Biss der Wölfin - Kelley Armstrong - E-Book

Biss der Wölfin E-Book

Kelley Armstrong

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Beschreibung

Der einzige weibliche Werwolf der Welt ist wieder da - Teil 9 der großen Mysterythriller-Serie! Elena Michaels glaubte ihr Leben als Wölfin endlich im Griff zu haben. Doch als sie eine Mordserie im eisigen Alaska aufklären soll, werden die Dinge kompliziert. Gefangen in einem unbarmherzigen Land, sieht sie sich mit einem tödlichen Gegner konfrontiert – und mit ihrer eigenen ungezähmten Natur… Kelley Armstrongs "Women of the Otherworld" – Die packende Vorlage zur sexy Mysteryserie "Bitten". Lies jetzt weiter! Alle Bände der Otherworld-Serie: Band 1 Die Nacht der Wölfin Band 2 Rückkehr der Wölfin Band 3 Nacht der Hexen Band 4 Pakt der Hexen Band 5 Nacht der Geister Band 6 Blut der Wölfin Band 7 Lockruf der Toten Band 8 Nacht der Dämonin Band 9 Biss der Wölfin

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Kelley Armstrong

Biss der Wölfin

Magischer Thriller

Aus dem Amerikanischen von Christine Gaspard

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1 Botschaft2 Flucht3 Multitasking4 Spielzeit5 Auszeit6 Fort7 Dreist8 Entwicklungen9 Wendigo10 Unbehagen11 Unnatürlich12 Bestie13 Gleichgewicht14 Abfuhr15 Zurückverfolgt16 Lockvogel17 Zugzwang18 Fragen19 Schuldfrage20 Professor21 Faszination22 Wissbegier23 Schlaflos24 Kontrolle25 Noah26 Prioritäten27 Kuhhandel28 Unberechenbar29 Beute30 Zweikampf31 Flucht32 Köder33 Ijiraat34 Respekt35 Kontakt36 Verstärkung37 Mission38 Drama39 Anhalter40 Überlebende41 Entscheidungen42 Einstand43 RudelDank

Für Jeff, der immer noch daran glaubt, dass ich es kann, sogar an den Tagen, an denen ich selbst mir nicht so sicher bin.

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Prolog

Während Tom beobachtete, wie das Mondlicht von der vereisten Oberfläche des Sees reflektiert wurde, reflektierte auch er selbst: Die Welt brauchte wirklich mehr Schnee.

Ja, natürlich, nach außen hin gaben sich die Leute besorgt über die Gefahren der Erderwärmung, machten alarmierte Geräusche und zeigten zu den Gletschern hinüber, die drüben in Kenai Fjords vor ihren Augen schrumpften. Doch insgeheim waren sie durchaus der Meinung, dass ein wärmeres Klima vielleicht auch sein Gutes hätte – vor allem um diese Jahreszeit, Ende März, nach einem monatelangen Winter in Alaska und mit dem Wissen, dass es noch wochenlang so bleiben würde.

Tom dagegen mochte Schnee. Gottes Ajax nannte er ihn. Göttliches Scheuerpulver. Wenn mit dem Frühjahr das Tauwetter kam, würden dieser See und die Wiese ein einziger Morast sein, nichts als Matsch und Moskitos und dazwischen die verwesenden Kadaver sämtlicher Tiere, die es nicht durch den Winter geschafft hatten. Einige wenige Monate lang aber lag hier eine Wildnis von einer so makellosen Reinheit, wie kein Dichter sie besser hätte ersinnen können.

Eine Fläche von ungebrochenem Weiß glitzerte unter einem halben Mond. Die Luft war so klar und kalt, als lutschte man ein Atembonbon, und die Nacht so still, dass Tom das Wühlen der Mäuse unter den Schneewehen und das Heulen von Wölfen in zehn Meilen Entfernung hören konnte.

Tom mochte Wölfe, mochte sie sogar noch lieber als den Schnee. Wunderschöne, stolze Geschöpfe. Vollkommene Jäger, die lautlos wie Gespenster durch die Nacht glitten.

Das erste Tier, das er jemals in einer Falle gefangen hatte, war ein Wolfsjunges gewesen. Er erinnerte sich noch daran, wie es in einer Aura aus Blut im frisch gefallenen Schnee gelegen hatte, die Lefzen nach hinten gezogen zu einem letzten trotzigen Fauchen, das Bein halb durchgebissen von seinen Versuchen, sich zu befreien. Selbst als Junge hatte Tom bereits den Trotz zu würdigen gewusst, den Willen, zu überleben. Als sein Dad ihm erklärt hatte, dass der Pelz für den Verkauf zu stark beschädigt war, hatte Tom seine Mutter gebeten, ihm Fausthandschuhe daraus zu machen.

Die Handschuhe hatte er immer noch. Er hatte vorgehabt, sie seinem Sohn zu vererben, aber … na ja, mit seinen 46 Jahren war er zwar noch nicht zu alt, aber es gab hier oben ganz einfach nicht genug Frauen. Anchorage war wenigstens nicht so übel wie Fairbanks, doch als Fallensteller mit acht Jahren Schulbildung, der in einer Hütte dreißig Meilen außerhalb der Stadt lebte, sollte man trotzdem besser wie Brad Pitt aussehen, wenn man sich Hoffnungen auf eine Ehefrau machen wollte.

Der Gesang eines weiteren Wolfsrudels mischte sich mit dem des ersten, und während Tom lauschte, fragte er sich, ob eins davon sein Rudel war, das Rudel, das einmal auf dieser Wiese zu Hause gewesen war. Über zwanzig Jahre hinweg hatte er auf Pelze von ihnen zählen können. Nicht viele – er stellte inzwischen keine Wolfsfallen mehr auf, sondern schoss Wölfe nur noch und achtete darauf, sich dabei an die Alten und die Kranken zu halten, wie es ein ordentlicher Beutegreifer tun sollte.

Er hatte sie gehört, wenn er kam, um seine Fallen zu leeren; das Heulen war so nah, dass er das Jagdgewehr etwas fester packte, aber sie hatten ihn nie behelligt, hatten ihn einfach seinen Geschäften nachgehen lassen.

Er hatte ihre Fährten gesehen, die sich im Schnee kreuzten und wieder kreuzten, und er hatte die Überreste ihrer Beute gefunden, abgenagt bis auf den letzten Knochen. Hin und wieder hatte er sogar einen kurzen Blick auf sie selbst werfen können, wenn sie lautlos zwischen den Bäumen hindurchglitten. Einmal, in einer Winternacht wie dieser, hatte er zugesehen, wie sie draußen auf dem Eis spielten, wie selbst die Altwölfe schlitterten und rollten wie die Welpen.

Aber dann vor ein paar Monaten hatten sie das kleine Tal verlassen.

Jetzt brach das ferne Wolfsgeheul ab, und plötzlich merkte Tom, wie still es war. Unnatürlich still. Die Leute redeten zwar immer über die Stille in der Wildnis von Alaska, aber jeder, der hier etwas Zeit verbrachte, wusste, es war absolut nicht still. Im Gegenteil – das ständige Rauschen von Wind und fließendem Wasser, das Trippeln von Füßen über und unter dem Schnee, das Rufen der Raubtiere und Schreien ihrer Beute. Gerade jetzt aber hätte Tom schwören können, dass selbst der Wind erstorben war.

Und wenn man lang genug hier draußen gelebt hatte, dann wusste man auch dies – wirkliche Stille konnte nur eins bedeuten: Ärger.

Tom setzte seinen Rucksack auf dem Boden ab und hob das Gewehr, hielt es mit beiden Händen gepackt wie ein Samurai sein Schwert. Nicht, als ob Tom sich selbst hätte einreden wollen, dass ein Gewehr ihn zu einem Krieger machte. Hier draußen war er einfach nur ein Beutegreifer unter vielen, und dazu nicht einmal ein besonders eindrucksvoller.

Als ein Schatten zwischen den Baumstämmen hindurchglitt, stand er vollkommen ruhig und verfolgte seine Bewegung, indem er sich langsam auf der Stelle drehte, während der Lauf sich um ein paar Zoll hob.

Die beiden übelsten Fehler, die man in der Wildnis machen konnte, waren Sorglosigkeit und Panik. Doch so aufmerksam er jetzt auch hinübersah, er erhaschte nur einen einzigen kurzen Blick auf einen großen Schatten, auf allen vieren und geduckt. Dann war er wieder verschwunden.

Ein Bär? Wenn sie nicht gerade Junge hatten, legten sie sich selten mit Menschen an. Und wenn sich ein Bär durchs Dickicht davontrollte, dann machte er einen Höllenlärm dabei, vor allem, wenn er gerade aus dem Winterschlaf aufgewacht war. Tom hatte keinen Laut gehört.

Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf, als sich ein paar alte Geschichten und Legenden in seine Gedanken schlichen. Es gab Bereiche in diesem Wald, in denen die älteren Inuit nicht einmal gegen Bezahlung jagen gingen. Dies sei das Territorium der Ijiraat, erklärten sie dann, die Jagdgründe der Formwandler; sie konnten die Gestalt von Wölfen oder Bären annehmen, um ihr Land gegen alle Eindringlinge zu verteidigen. Geschichten für die Kinder, sagte sich Tom; alte Männer, die versuchten, den Jüngeren Angst zu machen.

Er tat einen Schritt vorwärts; seine Stiefel knirschten im Schnee. Eine Gestalt bewegte sich zwischen den Bäumen, kam näher, und Tom hob das Gewehr bis zur Schulter, den behandschuhten Finger am Abzug.

Wolken glitten über den Mond, und der Wald wurde schwarz. Ein Zweig knackte zu seiner Linken. Tom hätte schwören können, dass er heißen Atem im Nacken spürte. Doch als er herumfuhr, war nichts zu sehen.

Er nahm eine Hand vom Gewehr und wühlte in der Tasche nach der Taschenlampe. Sie blieb in den Falten hängen, und als er es mit einem Ruck versuchte, flog sie ihm aus der Hand und segelte in die umgebende Dunkelheit.

Der Busch knackte jetzt zu seiner Rechten. Er fuhr wieder herum, den Finger am Abzug, und dieses Mal sah er einen undeutlichen Umriss. Er war im Begriff zu feuern, als ihm Danny Royce einfiel. Auch er war ein Trapper, und Danny war erst im vergangenen Sommer hier in diesem Tal vor einem Schatten erschrocken, aber er hatte tatsächlich gefeuert – nur um festzustellen, dass er einen Jungen erschossen hatte, einen zottelhaarigen Teenager, einen Tramper oder Camper wahrscheinlich. Danny hatte die Leiche begraben, und niemand hatte sie je gefunden, aber Danny war seither nicht mehr der Alte gewesen. Er schlief schlecht, trank zu viel, redete zu viel, faselte Tom seine Geschichte vor wie ein Sünder bei der Beichte und schwor, der Geist des Jungen ginge ihm nach. Tom wusste, das Einzige, was Danny Royce nachging, war das Schuldbewusstsein. Trotzdem hielt ihn die Geschichte vom Feuern ab.

Der Umriss war verschwunden. Tom hielt den Atem an, als er den Wald nach einer Veränderung in den Schatten absuchte. Dann sah er es wieder, mindestens sieben Meter entfernt jetzt, eine riesige Gestalt zwischen zwei Bäumen. Die Wolkendecke war wieder dünn genug, dass der Mond hindurchschimmern konnte, und er sah seine Form – zu hell für einen Bären.

Tom ging in die Hocke, so langsam er konnte, und begann, mit der freien Hand nach der Taschenlampe zu tasten. Er gestattete sich einen einzigen Blick auf den Boden hinunter und sah sie dort liegen, dunkel abgehoben gegen den Schnee. Er hob sie auf. Sein Finger fand den Schalter. Das Klicken klang laut und hart in der Stille. Nichts geschah. Er schlug die Lampe gegen den Oberschenkel und versuchte es wieder. Nichts.

Etwas landete auf seinem Rücken mit einem so harten Schlag, dass er einen Augenblick lang glaubte, jemand habe auf ihn geschossen. Das Gewehr flog ihm aus der Hand. Ein Schwall heißer Luft versengte ihm den Nacken, und ein Gewicht nagelte ihn im Schnee fest.

Als das Wesen ihn umdrehte, prallte die Taschenlampe von einem Baumstamm ab und ging in ebendem Moment an, da sich die Reißzähne in seine Kehle gruben. Tom erhaschte einen kurzen Blick auf hellen Pelz und glitzernde blaue Augen, und sein letzter Gedanke war: Das ist keiner von meinen Wölfen.

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1 Botschaft

Man kann jemandem, der sich nicht helfen lassen will, nicht helfen. Und man kann mit Sicherheit niemandem helfen, der wegrennt, sobald man bis auf Rufweite herangekommen ist – ohne Umwege zum nächsten Flugplatz, Zug- oder Busbahnhof, als Ziel jeden beliebigen Ort des Planeten, solange er Hunderte von Meilen von einem selbst entfernt ist.

Als ich Reese Williams durch die Straßen von Pittsburgh verfolgte – die dritte Stadt innerhalb von zwei Tagen –, musste ich mir selbst eingestehen, dass ich die Zurückweisung allmählich persönlich zu nehmen begann. Solche Probleme habe ich normalerweise nicht mit den Typen. Ja, sicher, mit meinen 1,78 m bin ich etwas größer, als manche von ihnen es mögen. Mein Körperbau ist eine Spur athletischer, als viele von ihnen mögen. Ich gebe mir mit meinem Äußeren nicht immer so viel Mühe, wie ich vermutlich sollte, verzichte weitgehend auf Make-up, halte mein Haar mit einem Gummi zusammen und bevorzuge Jeans und T-Shirt. Trotzdem bin ich eine blauäugige Blondine, und folglich kommen die Männer meist zu dem Schluss, dass sie meine Schwachpunkte übersehen können und nicht schreiend in die entgegengesetzte Richtung zu rennen brauchen.

Ich gebe zu, wenn sie wüssten, dass ich ein Werwolf bin, könnte ich ein gewisses Maß an Schreien und Wegrennen verstehen. Doch Reese hatte keine derartige Entschuldigung. Er war selbst ein Werwolf, und in Anbetracht der Tatsache, dass ich die einzige bekannte Frau unserer gesamten Spezies bin, sind es bei Begegnungen mit Typen wie ihm meist die Typen, die das Jagen erledigen. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem ihnen aufgeht, dass das keine gute Idee ist … wenn sie ihre Körperteile vollzählig und unversehrt behalten wollen.

Ich hatte Reese aus den Augen verloren, als er sich durch eine Meute lärmender Penguins-Fans auf dem Weg zu einem Spiel gedrängt hatte. Ich wollte ihm erst durch den betrunkenen Haufen folgen, aber das Rudel missbilligt es, wenn ich Menschen dafür niederschlage, dass sie mir an den Hintern greifen, also hörte ich mir gezwungenermaßen ein paar einfallslose Vorschläge sexueller Natur an, trat dann den Rückzug an und wartete darauf, dass sie weitergingen.

Danach war Reeses Fährte natürlich überdeckt, verwoben mit zwanzig oder mehr Menschenfährten. Dabei stank die Luft ohnehin schon unerträglich; im Stadtzentrum hatte die Bausaison begonnen, und der Geruch nach Maschinen und Diesel überlagerte sogar den Ohio, der eine halbe Meile entfernt dahinströmte. Es bestand keinerlei Aussicht darauf, dass ich Reeses Spur an dieser Straßenkreuzung wiederfinden würde. Nicht, ohne mich mitten in der Innenstadt von Pittsburgh in einen Wolf zu verwandeln … auch dies eins von den Dingen, die das Rudel missbilligt.

Als ich ihn zwei Häuserblocks weiter wiedergefunden hatte, strebte Reese gerade auf die Lichtreklame einer Starbucks-Filiale zu; wahrscheinlich hoffte er auf einen Ort, wo er im Schutz einer Menschenmenge ausruhen konnte. Als er feststellte, dass drinnen alle Plätze frei waren, ging er stattdessen über die Straße.

Reese betrat als Nächstes eine von diesen Büromenschenoasen, die es in allen großen Städten gibt – man räumt ein Grundstück von der Größe eines Ladengeschäfts frei, fügt im Fischgrätmuster verlegte Backsteine, Grünzeug und irgendein Stück Kunst hinzu und hofft, die Angestellten würden kommen und sich entspannen, die Aussicht genießen, der Symphonie der ringsum kreischenden Reifen und Hupen lauschen und eine Dosis Smog zu ihrem Cappuccino nehmen.

Ein Dutzend lange Schritte, dann hatte Reese den winzigen Park hinter sich und wechselte wieder die Richtung, dieses Mal auf einen Gehweg unmittelbar daneben. Scheinwerfer näherten sich und blendeten mich, bevor sie abtauchten – eine Rampe zu einer Tiefgarage. Reese packte das Geländer, das ihn von der Einfahrt trennte, und flankte darüber. Ich rannte los und sah noch, wie sich unten die automatische Tür hinter einem Lieferwagen zu schließen begann … und Reese, der gebückt unmittelbar hinter dem Auto herlief.

Ich versuchte es ebenfalls mit einer Flanke, rannte die Rampe hinunter, erreichte das Ende, ließ mich fallen und rollte unter dem sich schließenden Tor hindurch. Ich sprang wieder auf die Füße und schoss durch die trüb beleuchtete Garage, um mich hinter dem nächsten Pfeiler zu verstecken. Dann lauschte ich auf Schritte. Der Motor des Lieferwagens rumpelte noch fast eine Minute lang am anderen Ende der Tiefgarage vor sich hin, ehe er mit einem zitternden Keuchen verstummte. Eine Tür öffnete sich mit einem verzweifelten Quietschen nach Öl und schlug wieder zu.

Ich rannte im Zickzack und tief geduckt von einem geparkten Auto zum Nächsten. Weiter vorn hörte ich, wie die schweren Schritte des Fahrers sich von mir entfernten.

Eine Tür knarrte, und ein fernes Viereck aus Licht wurde sichtbar. Die Tür hatte sich noch nicht wieder geschlossen, als Reese aus seinem Versteck hervorschoss; seine Sohlen klatschten auf dem Betonboden, als er zu rennen begann.

Ich legte einen Gang zu und gab mir keine Mühe mehr, ungesehen zu bleiben, aber er war schon zu nahe an der Tür zum Treppenhaus. Ich hatte die geschlossene Tür fast erreicht, als sie wieder aufflog und ich eben noch bremsen konnte, bevor ich in einen Mann mittleren Alters hineinrannte.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, während ich mich an ihm vorbeizuschieben versuchte. »Ich habe einfach nur …«

»Das Parkhaus hinter sich bringen wollen, weil Sie nachts nicht gern durch eine Tiefgarage gehen?«

»Äh, ja.«

»Oben sind noch jede Menge Plätze frei, Miss. Es ist viel sicherer. Kommen Sie, ich begleite Sie nach oben.«

Es war unverkennbar, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, an dem Mann vorbeizukommen – ihn den Gentleman spielen zu lassen oder ihn aus dem Weg zu stoßen. Clay hätte Letzteres getan, gar keine Frage, und ihn bei dieser Gelegenheit auch gleich noch angefaucht. Doch ich bin nach wie vor nicht über meine kanadische Erziehung hinweggekommen, die es mir verbietet, jemandem gegenüber grob zu werden, der nichts getan hat, um es zu verdienen.

Also ließ ich mich von dem Mann die Treppe hinaufgeleiten und bedankte mich, als wir oben angekommen waren.

»Ich will ja nicht sagen, dass Sie nicht in der Tiefgarage parken sollten …«, begann er.

»Ich verste…«

»Zum Teufel, es ist schließlich Ihr gutes Recht, das Auto abzustellen, wo Sie wollen. Was Sie nicht tun sollten, ist, sich fürchten zu müssen. Das hier könnte helfen.«

Er streckte mir ein papierdünnes weißes Rechteck hin – mein erster Gedanke war, dass sie die Taschenalarmanlagen wirklich ganz erheblich weiterentwickelt haben mussten, seit ich das letzte Mal eine zu Gesicht bekommen hatte. Doch es handelte sich um eine Karte.

»Meine Frau organisiert Taserpartys.«

»Taser…?«

»Sie wissen schon, wie Tupperpartys. Ein paar Frauen treffen sich, verbringen einen netten Nachmittag, essen zusammen und lassen sich die neuesten Entwicklungen im Bereich der persönlichen Sicherheit vorführen.«

Ich forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, ob er einen Scherz machte. Er tat nichts dergleichen. Ich bedankte mich noch einmal und verließ schleunigst das Treppenhaus.

Reeses Fährte führte zum Vordereingang hinaus. Als ich mich an die Verfolgung machte, ging mir auf, dass ich die Karte immer noch in der Hand hielt. Sie zeigte ein hübsches rotes Taserchen, das mühelos in die Handtasche passte und als Accessoire zu allem und jedem kombinierbar war – für Frauen, die Handtaschen hatten und Wert darauf legten, dass ihre Accessoires farblich zu ihnen passten.

Von Tupperpartys über Dessouspartys zu Taserpartys. Ich schüttelte den Kopf und schob die Karte in die Tasche. Gerade jetzt in diesem Moment hätte ich gegen einen Taser gar nichts einzuwenden gehabt. So wie sich die Sache anließ, war dies möglicherweise die einzige Art, Reese zum Stehenbleiben zu zwingen. Natürlich würde ich zunächst nahe genug an ihn herankommen müssen, um das Ding einsetzen zu können, was im Augenblick nicht sehr wahrscheinlich aussah.

 

Drei Häuserblocks weiter holte ich Reese schließlich auf einem Flachdach ein. Er war die Feuertreppe an der Außenseite hinaufgeklettert, wahrscheinlich in dem Glauben, ich würde ihm nicht folgen.

Als ich mich auf die Dachkante hinaufstemmte, begann er, auf die gegenüberliegende Seite zu rennen; seine Stiefel rutschten auf dem Kiesbelag. Da er nicht vorhatte, im letzten Moment abzuschwenken, bremste ich ab; der Kies knirschte, und ich kam zum Stehen.

»Okay«, rief ich ihm nach. »Ich komme nicht näher. Ich will einfach nur mit dir reden.«

Er war der Dachkante so nahe, dass mein Herz wild zu hämmern begann, aber er drehte sich langsam zu mir um.

Reese Williams, zwanzig Jahre alt, erst vor kurzem aus Australien eingewandert. Mit seinen breiten Schultern, seinem welligen, sonnengebleichten, blonden Haar und den Resten von Sonnenbräune sah er aus wie die Sorte Junge, die Reisegruppen ins Outback führt, breites Lächeln und abgedroschene Witze inklusive. Nur dass er im Augenblick weder lächelte noch Witze machte.

»Mein Name ist Elena …«, begann ich.

»Ich weiß, wer du bist«, unterbrach er mich. »Aber wo ist er?«

»Nicht hier, wie man sieht.« Ich zeigte mit einer Armbewegung in die Runde. »In zwei Tagen hast du keinen Werwolf außer mir gerochen, was eigentlich Beweis genug dafür sein müsste, dass Clay nicht in der Nähe ist.«

»Du bist also allein?« Der Sarkasmus in seiner Stimme machte aus der Frage eine Feststellung. Ich war der einzige weibliche Werwolf. Natürlich brauchte ich einen Beschützer, was wohl auch der Grund dafür war, dass ich mich zum Rudel geflüchtet und mir als Gefährten den Zweitkommandierenden des Alpha ausgesucht hatte – den übelsten, gefährlichsten Werwolf, den ich finden konnte.

»Er hat einen Lehrauftrag«, sagte ich. »An der Georgia State University, die ganze Woche.«

Sein finsterer Blick teilte mir mit, dass er den Scherz nicht zu würdigen wusste. Dabei hatte ich gar keinen gemacht – der üble und gefährliche Werwolf hatte einen Doktor phil. in Anthropologie und nahm gerade an einem Symposium über kultische Rituale im alten Ägypten teil. Doch das hätte mir Reese unter keinen Umständen geglaubt.

»Schön«, sagte ich. »Du glaubst, er lauert irgendwo im Schatten, hält sich seit zwei Tagen windabwärts und außer Sicht. Unaufdringlich ist ein Wort, das im Zusammenhang mit Clay noch nie gefallen ist, aber okay, klar, bleiben wir im Moment bei der Theorie. Allerdings, wenn er nicht gelernt hat zu fliegen, dann ist der einzige Weg hier herauf die Leiter hinter mir, und du würdest ihn kommen sehen. Also nehmen wir uns doch eine Minute Zeit zum Reden. Der Grund dafür, dass ich jetzt seit zwei Tagen hinter dir her bin, ist, dass ich mit dir über …«

»… South Carolina reden will.«

»Stimmt.«

»Ich hab diese Menschen nicht umgebracht.«

»Weiß ich.«

Er gestattete sich zwei Sekunden der Überraschung, und in diesen zwei Sekunden sah er aus wie ein Junge an seinem ersten Tag am College – einsam, verwirrt und in der Hoffnung, jemanden gefunden zu haben, der ihm helfen konnte. Dann wurde sein Gesicht wieder hart. Er war vielleicht nicht älter als ein College-Student, aber er war weder so naiv noch so optimistisch wie einer – nicht mehr.

Ich redete schnell weiter. »Du bist letztes Jahr eingewandert und hast dich mit zwei Idioten namens Liam Malloy und Ramon Santos zusammengetan. Sie haben versprochen, sie würden dir das Nötige beibringen, was man für ein Werwolfdasein in Amerika wissen muss. Dann sind die ersten angefressenen Leichen aufgetaucht …«

»Ich war’s nicht.«

»Nein, sie waren’s, aber sie geben dir die Schuld dafür. Wir wissen …«

Er schob sich rückwärts auf die Dachkante zu.

»Nicht …«, begann ich. »Bleib einfach dort stehen. Noch besser, mach einen Schritt in meine Richtung.«

»Mach ich dich nervös?«

Ich fing seinen Blick auf. »Ja.«

»Wenn einer vom Dach springt, das wäre wirklich eine Riesensauerei, die ihr dann aufräumen müsstet, oder? Viel besser, du beruhigst mich und nimmst mich mit in irgendein kleines Waldstück, wo das mit dem Begraben einfacher ist.«

»Das war es aber nicht …« Ich hörte einen gereizten Seufzer durch meine Zähne zischen. »Schön. Du bist also überzeugt, dass ich dich umbringen werde. In diesem Fall wäre die einzige Frage also …«

Er trat nach hinten … und fiel.

Ich stürzte vor bis zur Dachkante, so schnell, dass ich fast mit dem Gesicht voran im Kies gelandet wäre. Das Herz in der Kehle, verfluchte ich mich dafür, dass ich so sorglos gewesen war, so flapsig …

Dann sah ich das andere Flachdach, nur zwei Stockwerke tiefer, und Reese, der darüber hinrannte.

Clay hätte jetzt einen dramatischen Satz gemacht. Ich verspürte das Bedürfnis, genau das zu tun, rief mir aber ins Gedächtnis, dass ich zweifache Mutter war und in wenigen Monaten vierzig sein würde. Mein Körper war der einer bionischen Dreißigjährigen, aber ich hatte außerdem Verantwortung meiner Familie, meinem Alpha und, was im Moment am wichtigsten war, diesem kleinen Trottel gegenüber, der umkommen würde, wenn ich mir jetzt den Knöchel brach und ihn nicht vor Liam und Ramon warnen konnte.

Also ging ich an der Dachkante in die Hocke, überprüfte die Flugbahn und sprang vorsichtig hinunter. Ich landete auf den Füßen und machte mich an die Verfolgung. Ich hatte das tiefergelegene Dach kaum erreicht, als er bereits wieder von ihm herunter war. Dieses Mal waren es drei Stockwerke, und das war ein bisschen viel – selbst für einen zwanzigjährigen Werwolf. Das dumpfe Geräusch eines harten Aufpralls und ein schmerzliches Keuchen bestätigten es mir.

Ich wurde schneller, in der Hoffnung, ihn unten am Boden kauern zu sehen, verletzt und außerstande, weiterzurennen. Doch der Gehweg war leer, ebenso wie der Parkplatz auf der anderen Seite. Ich fing eine kurze Bewegung in einer Türnische auf, wo er im Schatten versteckt kauerte und wohl darauf wartete, sich auf mich zu stürzen. Nur gut, dass ich nicht wirklich à la Clay vom Dach gesegelt und hinter ihm hergestürmt war.

Ich eilte zur Dachkante an einer Seite des Gebäudes hinüber, ließ mich über den Rand gleiten und dann fallen. Der Aufprall auf dem Asphalt war schmerzhaft. Morgen früh würde ich für das Manöver bezahlen, aber bis auf weiteres konnte ich mir den Schmerz aus den Beinen reiben; dann schlich ich vor bis zur Gebäudeecke.

Der Wind sprang um, und ich fing Reeses Witterung auf; der Geruch war geschwängert von Furcht. Ich war nicht diejenige, vor der er sich hätte fürchten sollen – es waren seine ehemaligen Reisekumpane.

Liam und Ramon hatten in South Carolina drei Menschen umgebracht, und Reese war derjenige, auf den sie den Verdacht gelenkt hatten. Jetzt hofften sie, ihn zu finden und umzubringen, bevor ich seine Seite der Geschichte zu hören bekam.

Wie ich mir all dessen so sicher sein konnte?

Weil sie es nicht zum ersten Mal taten. Vor fünf Jahren hatten sie sich mit einem dreiundzwanzigjährigen, frisch eingewanderten Werwolf namens Yuli Etxeberria angefreundet. Als alle Details im Zusammenhang mit den ermordeten Menschen auf Etxeberria hindeuteten, hatte Clay ihn aufspüren und in Gewahrsam nehmen wollen. Ich hatte ihn zurückgehalten. Ich war misstrauisch gewesen, aber nicht misstrauisch genug. Liam hatte Etxeberria umgebracht und uns per Post seine Hand geschickt, als erwartete er eine Belobigung dafür, dass er sich den »Menschenfresser« vorgenommen hatte.

Diesmal würde es nicht so weit kommen. Ich ging den Rasenstreifen zwischen dem Gebäude und dem Parkplatz entlang, als nähme ich den Parkplatz in Augenschein, und lieferte Reese damit die perfekte Gelegenheit für einen Satz aus dem Hinterhalt.

Als ich die Türnische erreicht hatte, warf ich mich auf den Boden. Reeses Schatten glitt über mich hinweg, als er sich auf mich stürzen wollte und ins Leere griff. Ich sprang auf, packte ihn hinten an der Jacke und schleuderte ihn ins Gras.

Er kam mit einem dumpfen Geräusch auf. Er versuchte, sich abzurollen und mit schlagbereiten Fäusten wieder hochzukommen, aber ein Zwanzigjähriger mit der Körperkraft und Gewandtheit eines Werwolfs ist wie ein Zwanzigjähriger hinter dem Lenkrad eines Lamborghini – die Kraft ist da, aber nicht die Erfahrung, die man braucht, um sie richtig einzusetzen –, und der Sprung auf die Füße misslang.

Ich schleuderte ihn ein zweites Mal mit dem Gesicht voran ins Gras. Dieses Mal blieb er da liegen, wo er gelandet war.

»Wo waren wir?«, fragte ich. »Ja, stimmt. Liam und Ramon und ihr Vorhaben, deine Existenz zu beenden.«

»Mich umzubringen?« Er stand langsam auf. »Warum sollten sie …«

Er stürzte vor in der Hoffnung, mich unvorbereitet zu erwischen. Ich trat einen Schritt zur Seite, und er rannte gegen die Mauer, fuhr herum und ging wieder auf mich los. Ich ging ihm auch diesmal aus dem Weg, aber zugleich packte ich ihn und schleuderte ihn von mir.

Er stieß einen Schwall von Flüchen aus, als er wieder auf dem Boden landete.

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich dich verletzen wollte, würde ich dich schließlich nicht ins Gras schmeißen, oder?«

»Klar, du bist hier, um mir zu helfen, nachdem dir irgendwer gesteckt hat, dass ich ein Menschenfresser bin. Erwartest du im Ernst, dass ich …«

Er versuchte es wieder mit dem Mitten-im-Satz-Losstürm-Trick, diesmal in die Richtung des Durchgangs zwischen den Gebäuden. Ich stürzte hinterher. Als ich ihn am Rückenteil seiner Jacke packte, fuhr er herum und erwischte mich mit einem Haken, der mich von den Beinen riss.

Ich ließ seine Jacke nicht los, und folglich stürzten wir beide. Ich versuchte, mich aufzurappeln, aber er nagelte mich am Boden fest. Und das war der Moment, in dem sich sein Wolfshirn ins Spiel brachte. Seine Pupillen wurden weit, sein Atem wurde schneller, seine Erektion drückte sich gegen meinen Oberschenkel. Seine wölfische Seite teilte ihm mit, dass dies in Wirklichkeit gar keine Prügelei war – es war Vorspiel, und, verdammt noch mal, ich roch wirklich unglaublich gut.

Er erstarrte, als der noch menschliche Teil seines Hirns ihn warnte, dass das, was der Wolf gerade wollte, eine wirklich üble Idee war. Doch seine Nasenflügel waren immer noch gebläht, als er meinen Geruch in sich aufsog.

Ich wusste, welche Seite gewinnen würde, und das war jedes Mal der Moment, in dem die Angelegenheit unerfreuliche Züge annahm.

Also wälzte ich ihn von mir herunter, während er noch mit seinem inneren Konflikt beschäftigt war.

»Und deswegen lasse ich mich nicht auf Nahkämpfe mit Mutts ein«, sagte ich.

Er nickte, während er aufstand, rieb sich energisch mit dem Ärmel übers Gesicht, den Blick gesenkt, die Wangen flammend rot. Er kniff sich in den Nasenrücken und schüttelte nachdrücklich den Kopf, wie um meine Witterung abzuschütteln.

Es war Hirn erforderlich, um so schnell umzudisponieren. Und Reese hatte Hirn – das war das Problem. Wäre er ein unterbelichteter Schläger gewesen, der einfach weiterhin versucht hätte, irgendwie in meine Jeans hineinzukommen, dann hätte er mir auch geglaubt, wenn ich sagte, dass ich ihn retten wollte. Stattdessen sah er sämtliche Gründe dafür, warum dies ein Trick sein konnte.

»Liam und Ramon sind wirklich hinter dir her«, sagte ich. »Du hast’s nicht gemerkt, einfach weil die im Verfolgen nicht annähernd so gut sind wie ich. Aber gib ihnen noch ein paar Wochen, und …«

Er stürzte vor, verlegte sich zur Abwechslung auf die Mitten-im-Satz-des-Gegners-Losstürm-Taktik. Ich trat wieder zur Seite. Nur, dass er dieses Mal den Fuß in meine Kniekehle hakte. Ich stolperte, fing mich aber noch. Unglückseligerweise war er bereits drei Meter weiter und unterwegs in Richtung Straße.

Ich rannte ihm nach.

[home]

2 Flucht

Er hängte mich ab. Die Kurzversion ist: Reese Williams verfügte über eine bewundernswerte Kombination aus Intelligenz und persönlicher Bescheidenheit, während ich ganz einfach daran gewöhnt war, es mit Mutts zu tun zu haben, die sich lieber selbst die Eier amputiert hätten, als vor einer Frau davonzurennen.

Reese tat genau das, was ich auch getan hätte, wenn ich von einem erfahreneren Werwolf durch das Zentrum einer Großstadt verfolgt worden wäre. Er suchte sich den nächstgelegenen Ort mit einer Menschenmenge aus – ein Restaurant. Während ich noch an der Hintertür wartete, rannte er schon zur Vordertür hinaus und schnappte sich das Taxi, das dort auf irgendwen wartete. Als mir aufging, dass er verschwunden war, hatte es keinen Zweck mehr, ihm zu folgen.

Und jetzt, eine Stunde später, saß ich selbst in einem Taxi und war unterwegs zum Pittsburgh International Airport.

Was mich so weit gebracht hatte, waren nicht etwa die altmodische Rennerei und Fragerei gewesen. Seit die Werwölfe wieder dem paranormalen Rat beigetreten sind, haben sich auch unsere Methoden des Muttaufspürens dem Hightech-Zeitalter angepasst. Wir können jetzt auf die Hilfe von Paige Winterbourne zurückgreifen, einer Meisterin des Computerhackens.

Wir wussten, dass Reese gestohlene Kreditkarten verwendete, wobei er zwischen mindestens dreien wechselte. Paige hatte zwei davon identifiziert und ein Auge auf die Transaktionen gehalten.

Ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, ihr mitzuteilen, dass ich ihn aus den Augen verloren hatte, bevor sie anrief und mir mitteilte, dass er am Flughafen mit einer Kreditkarte bezahlt hatte. Die Frage, wohin er wollte, war schwieriger zu beantworten. Paige hatte Zugang zu den Computern aller großen Fluggesellschaften, aber dies war eine kleinere Firma, deren System sie noch nie hatte knacken müssen. Und somit war ich bis auf weiteres doch wieder auf meine Beine und meine Nase angewiesen.

»Ich habe dir einen Flug nach Miami gebucht«, sagte Jeremy, als ich mit dem Handy am Ohr aus dem Taxi stieg. »Damit kommst du auf jeden Fall durch die Sicherheitskontrolle. Aber so, wie es sich anhört, hast du Reese das Nötige gesagt. Wenn er sich weigert, dir zuzuhören, dann weiß ich nicht recht, was du jetzt noch tun willst.«

»Ich will ihm erzählen, was mit Yuli Etxeberria passiert ist. Wenn das auch nicht funktioniert, werde ich ihn verschnüren wie ein Paket und irgendwohin schleifen, wo er in Sicherheit ist, bis er ein bisschen klüger geworden ist.«

Schweigen, während ich das Flughafengebäude betrat. Es hielt so lange an, dass ich mich bei jedem anderen gefragt hätte, ob die Verbindung weg war.

»Du brauchst ihn nicht weiter zu verfolgen, Elena.«

»Nur noch einen Tag lang. Mit den Kindern ist alles in Ordnung, oder?«

»Ja, denen geht es gut. Clay hat vor einer Stunde angerufen. Sein letztes Kolloquium ist abgesagt worden, er kann dir bei Reese also helfen.«

»Phantastisch. Er kann ja morgen dazustoßen, wenn er zu Hause vorbeigeschaut und nach den Kindern gesehen hat.«

»Ich bin mir sicher, das würde er liebend gern tun, aber im Moment will er zu dir. Sobald du weißt, wohin du als Nächstes gehst, wird er sich mit dir treffen.«

Ich widersprach nicht. Es war zwei Wochen her, seit ich Clay gesehen hatte – wir waren seit Jahren nicht so lang getrennt gewesen. Ich war so sehr daran gewöhnt, ihn in der Nähe zu haben, dass ich jetzt seit zwei Wochen verstimmt und aus dem Gleichgewicht war. Und wenn es darum ging, Reese ohne meinen üblichen Partner zu jagen, dann war ich ganz entschieden nicht in Bestform gewesen.

»Das mit Etxeberria war nicht deine Schuld, Elena«, sagte Jeremy.

Aha, geradewegs zum springenden Punkt wie üblich.

»Nur ein Tag noch«, sagte ich. »Gib mir einfach …«

»Ich gebe dir so viel Zeit, wie du brauchst. Das weißt du doch. Und wenn du fertig bist, nimm dir noch eine zusätzliche Übernachtung lang Zeit für Clay, bevor ihr beide zurückkommt.«

 

Wir hatten nicht vorgehabt, so lange getrennt zu bleiben. In Clays Augen waren sogar getrennt unternommene Tagesausflüge schon zu viel. Es ist der Wolf in ihm, der seine Gefährtin immer in der Nähe haben will. Die meisten Werwölfe erben die Gene und wandeln sich erst in den späten Teenagerjahren, aber Clay ist als Kind gebissen worden, und das macht ihn mehr zu einem Wolf als zu einem Menschen.

Unsere Trennung hatte mit einer Dienstreise meinerseits begonnen, die länger gedauert hatte als geplant. Währenddessen war Clay nach Atlanta geflogen. Ich hatte eigentlich vorgehabt, eine Nacht zu Hause Station zu machen und ihm dann zu folgen. Doch an diesem Abend waren unsere entzückenden dreijährigen Zwillinge zu dem Schluss gekommen, ich müsste zu einem »Waldspaziergang« aufgebrochen sein, und hatten mir folgen wollen … indem sie im ersten Stock zum Fenster hinaussprangen.

Erwachsene Werwölfe haben das Privileg übermenschlicher Kräfte und Reflexe; sie hätten den Sprung gefahrlos unternehmen können, aber diese Sekundärkräfte erlangen wir erst mit der Pubertät. Und was die Frage angeht, ob die gleichen Regeln für die Nachkommen zweier Werwölfe gelten – sagen wir einfach, wir haben allmählich den Eindruck, dass dem nicht so ist. Die Kinder kamen mit leichten Verletzungen davon, einem gezerrten Knöchel bei Logan, einem verstauchten Handgelenk bei Kate, aber es bedeutete, dass mein Trip nach Atlanta ausfiel.

Daher die zweiwöchige Trennung, die jetzt zum Glück beinahe überstanden war.

 

Manche Flughäfen sind wie gemacht dafür, einen Verfolger abzuhängen, wie beispielsweise der von Minneapolis. Mit den endlosen Passagen voller Geschäfte und Restaurants macht er in seiner Eigenschaft als siebter Kreis der Hölle für alle Leute mit Orientierungsschwierigkeiten der nahe gelegenen Mall of America Konkurrenz. Pittsburgh hingegen gehört nicht zu diesem Typ Flughafen.

Als ich das Terminalgebäude betrat, hatte Reese bereits eingecheckt und war unterwegs zu seinem Ausgang, aber weit hatte er dabei nicht zu gehen. Ich holte mein Ticket ab und bekam meine Bordkarte. Zwei Rolltreppen transportierten die Passagiere in ein winziges, von ein paar Geschäften flankiertes Foyer vor der Sicherheitsschleuse. Reeses Fährte führte schnurstracks auf die Schleuse zu.

Als ich ebenfalls drinnen war und eine weitere Rolltreppe hinter mich gebracht hatte, wurde es schwieriger. Ich stand in einer Rotunde aus Läden und Restaurants, von der aus vier Passagen zu den Ausgängen führten. Trotzdem bedeutete der klare Grundriss, dass es nur eine begrenzte Anzahl von Richtungen gab, in die er hatte gehen können. Selbst wenn ich seine Fährte nicht fand, ich brauchte mir nur alle vier Gänge anzusehen, um …

»Mr. Chris Parker. Chris Parker, bitte begeben Sie sich zum Ausgang C56.«

Ich musste lächeln. Chris Parker war einer der Namen, die Reese verwendete.

Als ich jedoch den Ausgang erreichte, war der Wartebereich leer und das Flugzeug bereits voll. Reese stand an der Theke und war dabei, der Angestellten seine Bordkarte und seinen Ausweis zu zeigen. Sie ließ sich Zeit mit der Prüfung der Papiere, und er versuchte nach Kräften, ruhig zu bleiben, während er von einem Fuß auf den anderen trat und sich ständig umsah.

Ich schob mich durch eine Menschenmenge, die die Monitore mit den Abflugzeiten studierte, und legte an Tempo zu. Die Angestellte sagte etwas zu Reese. Hatte sie ihre Zweifel wegen des falschen Passes? Er sah ein bisschen merkwürdig aus, oder nicht? Viel besser, Reese noch eine Minute dort zu behalten, jemanden zu holen, der sich den Pass näher ansah …

Sie lächelte ihn an und gab ihm Pass und Bordkarte zurück. Reese verschwand in den langen Gang, der zu seinem Flugzeug führte. Ich ging noch schneller, aber als ich mich der Theke näherte, war er verschwunden.

Wohin verschwunden?

Ich warf einen Blick auf den Bildschirm hinter der Flughafenangestellten. Er schien bei Flugnummer und Abflugzeit eingefroren zu sein, also erkundigte ich mich, wohin das Flugzeug ging.

»Anchorage.« Sie blendete mich fast mit ihrem Lächeln. »Anchorage, Alaska.«

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3 Multitasking

Und das war dann wohl das Ende meiner Bemühungen«, sagte ich zu Jeremy, während ich es mir auf einem Sitz im Foyer bequem machte. »So gern ich diesen Jungen warnen möchte, ich fliege deswegen nicht nach Alaska. Hoffen wir mal, dass Liam und Ramon das genauso sehen.«

»Ich bin mir sicher, sie tun’s.«

Ich hatte mit dem üblichen dunklen, beruhigenden Timbre gerechnet, aber stattdessen meinte ich aus den Worten ein leichtes Zögern herauszuhören.

»Du glaubst, sie werden ihn bis nach Alaska verfolgen?«, fragte ich.

»Nein, ich bin mir ziemlich sicher, sie werden nicht. Aber ein Ausflug nach Anchorage wäre möglicherweise gar keine üble Idee, wenn es euch nicht zu viel wird, dir und Clay.«

»Alles, was du willst. Was ist los in Alas…?« Ich unterbrach mich. »Diese Geschichten über Todesfälle durch Wölfe, stimmt’s?«

Eine meiner rudelspezifischen Pflichten ist es, über alles auf dem Laufenden zu bleiben, das nach möglicher Werwolfaktivität aussieht. Jeremy übernimmt dabei die Zeitungen, ich das Internet. Dieser Fall war in beiden Medien aufgetaucht.

In der Umgebung von Anchorage waren zwei Männer allem Anschein nach von Wölfen umgebracht worden. Als Neuigkeit war dies interessant, weil Wölfe trotz ihres Rufs als gefährliche wilde Tiere keine Menschen töten. In Nordamerika hat es in den vergangenen hundert Jahren keinen belegten Vorfall gegeben, bei dem gesunde wilde Wölfe Menschen getötet hätten. Dementsprechend wurden die Leute nervös, wenn es doch zu passieren schien. Und wir wurden in solchen Fällen sogar sehr nervös, denn es gab etwas, das sehr viel häufiger vorkam als Wolfsattacken – Werwolfsattacken.

Zwei solcher Berichte reichten noch nicht aus, damit das Rudel hingefahren und der Sache nachgegangen wäre. Doch es hatte in jüngster Zeit außerdem Berichte über ebenfalls sehr ungewöhnliche wölfische Aktivitäten gegeben, Geschichten von Wölfen, die Hunde angegriffen hatten, und von Menschen, die Wölfe in der Nähe der Stadt beobachtet hatten. Wenn die Wölfe rings um Anchorage ihre Scheu vor Menschen verloren, dann klang es nicht mehr so unwahrscheinlich, dass sie möglicherweise tatsächlich für die beiden Toten verantwortlich sein könnten.

Wenn ich allerdings noch einen anderen Grund hatte, nach Alaska zu gehen …

»Ich kann es mir mal ansehen, wenn ich sowieso nach Reese suche«, sagte ich.

»Ich schicke dir Clay hinterher.« Eine Pause. »Da ist außerdem noch was. Dennis hätte mich letzte Woche eigentlich anrufen sollen. Er wollte über irgendwas reden, das ihm offenbar wichtig war.«

»Und hat es nicht getan?«

»Nein, und er reagiert auch nicht auf meine Anrufe.«

Dennis Stillwell und sein Sohn Joey waren ehemalige Rudelwerwölfe, die ins westliche Kanada gegangen waren, als die Auseinandersetzung zwischen Jeremy und seinem Vater um den Rang des Alpha wirklich üble Züge anzunehmen begann. Sie waren später nach Alaska gezogen. Das war jetzt dreißig Jahre her, es war längst Vergangenheit gewesen, als ich selbst zum Rudel gestoßen war, aber Jeremy und Dennis hatten den Kontakt aufrechterhalten, und Dennis’ Schweigen machte Jeremy vermutlich mehr zu schaffen als die Opfer möglicher Wolfsattacken.

»Dann mache ich mich wohl auf den Weg nach Alaska«, sagte ich. »Soll ich Clay anrufen und ihm Bescheid sagen?«

»Ich erledige das, und ich buche dir einen Flug. Besorg du dir inzwischen irgendwas zu essen. Und versuch, dich zu entspannen.«

 

Unglückseligerweise bestand kein großer Bedarf an Flügen von Pittsburgh nach Anchorage; das Flugzeug, das Reese genommen hatte, war die einzige Direktverbindung in vierundzwanzig Stunden. Ich musste nach Phoenix fliegen und dort umsteigen.

Der Flug und der kurze Zwischenaufenthalt gaben mir Zeit zum Nachdenken – zu viel davon. In der vergangenen Woche waren zwei Dinge passiert, über die ich mit Clay reden wollte, Vorfälle, die sich für ein Telefongespräch nicht eigneten. Vorfälle, die mir nachgingen, wann immer ich etwas Zeit zum Entspannen und Ausruhen hatte – vermutlich ein weiterer Grund dafür, dass ich Reese immer weiter verfolgt hatte, obwohl der gesunde Menschenverstand mir riet, ihn in Frieden zu lassen.

Der erste davon … okay, ich machte mir Gedanken darüber, aber es hatte nicht die gleichen Auswirkungen auf mich wie der zweite. Dieser war der eigentliche Tiefschlag gewesen, der Grund dafür, dass ich ruhige Momente wie diesen zu vermeiden versuchte. Jeremy und ich hatten im Arbeitszimmer vor dem Kamin gesessen, nachdem die Kinder im Bett waren, und den ruhigen Abend genossen. Er hatte einen Roman gelesen; ich hatte meine Post durchgesehen, die meist tagelang ungeöffnet herumlag und sich dabei zu Stößen auftürmte.

Hätte ich gewusst, von wem der Brief stammte, dann hätte ich ihn ungelesen ins Kaminfeuer geworfen. Doch er war mir über meine alte Universität vermittelt worden und steckte dementsprechend in einem Umschlag der University of Toronto; den zweiten Umschlag im Inneren hatte ich geistesabwesend zusammen mit dem Äußeren aufgeschlitzt.

Es war ein Brief von einem der Männer, die mich in meiner Kindheit zu sich genommen hatten. Das Wort Pflegevater werde ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden – das würde ihm einen Platz in meinem Leben einräumen, den er nicht verdient.

Ich war nach dem Tod meiner Eltern durch viele Familien gegangen. Ich glaube, wenn die potenziellen Mütter mich sahen – das stille Mädchen mit den großen verschreckten Augen –, dann sahen sie nicht etwa eine vorübergehende Unterbringung, sondern ein Kind, das sie retten und zu ihrem eigenen machen konnten. Wenn ich mich ihnen dann nicht öffnete, wenn ich nicht zu der vollkommenen, liebenden Tochter wurde, nach der sie sich sehnten, dann gaben sie mich zurück.

Dass ich blond und blauäugig war, hatte es mit sich gebracht, dass ich außerdem die Aufmerksamkeit einer weniger altruistischen Sorte von Pflege»vätern« und »-brüdern« erregte. Meist war es nicht mehr als ein kurzer Blick im Badezimmer oder eine Hand, die zu lang auf meinem Bein liegen blieb. Manchmal jedoch war es Schlimmeres, vor allem bei dem Mann, der mir den Brief geschickt hatte.

In dem Brief erklärte er mir, dass er wegen seines Problems mittlerweile eine Therapie machte. Es tat ihm leid, was er mir angetan hatte, und sein Therapeut war der Ansicht, dass er es mir mitteilen sollte, schon als Teil des Heilungsprozesses. Sich entschuldigen und mich um Verzeihung bitten.

Ich war vom Sofa aufgestanden, zum Kamin gegangen und hatte den Brief ins Feuer fallen lassen. Jeremy hatte mit einem leisen »Elena?« von seinem Buch aufgeblickt, aber ich war aus dem Zimmer marschiert, bevor er eine Frage stellen konnte.

Ich wünschte, ich könnte jetzt sagen »und das war’s«. Herrgott, wie ich mir wünsche, das sagen zu können. Aber das war es nicht, und der einzige Mensch, mit dem ich darüber hätte reden können, war nicht da! Deshalb gärte der Brief – jedes einzelne verdammte Wort darin – in meinen Gedanken vor sich hin. Bevor ich ihn gelesen hatte, war ich wegen Clays Abwesenheit etwas aus der Spur gewesen. Danach hatte ich den Eindruck, halb blind durch meine Tage zu stolpern, wild entschlossen auf das fixiert, was ich gerade trieb, sei es nun das Frühstück für die Kinder oder die Verfolgung von Reese. Ich wagte nicht innezuhalten, weil ich wusste, das Innehalten würde nur die Erinnerungen und Ängste und die Rage zurückbringen, von denen ich geglaubt hatte, sie vor langer Zeit besiegt zu haben.

Nicht wirklich besiegt, so wie es jetzt aussah. Einfach nur in eine Art willentliches Vergessen gezwungen. Und jetzt war alles wieder da, und ich konnte nicht vergessen, so sehr ich es auch versuchte.

Ich hatte mich gerade auf meinem Sitz im zweiten Flugzeug eingerichtet und wollte eben mein Handy abstellen, als es klingelte.

»Morgen, Darling«, sagte eine vertraute Stimme mit einem schleppenden Südstaatenakzent.

Ich setzte mich auf. »Hey, du. Ich hab gehört, wir gehen nach Alaska.«

»Machen wir. Freust du dich drauf?«

»Ich hab dem Marschbefehl nicht widersprochen, so viel ist mal sicher. Jetzt müssen wir bloß noch den geschäftlichen Teil hinter uns bringen, dann können wir die Gegend nutzen. Meilen über Meilen unerforschte Wildnis. Das müsste eigentlich einen Ausgleich liefern für zwei Wochen mit kurzen, mistigen Wandlungen ganz allein.«

»Dafür willst du mich also dabeihaben? Als Partner beim Rennen?«

»Natürlich, für was denn sonst?«

»Ich kann mir da ein paar Dinge vorstellen.« Clays schleppender Ton wurde zu einem leisen Grollen, das mich zusammenschaudern ließ. »Wenn du sie noch irgendwie in deinem übervollen Trainingsplan unterbringen kannst.«

»Ich bin mir sicher, das geht. Vor dem Rennen. Nach dem Rennen. Zu jedem anderen Zeitpunkt, zu dem wir eine Minute übrig haben …«

Er lachte. »Du vermisst mich ja wirklich.«

»Tu ich.«

Ein Augenblick des Schweigens. »Moment mal. Ich glaube, mit der Verbindung stimmt irgendwas nicht. Ich hätte gerade eben schwören können, du hättest zugegeben …«

»Ich vermisse dich. Fürchterlich. Ich kann es nicht abwarten, bis ich dich zu sehen kriege.«

»Die haben schon angefangen, den Alkohol zu servieren, stimmt’s?«

»Ha, ha. Mach nur so weiter, und ich sag’s nie wieder.«

»Die Frage ist, ob du es überhaupt sagen würdest, wenn ich da wäre.«

»Nein, denn wenn du hier wärst, würde ich auf deinem Schoß sitzen und mich fragen, ob wir irgendwie in den Waschraum reinkommen.«

»Schäker«, knurrte er.

Mein Kopf fuhr hoch. Ich hätte schwören können, dass ich das Knurren gehört hatte … und nicht nur übers Handy. Ich suchte den Mittelgang ab, sah aber nur ein paar Passagiere, die noch hereinkamen, und keiner davon war Clay. Keine vertrauten blonden Locken, die irgendwo oberhalb einer Lehne zu sehen gewesen wären.

»Elena?«

»Sorry.« Ich verdrängte die Enttäuschung. »Wann kommt dein Flug also an?«

»Gegen acht.«

»Dann warte ich im Terminal auf dich.«

Die Flugbegleiter begannen, ihre Runden zu machen. Wir verabschiedeten uns, und ich stellte das Handy ab. Als ich mich in meinem Sitz zurücklehnte, kämpfte ich gegen das anhaltende Gefühl der Enttäuschung an. Es war so gut gewesen, seine Stimme zu hören; ich hatte sogar die langsam über mich hinweggehende Woge der Ruhe gespürt, die er mit sich bringt, wann immer er den Raum betritt – ein tiefsitzender Instinkt, der mir mitteilt, dass ich mich jetzt entspannen kann, weil mein Gefährte in der Nähe ist.

Als ich meine Tasche unter den Sitz schob, verspürte ich das Gefühl wieder, und dazu fing ich einen Geruch auf, der mir so vertraut war wie mein eigener. Ich drehte mich um und sah Clay über der Lehne meines Sessels aufragen.

»Ich kann dich einfach nicht täuschen, was?«, fragte er.

Ich packte ihn vorn am Hemd und zerrte ihn fast über die Lehne, als ich ihn näher zog, um ihn zu küssen.

»Ich muss ganz entschieden öfter verreisen«, bemerkte er, als ich ihn wieder losließ.

»Kommt überhaupt nicht in Frage, außer es ist ein Ausflug für zwei.«

»Einverstanden.«

Er kam nach vorn und setzte sich neben mich. Es hätte mich eigentlich nachdenklich machen sollen, dass Jeremy erst darauf bestanden hatte, meine Flüge zu buchen, und dann behauptete, er habe nur noch einen Platz in der ersten Klasse bekommen. Clay hasst die Economyklasse – er erträgt es einfach nicht, so eng mit Fremden zusammengesperrt zu sein.

»Ich glaube, irgendwas von Auf-meinem-Schoß-sitzen gehört zu haben …«, begann er.

Ich schoss nur so hinüber und küsste ihn, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. Seine Augen wurden weit, bevor er sich hinreichend von der Überraschung erholt hatte, um den Kuss zu erwidern.

Zu sagen, dass öffentliche Demonstrationen von Zuneigung meine Sache nicht sind, wäre untertrieben. Im Lauf der Jahre habe ich mir allerdings angewöhnt, mir weniger Gedanken darüber zu machen, was Fremde von mir denken, und Clay hat vergleichbare Fortschritte dabei gemacht, sich mehr Gedanken darüber zu machen … oder doch zumindest gelernt, sich so zu verhalten, als täte er es. Und so saß ich auf seinem Schoß und küsste ihn, und er fauchte die Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs nicht an, als sie begann, sich zu räuspern und finster herüberzustarren, und alles war gut.

»Und was jetzt diesen Ausflug zum Waschraum angeht«, sagte Clay, als ich wieder auf meinen eigenen Sitz hinüberrutschte.

Ich sah zum Waschraum der ersten Klasse hin … vorbei an zwei Flugbegleiterinnen und sechs Reihen von Passagieren, die samt und sonders mit dem Gesicht zu ihm saßen.

»Weißt du, in Filmen sieht es immer so viel einfacher aus.«

Er lachte und ließ seinen Gurt einrasten. »Es war also eine gute Überraschung, wenn ich das recht verstehe?«

»Phantastisch.«

Er zwinkerte in aufrichtiger Überraschung, und ich verspürte einen kleinen Stich meines schlechten Gewissens. Clay und ich hatten unsere Probleme gehabt in unserer gemeinsamen Geschichte – gigantische Probleme, die uns zehn Jahre lang voneinander getrennt gehalten haben. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, ihn auf Armeslänge von mir fernzuhalten, dass ich es in mancher Hinsicht vermutlich sogar jetzt noch tat. Ich hatte keinerlei Probleme damit, am Telefon beiläufig zu sagen »du fehlst mir«, aber es war nie ein tief empfundenes »Hey, du fehlst mir wirklich«.

Er wusste, dass er mir wirklich gefehlt hatte. Es brachte ihn einfach nur aus der Fassung, dass ich es aussprach. Noch etwas, womit ich mich beschäftigen sollte.

Als das Flugzeug abhob, erzählte ich Clay alles, was er über die möglichen Wolfsattacken wissen musste. Ja, unsere Mitreisenden hätten uns hören können, aber kein Mensch hört eine solche Unterhaltung mit und denkt sich dabei »Oh, mein Gott, sie reden über Werwölfe!«.

Es hatte bisher zwei Tote gegeben. Beides Männer, die nachts allein in der Wildnis von Alaska unterwegs gewesen waren, was darauf hinwies, dass da einfach die natürliche Auslese ihre angestammte Rolle gespielt hatte – etwa wie bei Afrika-Touristen, die beschließen, ihr Zelt neben einem Wasserloch aufzubauen.

Das erste Opfer war ein New-Age-Jünger aus Vancouver gewesen, der zum Zweck einer schamanischen Geistreise in seinem Tipi gefastet hatte; das zweite ein ehemaliger Sträfling, der unterwegs war, um fremde Fallen auszunehmen. Konnte man es den Wölfen wirklich übelnehmen, wenn sie zu dem Schluss gekommen waren, dass diese beiden ein gutes spätwinterliches Festessen abgaben?

Die Behörden gingen von einem einzelnen menschenfressenden Wolf aus. In der Nähe beider Leichen hatte man die Fährte eines riesigen Hundeartigen gefunden. Werwölfe wandeln sich in sehr große Wölfe – sie behalten auch nach der Wandlung ihre Körpermasse. Und die meisten Werwölfe außerhalb des Rudels sind Einzelgänger.

Aber das musste noch nicht heißen, dass es ein Werwolf war. Es legte allerdings nahe, dass wir uns die Sache ansehen sollten, wenn wir aus anderen Gründen sowieso nach Alaska gingen.

Als ich mit meinen Erklärungen zum Ende kam, wurde das Abendessen serviert. In Anbetracht der Tageszeit ließen es die meisten Passagiere bei Getränken und Erdnüssen bewenden, aber kein Werwolf lässt Essen stehen, ganz gleich, wie spät es sein mag. Während wir aßen, redete Clay über sein Symposium. Dann lieferte ich ihm ein weiteres Update – diesmal über Reese Williams.

Auch diese Unterhaltung hätte jedem, der sie mithörte, vielleicht etwas seltsam vorkommen können. Aber solange wir das W-Wort nicht erwähnten, würde der Zuhörer angesichts der Verfolgungsjagden und Nahkämpfe davon ausgehen, dass wir über einen Film redeten. Die meisten Leute waren inzwischen ohnehin eingeschlafen, und nach dem Essen und einem Glas Wein tat ich sehr bald das Gleiche.

Während ich schlief, sah sich Clay auf meinem Laptop das Informationsmaterial für Alaska-Touristen an, das ich zuvor heruntergeladen hatte. Solange er von Fremden umgeben war, konnte er sich nicht hinreichend entspannen, um auch nur die Augen zu schließen.

Als ich aufwachte und zum Fenster hinaussah, entdeckte ich unter mir die Lichter der Stadt.

»Noch dunkel?«, fragte ich gähnend. »Wie spät …?« Ich sah auf die Uhr. »Es ist nach sechs. Wo ist die Sonne?«

»Es ist nach fünf Ortszeit, und das hier ist Alaska, Darling.«

»Mist. Stimmt ja. Puh. Und wann können wir also mit der Sonne rechnen?«

»Sonnenaufgang beginnt gegen halb neun, aber es dauert eine Weile, bevor sie über die Berge da kommt. Vorverlegte Sommerzeit bringt den Leuten hier nicht viel.«

»Kann ich mir denken.«

Ich konnte die Stadt unter mir erkennen; sie lag in einem Tal, auf drei Seiten von verschneiten Bergen und auf der vierten vom Meer umgeben. Und jenseits all dieser Lichter der Zivilisation? Viele Meilen Wildnis.

Ich lächelte. »Unerforschtes Gebiet.«

»Die beste Sorte davon.« Clay kam näher; seine Hand lag auf meinem Oberschenkel, als er sich vorbeugte und zum Fenster hinaussah. »Noch zu dunkel, um sich an die Arbeit zu machen, diese Todesfälle zu überprüfen oder nach Dennis zu suchen. Wir werden irgendeine andere Beschäftigung finden müssen.«

»Wir könnten ins Hotel fahren und ein bisschen schlafen …«

Er schnaubte.

»Sex oder rennen gehen?«, fragte ich.

»Muss ich mir eins davon aussuchen?«

Ich grinste. »Niemals.«

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4 Spielzeit

Im Terminalgebäude angekommen, mussten wir uns zuerst nach Reese umsehen, nur für den Fall, dass sein Flug Verspätung gehabt oder er beschlossen hatte, lieber noch eine Weile hier herumzuhängen, als für eine weitere Nacht eine Unterkunft zu bezahlen. Wir überprüften folglich alle versteckten, schwer einzusehenden Ecken, in denen er sich verkrochen haben könnte. Allerdings sind solche Orte in Flughäfen in der Ära nach dem elften September zunehmend schwer zu finden.

»Himmeldonnerwetter«, murmelte Clay, nachdem sich herausgestellt hatte, dass auch unser dritter derartiger Fund von einer Kamera überwacht wurde. »Wo zum Teufel soll sich ein Mutt hier eigentlich noch verkriechen können?«

Bevor er Gelegenheit hatte, in den Gang davonzustürmen, der zu den Leihwagenfirmen führte, erwischte ich ihn am Arm und zeigte auf ein Schild weiter vorn, das vor laufenden Bauarbeiten warnte.

»Wurde auch Zeit«, knurrte er.

Er flankte über die Barriere, schob eine hängende Abdeckplane zur Seite und verschwand. Ich wartete auf Hinweise darauf, dass die Luft dort hinten nicht rein war – Schreie, Gebrüll, Flüche –, und folgte ihm dann. Als ich Clay eingeholt hatte, stand er neben einem Stapel Gipskartonplatten, den Kopf in den Nacken gelegt und die Nase gereckt, und versuchte die Geräusche oder Gerüche von Arbeitern aufzufangen.

Ich wandte mich einem Nebengang zu. Er war kurz und endete an einer verschlossenen Tür. Ich schätzte gerade ab, wie klug oder unklug es war, das Schloss aufzubrechen, als Clay mit langen Schritten hinterherkam. Er packte mich um die Hüften, drehte mich zu sich herum und presste seinen Mund auf meinen.

Er küsste mich hart. Schürfende Lippen. Zupackende Hände. Ins Fleisch gegrabene Finger. Sein Geruch füllte meine Nase, dick und berauschend wie Haschischrauch. Wirbelnde Gedanken. Brüllender Körper. Hände, die sein Hemd nach oben zerrten; Finger, die seine Flanken packten. Haut an Haut, berühren, streicheln, die Verbindung herstellen, die ich so sehr vermisst hatte.

Ein Knurren, das zitternd aus seiner Brust nach oben drang und als ein langes leises Stöhnen herauskam. Finger in meinem Haar. Drehen. Zerren. Härtere Küsse. Schürfende Zähne, schmeckende Zungen.

Seine Hände rutschten zu meiner Taille hinunter. Ein Knopf sprang auf. Ein Reißverschluss sirrte. Der kalte Luftschwall auf heißer Haut. Das rauhe Kratzen nach unten geschobener Jeans. Warme Finger, die sich in meinen Slip schoben. Zogen. Stoff, der im Weg war, gezogen, gedehnt wurde. Ein Knurren. Ein Reißen. Ein Auflachen.

Hände an meinen Oberschenkeln, die sie auseinanderschoben, als bräuchte ich noch eine Aufforderung. Rücken zur Wand, Winden, Spreizen, Beine über Hüften. Komm schon, komm schon! Dann …

O Gott, ja. Himmel, ich hab dich vermisst. Himmel, ich liebe dich. Ja, bitte, ja …

Clay drückte mich gegen die Wand, knabberte an meinem Hals, als ich zitterte und keuchte.

»Bestzeit?«, fragte er.

»Unsere? Wahrscheinlich nicht.«

Er lachte leise und küsste weiter, atmete tief ein, teilte mir mit, wie gut ich roch, wie sehr er mich vermisst hatte, wie sehr er mich liebte, bis das ferne Zuschlagen einer Tür uns auseinanderfahren ließ.

»Keine Spur von Reese hier«, stellte ich fest, als ich die Jeans wieder anzog.

»Du kannst Jeremy sagen, wir haben in allen Ecken und Winkeln nachgesehen. Und jetzt haben wir Zeit zum Rennen.«

 

Zuerst mussten wir uns jedoch um unser Gepäck kümmern und das Mietauto abholen. So ungern Clay auch mit Menschen zu tun hatte, ich schickte ihn das Auto besorgen – Clay und von Menschenmengen umringte Kofferbänder sind einfach keine gute Kombination. Sobald jemand zufällig nach einer von unseren Taschen greift, meldet sich bei ihm der Territorialinstinkt. Meist reicht ein finsterer Blick, und der Übeltäter lässt das Gepäckstück fallen und tritt den Rückzug an. Bei unserer letzten gemeinsamen Reise versuchte ein Typ jedoch, sich mit meiner Tasche davonzumachen, auch dann noch, als ich ihn höflich darauf hingewiesen hatte, dass es möglicherweise nicht seine war, und Clay … aber wie auch immer, es war wirklich für alle Beteiligten die beste Lösung, wenn ich diesen Teil allein erledigte.

Außerdem hatte ich gesehen, dass hinter der Leihwagentheke eine junge Frau saß, und das machte mir die Entscheidung über die Arbeitsteilung noch einfacher. Jeremy hatte uns mit Sicherheit ein ordentliches Auto reservieren lassen, aber gegen ein kostenloses Upgrade ist ja nie etwas einzuwenden … und Clay bekommt eine Menge kostenloser Upgrades. Die Doppelportion Butter auf dem Popcorn, den extragroßen Kaffee, wenn er Medium bestellt hat, Super für den Preis von Normalbenzin. Ich nehme an, es könnte etwas mit umwerfendem Aussehen zu tun haben. Muskulöser Körper, gemeißeltes Gesicht, leuchtend blaue Augen, goldene Locken. Mit siebenundvierzig sieht er aus wie Mitte dreißig, was vielleicht nicht mehr in die Kategorie »heißer junger Typ« fällt … aber ganz offensichtlich erfüllt »heißer nicht mehr ganz junger Typ« seinen Zweck genauso gut.

Clay hasst es, Aufmerksamkeit welcher Art auch immer zu erregen, und diese Art von Aufmerksamkeit empfindet er angesichts des Traurings an seinem Finger als beleidigend. Er macht kein Geheimnis aus dieser Tatsache – was ihm nur noch mehr Aufmerksamkeiten einzutragen scheint, weil sich die Frauen unter diesen Umständen noch mehr Mühe geben, ihm ein Lächeln zu entlocken.

»Die hatten keinen Explorer mehr da«, sagte Clay, als wir wieder zusammentrafen, ich mit beiden Rollkoffern im Schlepptau. »Wir haben einen Expedition gekriegt.«

»M-hm.«

»Und das hier.« Er hob ein Navigationssystem hoch. »War irgend so eine Sonderaktion.«

»Haben sie irgendwelche Werbegeschenke gehabt? T-Shirts? Baseballkappen? Thermosbecher?«

»Nee. Aber ein paar Straßenkarten hab ich gekriegt.« Er zeigte mir eine Handvoll davon. »Ordentliche Straßenkarten.«

»Sonderaktion?«

»Ich nehm’s an.«

Wir fanden unser Mietauto – einen wuchtigen Geländewagen mit getönten Scheiben.

»Wir hätten uns gar nicht so viel Mühe zu geben brauchen, da drin eine ruhige Ecke zu finden«, sagte ich. »Wir hätten einfach in das Heck von dem Ding da kriechen können.«

»M-hm.« Er öffnete die Heckklappe und warf einen Blick ins Innere. »Wir könnten’s ausprobieren …«

»Ich bin mir sicher, wir werden. Später. Aber im Moment will ich rennen gehen, und danach will ich mein Renn-Nachspiel. Einmal, das war gegen den übelsten Hunger. Zweimal würde mir den Appetit ruinieren.«

»Das riskieren wir nicht«, sagte er, während er unsere Taschen ins Auto hievte.

 

Die vermeintlichen Wolfsrisse hatten sich beide etwa zwanzig Meilen südlich von Anchorage ereignet, und so fuhren wir los. Als Wegweiser hatten wir lediglich die skizzenhafte Karte aus einem der Zeitungsartikel auf dem Bildschirm meines Laptops. Wir wollten dort in der Nähe rennen gehen und bei dieser Gelegenheit überprüfen, ob wir einen wölfischen oder werwölfischen Geruch auffingen.

Clay und ich können die Verantwortungslosen spielen – uns in den denkbar unmöglichsten Situationen Zeit für Sex zu nehmen ist eine unserer Spezialitäten –, aber es ist tatsächlich nur ein Spiel. Keiner von uns wäre dazu imstande gewesen, sich wirklich zu entspannen, rennen zu gehen oder einfach seinen Spaß zu haben, wenn wir nicht zugleich das Gefühl haben konnten, dass wir ein kleines Stück weit immer noch unserer Pflicht genügten und den Erwartungen unseres Alpha nachkamen.

Die Karte aus dem Zeitungsartikel war wirklich sehr skizzenhaft. Sie zeigte den Highway, eine Nebenstraße und zweimal ein X, mit dem jeweils die Leichenfundstelle bezeichnet war, das Ganze ohne jede Maßstabsangabe. Bis wir mit Einheimischen reden konnten, würden wir bei den Örtlichkeiten also raten müssen. Doch keinem von uns war klar, wie vollständig wir aufs Raten angewiesen sein würden – nicht, bevor der Highway Anchorage hinter sich gelassen hatte.

Ich bin mir sicher, bei Tageslicht wäre die Umgebung spektakulär gewesen. Der Highway schlängelte sich zwischen einer Bucht auf der einen Seite und Bergen und Tälern auf der anderen dahin. In der Dunkelheit kurz vor Tagesanbruch war der Eindruck ehrfurchtgebietend – die Endlosigkeit, das unruhige Wasser und die aufragenden Berge, die verschneiten Wiesen und Wälder.

Die Straße war nicht leer. Ein stetiger Strom von Scheinwerfern kam uns entgegen, Pendler auf dem Weg zur Arbeit nach Anchorage. Was nun die Frage anging, wo diese Pendler herkamen – ich hatte keine Vorstellung. Es gab jedenfalls keine Vororte, nicht, so weit ich sehen konnte – nur hin und wieder ein Schild, das auf die Existenz einer unsichtbaren Siedlung am Ende einer langen dunklen Straße hinwies.

Irgendwann bogen wir in eine dieser langen dunklen Straßen ein. Clay fuhr noch eine Meile weiter, fand etwas, das wie eine Zufahrt aussah, und parkte an ihrem Rand.