Zähne zeigen - Zadie Smith - E-Book
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Zähne zeigen E-Book

Zadie Smith

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Beschreibung

Zadie Smiths preisgekrönter Bestseller – jetzt erstmalig als E-Book Als Zadie Smiths Debütroman 2000 erschien, wurde er als literarische Sensation gefeiert, mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, und er stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Mittlerweile gilt das Buch als Klassiker der englischsprachigen Gegenwartsliteratur. Im Zweiten Weltkrieg verpassen die Soldaten Archie Jones und Samad Iqbal ihre große Chance auf eine Heldentat – den einzigen Nazi, dem sie begegnen, lassen sie laufen. Dreißig Jahre später kämpfen beide in London mit zerplatzten Träumen, jüngeren Ehefrauen, widerspenstigen Kindern und den großen Themen ihres Lebens: Herkunft, Religion, Hautfarbe und Geschichte.

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Seitenzahl: 874

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Zadie Smith

Zähne zeigen

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Zadie Smith

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoArchie1 Die seltsame zweite Heirat des Archie Jones2 Zahnprobleme3 Zwei Familien4 Drei im Anmarsch5 Die Wurzelkanäle von Alfred Archibald Jones und Samad Miah IqbalSamad6 Die Versuchung des Samad Iqbal7 Molare8 Mitose9 Meuterei!10 Die Wurzelkanäle des Mangal PandeIrie11 Die Verziehung der Irie Jones12 Eckzähne: die Reißwerkzeuge13 Die Wurzelkanäle der Hortense Bowden14 Englischer als die Engländer15 Chalfenismus kontra BowdenismusMagid, Millat und Marcus16 Die Rückkehr des Magid Mahfooz Murshed Mubtasim Iqbal17 Krisengespräche und Fünf-vor-zwölf-Taktiken18 Das Ende der Geschichte kontra den letzten Menschen19 Der letzte Raum20 Von Mäusen und MännernDanksagung
zurück

Für meine Mutter und meinen Vater.

Und für Jimmi Rahman

zurück

»Alles Vergangene ist Prolog«

Shakespeare, Der Sturm

zurück

Archie

1974, 1945

 

 

 

 

»Jede geringste Kleinigkeit scheint mir heute aus irgendeinem Grunde von unberechenbarer Bedeutung, und wenn Sie von etwas sagen, ›es hänge nichts davon ab‹, so klingt das wie Gotteslästerung. Man weiß nie – wie soll ich es ausdrücken? –, welche unserer Handlungen, welche unserer Unterlassungen lebenslängliche Folgen haben werden.«

E.M. Forster, Engel und Narren

1Die seltsame zweite Heirat des Archie Jones

Früh am Morgen, Ende des Jahrhunderts, Cricklewood Broadway. Um 06.27 Uhr am 1. Januar 1975. Alfred Archibald Jones trug Kord, saß in einem abgasgefüllten Cavalier Musketeer Estate, den Kopf ans Lenkrad gelehnt, und hoffte, dass das göttliche Gericht nicht zu hart mit ihm umgehen würde. Er lag in einer demütigen Kreuzigungshaltung nach vorn geneigt, der Unterkiefer schlaff, die Arme ausgebreitet wie ein gefallener Engel; in den Fäusten hielt er seine Armeeorden (links) und seine Heiratsurkunde (rechts), denn er hatte beschlossen, diese Irrtümer mitzunehmen. Ein kleines grünes Lämpchen blinkte ihm ins Auge, kündigte ein Rechtsabbiegen an, das er, wie er entschieden hatte, in diesem Leben nicht mehr vornehmen würde. Er war fest dazu entschlossen. Er war dazu bereit. Er hatte eine Münze geworfen und blieb nun standhaft bei ihrer Entscheidung. Der Selbstmord war beschlossene Sache. Tatsächlich war er ein Vorsatz zum neuen Jahr.

Aber noch während seine Atmung unregelmäßig wurde und seine Sicht schwächer, war Archie klar, dass der Cricklewood Broadway eine seltsame Wahl war. Sie würde der ersten Person seltsam vorkommen, die seine zusammengesunkene Gestalt durch die Windschutzscheibe sah, dem Polizisten seltsam vorkommen, der seinen Bericht schrieb, dem Lokaljournalisten, der fünfzig Worte darüber schreiben sollte, und den Angehörigen, die diese Worte lesen würden. Cricklewood, eingezwängt zwischen einem allmächtigen Kinokomplex auf der einen Seite und einer riesigen Kreuzung auf der anderen, war keine Art von Ort. Es war kein Ort, den ein Mann aufsuchte, um zu sterben. Es war ein Ort, den ein Mann aufsuchte, um über die A41 zu anderen Orten zu gelangen. Doch Archie Jones wollte nicht in irgendeinem schönen, fernen Wald sterben oder an einer von zarter Heide gesäumten Meeresklippe. Nach Archies Ansicht sollten Leute vom Land auf dem Lande sterben und Stadtmenschen sollten in der Stadt sterben. Nur ordentlich. Er starb, wie er gelebt hatte und so weiter. Es ergab einen Sinn, dass Archibald auf dieser schäbigen städtischen Straße sterben sollte, auf der er gelandet war, mit siebenundvierzig Jahren allein lebte, in einer Einzimmerwohnung über einer leer stehenden Pommesbude. Er war nicht der Typ, ausgefeilte Pläne zu schmieden – Abschiedsbriefe und Anweisungen für die Beerdigung –, er war nicht der Typ für irgendwelche ausgefallenen Sachen. Er wollte nichts als ein bisschen Ruhe, ein bisschen Stille, damit er sich konzentrieren konnte. Alles sollte mucksmäuschenstill sein, wie in einem leeren Beichtstuhl oder wie der Augenblick im Gehirn zwischen Denken und Sprechen. Er wollte es hinter sich bringen, bevor die Geschäfte öffneten.

Über ihm erhob sich eine Horde der ortsansässigen fliegenden Ratten von irgendeinem unsichtbaren Aussichtspunkt, stieß herab und schien Archies Wagendach ins Visier zu nehmen – nur um im letzten Augenblick eine eindrucksvolle Kehrtwendung zu vollbringen und gekonnt, mit der Eleganz einer Bananenflanke, auf dem Dach der renommierten Halal-Fleischerei Hussein-Ishmael zu landen. Archie war schon viel zu weggetreten, um sich großartig Gedanken darum zu machen, aber er beobachtete sie mit einem warmherzigen, inneren Lächeln, als sie ihre Ladung ausklinkten und auf weiße Mauern lila Streifen malten. Er beobachtete, wie sie ihre neugierigen Vogelköpfe über die Hussein-Ishmael-Dachrinne reckten; er beobachtete sie, wie sie das langsame und stetige Tröpfeln von Blut aus den toten Tieren beobachteten – Hühner, Rinder, Schafe –, die an ihren Haken im Laden hingen wie Mäntel. Die Unglücklichen. Diese Tauben hatten einen Instinkt für die Unglücklichen, und so schenkten sie Archie keine Beachtung. Denn, obwohl er es noch nicht wusste und trotz des Staubsaugerschlauches, der auf dem Beifahrersitz lag und die Abgase vom Auspuff in seine Lunge pumpte, war das Glück an diesem Morgen mit ihm. Eine hauchfeine Schicht Glück lag auf ihm wie frischer Tau. Während er immer wieder das Bewusstsein verlor, hatten der Stand der Planeten, die Musik der Sphären, das Schlagen der durchsichtigen Flügel eines Bärenspinners in Zentralafrika und noch ein Haufen anderer Dinge, die Gott weiß was bewirken, beschlossen, dass es Zeit war, Archie eine zweite Chance zu geben. Irgendwo, irgendwie und von irgendwem war beschlossen worden, dass er leben sollte.

*

Die Fleischerei Hussein-Ishmael gehörte Mo Hussein-Ishmael, einem Bären von einem Mann mit Haaren, die sich zuerst zu einer Tolle erhoben und dann zu einem Entenschwanz senkten. Mo glaubte, dass man bei Tauben das Problem an der Wurzel packen musste; nicht die Exkremente, sondern die Taube selbst. Die Scheiße ist nicht die Scheiße (das war Mos Mantra), die Taube ist die Scheiße. Daher begann der Morgen von Archies Beinahetod wie jeder Morgen im Hussein-Ishmael: Mo schob seinen gewaltigen Bauch auf die Fensterbank, lehnte sich hinaus und schwang ein Hackbeil, um das lila Tröpfeln aufzuhalten.

»Haut ab! Verschwindet, ihr Scheiße produzierenden Biester! Ja! SECHS!«

Es war wie Kricket – das von Immigranten adaptierte Spiel der Engländer –, und sechs war die Höchstzahl an Tauben, die du mit einem Schlag erwischen konntest.

»Varin!«, rief Mo hinunter auf die Straße und hielt das blutige Hackbeil triumphierend hoch. »Du bist am Zug, mein Junge. Fertig?«

Unter ihm auf dem Bürgersteig stand Varin – ein mächtig übergewichtiger Hindu-Junge, der hier sein Schulpraktikum absolvierte, das er sich bestimmt anders vorgestellt hatte – und blickte nach oben, wie ein großer trauriger Punkt unter Mos Fragezeichen. Es war Varins Aufgabe, sich eine Leiter hinaufzuquälen, abgehackte Taubenstücke in eine kleine Kwik-Save-Einkaufstüte zu sammeln, die Tüte zuzubinden und sie in einem der Mülleimer am Ende der Straße zu entsorgen.

»Vorwärts, Mr. Fatty-man«, schrie einer von Mos Küchengehilfen und stieß Varin zur Unterstreichung jedes Wortes mit einem Besen in den Hintern. »Beweg-dein-fettes-Ganesh-Hindu-Hinterteil-da-hoch-du-Elefantenboy-und-hol-was-von-diesem-Taubenbrei-runter.«

Mo wischte sich den Schweiß von der Stirn, schnaubte und sah über Cricklewood hinweg, ließ den Blick über ausrangierte Sessel und Teppichstreifen wandern, Gartenliegen für die Trunkenbolde der Gegend; die Spielsalons, die Pommesbuden und die Taxis – alles mit Scheiße bedeckt. Eines schönen Tages, davon war Mo überzeugt, hätte Cricklewood mit all seinen Anwohnern Grund, ihm für sein tägliches Massaker zu danken; eines schönen Tages müsste kein Mann, keine Frau, kein Kind dieser Straße je wieder ein Teil Reinigungsmittel mit vier Teilen Essig verrühren, um den Dreck wegzubekommen, der auf die Welt fällt. Die Scheiße ist nicht die Scheiße, wiederholte er feierlich, die Taube ist die Scheiße. Mo war der einzige Mensch im Viertel, der das wirklich verstand. Was das betraf, hatte er gerade ein ausgesprochenes Zen-Gefühl – kam sich vor wie ein Wohltäter der Menschheit –, bis er Archies Wagen entdeckte.

»Arshad!«

Ein verschlagen aussehender dünner Bursche mit buschigem Schnurrbart, der in vier unterschiedlichen Brauntönen gekleidet war, kam aus dem Laden, mit Blut an den Händen.

»Arshad!« Mo konnte sich kaum beherrschen und stieß mit dem Finger in Richtung des Wagens. »Mein Junge, ich werde dich das bloß einmal fragen.«

»Ja, Abba?«, sagte Arshad, von einem Fuß auf den anderen tretend.

»Was zum Teufel ist das da? Was macht das da? Ich krieg um halb sieben eine Lieferung. Um halb sieben hab ich fünfzehn tote Rinder hier. Die muss ich nach hinten schaffen. Das ist mein Job. Kapiert? Fleisch ist im Anrollen. Und deshalb bin ich perplex.« Mo setzte eine verwunderte Unschuldsmiene auf. »Weil ich bisher dachte, das wäre ganz eindeutig als ›Lieferbereich‹ gekennzeichnet.« Er zeigte auf ein verwittertes Holzbrett, auf dem ABSOLUTES HALTEVERBOT stand. »Und?«

»Ich weiß nicht, Abba.«

»Du bist mein Sohn, Arshad. Ich lass dich nicht bei mir arbeiten, damit du nicht weißt. Ihn da lass ich bei mir arbeiten, damit er nicht weiß« – er langte aus dem Fenster und schlug Varin, der gerade wie ein Seiltänzer über die gefährliche Regenrinne balancierte, so kräftig auf den Hinterkopf, dass er den Jungen beinahe hinuntergestoßen hätte. – »Dich lass ich bei mir arbeiten, damit du Sachen weißt. Informationen verarbeitest. Licht in die große Dunkelheit des unerklärlichen Universums des Schöpfers bringst.«

»Abba?«

»Find raus, was es da macht, und schaff es weg.«

Mo verschwand vom Fenster. Eine Minute später kehrte Arshad mit der Erklärung zurück. »Abba.«

Mos Kopf schnellte wieder durchs Fenster wie ein boshafter Kuckuck aus einer Schweizer Uhr.

»Da bringt sich einer um, Abba.«

»Was?«

Arshad zuckte die Achseln. »Ich hab durchs Seitenfenster gerufen und dem Typen gesagt, er soll wegfahren, und er hat gesagt: ›Ich bring mich um, lass mich in Ruhe.‹ Einfach so.«

»Auf meinem Grund und Boden bringt sich keiner um«, zischte Mo, während er nach unten marschierte. »Dazu haben wir keine Genehmigung.«

Auf der Straße angekommen, schritt Mo zu Archies Wagen, zog die Handtücher raus, die den Ritz im Seitenfenster abdichteten, und drückte die Scheibe mit brutaler, bulliger Kraft zehn Zentimeter runter.

»Hören Sie, Mister? Wir haben hier keine Genehmigung für Selbstmorde. Der Ort hier ist halal. Koscher, kapiert? Falls Sie hier sterben wollen, mein Freund, müssen Sie leider vorher erst ordentlich ausgeblutet werden.«

 

Archie riss den Kopf vom Lenkrad hoch. Und in dem Augenblick, nachdem er die schwitzende Masse eines braunhäutigen Elvis klar erkannte und bevor er begriff, dass das Leben noch immer ihm gehörte, hatte er eine Art von Epiphanie. Ihm kam der Gedanke, dass das Leben zum ersten Mal seit seiner Geburt ja zu Archie Jones gesagt hatte. Nicht einfach bloß »okay« oder »jetzt-wo-du-angefangen-hast-kannst-du-auch-weitermachen«, sondern eine vollmundige Bejahung. Das Leben wollte Archie. Es hatte ihn eifersüchtig den Fängen des Todes entrissen, zurück an seinen Busen. Auch wenn er nicht gerade zu seinen erleseneren Exemplaren zählte, das Leben wollte Archie, und Archie, sehr zu seiner eigenen Überraschung, wollte das Leben.

Hektisch kurbelte er beide Seitenscheiben runter und schnappte aus tiefster Lunge nach Sauerstoff. Zwischen gierigen Atemzügen dankte er Mo überschwänglich, während ihm Tränen über die Wangen rannen und seine Hände sich an Mos Schürze festklammerten.

»Schon gut, schon gut«, sagte der Fleischer, löste Archies Finger und bürstete sich ab, »nun machen Sie, dass Sie weiterkommen. Gleich wird Fleisch geliefert. Mein Geschäft ist das Ausbluten. Nicht Therapie. Sie brauchen die Lonely Street. Das hier ist die Cricklewood Lane.«

Archie, der sich noch immer schluchzend bedankte, setzte zurück, fuhr los und bog rechts ab.

*

Archie Jones wollte Selbstmord begehen, weil sich seine Frau Ophelia, eine veilchenblauäugige Italienerin mit leichtem Oberlippenbärtchen, kürzlich von ihm hatte scheiden lassen. Aber er hatte den Neujahrsmorgen nicht etwa deshalb mit einem Staubsaugerschlauch verbracht, weil er sie liebte. Vielmehr, weil er so lange mit ihr zusammengelebt hatte, ohne sie zu lieben. Seine Ehe kam Archie so vor, als hätte er ein Paar Schuhe gekauft, sie mit nach Hause genommen und dann festgestellt, dass sie nicht passten. Um den Schein zu wahren, hatte er sich mit ihnen abgefunden. Und dann, ganz plötzlich und nach dreißig Jahren, rappelten die Schuhe sich auf und spazierten aus dem Haus. Sie ging. Dreißig Jahre.

 

Soweit er sich erinnerte, war ihr gemeinsamer Anfang, wie bei allen Paaren, ganz passabel gewesen. Zu Frühlingsbeginn 1946 war er aus der Dunkelheit des Krieges in ein Café in Florenz getaumelt, wo ihn eine Kellnerin bediente, die wahrlich die Sonne selbst war: Ophelia Diagilo, ganz in Gelb gekleidet, verströmte Wärme und die Verheißung von Sex, als sie ihm einen schaumigen Cappuccino reichte. Sie gingen wie Scheuklappen tragende Pferde in die Ehe. Sie sollte nicht wissen, dass Frauen in Archies Leben nicht blieben, wie das Tageslicht, dass er sie irgendwo tief in seinem Innern nicht mochte, ihnen nicht traute und sie nur lieben konnte, wenn sie einen Heiligenschein trugen. Niemand erzählte Archie, dass im Stammbaum der Familie Diagilo zwei hysterische Tanten lauerten, ein Onkel, der mit Auberginen sprach, und ein Vetter, der seine Kleidung auf links trug. Also heirateten sie und kehrten nach England zurück, wo sie ihren Fehler sehr schnell erkannte, er sie sehr schnell in den Wahnsinn trieb und der Heiligenschein auf den Speicher verschwand, wo er zusammen mit dem übrigen Gerümpel und den kaputten Küchengeräten, die Archie eines Tages zu reparieren versprach, Staub ansetzen konnte. Unter dem Gerümpel war auch ein Staubsauger.

 

Am zweiten Weihnachtstag, sechs Tage bevor er vor Mos koscherer Fleischerei parkte, war Archie in ihre gemeinsame Doppelhaushälfte in Hendon zurückgekehrt, um nach diesem Staubsauger zu suchen. Es war das vierte Mal in ebenso vielen Tagen, dass er auf den Speicher stieg, um die Überreste einer Ehe in seine neue Wohnung zu schaffen, und der Staubsauger zählte zu den allerletzten Dingen, die er zurückhaben wollte – eines der kaputtesten Dinge, der hässlichsten, der Dinge, die man aus purer Niedertracht verlangt, weil man das Haus verloren hat. So läuft das bei Scheidungen: Man nimmt Dinge, die man nicht mehr will, von Menschen, die man nicht mehr liebt.

»Ach, Sie schon wieder«, sagte die spanische Haushaltshilfe an der Tür, Santa-Maria oder Maria-Santa oder so. »Miiister Jones, was jetzt? Die Küchenspüle, sí?«

»Staubsauger«, sagte Archie düster. »Nur der Staubsauger.«

Sie kniff die Augen zusammen und spuckte auf die Fußmatte nur wenige Zentimeter neben seine Schuhe. »Meinetwegen, Señor.«

Das Haus war eine Stätte für Menschen geworden, die ihn verabscheuten. Abgesehen von der Haushaltshilfe hatte er es auch noch mit Ophelias weitläufiger italienischer Verwandtschaft zu tun, einer Krankenschwester für Psychiatrie, der Frau vom Sozialamt und natürlich mit Ophelia selbst, die im Zentrum dieser Klapsmühle zu finden war, in Embryonalhaltung auf dem Sofa zusammengerollt, wo sie Muhgeräusche in eine Flasche Bailey’s machte. Er brauchte eineinviertel Stunden, nur um durch die feindlichen Linien zu stoßen – und wofür? Für einen pervertierten Staubsauger, der Monate zuvor ausrangiert worden war, weil er sich nicht davon abbringen ließ, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man von einem Staubsauger erwartet: er pustete nämlich Staub aus, statt ihn einzusaugen.

»Miiister Jones, warum Sie kommen her, wenn es Sie so unglücklich macht? Seien Sie vernünftig. Was Sie wollen damit?« Die Haushaltshilfe folgte ihm die Speichertreppe hinauf, mit irgendeiner Reinigungsflüssigkeit bewaffnet. »Er ist kaputt. Sie brauchen ihn nicht. Sehen Sie? Sehen Sie?« Sie stöpselte ihn in eine Steckdose und demonstrierte den defekten Schalter. Archie zog den Stecker raus und wickelte die Schnur wortlos um den Staubsauger. Wenn er kaputt war, kam er mit. Alle kaputten Dinge kamen mit. Er würde jedes kaputte Scheißding in diesem Haus reparieren, wenn auch nur, um zu beweisen, dass er zu etwas taugte.

»Sie zu nichts taugen!« Santa wie auch immer scheuchte ihn die Treppe wieder hinunter. »Ihre Frau ist krank im Kopf, und Sie haben nichts Besseres zu tun!«

Archie hielt den Staubsauger an die Brust gepresst und trug ihn in das bevölkerte Wohnzimmer, wo er unter den Blicken etlicher vorwurfsvoller Augenpaare seine Werkzeugkiste auspackte und mit der Arbeit anfing.

»Sehen euch den an«, sagte eine von den italienischen Großmüttern, die elegantere, mit den großen Schultertüchern und den nicht so zahlreichen Leberflecken, »er nehmen alles, capisce? Er nehmen ihre Verstand, er nehmen Mixer, er nehmen alte Stereoanlage – er nehmen alles außer Fußbodenbretter. Einfach widerlich …«

Die Frau vom Sozialamt, die selbst an trockenen Tagen an eine langhaarige, völlig durchnässte Katze erinnerte, nickte zustimmend mit ihrem mageren Kopf. »Es ist widerwärtig, wem sagen Sie das, es ist widerwärtig … und natürlich sind wir es, die hinterher alles wieder aufräumen müssen. Dieser Versager hier muss –«

Woraufhin die Krankenschwester dazwischenredete: »Sie kann nicht alleine hier bleiben … jetzt, wo er sich verpisst hat, braucht die arme Frau … ein richtiges Zuhause, sie braucht …«

Ich bin hier, hätte Archie am liebsten gesagt, ich bin genau hier, wissen Sie, ich bin verdammt nochmal genau hier. Und es war mein Mixer.

Aber Archie mochte keine Konfrontationen. Er hörte den anderen noch weitere fünfzehn Minuten stumm zu, während er die Saugkraft des Staubsaugers an Zeitungspapierstücken testete, bis er von dem Gefühl übermannt wurde, dass das Leben ein gewaltiger Rucksack war, so unglaublich schwer, dass es, selbst wenn es bedeutete, alles zu verlieren, unendlich viel leichter war, alles Gepäck hier am Straßenrand liegen zu lassen und in die Finsternis davonzugehen. Du brauchst den Mixer nicht, Archie-Boy, du brauchst den Staubsauger nicht. Dieser ganze Kram ist nur Ballast. Leg einfach den Rucksack ab, Arch, und schließ dich den fröhlichen Campern im Himmel an. War das falsch? Archie – Exfrau und Verwandtschaft der Exfrau in einem Ohr, rauschender Staubsauger im anderen – schien es einfach so, als wäre das ENDE unausweichlich nah. Das hatte nichts Persönliches mit Gott zu tun oder so. Es kam ihm einfach wie das Ende der Welt vor. Und er würde mehr brauchen als schlechten Whisky, Knallbonbons und eine armselige Packung Pralinen – aus der die mit Erdbeergeschmack schon alle weggefuttert waren –, um den Übergang in ein neues Jahr zu rechtfertigen.

Geduldig reparierte er den Staubsauger und saugte dann das gesamte Wohnzimmer mit einer eigentümlich methodischen Endgültigkeit, schob die Saugdüse selbst in die unzugänglichsten Ecken. Ernst warf er eine Münze (Kopf Leben, Wappen Tod) und empfand nichts Besonderes, als er nach unten auf den tanzenden Löwen starrte. Still löste er den Staubsaugerschlauch, packte ihn in einen Koffer und verließ das Haus endgültig.

*

Aber Sterben ist gar nicht so einfach. Und Selbstmord kann man nicht einfach so auf eine Liste der zu erledigenden Dinge setzen, zwischen Grill sauber machen und Sofabein mit Ziegelstein ausgleichen. Es ist nicht die Entscheidung, etwas zu tun, sondern nichts mehr zu tun: ein Kuss ins Leere. Egal, was allgemein behauptet wird, Selbstmord erfordert Mut. Er ist etwas für Helden und Märtyrer, wahrhaft hochmütige Menschen. Archie war nichts von alledem. Er war ein Mensch, dessen Bedeutung im Großen Schöpfungsplan nach altvertrauten Maßstäben gemessen werden konnte:

Kiesel – Strand.

Regentropfen – Ozean.

Nadel – Heuhaufen.

Also ignorierte er die Entscheidung der Münze ein paar Tage lang und fuhr einfach nur mit dem Staubsaugerschlauch durch die Gegend. Nachts blickte er durch die Windschutzscheibe in den gigantischen Himmel und erkannte wieder einmal seine universalen Proportionen, kam sich winzig und entwurzelt vor. Er dachte an die Delle in der Welt, die er vielleicht hinterlassen würde, wenn er verschied, und sie erschien ihm unwesentlich, zu klein, um noch berechenbar zu sein. Er vergeudete freie Minuten damit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob »Hoover« im Englischen ein Oberbegriff für Staubsauger geworden war oder ob es, wie andere argumentierten, bloß ein Markenname war. Und die ganze Zeit lag der Staubsaugerschlauch wie ein großer schlaffer Schwanz auf seiner Rückbank, verspottete seine stille Angst, verlachte seine trippelnden Schritte, als er sich dem Scharfrichter näherte, verhöhnte seine hilflose Unentschlossenheit.

Dann, am 29. Dezember, traf er sich mit seinem alten Freund Samad Miah Iqbal. Vielleicht ein ungewöhnlicher Genosse, aber dennoch der älteste Freund, den er hatte – ein bengalischer Muslim, an dessen Seite er damals gekämpft hatte, als gekämpft werden musste, der ihn an diesen Krieg erinnerte; an diesen Krieg, der manche Menschen an fettigen Speck und aufgemalte Damenstrumpfnähte erinnerte, der in Archie jedoch die Erinnerung an Schüsse und Kartenspiele und den Geschmack eines scharfen fremdländischen Alkohols auslöste.

»Archie, mein lieber Freund«, hatte Samad gesagt, in seinem warmen herzlichen Tonfall. »Du musst diesen ganzen Weiberärger vergessen. Fang ein neues Leben an. Genau das brauchst du. Und jetzt genug davon: Ich setze deine fünf Shilling und erhöhe um fünf.«

Sie saßen in ihrer neuen Stammkneipe, O’Connell’s Pool House, und spielten Poker mit nur drei Händen, zwei von Archie und einer von Samad – denn Samads rechte Hand war ein kaputtes Etwas, grauhäutig und unbeweglich und in jeder Hinsicht tot, trotz des Blutes, das in ihr floss. Das Lokal, in dem sie saßen, in dem sie sich jeden Abend zum Essen trafen, war halb Café, halb Spielhölle und gehörte einer irakischen Familie, deren zahlreiche Mitglieder alle eine schlechte Haut hatten.

»Sieh mich an. Die Heirat mit Alsana hat mir neuen Lebensmut gegeben, verstehst du? Sie zeigt mir ganz neue Möglichkeiten. Sie ist so jung, so vital – wie ein frischer Luftzug. Du willst einen Rat von mir? Dann pass auf. Hör mit diesem alten Leben auf – es ist ein krankes Leben, Archibald. Es ist nicht gut für dich. Überhaupt nicht gut.«

Samad betrachtete ihn mit großem Mitgefühl, denn er war sehr besorgt um Archie. Ihre Kriegsfreundschaft war durch die dreißigjährige Trennung auf unterschiedlichen Kontinenten unterbrochen worden, doch im Frühling 1973 war Samad nach England gekommen, ein Mann mittleren Alters, der ein neues Leben mit seiner zwanzig Jahre alten neuen Braut beginnen wollte, der kleinen, mondgesichtigen Alsana Begum, mit den gescheiten Augen. In einem Anfall von Nostalgie und weil er der einzige Mensch war, den Samad auf dieser kleinen Insel kannte, hatte Samad Archie ausfindig gemacht, war in seinen Londoner Stadtteil gezogen. Und langsam, aber sicher entstand zwischen den beiden Männern erneut so etwas wie Freundschaft.

»Du spielst wie eine Tunte«, sagte Samad und legte seine siegreichen Königinnen mit dem Gesicht nach unten ab. Er schnippte sie in einer einzigen eleganten Bewegung mit dem Daumen seiner linken Hand so, dass sie fächerförmig auf den Tisch kippten.

»Ich bin alt«, sagte Archie und warf sein Blatt hin, »ich bin alt. Wer würde mich denn jetzt noch wollen? Es war schon beim ersten Mal schwierig genug, jemanden zu überzeugen.«

»Das ist Blödsinn, Archibald. Du hast die Richtige noch gar nicht kennengelernt. Diese Ophelia, Archie, sie ist nicht die Richtige. Nach dem, was du mir erzählt hast, passt sie nicht in diese Zeit –«

Er meinte Ophelias geistige Umnachtung, in der sie die Hälfte der Zeit glaubte, sie wäre die Dienstmagd des berühmten Kunstmäzens aus dem fünfzehnten Jahrhundert, Cosimo de’ Medici.

»Sie ist ganz einfach in die falsche Zeit hineingeboren, lebt in der falschen Zeit! Es ist nicht ihr Jahrhundert! Vielleicht nicht mal ihr Jahrtausend. Das moderne Leben hat diese Frau völlig unvorbereitet und von hinten erwischt. Ihr Verstand ist hin. Im Arsch. Und du? Du hast dir an der Garderobe das falsche Leben abgeholt, und jetzt musst du es zurückgeben. Außerdem hat sie dich nicht mit Kindern gesegnet … und ein Leben ohne Kinder, Archie, wozu ist das gut? Aber es gibt immer eine zweite Chance. O ja, es gibt im Leben immer eine zweite Chance. Glaub mir, ich weiß es. Du«, fuhr er fort, während er die Zehn-Pence-Stücke mit der Kante seiner versehrten Hand einstrich, »hättest sie nie heiraten sollen.«

Hinterher ist man immer schlauer, dachte Archie. Da hat man den Durchblick.

Schließlich, zwei Tage nach diesem Gespräch, früh am Neujahrsmorgen, war der bohrende Schmerz unerträglich geworden, so dass Archie sich nicht länger an Samads Rat klammern konnte. Stattdessen hatte er beschlossen, sein eigenes Fleisch zu töten, sich das Leben zu nehmen, sich von einem Lebensweg zu befreien, der ihn vielfach in die Irre und dann in die tiefste Wildnis geführt hatte, bis er letztlich völlig verschwand, während sein Brotkrumenverlauf von den Vögeln aufgepickt wurde.

*

Als der Wagen sich allmählich mit Gas füllte, hatte er den obligatorischen Flashback auf sein Leben bis zu diesem Tag. Wie sich herausstellte, war es ein kurzes unerbauliches Seherlebnis mit niedrigem Unterhaltungswert, das metaphysische Äquivalent zu einer Rede der Königin. Eine öde Kindheit, eine schlechte Ehe, ein aussichtsloser Job – das klassische Triumvirat –, alles huschte vorbei, leise, mit wenig Dialog, und fühlte sich ganz ähnlich an wie im Original. Archie glaubte zwar nicht an Schicksalsfügungen, aber wenn er es sich recht überlegte, kam es ihm doch so vor, als hätte die Vorherbestimmung keine Mühe gescheut, dafür zu sorgen, dass sein Leben für ihn ausgesucht worden war wie ein Arbeitgeberweihnachtsgeschenk – zu früh, und das Gleiche wie das von allen anderen.

Natürlich hatte es den Krieg gegeben; er war im Krieg gewesen, nur das letzte Jahr, mit gerade mal siebzehn, aber das zählte kaum. Nein, nicht an vorderster Front, keineswegs. Er und Samad, der alte Sam, Sammy-Boy, hatten ein paar Geschichten zu erzählen, o ja, und Archie hatte sogar einen Schrapnellsplitter im Bein, falls ihn irgendwer sehen wollte – aber das wollte keiner. Keiner wollte noch darüber reden. Es war wie ein Klumpfuß, ein entstellendes Muttermal. Es war wie Nasenhaare. Die Leute blickten weg. Wenn irgendwer zu Archie sagte: Was hast du denn so im Leben gemacht oder Was ist deine wichtigste Erinnerung, nun, dann erwähnte er bestimmt nicht den Krieg, Gott bewahre; die Augen wurden glasig, die Finger trommelten, jeder bot an, die nächste Runde zu schmeißen. Keiner wollte es wirklich wissen.

Im Sommer 1955 ging Archie in seinen allerfeinsten Schuhen zur Fleet Street und wollte einen Job als Kriegskorrespondent. Ein tuntig wirkender Typ mit dünnem Schnurrbart und dünner Stimme hatte gefragt: Irgendwelche Erfahrungen, Mr. Jones? Und Archie hatte ihm alles erzählt. Das mit Samad. Das mit ihrem Churchill-Panzer. Dann hatte sich dieser Tuntentyp in seinem schnieken Anzug über den Schreibtisch gebeugt, total blasiert, total selbstgefällig, und gesagt: Wir bräuchten eigentlich jemanden, der nicht nur im Krieg gekämpft hat, Mr. Jones. Kriegserfahrung ist nicht wirklich relevant.

Und das war’s dann. Der Krieg hatte keine Relevanz – nicht ’55 und noch weniger ’74. Nichts, was er damals getan hatte, spielte jetzt noch eine Rolle. Die Fähigkeiten, die man erwarb, waren, im modernen Sprachgebrauch nicht relevant, nicht übertragbar.

Haben Sie sonst noch was vorzuweisen, Mr. Jones?

Aber natürlich hatte er verdammt nochmal nichts vorzuweisen, da das britische Schulsystem ihm viele Jahre zuvor kichernd ein Bein gestellt hatte. Dennoch hatte er ein gutes Auge für das Erscheinungsbild einer Sache, für die Form einer Sache, und so landete er schließlich bei MorganHero, zwanzig Jahre und kein Ende in Sicht, bei einer Druckerei auf der Euston Road, wo er entwarf, wie alle möglichen Sachen gefaltet werden sollten – Umschläge, Briefbögen, Broschüren, Prospekte –, vielleicht keine große Leistung, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass Dinge Falze brauchen, sie müssen sich überlappen, ansonsten wäre das Leben ein Planobogen, der im Wind flattert, die Straße hinunter, sodass man die wichtigen Teile übersieht. Nicht, dass Archie viel Zeit für die Planobögen gehabt hätte. Wenn man es ihnen nicht zumuten konnte, ordentlich gefaltet zu werden, warum sollte man es ihm zumuten, sie zu lesen (das hätte er gern mal gewusst)?

 

Was noch? Nun, Archie hatte nicht immer nur Papier gefaltet. Vor langer, langer Zeit war er mal Radrennfahrer gewesen. Besonders gut gefiel Archie an den Bahnrennen, dass es immer rundherum ging. Rundherum. Wodurch man stets die Möglichkeit hatte, ein bisschen besser zu werden, eine schnellere Runde zu fahren, es richtig zu machen. Nur, dass es bei Archie eben so war, dass er nie besser wurde. 62,8 Sekunden. Was eine ziemlich gute Zeit ist, sogar Weltklasse. Aber drei Jahre lang fuhr er die Runde in exakt 62,8 Sekunden. Die anderen Rennfahrer machten manchmal Pause, nur um ihm zuzusehen. Sie lehnten ihre Räder an die Schräge und stoppten seine Zeit mit dem Sekundenzeiger an ihrer Armbanduhr. Jedes Mal 62,8 Sekunden. Diese Art von Unfähigkeit, besser zu werden, ist wirklich höchst selten. Diese Art von Beständigkeit ist übernatürlich, in gewisser Weise.

Archie mochte das Bahnrennenfahren, er war gleichmäßig gut darin, und es bescherte ihm seine einzig wahrhaft große Erinnerung. 1948 hatte Archie Jones an den Olympischen Spielen in London teilgenommen und sich den dreizehnten Platz (62,8 Sekunden) mit einem schwedischen Gynäkologen namens Horst Ibelgaufts geteilt. Unglücklicherweise ist dieses Faktum in den olympischen Annalen vergessen worden. Schuld daran war eine schlampige Sekretärin, der eines Morgens nach einer Kaffeepause andere Dinge durch den Kopf gingen, sodass sie seinen Namen übersah, als sie eine Liste auf ein anderes Blatt übertrug. Madame Nachwelt schob Archie in die Sofaritze und vergaß ihn dort. Sein einziger Beweis dafür, dass das Ereignis je stattfand, waren die regelmäßigen Briefe und Karten, die er im Laufe der Jahre von Ibelgaufts selbst erhielt. Wie folgende Zeilen:

17. Mai 1957

Lieber Archibald,

beiliegend sende ich Dir ein Foto von meiner lieben Frau und mir in unserem Garten vor einer ziemlich unerfreulichen Baustelle. Es sieht vielleicht nicht gerade nach Arkadien aus, dennoch baue ich genau da ein primitives Velodrom – nicht zu vergleichen mit dem, in dem wir beide unser Rennen gefahren sind, aber für meine Zwecke ausreichend. Es wird sehr viel kleiner ausfallen, aber es ist ja auch für die Kinder gedacht, die wir erst noch bekommen werden. In meinen Träumen sehe ich sie darin herumradeln, und dann wache ich mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht auf! Sobald es fertig ist, musst Du uns unbedingt besuchen kommen. Wer außer Dir wäre würdiger, diese Rennbahn zu taufen, erbaut von Deinem schärfsten Konkurrenten

Horst Ibelgaufts?

Und die Postkarte, die just an diesem Tag auf dem Armaturenbrett lag, dem Tag seines Beinahetodes:

28. Dezember 1974

Lieber Archibald,

ich lerne Harfe spielen. Ein guter Vorsatz fürs neue Jahr, wenn Du so willst. Eine ziemlich späte Entscheidung, das ist mir klar, aber auch ein alter Hund kann noch neue Kunststückchen lernen, meinst Du nicht auch? Ich sage Dir, es ist ein schweres Instrument, das man sich da gegen die Schulter lehnt, aber der Klang ist wahrlich engelgleich, und meine Frau hält mich deshalb auf einmal für sensibel. Etwas, was sie niemals im Zusammenhang mit meiner alten Radrennleidenschaft gesagt hätte! Aber andererseits haben nur so alte Hasen wie Du, Archie, je verstanden, was Radrennen wirklich bedeuten, Du und natürlich der Verfasser dieser Zeilen, dein alter Wettstreiter

Horst Ibelgaufts

Er hatte Horst seit dem Rennen nicht mehr wieder gesehen, aber er behielt ihn in liebevoller Erinnerung als einen riesigen Mann mit rotblondem Haar, gelblichen Sommersprossen und ungleichmäßigen Nasenlöchern, der sich wie ein internationaler Playboy kleidete und zu groß für sein Rad wirkte. Nach dem Rennen hatte Horst Archie fürchterlich betrunken gemacht und dann zwei Huren aus Soho herbeigeschafft, die Horst offenbar schon recht gut kannten (»Ich bin häufig geschäftlich in eurer schönen Hauptstadt, Archibald«, hatte Horst erklärt). Das Letzte, was Archie von Horst mitbekommen hatte, war ein unfreiwilliger Blick auf dessen gigantischen rosa Hintern, der im Nachbarzimmer einer olympischen Athletenunterkunft auf und ab wippte. Am nächsten Morgen wartete der erste Brief seiner ausgedehnten Korrespondenz unten am Empfang auf ihn:

Lieber Archibald,

in einer Arbeits- und Wettkampfoase sind Frauen fürwahr eine süße und leichte Erquickung, findest Du nicht auch? Leider musste ich früh abreisen, um das richtige Flugzeug zu erwischen, aber ich beschwöre Dich, Archie: Sei kein Fremder! Für mich sind wir beide ab heute so nah beieinander wie bei unserem Endspurt! Glaub mir, wer je behauptet hat, dreizehn wäre eine Unglückszahl, war ein noch größerer Narr als Dein Freund,

Horst Ibelgaufts

P.S. Bitte sorg dafür, dass Daria und Melanie gesund und munter wieder nach Hause kommen.

Daria war seine. Fürchterlich mager, Rippen wie ein Hummerfangkorb und keine nennenswerte Brust, aber sie war irgendwie lieb: sanft, mit weichen Küssen und extrem geschmeidigen Handgelenken, die sie gern mit einem Paar langer Seidenhandschuhe betonte – was dich um mindestens vier Kleidermarken ärmer machte. Archie erinnerte sich, dass er hilflos »Ich mag dich« sagte, als sie die Handschuhe wieder überstreifte und ihre Strümpfe anzog. Sie drehte sich um, lächelte. Und obwohl sie eine Professionelle war, hatte er trotzdem das Gefühl, dass sie ihn ebenfalls mochte. Vielleicht hätte er damals mit ihr weggehen sollen, in die Berge flüchten. Aber zum damaligen Zeitpunkt schien das unmöglich, er war zu gebunden, eingedenk einer jungen Frau, die einen Braten in der Röhre hatte (eine hysterische, eingebildete Schwangerschaft, wie sich herausstellte, eine dicke Blase voll heißer Luft), eingedenk seines schlechten Beins, eingedenk der nicht vorhandenen Berge.

Seltsamerweise galt Daria Archies letzter Gedanke, bevor er ohnmächtig wurde. Es war der Gedanke an eine Hure, die er vor zwanzig Jahren ein einziges Mal gesehen hatte, es war Daria und ihr Lächeln, weshalb er Mos Schürze mit Freudentränen benetzte, als der Fleischer ihm das Leben rettete. Er hatte sie im Geist vor sich gesehen: eine schöne Frau in der Tür mit einem auffordernden Blick; und ihm wurde klar, dass er es bedauerte, der Aufforderung nicht nachgekommen zu sein. Falls die geringste Chance bestand, je wieder so einen Blick zu sehen, dann wollte er die zweite Chance, er wollte die Verlängerung. Nicht bloß diese Sekunde, sondern die nächste und die übernächste – alle Zeit der Welt.

 

Später an jenem Morgen fuhr Archie mit seinem Wagen ekstatisch achtmal um einen Kreisverkehr, den Kopf zum Fenster herausgestreckt, während ein Luftstrom auf die Zähne ganz hinten in seinem Mund prallte wie ein Luftsack. Er dachte: Mannomann, so fühlt man sich also, wenn einem irgendein Typ das Leben rettet! Als hätte man gerade einen fetten Haufen Zeit gekriegt. Er fuhr schnurstracks an seiner Wohnung vorbei, schnurstracks an den Straßenschildern (Hendon 3¾) und lachte dabei wie ein Irrer. An den Ampeln warf er die Zehn-Pence-Münze und schmunzelte, wenn das Ergebnis zu bestätigen schien, dass das Schicksal ihn in ein anderes Leben zerrte. Wie ein Hund an der Leine, der um eine Ecke gezogen wird. Die meisten Frauen können so etwas nicht, aber Männer haben sich die uralte Fähigkeit bewahrt, eine Familie und eine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie klinken sich einfach aus, als nähmen sie einen falschen Bart ab, und schleichen sich diskret zurück in die Gesellschaft, völlig verändert. Nicht wiederzuerkennen. Auf diese Weise wird in Kürze ein neuer Archie das Licht der Welt erblicken. Wir haben ihn dabei überrascht. Denn er ist in einer Art Einfache-Vergangenheit-vollendete-Zukunft-Stimmung. Er ist in einer Art Vielleicht-dies-vielleicht-das-Stimmung. Als er sich einer Straßengabelung nähert, wird er langsamer, betrachtet sein Durchschnittsgesicht im Seitenspiegel und entscheidet sich völlig wahllos für eine ihm bislang unbekannte Route, eine Straße, die durch eine Wohngegend zu einem Ort namens Queens Park führt. Geh nicht über Los!, Archie-Boy, sagt er sich, nimm zweihundert ein und schau um Gottes willen nicht zurück.

*

Tim Westleigh (besser bekannt unter dem Namen Merlin) nahm das hartnäckige Schellen einer Haustürklingel irgendwann doch wahr. Er rappelte sich vom Küchenboden auf, watete durch einen Ozean ausgestreckter Körper und öffnete die Tür, sodass er sich plötzlich Auge in Auge mit einem Mann mittleren Alters befand, der von Kopf bis Fuß in grauen Kord gekleidet war und ein Zehn-Pence-Stück in der offenen Hand hielt. Wie Merlin später sinnieren sollte, wenn er die Begebenheit schilderte, ist Kord zu jeder Tageszeit ein Stoff, der Stress ankündigt. Mieteintreiber tragen Kord. Steuereintreiber auch. Geschichtslehrer fügen noch lederne Ellbogenflicken hinzu. Mit einer solchen Fülle davon konfrontiert zu werden, noch dazu um neun Uhr morgens am ersten Tag des neuen Jahres, ist eine Erscheinung, die schon auf Grund ihrer Menge an negativen Vibrationen tödlich sein kann.

»Was liegt an, Mann?« Merlin blinzelte den Mann in Kord an, der von der Wintersonne beschienen vor der Tür stand. »Enzyklopädien oder Gott?«

Archie bemerkte, dass der Junge die enervierende Angewohnheit hatte, gewisse Worte dadurch zu betonen, dass er den Kopf in einer weiten Kreisbewegung von der rechten zur linken Schulter drehte. Wenn der Kreis dann geschlossen war, nickte er ein paar Mal hintereinander.

»Wenn Sie Enzyklopädien an den Mann bringen wollen, damit sind wir schon reichlich eingedeckt, mit Informationen, meine ich … und wenn Sie Gott an den Mann bringen wollen, dann sind Sie hier falsch. Wir sind hier alle ziemlich easy drauf. Verstehen Sie?«, sagte Merlin abschließend, machte seine typische Nickbewegung und wollte die Tür schließen.

Archie schüttelte den Kopf, lächelte und blieb, wo er war.

»Äh … alles klar?«, fragte Merlin, die Hand auf der Türklinke. »Kann ich was für Sie tun? Sind Sie high, haben Sie irgendwas genommen?«

»Ich hab Ihr Transparent gesehen«, sagte Archie.

Merlin zog an einem Joint und blickte amüsiert. »Das Transparent da?« Er beugte den Kopf und folgte Archies Blick. Das weiße Laken, das aus einem der oberen Fenster hing. Quer darauf war in großen regenbogenfarbenen Buchstaben gemalt: WILLKOMMEN ZUR ›ENDE-DER-WELT‹-PARTY 1975.

Merlin zuckte die Achseln. »Ach ja, tut mir leid, Mann, war wohl nix. Ganz schöne Enttäuschung, das Ganze. Oder ein Segen«, fügte er gutmütig hinzu, »je nachdem, wie man es sieht.«

»Ein Segen«, sagte Archie mit Inbrunst. »Ein hundertprozentiger Segen.«

»Hat Ihnen das Transparent denn, äh, gefallen?«, fragte Merlin und machte einen Schritt zurück ins Haus, für den Fall, dass der Mann nicht nur ein Schizo, sondern auch noch aggressiv war. »Kommen Sie aus der Szene? Sollte so was wie ein Witz sein, wissen Sie, nicht ernst gemeint.«

»Ist mir ins Auge gesprungen, könnte man sagen«, erwiderte Archie, noch immer leicht irre grinsend. »Ich bin hier vorbeigekommen und hab nach irgendwas gesucht, wissen Sie, irgendwas, wo es noch was zu trinken gibt, Neujahr, den Kater verscheuchen und so weiter – und überhaupt, ich hab einen ziemlich anstrengenden Morgen hinter mir – und da ist es mir aufgefallen. Ich hab eine Münze geworfen und gedacht: wieso eigentlich nicht?«

Merlin schien die Wendung, die das Gespräch nahm, irgendwie zu verwirren. »Äh … die Fete ist so ziemlich gelaufen, Mann. Außerdem, wie soll ich sagen, sind Sie schon ein bisschen reifer an Jahren … wenn Sie verstehen, was ich meine –« An dieser Stelle wurde Merlin verlegen; im Grunde seines Herzens war er ein braver Mittelschichtsjunge, dem es sozusagen in die Wiege gelegt worden war, Respekt vor älteren Menschen zu haben. »Ich meine«, sagte er nach einer peinlichen Pause, »die Leute hier sind ein bisschen jünger, als Sie vielleicht gewohnt sind. Kommunemäßig und so.«

»But I was so much older then«, sang Archie schelmisch den Text eines zehn Jahre alten Dylan-Songs nach und steckte den Kopf durch die Tür, »I’m younger than that now.«

Merlin holte eine Zigarette hinter seinem Ohr hervor, zündete sie an und runzelte die Stirn. »Hör zu, Mann … ich kann doch nicht einfach irgendwen von der Straße hier reinlassen, verstehen Sie? Ich meine, Sie könnten ein Bulle sein, Sie könnten ein Irrer sein, Sie könnten –«

Aber irgendwas in Archies Gesicht – rund, unschuldig, liebenswert gespannt – erinnerte Tim daran, was sein Vater, der Vikar von Snarebrook, zu dem er schon lange keinen Kontakt mehr hatte, jeden Sonntag von seiner Kanzel über christliche Nächstenliebe gepredigt hatte. »Ach Scheiße, was soll’s. Heute ist schließlich Neujahr, Herrgott. Komm schon rein.«

Archie schob sich an Merlin vorbei und ging durch eine lange Diele, von der vier Räume abgingen, eine Treppe nach oben führte und an deren Ende ein Garten lag. Alle möglichen Abfälle – animalisch, mineralisch, pflanzlich – bedeckten den Boden; ein Meer von Bettzeug, unter dem Menschen lagen und schliefen, erstreckte sich von einem Ende der Diele bis zum anderen, ein Rotes Meer, das sich jedes Mal widerwillig teilte, wenn Archie einen Schritt nach vorn machte. In den Zimmern, in manchen Ecken, konnte der Austausch beziehungsweise die Absonderung von Körperflüssigkeiten beobachtet werden: Küssen, Stillen, Ficken, Kotzen – all die Dinge, die sich, wie Archie in der Beilage seiner Sonntagszeitung gelesen hatte, in Kommunen ereigneten. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich dazuzugesellen, sich zwischen den Körpern zu verlieren (er hatte so viel Zeit zur Verfügung, Unmengen Zeit, die ihm durch die Finger tröpfelte), doch er beschloss, dass ein kräftiger Drink ihm lieber sei. Er kämpfte sich durch die Diele, bis er die rückwärtige Seite des Hauses erreicht hatte, und trat hinaus in den kühlen Garten, wo manche sich für den kalten Rasen entschieden hatten, nachdem sie die Hoffnung auf einen Schlafplatz im warmen Haus aufgeben mussten. Mit dem Gedanken an einen Whisky Tonic ging er zum Picknicktisch, wo sich etwas, das die Form und die Farbe einer Jack-Daniels-Flasche aufwies, wie eine Fata Morgana aus der Wüste aus leeren Weinflaschen abhob.

»Darf ich …?«

Zwei junge Schwarze, eine junge Chinesin mit nacktem Oberkörper und eine weiße Frau, die eine Toga trug, saßen auf hölzernen Küchenstühlen und spielten Rommé. Gerade als Archie nach dem Jack Daniels griff, schüttelte die Weiße den Kopf und machte eine Bewegung, als drückte sie eine Zigarette aus.

»Leider nur Tabakbrühe, Darling. Irgendein Mistkerl hat seine Kippe in richtig gutem Whisky ersäuft. Da drüben steht Likör und noch anderer geschmackloser Mist.«

Archie lächelte, dankbar für die Warnung und das freundliche Angebot. Er nahm Platz und goss sich stattdessen ein großes Glas Liebfrauenmilch ein.

 

Viele Gläser später konnte Archie sich schon nicht mehr an eine Zeit seines Lebens erinnern, in der er Clive und Leo, Wan-Si und Petronia nicht gut gekannt hatte. Ohne hinzusehen, hätte er mit einem Stückchen Kohle die Gänsehaut um Wan-Sis Brustwarzen zeichnen können, jede Haarsträhne, die Petronia beim Reden ins Gesicht fiel. Um elf Uhr vormittags waren sie ihm alle ans Herz gewachsen, sie waren die Kinder, die er nie gehabt hatte. Und sie bescheinigten ihm, dass er für einen Mann seines Alters eine einzigartige Seele besäße. Alle waren sich einig, dass in und um Archie herum ein ungemein positives Karma zirkulierte, etwas, das stark genug war, einen Fleischer dazu zu bringen, im entscheidenden Moment ein Wagenfenster herunterzudrücken. Und es stellte sich heraus, dass Archie der erste Mensch über vierzig war, den sie je eingeladen hatten, der Kommune beizutreten. Es stellte sich heraus, dass sie schon länger über die Notwendigkeit eines verfügbaren älteren Sexualpartners sprachen, um die etwas abenteuerlustigeren Frauen zu befriedigen. »Prima«, sagte Archie. »Fantastisch. Das werde dann ich sein.« Er fühlte sich ihnen so nahe, dass er ganz durcheinander war, als ihre Beziehung gegen Mittag plötzlich in eine Krise geriet und er von einem Kater attackiert wurde, während er gerade mitten in einer Diskussion steckte, und noch dazu ausgerechnet über den Zweiten Weltkrieg.

»Ich weiß nicht mal mehr, wie wir darauf gekommen sind«, stöhnte Wan-Si, die ihre Blöße schließlich bedeckt hatte, als sie beschlossen, ins Haus zu gehen, Archies Kordjacke um ihre zierlichen Schultern gelegt. »Lasst uns das Thema beenden. Ich geh lieber ins Bett, bevor die Diskussion noch in Streit ausartet.«

»Wir streiten uns schon, wir streiten uns«, ereiferte sich Clive. »Das ist das Hauptproblem mit seiner Generation, die meinen, sie könnten den Krieg hinstellen als irgend so –«

Archie war dankbar, als Leo Clive ins Wort fiel und die Diskussion auf ein weiteres Unterthema des ursprünglichen lenkte, mit dem Archie angefangen hatte (irgendeine unkluge Bemerkung vor einer Dreiviertelstunde, dass der Militärdienst den Charakter eines jungen Mannes festige), und es sofort bereut hatte, als er in die Lage geriet, sich in regelmäßigen Abständen verteidigen zu müssen. Endlich aus dieser Zwangslage befreit, setzte er sich auf die Treppe, stützte den Kopf in die Hände und ließ den Streit einfach weiterlaufen.

Mist. Er wäre so gern Mitglied der Kommune geworden. Wenn er seine Karten richtig ausgespielt hätte, anstatt diese Debatte loszutreten, hätte er freie Liebe und nackte Brüste in der ganzen Zirkusbude kriegen können; vielleicht sogar ein eigenes Beet, um frisches Gemüse zu ziehen. Eine Zeit lang (um zwei Uhr herum, als er Wan-Si von seiner Kindheit erzählte) hatte es so ausgesehen, als könnte sein neues Leben herrlich werden, und von jetzt an würde er immer im richtigen Moment das Richtige sagen, und überall, wo er auch hinkam, würden die Menschen ihn mögen. Keiner kann was dafür, dachte Archie, während er über das Debakel nachsann, keiner kann was dafür, außer mir, aber er fragte sich, ob da nicht doch vielleicht ein höherer Plan dahintersteckte. Vielleicht wird es immer Menschen geben, die zum richtigen Zeitpunkt das Richtige sagen, die wie Thespis genau im richtigen Moment der Geschichte vortreten, und dann wird es immer Menschen wie Archie Jones geben, die bloß da sind, um die Masse zu bilden. Oder noch schlimmer, die ihre dicke Chance nur bekommen, um aufs Stichwort hin aufzutreten und postwendend mitten auf der Bühne zu sterben, sodass alle es sehen können.

 

Ein dunkler Schlussstrich würde jetzt unter den ganzen Vorfall gezogen werden, unter den ganzen traurigen Tag, wäre da nicht etwas passiert, das zur Verwandlung von Archie Jones führte, und zwar in jeder Hinsicht, in der sich ein Mensch überhaupt verwandeln kann; und das lag nicht etwa an irgendwelchen besonderen Bemühungen seinerseits, sondern vielmehr an dem absolut zufälligen, beiläufigen Zusammentreffen von einer Person mit einer anderen. Etwas geschah durch Zufall. Dieser Zufall war Clara Bowden.

 

Doch zunächst eine Beschreibung: Clara Bowden war im wahrsten Sinne des Wortes schön, nur, da sie schwarz war, vielleicht nicht gerade im klassischen Sinne. Clara Bowden war herrlich groß, schwarz wie schimmerndes Ebenholz, das Haar zu einem hufeisenförmigen Kranz geflochten, dessen Enden nach oben zeigten, wenn sie glücklich war, und nach unten, wenn sie es nicht war. In diesem Moment zeigten sie nach oben. Schwer zu sagen, ob das von Bedeutung war.

Sie brauchte keinen BH – sie war unabhängig, sogar von der Schwerkraft –, sie trug eine rote rückenfreie Bluse, die unterhalb ihres Busens endete, unter dem sie ihren Bauchnabel trug (wunderschön), und darunter wiederum eine hautenge gelbe Jeans. Ganz unten kamen zwei hellbraune Riemchenschuhe aus Wildleder, und auf diesen schritt sie die Treppe hinunter wie eine Art Vision oder, so erschien es Archie, als er sich umwandte und sie betrachtete, wie ein sich aufbäumendes Vollblutpferd.

Nun kommt es, wie Archie wusste, in Filmen und dergleichen häufiger vor, dass jemand so atemberaubend ist, dass es allen die Sprache verschlägt, wenn dieser Jemand die Treppe herunterkommt. Im wirklichen Leben hatte er das noch nie erlebt. Aber bei Clara Bowden passierte genau das. Sie schritt in Zeitlupe die Treppe hinunter, umhüllt von Abendrot und schummriger Beleuchtung. Und sie war nicht nur das Schönste, was er je in seinem Leben gesehen hatte, sie war auch noch die wohltuendste Frau, der er je begegnet war. Ihre Schönheit war keine aufdringliche, kalte Eigenschaft. Sie roch moderig, fraulich, wie ein Bündel deiner Lieblingskleidungsstücke. Sie war zwar körperlich desorganisiert – Beine und Arme sprachen einen leicht anderen Dialekt als ihr Zentralnervensystem –, doch selbst ihre linkischen Bewegungen erschienen Archie außergewöhnlich elegant. Sie trug ihre Sexualität mit der Natürlichkeit einer älteren Frau, und nicht (wie die meisten jungen Frauen, mit denen Archie in der Vergangenheit zu tun gehabt hatte) wie eine lästige Tasche, bei der man nie weiß, wie man sie halten, wo man sie hinhängen und wann man sie einfach ablegen soll.

»Kopf hoch, Junge«, sagte sie mit einem singenden karibischen Akzent, der Archie an jamaikanische Kricketspieler erinnerte, »wird schon schiefgehen.«

»Ich glaub, das ist es schon.«

Archie, dem soeben eine Kippe aus dem Mund gefallen war, die sowieso nur sinnlos vor sich hin gequalmt hatte, sah, wie Clara rasch darauf trat. Sie grinste ihn breit an und zeigte ihm dabei ihre möglicherweise einzige Unvollkommenheit. Das völlige Fehlen ihrer oberen Zähne.

»Mann … die sin mir ausgeschlagen worden«, lispelte sie, als sie seine Verblüffung bemerkte. »Aber ich hab mir gedacht: Wenn das Ende der Welt kommt, is es dem Herrn egal, ob ich Zähne hab oder nich.« Sie lachte leise.

»Archie Jones«, sagte Archie und bot ihr eine Marlboro an.

»Clara.« Sie pfiff unwillkürlich, als sie lächelte und den Rauch einatmete. »Archie Jones, du siehst genauso aus, wie ich mich fühl. Ham Clive und die anderen dir irgendwelchen Blödsinn erzählt? Clive, haste den armen Kerl hier fertiggemacht?«

Clive brummte – mit der Wirkung des Weines war die Erinnerung an Archie so gut wie verschwunden – und machte da weiter, wo er aufgehört hatte, nämlich Leo vorzuwerfen, dass er den Unterschied zwischen politischem und körperlichem Opfer missverstehe.

»O nein … nichts Ernstes«, plapperte Archie, hilflos angesichts ihres erlesenen Antlitzes. »Eine kleine Meinungsverschiedenheit, mehr nicht, Clive und ich sind in ein paar Fragen anderer Ansicht. Vermutlich bloß der Generationsunterschied.«

Clara schlug ihm auf die Hand. »Das will ich aber nich gehört ham. So alt bist du doch gar nich. Da hab ich schon ältere gesehn.«

»Ich bin ziemlich alt«, sagte Archie, und dann, bloß weil ihm danach war, es ihr zu erzählen: »Du glaubst mir bestimmt nicht, aber ich wär heute fast gestorben.«

Clara runzelte die Stirn. »Wirklich? Na dann, willkommen im Klub. Heute Morgen sin wir ziemlich viele. Is schon ’ne seltsame Fete hier. Weißte«, sagte sie und fuhr mit einer langgliedrigen Hand über seine kahle Stelle, »für jemand, der so dicht vor Petrus’ Tor gestanden hat, siehst du ganz gut aus. Willste ’nen guten Rat hörn?«

Archie nickte energisch. Er wollte immer einen Rat, er war ein großer Anhänger von Zweitmeinungen. Deshalb ging er auch nie ohne eine Zehn-Pence-Münze aus dem Haus.

»Geh nach Haus, erhol dich ein bisschen. Am Morgen is die Welt wie neu, jedes Mal. Mann, das Leben is nich einfach.«

Wohin nach Hause?, dachte Archie. Er hatte sein altes Leben ausgeklinkt, er bewegte sich auf unbekanntem Terrain.

»Mann …«, wiederholte Clara und tätschelte ihm den Rücken, »das Leben is nich einfach!«

Sie stieß einen weiteren lang gezogenen Pfiff und ein wehmütiges Lachen aus, und Archie sah, wenn er nicht wirklich langsam durchdrehte, diesen herausfordernden Blick; so wie bei Daria, vermischt mit einer Spur von Trauer, Enttäuschung; als hätte sie nicht sonderlich viele andere Möglichkeiten. Clara war neunzehn. Archie war siebenundvierzig.

Sechs Wochen später waren sie verheiratet.

2Zahnprobleme

Aber Archie fischte Clara Bowden nicht aus einem Vakuum heraus. Und es wird allmählich Zeit, dass jemand mal die Wahrheit über schöne Frauen sagt. Sie kommen nicht strahlend irgendwelche Treppen heruntergeschritten. Sie schweben nicht, wie man früher annahm, von hoch oben herab, nur von ihren Schwingen getragen. Clara kam von irgendwoher. Sie hatte Wurzeln. Genauer gesagt, sie kam aus Lambeth (via Jamaika), und sie war durch stillschweigendes Einvernehmen unter Heranwachsenden mit einem gewissen Ryan Topps verbunden. Denn bevor Clara schön war, war sie hässlich gewesen. Und bevor es Clara und Archie gab, hatte es Clara und Ryan gegeben. Und an Ryan Topps führt kein Weg vorbei. Ebenso, wie ein guter Historiker Hitlers napoleonische Ambitionen im Osten in Betracht ziehen muss, um seinen Widerwillen gegen einen Einmarsch in England im Westen erklären zu können, so ist Ryan Topps unerlässlich, um zu verstehen, warum Clara tat, was sie tat. Ryan ist absolut notwendig. Acht Monate lang gab es Clara und Ryan, bevor Clara und Archie von den entgegengesetzten Enden einer Treppe her voneinander angezogen wurden. Und vielleicht wäre Clara Archie Jones nie in die Arme gelaufen, wenn sie nicht, so schnell sie nur konnte, von Ryan Topps weggelaufen wäre.

 

Der arme Ryan Topps. Er war eine Anhäufung unglücklicher körperlicher Eigenschaften. Er war sehr dünn und sehr groß, rothaarig, plattfüßig und hatte so viele Sommersprossen, dass seine Haut kaum zu sehen war. Ryan sah sich gern als Mod, als halbstarken Dandy. Er trug schlecht sitzende graue Anzüge mit schwarzen Rollkragenpullovern. Er trug Wildlederstiefel mit dicker Sohle, als schon längst keiner mehr welche trug. Während die übrige Welt die Freuden des elektronischen Synthesizers entdeckte, schwor Ryan den kleinen Männern mit großen Gitarren ewige Treue: den Kinks, den Small Faces, den Who. Ryan Topps fuhr einen grünen Roller, eine Vespa GS, die er zweimal täglich mit einer Babywindel wienerte und sicher in einem maßgefertigten Wellblechunterstand verwahrte. Ryans Ansicht nach war eine Vespa nicht bloß ein Transportmittel, sondern Ideologie, Familie, Freundin und Geliebte, alles zusammen in einem einzigen technischen Wunderwerk der vierziger Jahre vereint.

Ryan Topps hatte, wie man sich denken kann, nur wenig Freunde.

Clara Bowden, siebzehn Jahre alt, hatte vorstehende Zähne, war schlaksig, eine Zeugin Jehovas und sah in Ryan eine verwandte Seele. Mit der typischen Beobachtungsgabe eines Teenagers wusste sie alles, was es über Ryan Topps zu wissen gab, lange bevor sie überhaupt ein Wort miteinander wechselten. Sie wusste das Wichtigste: dieselbe Schule (St.Jude’s Community School, Lambeth), dieselbe Größe (1,85); sie wusste, dass er, wie sie, weder irischer Abstammung noch römisch-katholischen Glaubens war, was sie zu zwei Inseln machte, die auf dem papistischen Meer von St.Jude’s trieben, nur auf Grund ihrer Postleitzahlen in dieser Schule, von Lehrern und Schülern gleichermaßen geschmäht. Sie kannte den Namen seines Rollers, sie las die Titel seiner Schallplatten, wenn sie über den Rand seiner Schultasche ragten. Sie wusste sogar Dinge über ihn, die er selbst nicht wusste. So wusste sie beispielsweise, dass er der Letzte Mann auf Erden war. Jede Schule hat so einen, und in St.Jude’s, wie auch an anderen Stätten der Gelehrsamkeit, waren es die Mädchen, die den Spitznamen aussuchten und vergaben. Natürlich gab es auch Variationen:

Mr. Nicht für eine Million Pfund.

Mr. Nicht für das Leben meiner Mutter.

Mr. Nicht für den Frieden auf Erden.

Doch im Allgemeinen hielten sich die Schülerinnen von St.Jude’s an Altbewährtes. Im Gegensatz zu Ryan, der niemals in die Gespräche eingeweiht werden würde, die im Mädchenumkleideraum der Schule geführt wurden, wusste Clara Bescheid. Sie wusste, wie über das Objekt ihrer Zuneigung geredet wurde, sie hielt die Ohren offen, sie wusste, wie er gehandelt wurde, wenn es richtig zur Sache ging, zwischen dem Schweiß und den Sport-BHs und dem lauten Peitschenknall eines nassen Handtuchs.

»Ach Mensch, du hörst nicht richtig zu. Ich hab gesagt, und wenn er der letzte Mann auf Erden wäre.«

»Ich würd’s trotzdem nicht tun.«

»Ach, Blödsinn, würdest du doch!«

»Aber mal angenommen: Die ganze Welt ist von einer Bombe zerstört, wie in Japan, klar? Und sämtliche gut aussehenden Männer, alle sexy Typen wie dein süßer Nicky Laird, die sind alle tot. Alle total verbrutzelt. Und übrig geblieben sind nur Ryan Topps und jede Menge Kakerlaken.«

»Ich schwöre, ich würd lieber mit den Kakerlaken schlafen.«

So unbeliebt wie Ryan in St.Jude’s war nur noch Clara. An ihrem ersten Schultag hatte ihre Mutter ihr erklärt, dass sie nun die Höhle des Teufels betrete, hatte ihre Schultasche mit zweihundert Exemplaren des Wachtturms gefüllt und gesagt, sie solle losziehen und das Werk des Herrn verrichten. Woche für Woche schlurfte sie durch die Schule, den Kopf fast bis zum Boden gesenkt, verteilte Zeitungen, murmelte: »Nur Jehova bringt das Heil«; in einer Schule, wo schon ein überreizter Eiterpickel zu ewiger Ächtung führen konnte, war eine über 1,80 große schwarze Missionarin in Kniestrümpfen, die versuchte, sechshundert Katholiken zu Zeugen Jehovas zu machen, in etwa gleichbedeutend mit sozialer Lepra.

Ryan war also so rot wie Rote Beete. Und Clara war so schwarz wie ein Stiefel. Ryans Sommersprossen hätten jeden Fan von Verbinde-die-Punkte-Zeichnungen zur Ekstase getrieben. Clara konnte ihre Zähne über einen Apfel schieben, ohne dass die Zunge auch nur annähernd in dessen Nähe geraten wäre. Nicht mal die Katholiken konnten ihnen das vergeben (und die Katholiken sind im Vergeben ungefähr genauso schnell, wie Politiker mit Versprechungen bei der Hand sind und Huren so tun als ob). Nicht mal St.Jude, der schon im ersten Jahrhundert mit der Schirmherrschaft über hoffnungslose Fälle belastet wurde (auf Grund der klanglichen Ähnlichkeit zwischen Jude und Judas), war bereit, sich für sie einzusetzen.

 

Jeden Tag um fünf Uhr, wenn Clara zu Hause saß und die Botschaft der Evangelien studierte oder ein Traktat schrieb, das die heidnische Praxis der Bluttransfusion verdammte, kam Ryan Topps auf dem Nachhauseweg an ihrem offenen Fenster vorbeigebraust. Das Wohnzimmer der Bowdens lag knapp unter Straßenhöhe und hatte Gitter vor den Fenstern, sodass immer nur eine Teilansicht möglich war. Im Allgemeinen konnte sie Füße sehen, Reifen, Autoauspuffrohre, hin und her schwingende Regenschirme. Derlei kurze Ausblicke waren mitunter recht vielsagend; eine lebhafte Fantasie konnte aus einem ausgefransten Schnürsenkel, einer gestopften Socke, einer tief schwingenden Tasche, die schon bessere Tage gesehen hatte, viel Gefühlsüberschwang herausholen. Doch nichts rührte sie mehr an als der Blick auf das entschwindende Auspuffrohr von Ryans Motorroller. In Ermangelung eines Namens für das heimliche Rumoren, das sich bei solchen Gelegenheiten in ihrem Unterleib bemerkbar machte, nannte Clara es den Geist des Herrn. Sie hatte das Gefühl, dass sie den Heiden Ryan Topps irgendwie bekehren würde. Clara war gewillt, diesen Jungen eng an ihre Brust zu ziehen, ihn vor der Versuchung zu schützen, die uns allenthalben umgibt, ihn auf den Tag des Heils vorzubereiten. (Und war da nicht irgendwo, tiefer als ihr Unterleib – dort, in der Unterwelt der Unaussprechlichen –, war da nicht auch die halb eingestandene Hoffnung, dass Ryan Topps sie bekehren könnte?)

 

Wenn Hortense Bowden ihre Tochter dabei erwischte, wie sie sehnsüchtig an dem vergitterten Fenster saß und dem verhallenden Geknatter eines Motors lauschte, während die Seiten der Neuen Bibel im Luftzug flatterten, verpasste sie ihr eine Kopfnuss und erinnerte sie daran, dass nur 144 000 von den Zeugen Jehovas am Jüngsten Tag mit dem Herrn zu Gericht sitzen würden. Und dass es bei dieser gesalbten Schar keinen Platz für ungepflegte Burschen auf Motorrädern gebe.

»Aber wenn wir die bekehren –«

»Manche Menschen«, stellte Hortense abfällig fest, »ham schon ’nen so großen Haufen Sünden aufm Buckel, dass es für sie zu spät is, Jehova jetzt noch schöne Augen zu machen. Es kostet einiges, Jehova nahe zu sein. Es kostet Eifer un Hingabe. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Matthäus 5:8. Hab ich recht, Darcus?«

Darcus Bowden, Claras Vater, war ein stinkender, todgeweihter, sabbernder, alter Mann, lebendig begraben in einem von Ungeziefer befallenen Sessel, aus dem er sich nie erhob, nicht mal, dank eines Katheters, um die Außentoilette aufzusuchen. Darcus war vierzehn Jahre zuvor nach England gekommen und hatte die ganze Zeit in der hinteren Ecke des Wohnzimmers verbracht, vor dem Fernseher. Der ursprüngliche Plan war gewesen, dass er nach England gehen und genug Geld verdienen sollte, um Clara und Hortense nachholen zu können. Doch bei seiner Ankunft war Darcus Bowden von einer geheimnisvollen Krankheit geschwächt worden. Einer Krankheit, für die kein Arzt irgendwelche körperlichen Symptome feststellen konnte, die sich jedoch in einer unglaublichen Lethargie manifestierte und in Darcus – zugegebenermaßen nie ein sonderlich Energie sprühender Mann – eine lebenslange Zuneigung zum Arbeitslosengeld, zum Sessel und dem britischen Fernsehen weckte. Im Jahre 1972 beschloss Hortense schließlich, erbost über den vierzehnjährigen Wartestand, die Reise aus eigener Kraft anzutreten. Kraft war etwas, das Hortense reichlich besaß. Sie stand plötzlich zusammen mit der siebzehnjährigen Clara auf der Schwelle des Hauses, brach wutentbrannt die Tür auf und – so das Gerücht zu Hause in St.Elizabeth – hielt Darcus Bowden die Standpauke seines Lebens. Manche sagen, diese Attacke währte vier Stunden, manche sagen, sie rezitierte jedes Buch der Bibel aus dem Gedächtnis und brauchte dafür einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Sicher ist jedenfalls, dass Darcus, als schließlich alles vorbei war, noch tiefer in seinen Sessel sank, bekümmert zum Fernseher hinübersah, mit dem er eine so verständnisvolle, mitfühlende Beziehung geführt hatte – so unkompliziert, so viel unschuldige Zuneigung –, und dass eine Träne aus ihrer Drüse quoll und sich in einer Furche unter seinem Auge niederließ. Dann sprach er bloß ein einziges Wort: Hmpf.

Hmpf war das Einzige, was Darcus bei dieser Gelegenheit und für alle Zeit danach je von sich gab. Man kann Darcus fragen, was man möchte, man kann ihn zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit auf irgendein Thema ansprechen, ihn verhören, mit ihm plaudern, ihn anflehen, ihm ewige Liebe beteuern, ihn beschuldigen oder verteidigen, er wird immer nur eine einzige Antwort geben.

»Ich will wissen, ob ich recht hab, Darcus?«

»Hmpf.«

»Und«, wandte sich Hortense wieder Clara zu, nachdem sie Darcus’ beipflichtendes Brummen entgegengenommen hatte, »es geht dir ja gar nich um die Seele von diesem jungen Mann! Wie oft muss ich dir noch sagen – du hast keine Zeit für Jungs!«

Denn im Haus der Bowdens wurde die Zeit allmählich knapp. Man schrieb das Jahr 1974, und Hortense bereitete sich auf das Ende der Welt vor, das sie im Küchenkalender sorgfältig mit blauem Kugelschreiber markiert hatte: 1. Januar 1975. Dabei handelte es sich keineswegs um eine nur auf die Bowdens beschränkte Psychose. Gemeinsam mit ihr warteten acht Millionen Zeugen Jehovas. Hortense befand sich also in großer, wenngleich exzentrischer Gesellschaft. Ein persönliches Schreiben war Hortense (als Sekretärin des Lambeth-Zweiges der Königreichssäle) zugegangen, mit einer fotokopierten Unterschrift von William J. Rangeforth vom größten Königreichssaal in den USA, Brooklyn, das das Datum bestätigte. Das Ende der Welt war offiziell mit einem vergoldeten Briefkopf bestätigt worden, und Hortense hatte angemessen reagiert, indem sie das Schreiben in einen geschmackvollen Mahagonirahmen gefasst hatte. Es hatte einen Ehrenplatz auf einem Spitzendeckchen oben auf dem Fernseher, zwischen einer Glasfigurine von Cinderella auf dem Weg zum Ball und einem Teewärmer, bestickt mit den Zehn Geboten. Sie hatte Darcus gefragt, ob er das Arrangement schön fand. Er hatte seine Zustimmung gehmpft.

Das Ende der Welt war nahe. Und diesmal handelte es sich nicht – so wurde dem Lambeth-Zweig der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas versichert – um einen Irrtum wie 1914 oder 1925. Man hatte ihnen versprochen, dass Baumstämme mit den Innereien von Sündern umwickelt sein würden, und diesmal würden die mit Innereien von Sündern umwickelten Baumstämme wirklich