu ihrem letzten erkoren hatte. Zum Geleit hatte William die berühmten Verse Sir Chidiock Tichbornes zitiert, jenes glücklosen Meuchelmörders der jungfräulichen Königin, jenes bedauernswerten, fehlgeleiteten Märtyrers des wahren Glaubens … Wie jede gute Klosterschülerin hatte auch Eliza diese Zeilen im Laufe der Jahre oft und oft gelesen. Doch nie zuvor hatte sie so sehr daran gezweifelt, sie zu überleben:

Mein Lebensmai ist nur ein Sorgenfrost,

Mein Fest der Freude nur ein Trog voll Weh,

Statt Weizen trägt mein Feld mir nichts als Spreu,

Mein Gut ist eitel Hoffen auf Ertrag;

Der Tag verstrichen, ohne Sonnenblick:

Und noch am Leben, ist mein Leben aus.

Sie überlebte. Ergriff mit bebenden Händen den Strick, den sie aufgrund seiner Länge und Stärke erwogen hatte, und fädelte ihn wieder in die Schlaufen am Morgenrock ihres Mannes. Wenn sich der alte Tichborne hängen, strecken und vierteilen, seine Eingeweide durch die Straßen des elisabethanischen London schleifen lassen und doch seine unsterbliche Seele bewahren konnte, dann konnte sich Mrs. Touchet auch die ihre bewahren, trotz allen Leids.

Es dauerte lange, bis sie das Buch schließlich las. Doch sie zog Erzählungen Gedichten bei Weitem vor, und als sie sich schließlich hineinvertiefte, las sie es an einem Stück. Viel hatte sich nicht verändert. Nach wie vor loderten Blitze als gleißender Teppich am Himmel, wurden ohne ersichtlichen Grund die groteskesten Morde begangen, Gräber wurden geöffnet, Geister wandelten umher, kein Mensch sagte oder tat auch nur etwas Vernünftiges, alle Frauen hatten offenbar den Verstand verloren, Kleidung und Mobiliar wurden minutiös beschrieben, und das Blut gefror entweder in den Adern oder floss in Strömen. Und doch! Ihrerseits ganz zerstört und verzweifelt auf der Suche nach einer Welt jenseits der eigenen, versank sie in diesen Seiten. Und ertappte sich erstmals seit vielen Monaten bei einem Lächeln angesichts der Beschreibung einer gewissen Eliza, einer schwarzhaarigen, mysteriösen Frau, die der Ich-Erzähler von »Mary Stukely«, ein notorischer Bigamist, einfach heiraten muss, obwohl er längst mit der »schönen Mary« vermählt ist:

Sie überragte die meisten, besaß ein gebieterisches Auftreten und das ausdrucksvollste Antlitz, das ich wohl jemals erblicken durfte. Sie mochte nicht das sein, was viele als schön erachten, doch ich weiß von keinem Menschen, der ihre Kraft besaß, bereits auf den ersten Blick zu fesseln. Auch ließ sich eine schlummernde Spur dunklerer Begierden erahnen …

Sie war damals vierundzwanzig. Drei Jahre lang war sie verheiratet gewesen. Im ersten Jahr hatte sie erfahren, dass sie nicht zur Ehefrau taugte. Im zweiten, dass sie durchaus zur Mutter taugte – dass sie Mutter war. Und im dritten gelangte sie zu der Einsicht, dass eine Mutter, wofür sie sich auch immer halten mochte, kaum mehr über ihr Kind gebieten konnte als eine Sklavin über ihr Leben. Es stand nicht in ihrer Macht, herauszufinden, wohin sich James Touchet mit ihrem geliebten Toby davongemacht hatte, sie konnte keine Rechte geltend machen und hegte folglich auch keine Hoffnung auf eine Rückgabe des Kindes. Und selbst wenn sie ein gesetzliches Recht besessen hätte, wusste sie doch, dass sie kein moralisches besaß. Ihr Mann mochte ein Säufer sein, doch hatte nicht sie ihn dazu getrieben? Er mochte sie mitten in der Nacht verlassen haben, mit dem Kind geflohen sein, doch war der Grund nicht, dass er wusste, was sie in Wahrheit war? Woher er es wissen sollte, blieb ihr schleierhaft. Doch so manches Wissen liegt jenseits aller Sprache.

11 Einhundert Pfund im Jahr

Mann und Kind waren fort. Wohin sollte sie sich wenden? Wer würde sich für sie einsetzen? Ihr Vater war tot; einen Bruder hatte sie nicht. Da fiel ihr der junge, literarisch bewanderte Cousin ihres Mannes ein, der gerade den Beruf des Anwalts erlernte. Sie schrieb ihm einen beschämenden Brief. Am nächsten Tag stand er vor ihrer Tür, gewissermaßen postwendend; er sah noch jünger aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, und war herausgeputzt wie der Count d’Orsay. Lachhafte Löckchen rund um das Gesicht, ein Schwalbenschwanz von makellosem Blau mit Messingknöpfen, glänzende Stiefel, in denen man sich spiegeln konnte, und eine gelbe Krawatte mit aufwendigem Knoten. Doch er war ihre einzige Hoffnung und zeigte sich taktvoll und liebenswürdig. Er fragte nicht nach Einzelheiten, erkundigte sich nur nach den Namen der Leute, die James in London kannte. Nach einer Woche hatte er eine Spur und kurz darauf eine Anschrift in Regent’s Park. Er schrieb Eliza und erbat sich von ihr die Erlaubnis, »den unsinnigen Liebeszank zu kitten«. Er versprach, seinen Cousin wieder zur Besinnung zu bringen. Mrs. Touchet erwartete keine Versöhnung, wünschte sie nicht einmal: Sie wollte nur ihr Kind. Nie hatte sie erlebt, dass ein Mann ein Kleinkind versorgte. Sie konnte nicht glauben, dass dies möglich wäre. Und so richteten sich all ihre Gebete auf Jenny, die Amme, die mit den beiden verschwunden war. Doch selbst diese Gebete erwiesen sich als Gift. Denn Jenny war es, die ihnen das Fieber brachte.

Die Nachricht von beider Tod überbrachte William ihr selbst, nicht schriftlich, sondern persönlich, und so war er da, als sie auf die Steinplatten der Diele sank. Er fing sie auf. Brachte sie zu Bett. Verständigte den Arzt. Instruierte die Magd, wie sie zu versorgen sei. Er kümmerte sich um alles, mit einem Takt, der sie bei einem so jungen Menschen tief beeindruckte. Und als das Testament eröffnet wurde und es an der Zeit war, an ihre Zukunft zu denken, beschwor er sie, alles »den fähigen Rechtsgelehrten in der Kanzlei meines Vaters« zu überlassen. Doch wie sich herausstellte, ging die sachkundige Meinung dieser Herren dahin, das Testament des Mr. James Touchet als so hastig verfasst und »schmählich und schlecht geschrieben« zu erachten, dass es unmöglich vor einer ehrbaren Frau verlesen werden konnte. Es sei »im Fieberwahn niedergeschrieben worden, der bekanntermaßen das Denken vernebelt«, und »eines jeden aufrechten Christenmenschen unwürdig«. Es ließ Eliza gänzlich mittellos zurück. Jenseits dieses augenfälligen Umstands nannte William ihr keine Einzelheiten, und sie drang nicht weiter in ihn, weder damals noch jemals danach. Ihr war es genug zu wissen, dass ihr jugendlicher Cousin – wenngleich er die hässlichen Anschuldigungen, die das Testament ihrer Vermutung nach enthalten musste, gewiss gelesen hatte – sie offenbar dennoch nicht verabscheute. Im Gegenteil, er erklärte, sich »mit aller Hingabe« ihrem Schutz widmen und ihr eine jährliche Zuwendung sichern zu wollen. »Seien Sie gewiss: Wir werden dieser Seite der Familie einen kleinen Teil ihres jamaikanischen Vermögens abschwatzen. Alle Welt weiß, dass Samuel Touchet mittellos verstarb, doch die Touchets selbst waren nie so verarmt, wie sie vorgaben, auch Ihr James nicht … Es wurde doch einiges beiseitegebracht, bevor unser verrufener Vorfahr sich am Bettpfosten aufgeknüpft hat!« Das immerhin glückte ihm. Einhundert Pfund im Jahr. Wenn sie bescheiden lebte, reichte das.

Nun war sie einunddreißig. Der Schmerz war nicht verschwunden, er hatte sich vielmehr niedergelassen: Er bildete das Fundament des Hauses, das sie war. Doch falls sie sich von den anderen unterschied, die hier mit ihr eingezwängt in der überfüllten Kutsche auf der Fahrt nach London saßen, sah man es ihr wohl nicht an. Sie war sich sicher, dass sie ganz wie jede andere Dame ihrer Klasse wirkte. Sittsam und bescheiden, mit Pompadour, Tornister und Reisetasche, denn anders als beim Landadel und den armen Leuten konnte es bei ihresgleichen jederzeit zu einschneidenden Veränderungen der Lebensumstände kommen, da war man tunlichst vorbereitet. Und darin lag das zweite Mysterium von Anne Frances’ Brief: Was war Eliza Touchets jetzige Rolle im Leben? Sie war die Hinterbliebene, so viel wusste sie. Die, die gelitten hatte. Aber hatten nicht alle gelitten? Vielleicht war sie diejenige, die vergleichsweise früh vom Leiden heimgesucht und so mit besonderen Einsichten ausgestattet worden war. Sie war die bedauernswerte junge Witwe, »tiefer Mühsal« ausgesetzt. Sie war die Mutter, deren Kind am Scharlachfieber gestorben war, weit weg von zu Hause, in einer fremden Stadt, in den Armen einer irischen Amme. Sie war eine, der das Schlimmste widerfahren war. Aber was bedeutete das für andere? Dass sie helfen konnte? Wie kamen sie bloß darauf?

12 Zu Gast in Elm Lodge, Frühjahr 1830 

Es zeugte zweifellos von schlechtem Charakter, dass sie das ländliche Leben nicht zu schätzen wusste. Sie ertrug es, doch es gefiel ihr nicht. Sie hatte Edinburgh im Blut. Großstadt im Blut. Ihre Mitreisenden mochten noch so sehr über den Dreck und den Gestank schimpfen, über das unglaubliche Chaos aus Kutschen und Fuhrwerken, doch Eliza genoss die Blicke, die sie auf eine Hochzeitsgesellschaft in Mayfair erhaschte, auf eine Frau auf der Charing Cross Road, die einer anderen eins mit dem Besen überzog, und auf eine Gruppe äthiopischer Musikanten kurz vor Westminster. Viel zu rasch zog das fesselnde Gedränge der Oxford Street an ihr vorbei. Als sie den Tyburn Tree umrundeten, betete sie im Stillen für die Seelen der Märtyrer und wappnete sich dann für die lange ländliche Ödnis der Edgware Road. Felder, so weit das Auge reichte.

Am Red Lion wurden die Pferde gewechselt. Eliza beschloss, die letzte halbe Meile zu Fuß zurückzulegen und Buße zu tun. Siehe das Lamm, das durch die Glockenblumen tollet, ermahnte sie sich, und doch erfüllte selbiges Lamm sie in aller Aufrichtigkeit mit Langeweile. Stattdessen prägte sie sich die Reihenfolge der Gasthäuser ein – Cock Tavern, Old Bell, Black Lion – und ihre relative Entfernung zum Kurpark Kilburn Wells, wo die junge Mutter sich einer Trinkkur unterziehen konnte, während Mrs. Touchet sich einen anständigen Krabbentopf genehmigte. Drei Wochen werde ich bleiben – längstens einen Monat. Das werde ich von Anfang an klarmachen. Ich habe meinen eigenen Lebensweg und – Gott sei Dank – mein eigenes jährliches Einkommen und brauche nichts und niemanden. Das werde ich sehr klarmachen. Kein Mensch begegnete Mrs. Touchet auf dieser Straße, nur ein zahnloser Bauer, der eine Herde Schweine mit einem Stock vor sich hertrieb, doch ihr Eindruck war, selbst er könne sehen, dass diese hochgewachsene, resolute Frau, die ohne jede Hilfe drei Taschen trug, nichts und niemanden brauchte.

Sie hatte nicht damit gerechnet, welche Freude es sein würde, selbst gebraucht zu werden.

»Eliza! Sie sind ja viel größer, als ich es mir vorgestellt habe!«

Anne Frances Ainsworth stand in der Tür von Elm Lodge, einem schlichten, quadratischen Haus, das von Kletterrosen überwuchert und von Ulmen umstanden war. Das blonde Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Eliza fand, dass ihre Züge noch zarter waren als auf ihrem Bildnis. In ihrer Miene lag reine Arglosigkeit – als käme ihr niemals in den Sinn, etwas anderes zu sagen als genau das, was sie dachte –, und um sie her wimmelten Kinder, umklammerten ihre Beine, hingen an ihrem Arm. Die zupackende Eliza stellte dort, wo sie war, unter dem Apfelbaum, ihre Taschen ab, ging zu ihr und nahm ihr das Wickelkind ab. Tobys Gewicht. Tobys Geruch.

»Sie müssen ›Annie‹ zu mir sagen – so nennt mich William, so nennen mich alle.«

Doch Eliza spürte längst, dass sie selbst – im Denken dieser Anne Frances – anders, separiert von »allen« bleiben wollte. Sie würde sie Frances nennen.

»Wie gut von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Wie herzensgut. Gestern habe ich erfahren, dass unsere Ethel uns verlassen will: Sie wird einen jungen Mann aus Willesden heiraten, vom Mapesbury-Hof! Keine gute Partie, aber was will man tun? Dann bleibt uns nur noch Eleanor, und sie hat in der Küche alle Hände voll zu tun. Ach, es ist so gut von Ihnen, dass Sie gekommen sind!«

Herzensgute Menschen, das hatte Eliza längst schon bemerkt, zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie diese Eigenschaft allerorts und in allen anderen wahrzunehmen glaubten, obgleich sie in Wirklichkeit verschwindend selten vorkam.

13 Trinkkur in Kilburn Wells

Sie war am 23. April 1830 in Elm Lodge eingetroffen. Seither beging sie diesen Tag in ihrem Herzen. Es gingen keine Worte damit einher. Auch kein bewusstes Ritual. Hätte man sie gefragt, was sie mit dem Datum verband, sie hätte wahrheitsgemäß geantwortet, es handle sich um den St. George’s Day, und jegliche persönliche Bedeutung verneint. Doch tief im Innern, jenseits der Worte, beging sie ihn. Ein ganzer Strauß von Empfindungen. Die Kletterrose. Frances in der Haustür. Die erste, unverkennbare Ahnung ihrer Herzensgüte. Das Gefühl, früh am Morgen die grasbewachsene Willesden Lane entlangzugehen, wilde Blumen zwischen den Hecken zu pflücken, im Versuch, sie zu würdigen. Das Glück zu wissen, dass sie bald wieder umkehren würde, zurück in ein Haus, wo ausgekochte Lumpen und geschossene Kaninchen an Schnüren hingen, wo es trocknende Wäsche gab und rundliche Kinderfüßchen, kleine, vom Essen verklebte Hände, den Duft nach Speck, in Tücher gewickelte Früchtekuchen, den sumpfigen Geruch von Erbsensuppe und schlichte Bach-Akkorde, die ungelenk, aber gutwillig auf dem Klavier gespielt wurden. Die ganze warme, heilige menschliche Geschäftigkeit, die sie schon beinahe vergessen hatte.

In der bewussten Bilanz, die sie über diese Zeit zog, wusste sie, dass drei Wochen so schnell verflogen wie die Lebensspanne einer Eintagsfliege. Alle waren froh, dass sie da war. Sie erwies sich als hochgradig kompetent, sowohl mit den Kindern als auch bei der Haushaltsführung. Sie war »ein Geschenk des Himmels«. Und angesichts des plötzlichen Abschieds des Dienstmädchens sowie der Tatsache, dass die beiden älteren Kinder, Fanny und Emily, einander ständig aus dem Schlaf rissen – während Köchin Eleanor es leid war, in der Küche auf dem Boden zu schlafen, und Begehrlichkeiten hinsichtlich des früheren Dienstmädchenzimmers äußerte; angesichts all dessen schien es ganz einleuchtend, dass Fanny und Emily getrennt wurden, Eliza ihr Zimmer aufgab und fortan das Bett mit Mrs. Ainsworth teilte.

 

An dem Tag, den sie als letztmögliches Abreisedatum vorgesehen hatte, fand sie sich stattdessen, Arm in Arm mit Mrs. Ainsworth, auf dem Weg nach Kilburn Wells.

»Es ist sicher albern, aber mir erscheint der Sonnenuntergang von Kilburn schöner als anderswo.«

»Das ist in der Tat albern.«

»Aber du musst doch zugeben, dass dieser Himmel wunderschön ist? Doch, das musst du! Rosa und orange – wie Frühlingsblüten!«

»Zugegeben, doch ebenso muss ich einräumen, dass wir etwas ganz Ähnliches in Stamford Hill sehen könnten.«

»Ach, Lizzie, eine schärfere Zunge als deine …«

»… hast du nie zuvor irgendwo angetroffen? Ich versichere dir, es gibt schärfere.«

»Aber doch nicht bei Frauen.«

»Offenbar warst du noch nie in Edinburgh.«

Solchen Unsinn redeten sie. Und jedes Wort leuchtete. Die Kinder waren mit Köchin Eleanor im Haus zurückgeblieben. Sie hatten auf ihrem Weg die Straße entlang nichts zu tragen außer sich selbst. Welche Leichtigkeit! Sogar noch, als sie den Park erreichten und sich unter die vielen lauten Menschen auf der Suche nach Zerstreuung mischten, sogar da hielt sich der Glorienschein, der sie umgab. Sie waren ein ungewohnter Anblick in dieser Umgebung. Zwei Frauen allein an einem Tisch, frei von Kindern, Eltern oder lautstarken Ehemännern, die sich über die Zustände in Amerika ausließen oder die Whigs niedermachten. Sonst hatte Eliza nur wenig für solch organisierte Lustbarkeiten übrig und auch nicht für die Menschen, die sie aufsuchten, doch an diesem Abend verübelte sie es ihnen nicht, dass sie mit offenem Mund ihre Krabben kauten, Zigarren rauchten oder vernehmlich ihren mit zweifelhaftem Wasser aufgebrühten »Gesundheitstee« schlürften. Womöglich sagte ihre Miene jedoch das Gegenteil.

»Oje … Eleanor hatte recht. Sie sagte noch: ›Das wird Eliza nicht gefallen – sie wird’s nicht mögen dort, mit den ganzen Menschen und dem ganzen Lärm, und sie wird es nicht gutheißen.‹ Eleanor ist wirklich lustig – ständig ist sie in Sorge, du wärst zu klug für uns … Und es ist ja wohl auch nur eine alberne Mode … Wir können auch wieder nach Hause gehen, wenn du magst? Aber weißt du, ich habe Eleanor gesagt: ›Früher stand genau hier einmal eine Abtei, für Lizzie wird es also eigentlich wie Weihwasser sein.‹«

»Jedes Wasser ist geweihtes Wasser.«

Es schien, als würden selbst solche kleinen Unstimmigkeiten ihnen mit voller Absicht in den Weg gestellt, um das Wirken der Gnade umso eindrücklicher zu illustrieren.

14 Gnade

Eliza Touchet glaubte fest daran, dass unmöglich eine Rechtfertigung oder ein Grund existieren könne, durch den sich die Farbe Rot, die Bäume, die Schönheit, das menschliche Auge, Karotten, Hunde oder sonst etwas auf Erden erklärte. Wie alle Menschen ertappte auch sie sich immer wieder dabei, dass sie dennoch nach Gründen suchte. Doch welche Rechtfertigung ließ sich für Liebe finden? Das ist nur, weil sie so herzensgut ist. Dennoch blieb die unleugbare Tatsache bestehen: Was immer Frances sonst noch sein mochte, sie war auch Baptistin. (Seelische Reife spielte für Mrs. Touchet keine Rolle. Zu gut wusste sie, wie unreif Seelen sein können, allen voran ihre eigene.) Andererseits war es just die baptistische Kirche mit all ihren Fehlern gewesen, die Frances zum Abolitionismus geführt hatte. Und Frances wiederum war es gelungen, ein schemenhaft formloses Misstrauen hinsichtlich der Versklavung von Menschen, das Mrs. Touchet empfand, in brennende Abscheu zu verwandeln – ein Gefühl, das in seiner Kraft ebenso wenig zu leugnen, wenngleich nicht ganz so leicht von den anderen Gefühlen zu trennen war, die gegenwärtig in ihr brannten.

Am I not a Brother and a Man?

Hatte Mrs. Touchet bisher über diesen Slogan sinniert, war er ihr immer ein wenig geschmacklos vorgekommen. Wenn sie einem Bettler, einem Straßenmädchen oder Schlimmerem ein Almosen gab, hatte sie es nie für nötig befunden, irgendeine sentimentale familiäre Verbindung zwischen sich und der Person zu ersinnen, der ihre Barmherzigkeit galt. Die erste »Versammlung«, zu der sie Frances begleitet hatte, war ihr unfreiwillig komisch erschienen – so übertrieben ernst. Doch in wenigen kurzen Monaten gelang es Anne Frances, in Mrs. Touchets Herz und Sinn eine Revolution anzuzetteln. Gemeinsam lauschten sie den erschütternden Augenzeugenberichten jamaikanischer Geistlicher und ließen sich Fesseln und Peitschen zeigen – Mrs. Touchet hielt eine eiserne Halsfessel in Händen. Sie unterzeichnete alte Bittschriften, setzte neue auf, nähte, buk und verfasste Schreiben, um Geld für Gastredner aus Amerika einzutreiben. Im Juni lauschte sie in der Exeter Hall einem geraubten Sohn Dahomeys, schwarz wie ein Pikass, der sich am Rednerpult ebenso eloquent ausnahm wie Robert Peel. Und wenn Eliza jetzt die Psalmen las und sich Josef in seiner Knechtschaft vorstellte, war dies kein abstrakter Gedanke mehr. Er war ein leidender Sohn Dahomeys, mit schwärenden, eiternden Wunden am Rücken.

Was sollte das alles sein, wenn nicht Gnade? Eine Gnade, die ihr immer wieder zuteilwurde, sich durch die Zeit erstreckte, als wären Elm Lodge und alle, die darin wohnten, durch ein ungestopftes Loch in der Tasche dieser Welt gefallen. Dies kleine Leben häuslicher Zufriedenheit. Ein Haushalt aus Frauen und kleinen Mädchen, die bestens miteinander auskamen. Sittliche Besserung, wohltätige Arbeit, stilles Gebet. Gnade. Und Williams Briefe voll seliger Verzögerungen: Ich habe beschlossen, in die Schweiz weiterzureisen. Zwei Monate später dann: Ich kehre nach Italien zurück.