Nacht der Geister - Kelley Armstrong - E-Book

Nacht der Geister E-Book

Kelley Armstrong

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Beschreibung

Dunkle Hexen, Dämonen und dramatische Spannung - Teil 5 der großen Mysteryserie! Eigentlich ist es praktisch, bereits tot zu sein, findet Eve Levine, Halbdämonin und dunkle Hexe. Zumal wenn man viele Feinde hat, die einem nach dem Leben trachten ... Doch wirklich in Frieden ruht Eve nicht – die ewige Sorge um ihre Tochter, mit der sie als Geist nun nicht mehr sprechen kann, lässt sie nicht los. Da kommt ihr ein Auftrag des Schicksals gerade recht, einer dämonischen Kreatur den Garaus zu machen. Zusammen mit dem attraktiven Hexer Kristof Nast – ihrem Mann fürs Leben nach dem Tode – macht sie sich auf eine Jagd voll gefährlicher Fallstricke. Als Lohn winkt ein geheimnisvolles Medaillon, das es Geistern ermöglichen soll, in die Menschenwelt zurückzukehren ... Kelley Armstrongs "Women of the Otherworld" – Die packende Vorlage zur sexy Mysteryserie "Bitten". Lies jetzt weiter! Alle Bände der Otherworld-Serie: Band 1 Die Nacht der Wölfin Band 2 Rückkehr der Wölfin Band 3 Nacht der Hexen Band 4 Pakt der Hexen Band 5 Nacht der Geister Band 6 Blut der Wölfin Band 7 Lockruf der Toten Band 8 Nacht der Dämonin Band 9 Biss der Wölfin

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Kelley Armstrong

Nacht der Geister

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Inhaltsübersicht

Frankreich 16661. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelMassachusetts 18926. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelSan Francisco 192710. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelCleveland 193816. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelEdinburgh 196223. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. KapitelEpilogDank
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Frankreich 1666

Marie-Madeline zündete das Feuer unter der Schale an. Ein Luftzug aus dem leeren Kamin blies es aus. Sie verschob den metallenen Schirm vor der Feuerstelle, richtete die Schale aus und versuchte es noch einmal. Als die Flamme Fuß fasste, wirbelte Rauch durch das Zimmer und erfüllte es mit dem beißenden Geruch von verbrannten Haaren und dem süßen Duft von Rosmarin.

»Gib dich zu erkennen, meine Nixe«, sagte sie in deutscher Sprache, und ihre Zunge stolperte über die fremdartig klingenden Worte. Sie sprach den Rest der Beschwörung. Die Luft begann zu flackern.

»Du hast versagt … schon wieder«, flüsterte eine Frauenstimme.

Marie-Madelines Finger zitterten. Ein paar heiße Aschebröckchen fielen aus der Schale und versengten ihr die Hand. »Es war nicht meine Schuld. Du gibst mir nicht genug. Dies … es ist nicht einfach. Ich brauche mehr.«

»Mehr?«, zischte die Stimme, die in ihrem Kopf zu kreisen schien. »Das ist nicht eine deiner Mixturen, Hexe. Du kannst nicht einfach weitertrinken, bis du genug hast. Was ich dir gebe, ist die Kraft des Willens, die dir vollkommen fehlt. Ob du sie auch einsetzt – das ist deine eigene Entscheidung.«

»Aber ich will sie doch einsetzen. Gaudin muss gerächt werden, und ich muss meine Freiheit erhalten.«

Die Stimme der Nixe erklang an ihrem Ohr; die Worte trieben heran wie auf einem Strom heißer Luft. »Du bist eine Närrin, Marquise. Ein kleiner, wimmernder Wurm von einer Frau, der zufällig die Formel gefunden hat, um mich zu beschwören, und mich dann getäuscht und meine Zeit verschwendet hat. Du willst gar nicht wirklich Entschlossenheit. Du möchtest losgesprochen werden. Du willst, dass ich für dich handle und dich von der Verantwortung und der Schuld des Vatermords befreie.«

»N-nein. Ich würde dich niemals bitten –«

»Ich werde es tun.«

Marie-Madeline wurde still. »Du wirst … es tun?«

»Du bist nicht die Einzige, die sich an vergessenen Zaubereien versucht, Hexe. Ich kenne eine Formel, die ich schon immer verwenden wollte und bei der ich nur auf das richtige Gefäß gewartet habe – auf ein würdiges Gefäß. Mit dieser Formel gibst du mir die Möglichkeit, deinen Körper in Besitz zu nehmen und die Tat zu begehen. Danach kannst du meinen Lohn empfangen und bei deinem Liebhaber den Anspruch erheben, sie selbst begangen zu haben.«

»Wie lautet die Formel? Sag sie mir jetzt gleich. Bitte! Gaudin wird ungeduldig.«

Das leise Lachen der Nixe waberte durch die Luft. »Und ich ebenfalls. Hör mir gut zu, Marquise, und wir werden dies vor Tagesanbruch vollendet haben.«

 

Die Nixe öffnete langsam die Augen. Sie lag auf dem Fußboden. Kerzen brannten ringsum; ihr Licht war so grell, dass sie blinzeln musste. Der Rauch stieg ihr in die Nase. Sie hustete unwillkürlich und fuhr zusammen – die Erfahrung hatte sie überrascht. Sie hob die Hände. Menschliche Hände, weich und juwelengeschmückt. Die Hände der Marquise. Sie bog die Finger und ballte sie dann zur Faust. Die langen Nägel gruben sich in ihre Handfläche, und sie keuchte. Dies also war Schmerz. Wie … faszinierend. Sie grub die Nägel tiefer, ließ den Schmerz an ihren Armen hinauflaufen. Blut tropfte auf ihr Kleid. Sie berührte es, hob einen Finger an die Nase, atmete den Geruch ein, streckte dann die Zunge hervor und kostete es. Die Nixe kam mühsam auf die Beine, taumelte und gewann das Gleichgewicht zurück. Sie hatte schon früher Menschengestalt angenommen, aber niemals so wie jetzt – sie hatte noch nie ein lebendes Wesen bewohnt. Es war sehr anders. Mühsam … und zugleich interessant. Sie hob den Kopf und sog die Luft ein. Die Dämmerung stand bevor. Es war Zeit, an die Arbeit zu gehen.

 

Sie trug die Suppe hinauf zum Vater der Marquise und genoss die Hitze, die durch die Schale drang und ihre Finger wärmte. Es war so kalt hier; die Steinmauern ließen an jeder Ecke die Zugluft durch. Sie hatte die Bediensteten angewiesen, das Feuer zu schüren, aber diese murmelten nur etwas unbestimmt Gehorsames und verschwanden dann, ohne etwas zu tun. Es war eine Unverschämtheit. Wenn sie der Herr im Haus wäre … aber dies war ja nur eine vorübergehende Inbesitznahme, mit der sie die Formel testete.

Als sie das Zimmer betrat, blickte sie zu dem alten Mann hinüber, der mit dem Rücken zu ihr im Sessel saß. Dann sah sie hinunter auf die Schale mit vergifteter Suppe in ihren Händen. Dieses Mal war es wichtig, dass die Dosis richtig bemessen war. Marie-Madeline hatte das Gift zuvor an ihrer Zofe Françoise ausprobiert, aber das Mädchen war nicht gestorben, und so hatte Marie-Madelines Liebhaber Gaudin Sainte-Croix die Dosis erhöht. Aber statt sie an einem neuen Versuchsobjekt zu testen, hatten die beiden entschieden, dass die Giftmenge jetzt ausreichen müsste.

Faule, unvollkommene Menschen und ihre faulen, unvollkommenen Halbheiten. Wie die Diener, die keine Lust hatten, die Schlossmauern zu verlassen und draußen Feuerholz zu hacken. Was sie ihnen für Lehren erteilen könnte. Vielleicht würde sie es ja tun. Als sie das Zimmer durchquerte, den Blick auf die Suppenschale gerichtet, wurde ihr mit einem kleinen Stich der Überraschung klar, dass der nächste Schritt ihre Entscheidung war. Sie konnte das Gift Marie-Madelines Vater geben – oder es stattdessen den faulen Dienern vorsetzen, die ihre Befehle ignoriert hatten. Zur Abwechslung einmal war sie es, die handelte; sie war nicht mehr bloß Zuschauerin.

Drei Jahrhunderte lang hatte sie dabeisitzen und hoffen müssen, dass die Menschen die Entschlossenheit nutzen würden, die sie ihnen schenkte. Kummer und Leid und Chaos waren ihr Lohn. Und wenn die Menschen versagten, blieb sie hungrig – hilflos wie ein Straßenbalg, der um eine Brotrinde bettelte. Bälger, das war auch der Name, den die Menschen den Kindern der Nixen gegeben hatten – Wechselbälger. Als wüssten sie von der Macht, die sie über die Quasi-Dämonen hatten, und lachten über sie. Doch jetzt war sie hier, und in den Händen hielt sie die Macht, den Tod zu bringen, wo und bei wem sie es für richtig hielt. Sie lächelte. Vielleicht würde sie etwas länger bleiben, als Marie-Madeline geplant hatte.

Als er ihre Schritte hörte, drehte Marie-Madelines Vater sich um. »Du hättest das nicht selbst bringen müssen.« Sie knickste. »Es ist die Pflicht und das Vorrecht einer Tochter, ihrem Vater zu dienen.« Er strahlte. »Und es ist die Freude eines Vaters, eine so pflichtgetreue Tochter zu haben. Jetzt siehst du, dass ich recht hatte bei Gaudin Saint-Croix. Du gehörst zu deinem Gatten und deinem Vater.«

Sie neigte den Kopf. »Es war nichts als eine vorübergehende Vernarrtheit, die mich umso mehr beschämt, als sie Schande über meine Familie gebracht hat.«

»Wir wollen nicht mehr davon sprechen«, sagte er, während er ihr den Arm tätschelte. »Lass uns diesen Feiertag gemeinsam genießen.«

»Aber zuerst sollten Sie Ihre Suppe essen, Vater. Bevor sie kalt wird.«

 

Im Verlauf der nächsten vier Tage starb d’Aubrey einen langsamen und qualvollen Tod. Die Nixe blieb an seiner Seite und tat nach besten Kräften alles für ihn, was sie konnte. Sie wusste, dass ihn das nicht retten würde, aber es gab ihr eine Entschuldigung, zu bleiben und sein Leiden in sich aufzunehmen. Endlich lag er in ihren Armen, eine Haaresbreite vom Tod entfernt, und dankte ihr mit seinen letzten Worten für alles, was sie für ihn getan hatte. »Es war mir eine Freude«, sagte sie und lächelte, als sie ihm die Augen schloss.

 

Es dauerte sechs Jahre, bis die Nixe Marie-Madelines überdrüssig geworden war und die Möglichkeiten erschöpft hatte, die das alberne kleine Leben ihr bot. Es wurde Zeit, sich etwas Neues zu suchen, neue Aussichten zu eröffnen … aber nicht, bevor sie nicht den letzten Rest von Amüsement aus diesem Leben gewrungen hatte. Zunächst tötete sie Sainte-Croix. Es war nicht persönlich gemeint. Er war ein guter Liebhaber und nützlicher Partner gewesen, aber sie brauchte ihn nicht mehr, außer zu dem Zweck, ihn seine Rolle im letzten Akt des Schauspiels spielen zu lassen. Er starb in seinem Laboratorium, wo er offenbar einem seiner eigenen Experimente zum Opfer gefallen war – seine gläserne Maske musste im falschen Augenblick verrutscht sein. Nachdem sie der Polizei einen anonymen Hinweis auf Sainte-Croix’ Tod hatte zukommen lassen, rannte sie in aller Eile zu den Behörden und verlangte die Rückgabe eines Kastens aus dem versiegelten Laboratorium. Der Kasten gehörte ihr und sollte ihr verschlossen übergeben werden. Selbstverständlich war damit garantiert, dass die Polizei ihn öffnete. Im Inneren fand man den Schuldschein, den sie Sainte-Croix für das Gift gegeben hatte, mit dem der Marquis ermordet worden war, und dazu Sainte-Croix’ Vermächtnis an sie – eine Auswahl von Giften, wie die französischen Behörden sie noch nie gesehen hatten. Die Marquise floh aus Paris und suchte Zuflucht in einem Kloster. Der Prozess begann, und Marie-Madeline, die nicht erschienen war, um sich zu verteidigen, wurde zum Tode verurteilt. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.

 

Die Nixe kehrte nach Paris zurück – in dem Wissen, dass Marie-Madeline bald verhaftet werden würde. Sie nahm ein ruhiges Zimmer in einem Wirtshaus, legte sich aufs Bett, schloss die Augen und sprach eine Formel, um die Inbesitznahme von Marie-Madelines Körper zu beenden. Nach ein paar Minuten öffnete sie die Augen und hob eine Hand. Immer noch menschlich.

Sie knurrte etwas, schloss die Augen wieder und sprach die Formel erneut. Nichts geschah. Sie fauchte, sammelte ihre Geistgestalt wie in einer Kugel und schleuderte sich aufwärts, während sie die Worte von neuem sprach; ihre Stimme wurde lauter und füllte sich mit Rage, als ihre Seele an die menschliche Gestalt gekettet blieb. Zwei Stunden lang warf sie sich gegen die Wände aus Fleisch, die ihr menschliches Gefängnis bildeten.

Dann begann sie zu schreien.

 

Nicolette spähte über die Menschenmenge hinweg, die sich in dem Hof versammelt hatte, und betete darum, niemanden zu sehen, den sie kannte. Wenn ihre Mutter herausfand, dass sie hier war … sie schauderte und meinte bereits die scharfe Zunge ihrer Mutter zu hören. Der Tod ist kein Schauspiel, würde sie sagen. Nicolette müsste das besser wissen als irgendjemand sonst. Aber sie war nicht hier, weil sie sehen wollte, wie die Marquise de Brinvilliers starb … nicht wirklich. Es war das Schauspiel rings um das Schauspiel selbst, das sie anzog, die Gelegenheit, Teil von etwas zu sein, über das man in Paris noch jahrelang sprechen würde.

Ein junger Mann schob sich durch die Menge und versuchte Pamphlete zu verkaufen, in denen die Folterung der Marquise beschrieben wurde. Als er Nicolette entdeckte, grinste er, und sein Blick glitt über ihren Körper.

»Eine Broschüre, meine Dame«, sagte er, während er ihr eines der Hefte hinhielt. »Eine kleine Aufmerksamkeit von mir.«

Nicolette warf einen Blick auf das Papier. Die Vorderseite war mit der rohen Zeichnung einer nackten Frau geschmückt; ihr Körper wölbte sich wie unter einem Liebhaber, die Glieder waren auf einem Tisch festgebunden, ein Trichter ragte ihr aus dem Mund, und ihr Gesicht war verzerrt vor Qual. Nicolette erschauerte und wandte den Blick ab. Eine alte Frau zu ihrer Linken begann zu gackern. Der Pamphletverkäufer drängte sich näher an Nicolette heran und öffnete den Mund, aber ein dazukommender Mann schnitt ihm das Wort ab und schickte ihn mit ein paar kurzen Bemerkungen fort. »Sie sollten nicht hier sein, meine Dame«, grollte er ihr ins Ohr, als der Verkäufer verschwunden war. »Das hier ist nicht der richtige Ort für Sie.«

Nein, der richtige Ort für sie war oben auf den Balkonen, wo sie einen freien Blick hatte und sich mit Kuchen und Wein stärken konnte. Nicolette hatte versucht, sich zu verkleiden, um auszusehen wie die einfachen Leute, aber sie merkten es immer.

Sie wollte sich gerade einen anderen Platz suchen, als die Gefängnistore sich öffneten. Eine Gruppe von Menschen erschien. In ihrer Mitte befand sich eine winzige Frau, nicht größer als eineinhalb Meter, deren schmutziges Gesicht noch Anzeichen der Schönheit erkennen ließ, die sie einmal besessen haben musste. Sie war barfuß und trug ein einfaches Hemd. Sie stolperte vorwärts, behindert und gehalten von den Stricken, mit denen sie gefesselt war, einen um die Handgelenke, einen um die Taille und einen um den Hals.

Als ein Büttel die Marquise mit einem Ruck nach hinten zog, hob sich ihr Kopf, und zum ersten Mal erblickte sie die Menschenmenge. Ihre Lippen kräuselten sich, und ihr Gesicht verzog sich zu einer so entsetzlichen Grimasse, dass die alte Frau neben Nicolette zurückwich und nach ihrem Rosenkranz griff. Als die Marquise die Zähne bleckte, schienen ihre Gesichtszüge seltsam zu verschwimmen, als versuchte ihr Geist, sich freizukämpfen. Nicolette hatte schon mehrmals Geister gesehen. Sie besaß diese Fähigkeit, seit sie ein Kind gewesen war – so wie auch ihre Mutter und ihr Großonkel. Aber jetzt, als der Geist der Marquise sich zeigte, wich jeder Mensch ringsum mit einem kollektiven Keuchen zurück. Nicolette warf einen verstohlenen Blick in die Runde. Die anderen hatten es also auch gesehen? Der Büttel stieß die Marquise auf einen Karren. Für diese Reise wartete keine vergoldete, von Pferden gezogene Karosse. Ihr Fahrzeug war ein schmutziger Karren, kaum groß genug, um sie aufzunehmen; verdrecktes Stroh bedeckte den Boden. Die Marquise musste darauf kauern wie ein Tier, und sie fauchte und fluchte noch, als das Fahrzeug den Hof verließ.

Rings um Nicolette begann die Menge sich in Richtung Notre-Dame in Bewegung zu setzen. Sie zögerte; sie war sich sicher, dass sie den letzten Abschnitt dieser Reise der Marquise nicht sehen wollte. Aber die Meute schob sie mit sich, und nach ein paar schwachen Versuchen, sich zur Wehr zu setzen, gab sie auf.

 

Das Schafott war vor der Kathedrale errichtet worden.

Nicolette sah zu, wie die Marquise die Stufen hinaufgezerrt und in die Knie gezwungen wurde und man ihr das lange Haar abschnitt.

Nicolette hatte eine bessere Sicht auf das Geschehen, als ihr lieb war, aber die Menschenmenge hinter ihr war so dicht, dass sie nicht flüchten konnte. Als sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit vom Schafott abzuwenden, trat ein Mann aus der Menge hervor. Ein Ausländer mit olivfarbener Haut und dunklem, welligem Haar. Das allein hätte ausgereicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen; was ihren Blick aber festhielt, war seine Schönheit. Nicolette mochte von sich selbst glauben, dass sie über derlei Dinge erhaben war, aber jetzt ertappte sie sich dabei, dass sie den Mann anstarrte wie ein Mädchen aus der Klosterschule. Er sah aus wie ein Soldat – nicht aufgrund seiner Kleidung, die vollkommen unauffällig war, sondern wegen seiner Haltung. Ein Mann, der Aufmerk-samkeit erregte … aber niemand sah in seine Richtung. Für Nicolette konnte das nur eins bedeuten. Er war ein Geist. Der Geist stieg die Stufen zum Schafott hinauf. Oben angekommen, blieb er stehen und nahm Haltung an, während der Henkersknecht noch immer das Haar der Marquise abhackte. Ganz offensichtlich wollte der Geist einen Platz in der ersten Reihe. War er eines von den Opfern der Marquise gewesen? Endlich, als der Henker seine Axt vom Boden hob, streckte der Geist die Hände aus, die Handflächen nach oben gedreht. Es war eine seltsame Gebärde – als wollte er sich überzeugen, ob es regnete. Seine Lippen bewegten sich. Etwas schimmerte in seinen Händen und nahm dann Gestalt an. Ein Schwert. Ein riesiges, glänzendes Schwert. Als seine Hand hinunter bis zum Heft glitt, wurde Nicolette klar, was er war, und sie fiel auf die Knie und bekreuzigte sich. Trotz der dichten Menge hatte der Engel die Bewegung bemerkt, und seine Augen fingen ihren Blick auf. In dieser Sekunde jagte ihr jede Verfehlung durch den Kopf, die sie jemals begangen hatte, und ihr wurde kalt in der Gewissheit, dass sie gerichtet … und in der Waage für zu leicht befunden wurde. Die Lippen des Engels verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns, und er neigte kurz den Kopf, beiläufig wie ein Nachbar bei einer zufälligen Begegnung. Dann kehrte sein Blick zu der Marquise zurück, und sein Ausdruck wurde hart. Die Axt des Henkers sauste herab. Ein Seufzer stieg von der Menschenmenge auf, als der Kopf der Marquise auf der Plattform aufschlug. Aber Nicolette sah ihn nicht fallen. Stattdessen starrte sie wie gebannt auf den gelben Nebel, der vom Körper der Marquise aufstieg. Der Nebel wirbelte, wurde dichter und begann die Gestalt einer jungen Frau anzunehmen. Der Engel hob sein Schwert, und seine Stimme stieg auf, so klar und melodisch wie die Glocken von Notre-Dame: »Marie-Madeline d’Aubrey de Brinvilliers, für deine Verbrechen bist du gerichtet worden.« Als er das riesige Schwert hob, warf der Geist, der aus dem Körper der Marquise hervorströmte, den Kopf zurück und lachte.

»Ich bin nicht die Marquise, du Narr«, fauchte er.

Die Stirn des Engels legte sich in Falten; sein verwirrter Blick war so menschlich wie das Nicken, das er zuvor Nicolette geschenkt hatte. Das Schwert war bereits in Bewegung, auf den Geist zu.

Die Lippen des Geistes verzogen sich. »Du hast keine Befugnisse über –« Als das Schwert ihn erreichte, stieß der Geist einen Schrei aus, bei dem Nicolette sich zusammenkrümmte, die Hände über den Ohren. Überall um sie herum stießen und drängten die Leute, um einen Blick auf die Leiche der Marquise werfen zu können, bevor man sie fortschaffte; keiner von ihnen hörte die Schreie. Nicolette hob den Kopf. Dort auf der Plattform stand der Engel, den Geist auf der Schwertklinge aufgespießt. Das Ding krümmte sich und schrie und fluchte, aber der Engel lächelte nur.

Dann waren sie verschwunden.

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1

Komm schon«, flüsterte Savannah, während sie den jungen Mann an der Hand weiterzog. Sie kletterte über den hölzernen Zaun, der zum Garten eines schmalen einstöckigen Hauses führte.

»Vorsicht, die Rosen«, sagte sie, bevor seine Füße mitten in dem Beet landen konnten. »Wir müssen diesen Weg nehmen, sonst fängt der alte Typ nebenan wieder an zu meckern, weil ich Freunde da habe, wenn sonst keiner zu Hause ist.«

»Yeah«, sagte der Junge. »Meine Leute machen deswegen auch dauernd Theater.«

»Oh, Paige und Lucas stört’s nicht, solang ich hinterher aufräume und keine Monsterpartys schmeiße. Na ja, vielleicht würde es sie stören, wenn sie wüssten, dass ich einen Typ einlade. Aber wenn dieser alte Kerl sieht, dass ich jemanden mitbringe? Dann fängt er an, den Leuten zu erzählen, dass Paige und Lucas sich nicht richtig um mich kümmern, lauter solchen Mist. Den würde ich am liebsten –« Sie verschluckte den Rest des Satzes und zuckte die Achseln. »Ihm ordentlich die Meinung sagen oder so.«

Ich war keine sechs Schritte hinter ihnen, aber sie drehten sich nicht um, warfen nicht einmal einen Blick über die Schulter. Manchmal geht mir das wirklich auf die Nerven. Ja, sicher, alle Teenager ignorieren ihre Mütter. Und ja, natürlich hatte Savannah eine gute Entschuldigung, weil ich nämlich seit drei Jahren tot war. Trotzdem, man sollte doch meinen, wir hätten eine stärkere Bindung – dass sie mich auf irgendeine Weise hören würde, und wenn es nur als eine Stimme im Kopf wäre, die ihr zuflüsterte: »Hör nicht auf dieses Mädchen« oder: »Der Junge ist die Mühe nicht wert«. Doch das passierte nie.

Im Leben war ich eine der mächtigsten Frauen der paranormalen Welt gewesen, eine Aspicio-Halbdämonin und eine Hexenmeisterin der Schwarzen Künste. Jetzt war ich ein drittklassiger Geist, der nicht mal Kontakt zu seiner eigenen Tochter aufnehmen konnte. Mein Jenseits war wirklich das Letzte.

Savannah führte den Jungen durch den Schuppen, wo sie ihn von Lucas’ neuestem Motorrad-Restaurationsprojekt fortzerren musste, ins Haus. Die Hintertür schlug sie mir vor der Nase zu. Ich ging durch sie hindurch.

Sie zogen die Schuhe aus und liefen die Stufen zur Küche hinauf. Savannah marschierte geradewegs zum Kühlschrank und holte Zutaten für Sandwiches heraus. Ich ging an ihnen vorbei ins Wohnzimmer und richtete mich an meinem Lieblingsplatz ein, in einem buttergelben Ledersessel.

Es war die richtige Entscheidung gewesen, Savannah zu Paige zu schicken. Es war durchaus möglich, dass es die intelligenteste Entscheidung gewesen war, die ich je getroffen hatte. Natürlich, wenn ich wirklich intelligent gewesen wäre, dann hätte Savannah gar nicht erst jemanden gebraucht, der sie aufnahm. Ich hätte es nicht so mörderisch eilig gehabt, aus dieser Anlage zu entkommen, hätte es nicht fertiggebracht, mich dabei umbringen zu lassen, hätte mein kleines Mädchen nicht in Gefahr gebracht … Ja, ich hatte Mist gebaut, aber ich würde das jetzt wiedergutmachen. Ich hatte versprochen, über meine Tochter zu wachen, und ich würde es tun … sobald ich heraushatte, wie das ging.

Savannah und ihr Freund nahmen ihre Sandwiches mit ins Esszimmer. Ich beugte mich vor und warf einen Blick um die Ecke, nur einen ganz kurzen Blick für den Fall … Für welchen Fall, Eve? Für den Fall, dass ihr eine Essigzwiebel im Hals stecken blieb? Ich brachte die allzu vertraute Stimme in meinem Inneren zum Schweigen und wollte mich gerade in meinem Sessel zurücklehnen, als ich noch eine dritte Person im Esszimmer bemerkte. Auf einem ans vordere Fenster gezogenen Stuhl saß eine grauhaarige Frau, den Kopf gesenkt; ihre Schultern zitterten unter lautlosen Schluchzern.

Savannah ging an der Frau vorbei und setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tischs. »Hast du gehört, dass Ms. Lenke vielleicht nicht mal rechtzeitig für die städtischen Meisterschaftsspiele zurück sein kann? Sollte sie aber. Callahan kann doch einen Deadball nicht von einem Freeball unterscheiden.« Der Junge schnaubte. »Würde mich wundern, wenn der Idiot einen Basketball von einem Fußball unterscheiden könnte. Bei dem Training letzte Woche …«

Ich hörte weg und konzentrierte mich stattdessen auf die Frau. Als ich näher trat, konnte ich ihr ersticktes Schluchzen hören. Ich seufzte und lehnte mich an den Rahmen der Esszimmertür.

»Sieh mal«, sagte ich. »Was immer dir auch zugestoßen ist, ich bin sicher, dass es übel war, aber du musst drüber wegkommen. Geh ins Licht oder schlag dreimal die Fersen zusammen oder was auch immer. Tritt endlich über, Geist.«

Die Frau sah nicht einmal auf. Das Einzige, was noch schlimmer ist als ein sturer Geist, ist ein unhöflicher Geist. Ich hatte die alte Frau hier schon mindestens ein Dutzend Mal gesehen, seit die jungen Leute eingezogen waren, und sie hatte nicht ein einziges Mal auch nur erkennen lassen, dass sie meine Anwesenheit bemerkte. Niemals gesprochen. Niemals diesen Stuhl verlassen. Niemals aufgehört zu weinen. Und ich bildete mir ein, ich hätte ein lausiges Jenseits.

Ich ließ meine Stimme sanfter klingen. »Du musst dich endlich lösen. Du verschwendest deine Zeit –« Sie verblasste und war verschwunden. Also wirklich, Leute gibt’s.

»Wo ist diese neue Anlage, die du da hast?«, fragte der Junge, den Mund voller Mehrkornbrot.

»In meinem Zimmer.« Savannah zögerte. »Willst du raufkommen und sie ansehen?«

Der Junge sprang so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Savannah lachte und half ihm, ihn wieder hinzustellen. Dann griff sie nach seiner Hand und führte ihn zur Treppe.

Ich blieb unten. Eine Minute später ließ Musik das Haus erzittern. Nichts, was ich gekannt hätte. Drei Jahre tot, und in punkto Jugendkultur war ich jetzt schon von vorgestern. Nein, Moment. Ich erkannte das Stück. »(Don’t Fear) The Reaper« … aber die Technoversion. Wer zum Teufel war das? Nicht Blue Oyster Cult, so viel war sicher. Was für ein Müll –? Oh Gott, ich wurde gerade zu meiner Mutter. Mein ganzes Leben lang hatte ich das vermieden, und jetzt –

Ein Mann kam durch die Wand. Eine Handbreit größer als ich. Ein Jahrzehnt älter. Breite Schultern. Die Taille dicker als früher, das blonde Haar dünner. Umwerfende, leuchtend blaue Augen, deren Blick meinem zur Treppe hin folgte.

»Und wobei braucht unsere Tochter jetzt wieder verzweifelt deine Hilfe?«, fragte er.

Kristof Nasts Beitrag zu »unserer Tochter« war rein biologischer Natur gewesen – er war erst wenige Tage vor dem Ende seines eigenen Lebens in ihrem aufgetaucht. Meine Entscheidung, nicht seine. Nachdem ich schwanger geworden war, verschwand ich. Es hatte dreizehn Jahre und einen tödlichen Schlag auf den Schädel gebraucht, aber er hatte mich schließlich doch noch aufgetrieben.

Er legte den Kopf schief, horchte auf die Musik und verzog das Gesicht. »Na ja, wenigstens ist sie aus der Boygroup-Phase raus. Und es könnte schlimmer sein. Bryce hatte es mit Heavy Metal, dann Rap, dann Hip-Hop, und bei jeder Phase hätte ich geschworen, die nächste könnte zumindest nicht mehr schlimmer sein, aber er hat jedes Mal was gefunden –« Kristof unterbrach sich und wedelte mit der Hand vor meinen Augen herum.

»Komm schon, Eve«, sagte er. »Savannahs Geschmack mag etwas zweifelhaft sein, aber sie braucht keine musikalische Überwachung.«

»Psst. Hörst du irgendwas?«

Er hob die Augenbrauen. »Außer einer schlecht gestimmten Bassgitarre und einem Gesang, den ich auch einem kastrierten Straßenkater zutrauen würde?«

»Sie hat einen Jungen da oben.«

Ein weiteres Stirnrunzeln, nachdrücklicher diesmal.

»Was für eine Sorte Junge?«

»Mensch.«

»Ich meine, welche ›Sorte‹ Junge. Das ist doch nicht derselbe, der –« Er schloss mit einem hörbaren Zähneklicken den Mund. Dann ging er zu der Stimme über, die ich so gut kannte, der Stimme, die ich in Gedanken hörte, wenn Kris selbst nicht da war. »Okay. Savannah hat also einen Jungen in ihrem Zimmer. Sie ist fünfzehn. Wir wissen beide, dass sie nicht da oben sind, um für eine Klassenarbeit zu lernen. Was genau sie treiben – ist das wirklich eine Frage, die uns etwas angeht?«

»Ich mache mir keine Sorgen wegen Sex, Kris. Sie ist ein intelligentes Mädchen. Wenn sie so weit ist – und ich glaube nicht, dass sie es ist –, wird sie Vorsorge treffen. Aber was, wenn er so weit ist? Ich kenne den Typ kaum. Er könnte –«

»Sie zu irgendwas zwingen, das sie nicht will?« Sein Lachen donnerte durch den Vorraum. »Wann hat dich das letzte Mal jemand gezwungen, etwas zu tun, das du nicht tun wolltest? Sie ist deine Tochter, Eve. Der erste Typ, der die Finger irgendwo hinlegt, wo sie sie nicht haben will, kann sich glücklich schätzen, wenn er sie nicht verliert.«

»Ich weiß, aber –«

»Was, wenn sie die Musik da oben doch noch leiser drehen? Willst du wirklich hören, was dann vorgeht?«

»Natürlich nicht. Deswegen bleibe ich ja hier unten. Ich möchte nur sicherstellen –«

»Du kannst überhaupt nichts sicherstellen. Du bist tot. Der Junge könnte sie mit einer Schusswaffe bedrohen, und es gäbe nichts auf der Welt, das du dagegen tun könntest.«

»Ich arbeite dran!«

Er seufzte. »Du arbeitest jetzt seit drei Jahren dran. Und du bist genauso weit wie am Anfang.« Er zögerte und sprach dann entschlossen weiter. »Du solltest ein bisschen Abstand gewinnen. Mach mal Urlaub.«

»Um was zu tun?«

»Na ja, komisch, dass du das fragst. Das ist es nämlich, worüber ich mit dir reden wollte. Ich habe zufällig gerade einen Zeitjob, den ich dir anbieten könnte. Voller Abenteuer, Geheimnis, vielleicht sogar eine Spur Gefahr …«

»Nur eine Spur?«

Er grinste. »Kommt drauf an, wie du die Sache angehst.«

Ich zögerte und sah die Treppe hinauf. »Wir reden nachher drüber.«

Kristof warf die Hände hoch und verschwand durch die Wand. Ich ließ mich auf die unterste Stufe plumpsen. Zwischen Savannah und mir bestand eine ganz besondere Verbindung, die er unmöglich verstehen konnte … und jetzt wünschte ich bloß, das wäre auch noch wahr. Kris hatte seine beiden Söhne allein aufgezogen, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, als der Jüngere noch Windeln trug. Als wir uns erst kurz kannten, bekam ich mit, wie seine Sekretärin Kris benachrichtigte, dass Sean bei einem Baseballspiel einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Obwohl die Verletzung seines Sohnes kaum mehr als eine Beule war, sagte Kris ein wichtiges Geschäftsessen ab und nahm das nächste Flugzeug nach Hause. Und das war der Moment, in dem meine Meinung von ihm mit dem langsamen Aufstieg begann, dessen Ergebnis dann letzten Endes Savannah gewesen war.

An diesem Punkt allerdings war es zu Ende gegangen. Als mir aufging, dass ich eine schwarze Hexe war, die gerade den Bastard eines Kabalenerben austrug, war ich nicht dumm genug, um zu warten, was seine Familie dazu zu sagen hatte. Und was die Frage anging, was Kristof selbst davon gehalten hatte, dass ich verschwand und seine Tochter mitnahm … na ja, ich hatte zwölf Jahre mit dem Versuch verbracht, nicht darüber nachzudenken. Ich hatte gewusst, dass ich einen Fehler gemacht hatte, einen Fehler in einer Größenordnung, die nur noch von meiner letzten Fehlentscheidung in Winsloes Anlage übertroffen wurde.

Aber zwölf Jahre lang hatte ich immerhin in meinem schlechten Gewissen schwelgen und mir selbst erzählen können, dass es Kristof vollkommen gleichgültig gewesen wäre, ob ich Savannah mitnahm oder nicht. Bockmist natürlich. Aber dass er nicht da gewesen war, um zu widersprechen, hatte es mir einfacher gemacht … bis zu dem Zeitpunkt ein halbes Jahr nach meinem Tod, als ich gesehen hatte, wie er um das Sorgerecht für sie kämpfte und bei dem Versuch starb, sie zu schützen.

Oben war die Musik zu Ende. Savannah legte eine andere CD ein … oder wechselte die MP3s … oder was es heutzutage eben war. Das nächste Stück begann, etwas Langsameres, das leise genug war, dass ich Gekicher und Gemurmel hören konnte.

Zum Teufel, Kris hatte recht. Meiner Tochter ins Einkaufszentrum zu folgen war eins. Zuzuhören, wenn sie mit einem Jungen herumknutschte, war falsch. Und daneben. Aber jetzt steckte ich hier fest. Wenn Kristof herausfand, dass ich gleich nach ihm ebenfalls gegangen war, würde er wissen, dass ich seine Argumentation eingesehen hatte, und ich war einfach nicht bereit, das zuzugeben. Vielleicht –

Ein kurzer Fluch kam aus dem Wohnzimmer. Ich tat einen vorsichtigen Schritt auf die Ecke zu. Im Leben wäre ich sofort hingegangen, eine Formel in der Hinterhand. Aber hier? Na ja, hier lagen die Dinge etwas anders.

Kristof trat hinter dem Sofa hervor und zupfte etwas, das aussah wie Spinnweben, von seinem zerknitterten Hemd. Am Hinterkopf stand sein Haar senkrecht nach oben, als hätte jemand mit einer elektrisch aufgeladenen Hand hindurchgestrichen. Seine Krawatte war zerfetzt. Er schüttelte sich kurz und heftig wie ein nasser Hund. Danach war sein Äußeres wieder makellos … bis auf die Krawatte, die zwischen den Hemdknöpfen steckte. Ich zog sie heraus und strich sie glatt.

»Lass mich raten«, sagte ich. »Falsche Ausfahrt … wieder mal?«

Er zuckte ratlos die Achseln. »Du weißt ja, wie ich bei Formeln bin.«

»Uh-oh.«

Ich sah zurück zur Treppe. Von oben kam ein Seufzer.

Ich wandte mich wieder an Kris. »Mitfahrgelegenheit?«

»Bitte.«

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2

Fortbewegung ist meine Spezialität im Jenseits – meine Aufgabe, Savannah zu helfen, hat es mit sich gebracht, dass ich eine Menge Zeit mit dem Aufspüren von Quellen verbracht habe. In anderen Bereichen der Geisteraktivität bin ich nicht ganz so gut, wobei ich nicht glaube, dass die Parzen mich wirklich dreimal in diesen verdammten Einführungskurs hätten schicken müssen.

Mein Jenseits ist eine Version der Erde mit ein paar merkwürdigen Unterdimensionen, denen wir nach Kräften aus dem Weg zu gehen versuchen. Jeder seiner Bewohner ist ein Paranormaler, obwohl nicht alle Paranormalen hier sind. Als ich starb, war mein erster Gedanke nach dem Aufwachen: »Prima, jetzt kriege ich endlich raus, was als Nächstes kommt.«Na ja, strenggenommen war das mein zweiter Gedanke, nach dem: »Hmm, ich hätte ja gedacht, es würde heißer sein.« Ja, ich war der Flammenhölle entgangen, die mir meine Mutter und viele andere immer vorausgesagt hatten, aber beim Sterben hatte ich nicht herausgefunden, was als Nächstes kam – nur, was für mich als Nächstes kam. Gab es anderswo ewige Glut und Höllenfeuer? Gab es Heiligenscheine und himmlisches Harfenspiel? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Ort, an dem ich bin, besser ist als das, was ich mir erwartet hatte, deshalb werde ich mich kaum beschweren.

Ich setzte Kristof vor den Stufen des Gerichts ab. Ja, es gibt Gerichtsgebäude hier. Die Parzen kümmern sich um die bedeutenderen Disziplinarfragen, aber Streitigkeiten unter den Geistern lassen sie uns selbst beilegen. Daher das Gericht, an dem Kristof arbeitete. Nicht, dass er im wirklichen Leben jemals Jura betrieben hätte. Er hatte in der Firma seines Vaters gearbeitet. Aber jetzt spielte er den Anwalt im Jenseits. Sogar er selbst gab zu, dass dies nicht seine erste Wahl gewesen war, als er sich eine neue Laufbahn suchen musste, aber solange sie keine Jenseitsversion der National Hockey League gründeten, würde er wohl dabei bleiben müssen.

Und da wir gerade von Jobs sprachen … Kristof hatte recht. Ich brauchte wirklich ein bisschen Abwechslung. Ich hatte das seit einer ganzen Weile gewusst, konnte es mir aber nicht eingestehen. Ich wusste, Kris’ Zeitjob würde nicht die Sorte von Tätigkeit sein, die bei den Parzen gut ankam, aber das war eher Anreiz als Hindernis.

Der Gedanke war mir kaum gekommen, als ein bläulicher Nebel aufstieg und mir um die Beine zu wirbeln begann. »Hey, ich hab doch bloß –«

Der Nebel saugte mich in den Boden hinunter.

 

Die Sucher lieferten mich im Thronsaal der Parzen ab, einer riesigen, weißen Marmorhöhle mit beweglichen Mosaiken an den Wänden. Die Parzen sind die Hüterinnen der paranormalen Ebenen der Geisterwelt, und sie lassen uns eigentlich nur dann kommen, wenn wir Mist gebaut haben. Als der Fußboden sich also zu drehen begann, wappnete ich mich. Als das mit dem Drehen nicht schnell genug ging, bewegte ich den Kopf, um den Parzen selbst gegenüberzutreten. Auf einer Estrade war ein hübsches Mädchen gerade dabei, Wolle auf ein Spinnrad zu stecken. Sie sah aus, als wäre sie nicht älter als fünf oder sechs, und sie hatte leuchtend violette Augen, die zu ihrem Kleid passten.

»Okay«, sagte ich. »Was hab ich also angestellt?«

Das Mädchen lächelte. »Sollte das nicht eher heißen ›Was habe ich diesmal angestellt?‹«

Ich seufzte, und keinen Lidschlag später hatte sich das Mädchen in eine ältere Version seiner selbst verwandelt, eine Frau mittleren Alters mit langem, ergrauendem dunklem Haar und hellbrauner Haut, die erste Fältchen erkennen ließ.

»Wir haben ein Problem, Eve.«

»Seht mal, ich habe versprochen, ich würde die Codes nicht zum exzessiven unautorisierten Reisen verwenden. Ich habe nie gesagt –«

»Es geht hier nicht ums unautorisierte Reisen.«

Ich dachte einen Moment nach. »Dass ich Adena Milan besucht habe, um Formeln auszutauschen? Hey, das war wirklich ein Irrtum. Keiner hatte mir erzählt, dass sie auf der Schwarzen Liste steht.«

Die erwachsene Parze schüttelte den Kopf. »Ich gebe zu, es könnte ganz unterhaltsam sein, dich die gesamte Liste deiner Regelverletzungen herunterbeten zu lassen, aber ich fürchte, dafür haben wir nicht die nötige Zeit. Vor achtzehn Monaten haben wir einen Handel abgeschlossen. Wenn wir Paige und Lucas in die Welt der Lebenden zurückkehren ließen, würdest du uns einen Gefallen schulden.«

»Oh … das.«

Verdammt. Da die Angelegenheit nicht mehr zur Sprache gekommen war, hatte ich gehofft, sie hätten sie vergessen. Als ob das jemals passieren würde. Die Parzen erinnern sich daran, was Noah am Morgen der Sintflut zum Frühstück gegessen hat.

Meine erste Eingebung war, mich irgendwie herauszuwinden. Zum Teufel, was konnte schon passieren?

Na ja, für den Anfang könnten sie dann ihre Seite der Abmachung ebenfalls aufkündigen und Paige und Lucas in die Geisterwelt zurückholen. Also – in diesem Fall kam Herauswinden wohl nicht in Frage. Außerdem, ich hatte mich wirklich nach Abwechslung gesehnt. Was dieses ganze Zusammentreffen von Umständen etwas verdächtig erscheinen ließ.

»Hat Kristof euch darauf angesetzt? Mir was zu tun zu verschaffen?«

Die Parze verwandelte sich in die älteste Schwester, eine bucklige Alte, deren runzliges Gesicht einen Ausdruck permanenter Missbilligung trug.

»Kristof Nast setzt uns auf gar nichts an.«

»Ich habe damit nicht sagen wollen –«

»Und wir kämen nicht im Traum darauf, seiner Sorte Gefallen zu tun. Wir dachten, sein Anwaltsjob würde ihm genug Beschäftigung geben.« Sie schnaubte. »Was er ja auch tut. Und Gelegenheit, Schwierigkeiten zu machen.«

»Wenn ihr diese Agito-Geschichte meint, das war nicht Kris’ Schuld. Der Kläger hat angefangen zu lügen, Kris musste irgendwas unternehmen. Es war nicht wirklich Beeinflussung von Zeugen –«

»Sondern einfach nur ein Mittel zum Zweck«, sagte sie, während sie mich mit ihrem üblichen Stirnrunzeln anstierte. »So denkt ihr beide nämlich. Es kommt nicht drauf an, wie ihr euer Ziel erreicht, solange ihr es erreicht.«

Die mittlere Schwester erschien.

»Eine interessante Einstellung. Keine, die wir teilen könnten, aber in einigen Fällen … nützlich. Die Aufgabe, für die wir dich brauchen, könnte einige deiner einzigartigen Gaben erfordern.«

Meine Aufmerksamkeit war geweckt.

»Wir haben einen Geist, der aus den unteren Sphären entkommen ist. Du sollst ihn uns zurückholen.«

Die unteren Sphären, das sind die Bereiche für die Geister, denen man nicht gestatten kann, mit dem Rest von uns zu verkehren – die wirklich üblen Verbrecher. Hm, ja, interessant.

»Wer ist –«

»Als Erstes wirst du etwas recherchieren müssen.« Die Parze in mittleren Jahren griff in die leere Luft und holte einen Stoß Papiere hervor. »Dies ist eine Liste von Büchern –«

»Büchern? Seht mal, ich bin mir sicher, ihr wollt, dass ich diese Sache möglichst schnell erledige, warum verzichten wir nicht auf diesen Aspekt? Ich bin wirklich eher die Frau fürs Praktische.«

Das Mädchen war wieder aufgetaucht, ein etwas hinterhältiges Grinsen im Gesicht. »Oh? Ja dann, in diesem Fall erledigen wir es doch auf die praktische Art.«

Sie schwenkte die Hand, und eine Lichtkugel schoss hervor und blendete mich.

»Was zum –«, begann ich.

»Psst.«

Das Licht zerfiel in einen Funkenschauer. Ich zwinkerte, dann sah ich nur noch Dunkelheit. Eine Stimme mahnte mich zur Ruhe, es klang wie ein langgezogenes, monotones Atemgeräusch; einen Augenblick später wurde mir bewusst, dass es gar keine Stimme war, sondern der Luftzug, der an meinen Ohren vorbeizischte.

Ich kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und versuchte auf Nachtsicht umzuschalten. Wie all meine optischen Fähigkeiten habe ich auch die Nachtsicht in Sonderanfertigung, ein Erbe des Dämonenfürsten Balam, Meister des Gesichtssinns, der mein Vater ist.

Ein scharfer Windzug peitschte durch meine Kleidung. Etwas kitzelte mich an den Fingern. Ich packte zu, und als ich zog, riss der dünne Faden ab. Ich hob ihn an die Nase. Gras.

Vor meinen Augen begann es klarer zu werden. Das Erste, was ich sah, waren Wellen – das rhythmische Ansteigen und Abfallen von Wellen, die aufs Ufer zurollten. Aber ich roch kein Wasser und spürte keinen Wasserstaub in der Luft. Stattdessen war der Wind trocken und roch nach … Gras. Ich zwinkerte und sah Wellen aus Gras; sie stiegen und fielen auf dem hügeligen Gelände, wiegten sich im Wind. Ein Ozean aus Gras.

Früher einmal hätte mich das überrascht, aber nach drei Jahren des Reisens in der Geisterwelt habe ich ein paar ziemlich merkwürdige Landschaften gesehen. In den unbewohnten Gegenden sind Ebenen üblich, riesige leere Landstriche aus Fels oder Sand oder Gras. Ich bin sogar einmal auf eine Ebene aus Lava gestoßen. Nicht angenehm … schon gar nicht, nachdem ich festgestellt hatte, dass sie nicht so unbewohnt war, wie sie zunächst wirkte. Bei diesem Gedanken spähte ich nach unten in das hohe Gras. Es sah nicht so aus, als wäre irgendwas dort unten, aber sicher konnte man sich da nie sein.

Ich sah auf. Himmel. Ein Nachthimmel, bewölkt.

»Okay«, rief ich den Parzen zu. »Ihr könnt mir das Nachsitzen ersparen, ich mache meine Hausaufgaben.«

Ein hohes Lachen antwortete mir. Ich bin mir sicher, dass die kindliche Parze den Streich zum Kichern gefunden hätte, aber die Stimme klang zu alt für sie, und keine ihrer Schwestern war der kichernde Typ.

Als ich sonst keine Antwort bekam, ging ich dem Lachen nach. Wenn es in dieser Einöde der Geisterwelt noch jemanden gab, dann war es vermutlich niemand, dem ich unbedingt begegnen wollte, aber ein bisschen Gefahr würde wenigstens Abwechslung in die Sache bringen.

Der Wind begann zu heulen, als er stärker wurde, und schnitt durch meine dünne Bluse. Ich erwog, mir eine Jacke herbeizuwünschen, ließ es dann aber bleiben. In der Geisterwelt kann man Wochen, Monate, sogar Jahre verbringen, ohne jemals Temperaturen zu verspüren, die über angenehm warm oder angenehm kühl hinausgehen. Hin und wieder war etwas Unbehagen gar nicht so übel. Ich stieg hinunter in eine tiefe Mulde, die mich vor dem Wind schützte, und rieb mir die Ohren. Als sie aufzutauen begannen, wurde mein Gehör besser. Nicht, dass es viel zu hören gegeben hätte – nur das Pfeifen des Windes über mir. Nein, Moment, da war noch etwas anderes. Ich legte den Kopf schief, um zu lauschen. Ein Aufschlag, dann ein rutschendes Geräusch. Stille. Bums, wusch. Stille.

Ich bereitete eine Energiestoßformel vor.

Das dumpfe Geräusch konnte von langsamen Schritten stammen. Aber das Rutschgeräusch? Darüber wollte ich lieber nicht nachdenken.

Mit dem nächsten Aufschlag hörte ich ein Kreischen wie von Nägeln auf einer Schreibtafel. Ein gemurmelter Fluch. Ein kurzer Wortwechsel, eine männliche Stimme, eine weibliche. Ein Grunzen. Ein Plumps. Dann ging es wieder los. Bums, wusch. Bums, wusch.

Ich sprach eine Verschwimmformel – wenn sie in dieser Dimension funktionierte, würde sie meine Gestalt weit genug verschwimmen lassen, dass ich mich an allem vorbeischleichen konnte, was nicht gerade nach mir Ausschau hielt. Ich stieg zum Rand der Mulde hinauf. Keine sechs Meter entfernt stand eine junge Frau mit einer Taschenlampe in der Hand. Ich machte ein paar hastige Schritte den Hang hinunter und schärfte meinen Gesichtssinn.

Ich spähte über die Kuppe. Die Frau leuchtete mit der Taschenlampe, während ein Mann ein Loch grub. Daher kam das Geräusch – der Aufschlag, mit dem sich die Schaufel eingrub, das Herunterrutschen der Erde, wenn er sie zur Seite warf.

Sie waren beide Mitte zwanzig. Der Mann war klein und dünn und hatte eine Mähne von fettigem Haar. Die Frau war blond und trug das Haar zu einer grauenhaften, längst aus der Mode gekommenen Frisur aufgetürmt. Ihre Kleidung war ebenso altmodisch – Minirock, hohe Stiefel und ein leichter, dreiviertellanger Mantel. Überraschend war das nicht. In der Geisterwelt gewöhnt man sich daran, eine Modenschau aus der Vergangenheit zu sehen. Viele Geister bleiben bei dem Stil, der ihnen im Leben gefallen hat. Na ja, es sei denn, zu diesem Stil gehören Korsetts und ähnliche Folterinstrumente.

Hier hatten wir also zwei Geister aus den Sechzigern … oder den Siebzigern. Das war die Zeit gewesen, in der ich aufgewachsen war, und die beiden Jahrzehnte verschwammen für mich zu einer formlosen Masse von Miniröcken, gebatikten T-Shirts, Go-go-Stiefeln und Discomusik.

»Tief genug?«, fragte der Mann und rieb die Hände gegeneinander. »Scheißkalt heute Abend hier draußen.« Die Frau beugte sich vor und spähte in das Loch, dann nickte sie. Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, und beide verschwanden in der Dunkelheit. Als sie zurückkamen, trugen sie ein langes, eingewickeltes Bündel.

»Es ist nicht lang genug«, sagte die Frau. »Er ist größer, als ich gedacht habe.«

Der Mann hob seinen Spaten auf und begann wieder zu graben. Die Frau legte die Arme um den Körper und schauderte, während sie zusah. Angesichts der Kälte und der Arbeit, die sie da gerade verrichteten, war das Schaudern nur einleuchtend. Aber ihr Gesichtsausdruck war es nicht, die glänzenden Augen, die hervorschnellende Zunge.

»Es war gut«, sagte sie. »Besser dieses Mal. Beim nächsten Mal sollten wir nicht so lang warten.«

»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte der Mann, ohne aufzublicken.

»Warum? Niemand erwischt uns. Wir sind unbesiegbar. Das …« Sie schauderte wieder und zeigte zu dem Körper hinüber.

»Das macht uns unbesiegbar. Es macht uns zu etwas anderem.«

Der Mann sah mit einem kleinen Lächeln zu ihr auf. Er nickte, dann griff er nach dem eingewickelten Körper. Als er ihn näher zog, riss der Wind die Verpackung auf. Die toten Augen eines Jungen starrten in den Nachthimmel.

Die Szene löste sich in Dunkelheit auf.

 

Ich habe schon Leichen gesehen. Ich habe selbst manchen in die Geisterwelt geschickt. Wenn man sich mit den dunklen Mächten anlegt, sollte einem klar sein, dass das Ergebnis ein frühes Grab sein kann. Aber mit einem frühen Grab meine ich, dass man sterben kann, bevor man alt und grau ist. Der Mord an jemandem, der zu jung ist, um sich zu verteidigen, ist der einzige Akt, der immer und unter allen Umständen unverzeihlich bleibt.

Diese Frau war also der mordende Geist, von dem die Parzen wollten, dass ich ihn fand? Sie konnten es als erledigt betrachten. Der einzige Lohn, den ich dafür wollte, war, anwesend sein zu dürfen, wenn sie sie in ihre Höllendimension zurückstießen.

Die Dunkelheit lichtete sich, und ich blickte auf, in der Erwartung, den Thronsaal zu sehen. Stattdessen stand ich vor einem frostbeschlagenen Fenster. Ich berührte die Scheibe mit den Fingern. Kalt und glitschig, aber meine Finger hinterließen keine Spur auf dem Glas. Als ich an einer klaren Ecke hindurchspähte, sah ich Sonnenlicht durch fallenden Schnee hindurch. Ein seltsamer Anblick, als sähe man Sonnenstrahlen durch den Regen.

Das Lachen einer Frau ließ mich zusammenfahren, und in Gedanken war ich sofort wieder in der Grassteppe und dem Gekicher, das ich dort zum ersten Mal gehört hatte.

»Halt, warte!«, sagte die Frau. »Das ist der beste Teil. Mach das langsamer.«

Ich wandte mich vom Fenster ab. Am anderen Ende des Zimmers hatte sich ein junges Paar auf dem Sofa zusammengerollt und sah fern. Der Mann hatte eine Fernbedienung in der Hand, mit der er auf den Videorecorder zielte.

Hatte es in den Sechzigern schon Videorecorder gegeben? Nein, Moment mal. Es war ein anderer Mann. Also war ich auch woanders. Oder doch nicht?

Mein Blick blieb an der jungen Frau hängen. Eine Blondine Anfang zwanzig, rundes Gesicht, halbwegs hübsch. Dieselbe Frau. Oder? Die Frisur war immer noch überkandidelt, aber auf eine Art, an die ich mich von der Highschool her erinnerte. Und der Rock war immer noch kurz, aber es war ein modernerer Minirock. Ich versuchte ihr Gesicht genauer zu erkennen, aber sie sah zum Fernseher hin und wandte mir ein Viertelprofil zu.

»Okay, jetzt kommt’s.«

Die Frau beugte sich vor. Ihre Augen leuchteten. Wieder ein Ruck des Wiedererkennens, als ich den hingerissenen Ausdruck bemerkte, den ich auch an der Frau neben dem frischen Grab gesehen hatte.

»Komm schon, dreh das lauter«, sagte sie, während sie den Mann in den Arm boxte.

Er lachte und schaltete die Lautstärke höher. Von dort, wo ich stand, konnte ich den Bildschirm nicht sehen, aber ich hörte den Ton. Die Stimmen klangen verzerrt.

Heimvideoqualität.

Ich sprach die Verschwimmformel und schlich über den Teppich, bis ich einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte. Eine hellgrüne Bluse war im Weg. Jemand, der mit dem Rücken zur Kamera stand. Typisch. Die Bluse ging aus dem Weg. Nacktes Fleisch – ein nacktes Frauenbein. Oh ja. Ein sehr typisches Heimvideo sogar, die Sorte, für die Videokameras gemacht wurden. Das brauchte ich nicht zu sehen.

Ich wollte mich gerade abwenden, als die Kamera nach hinten fuhr und ich das ganze Bild sehen konnte. Ein Mädchen, nicht älter als Savannah, nackt und an ein Bett gefesselt. Blutbeflecktes Bettzeug.

»Jetzt kommt’s.« Die Stimme der Frau kletterte um ein paar Töne nach oben, und sie begann die Schluchzer des Mädchens nachzuahmen. »Ich will zu meiner Mommy!«

Mit einem Aufheulen stürzte ich mich auf die Frau auf dem Sofa. Meine Hände zuckten auf ihre Kehle zu, die Nägel voran. Ich stürzte geradewegs durch sie hindurch und rollte in die Dunkelheit hinaus.

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3

Ich landete auf dem Marmorboden des Thronsaals. Es tat nicht weh. Ich wünschte, es täte weh. Ich ließ sogar die Faust auf den Boden krachen in der Hoffnung, der Schmerz würde durch mich hindurchfahren und die Rage aus meinem Hirn jagen, aber meine Hand prallte ab, als hätte ich auf ein Kissen eingeschlagen. Ich rappelte mich auf. Die mittlere Parze stand da und sah mir zu.

»Schickt mich zurück«, sagte ich.

»Eve, du –«

»Schickt mich sofort zurück! Ihr könnt mir das nicht zeigen und mich dann da rausholen, bevor ich irgendwas dagegen tun kann.«

»Du kannst nichts dagegen tun«, sagte sie leise. »Es ist vorbei. Schon lang vorbei. Was du gesehen hast, war eine Erinnerung.«

Ich rieb mir übers Gesicht. Eine Erinnerung. Ein Blick in die Vergangenheit. Ich starrte zu der weißen Wand hinüber, bis meine Gedanken wieder klar waren. Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute gewesen waren. Offensichtlich Serienmörder, wahrscheinlich bekannt dafür, aber ich hatte mich nie sehr für Verbrechen interessiert. In meiner Welt waren die Killer, deretwegen ich mir Sorgen machen musste, diejenigen, deren Namen in meinem kleinen schwarzen Buch standen – nicht diejenigen, die in den Spätnachrichten auftauchten.

Als ich aufsah, stand die alte Parze am Spinnrad, und ich wappnete mich in der Erwartung, sie würde eine Antwort auf ihre Bitte verlangen. Aber sie sah mich nicht einmal an. Sie schnitt einfach nur den Garnfaden ab, den die mittlere Parze für sie ausgemessen hatte, und gab ihn an einen geisterhaften Assistenten weiter. Dann übernahm die kindliche Parze die Aufgabe, das Spinnrad zu bestücken. Sie hob den Blick zu mir und sah rasch wieder nach unten.

Welcher Zusammenhang bestand zwischen den beiden Mordserien? Waren es überhaupt zwei Mordserien? Es handelte sich ja schließlich nur um einen Geist, der aus den unteren Sphären entkommen war. Aber die zwei Frauen hatten sich ähnlich gesehen, und beide brachten Teenager um, also mussten sie wohl dieselbe Person sein. Für einen Menschen wäre derlei unmöglich gewesen, aber Paranormale sind anderen Möglichkeiten gegenüber aufgeschlossener.

Ich wusste, ich sollte mir eine Theorie überlegen und sie den Parzen präsentieren, um sie mit meiner erstaunlichen Fähigkeit zur logischen Argumentation zu beeindrucken. Ich wusste das … und ich platzte mit dem ersten Gedanken heraus, der mir ins Hirn kam.

»Vampir«, sagte ich.

Die jüngste Parze spähte um das Spinnrad herum, das Gesicht zu einem Ausdruck verzogen, den jede Mutter sofort als »Hä?« erkannt hätte.

»Zwei Mordserien, beide begangen von derselben Frau, die dazwischen nicht gealtert ist – von Miniröcken und Riesenhaar zu, na ja, Miniröcken und Riesenhaar. Ähnliche Modestile, aber ganz entschieden fünfundzwanzig, dreißig Jahre dazwischen, und sie hat keine einzige Falte gekriegt. Sie muss ein Vampir sein. Die meisten Vamps bleiben bei der Tötungsrate, die sie brauchen, aber es gibt immer welche, die Geschmack an der Sache finden, und –«

Die Alte übernahm. »Sie ist kein Vampir, Eve. Wir haben unsere Methoden, mit Vampirgeistern fertig zu werden – was du wüsstest, wenn du auch nur das geringste Interesse an der Welt um dich herum hättest. Versuch’s noch mal.«

Die hellen Augen der alten Parze spießten mich auf wie einen Schmetterling auf einer Filzmatte. In meiner Schulzeit hatte ich sehr wenig Achtung vor meinen Lehrern und vor Erwachsenen generell gehabt. Nur einer einzigen Lehrerin war es jemals gelungen, mich in Verlegenheit zu bringen. Sechste Klasse. Mrs. Appleton, der Typ sauertöpfische alte Frau, deren Blick allein das Selbstwertgefühl zum Bröckeln bringt, der immer aussieht, als erwarte sie sehr wenig von einem und würde nie enttäuscht. Die alte Parze beherrschte diesen Ausdruck bis zur Perfektion.

»Äh, also, ich …« Ich stellte mich gerade hin. »Okay, also, ich weiß nicht viel übers Zeitreisen …« – ich fing ihren Blick auf – »… aber ich weiß, das ist es nicht, was hier los ist. Also dürfte die Erklärung …«

Ich studierte ihren Gesichtsausdruck. Keinerlei Hinweise. Einfach weiterreden also.

»… Reinkarnation sein«, sagte ich.

Die Alte verwandelte sich in die jüngere Frau. »Was weißt du über Reinkarnation, Eve?«

Ein blitzschneller Wechsel, und die alte Frau meldete sich wieder zu Wort. »Nicht annähernd genug, wenn man bedenkt, dass sie seit drei Jahren hier ist.« Sie fixierte mich mit einem Auge, das andere zugekniffen. »Na? Lass mal hören. Alles, was du über Reinkarnation weißt. Dürfte ganze fünf bis zehn Sekunden dauern.«

»Ich weiß, dass es möglich ist«, sagte ich, »selten, aber möglich.«

»Drei Sekunden? Hab dich schon wieder überschätzt.«

Die mittlere Parze erschien. »Ja, es ist selten, Eve. Sehr selten. Es ist nur unter ganz bestimmten Umständen gestattet, wenn ein Geist bestimmte Kriterien erfüllt, aufgrund derer der Schöpfer entscheidet, dass die Seele im Leben eine zweite Chance bekommen soll.«

Die alte Parze schaltete sich wieder ein. »Und Kinder zu ermorden, gehört nicht dazu.«

Wieder schob die mittlere Parze ihre Schwester zur Seite. »Das, von dem wir wollen, dass du es findest, ist eine Nixe. Weißt du, was Nixen sind?«

Ich rechnete damit, dass die alte Hexe zurückkommen und erneut sticheln würde, aber diesmal ließ sie es bleiben.

»Quasi-Dämonen«, sagte ich langsam, als der zuständige Kasten in meiner Erinnerung knarrend aufging. »In der deutschen Volksmythologie ist eine Nixe eine boshafte Versucherin. Eine Art Kreuzung aus Sirene, Kobold und Mae West.«

»Das ist die mythologische Version«, sagte sie. »Und in Wirklichkeit?«

»Ich – da bin ich mir nicht sicher. Ich bin nie einer begegnet und kenne auch keinen, der eine kennt.« Ich dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich erinnere mich nicht, je etwas über die wirkliche Version gelesen zu haben.«

»Wahrscheinlich, weil es ein wirklich sehr obskures Gebiet ist. Wie du gesagt hast – in der Folklore gelten sie als boshafte Geisterwesen, Wassergeister im Grunde …«

Sie lieferte mir einen kurzen Abriss der Nixenmythologie. Manche Menschen glauben, Nixen wären Sirenen, die Menschen in ein nasses Grab locken. Mit anderen Worten, eine Entschuldigung für Idioten, die ins tiefe Wasser springen und dann feststellen, dass sie nicht schwimmen können. In der Mythologie gibt es sowohl weibliche als auch männliche Nixenwesen – Nixen und Nöcke –, aber die Weiblichen sind erfolgreicher bei der Suche nach Opfern – wahrscheinlich, weil es eher die Typen sind, die am Flussufer stehen und brüllen: »Hey, seht euch diesen Hechtsprung an!«

In Wirklichkeit besteht keine natürliche Verbindung zwischen Nixen und Wasser. Aber als die frühen Volkskundler hörten, dass Nixen Versucherinnen sind, schlossen sie daraus vermutlich, dass sie eine Untergruppe der Sirenen sein mussten. Außerdem sind Nixen in Wirklichkeit immer weiblich … oder jedenfalls ist das die Form, in der sie sich manifestieren, so wie sich echte Dämonen als Männer manifestieren. Wahrscheinlich ist das eher eine ästhetische Entscheidung als ein wirklicher Geschlechtsunterschied. Und schließlich sind Nixen strenggenommen keine Versucherinnen. Stattdessen werden sie von denjenigen aufgesucht, die bereits in Versuchung sind – durch Reichtum, Macht oder Sex – und ihren Weg dorthin abkürzen wollen. Was eine Nixe ihnen gibt, ist die Entschlossenheit, die sie brauchen, um eine Tat durchzuführen, zu der ihnen selbst der Mut fehlt, in der Regel einen Mord.

»Okay«, sagte ich, als die Parze fertig war. »Nixen helfen den Leuten beim Töten, und die Szenen, die ihr mir gezeigt habt, waren offensichtlich Morde, aber wo ist der Zusammenhang? Diese Frauen waren Menschen. Wie sollen sie eine Nixe heraufbeschworen haben? Und selbst wenn sie es geschafft haben, ihr werdet mich ja wohl kaum auf die Jagd nach einer Nixe schicken. Sie sind Quasi-Dämonen, keine Geister, sie gehören also nicht mal in eine von euren Höllen.«

Die jüngste Parze schaltete sich ein. »Mach dir keine Sorgen. Wir haben nicht erwartet, dass du den Zusammenhang sehen würdest. Es ist alles sehr merkwürdig.« Sie lehnte sich an dem Spinnrad vorbei zu mir hin, ihre Augen glitzerten. »Weißt du, was da passiert ist, war nämlich –«

Ihre mittlere Schwester sprach weiter. »Diese Nixe ist jedoch anders als ihre Geschwister. Im siebzehnten Jahrhundert hat sie einen Handel mit einer Hexe abgeschlossen, die ihrem Vater den Tod gewünscht hat.«

»Und ihr den Mut gegeben, den sie brauchte, um ihn zu ermorden?«

»Das wäre die übliche Vorgehensweise gewesen. Aber in diesem Fall hat es nicht funktioniert. Die Macht einer Nixe hat eine entscheidende Beschränkung – sie kann einen Menschen nicht dazu bringen, zu töten. Der Wille und die Absicht müssen da sein. Ein bewusster Wille, eine bewusste Absicht. Diese Hexe war im Zwiespalt, was ihren Wunsch anging. Aber Nixen brauchen und lieben das Chaos, und sie mögen es nicht, wenn man sie ruft und ihnen diese Belohnung dann vorenthält, also hat die Nixe einen Vorschlag gemacht. Sie hat der Hexe verraten, wie sie an eine Formel kommen konnte, die es der Nixe erlauben würde, den Körper der Hexe zeitweise in Besitz zu nehmen und die Tat selbst zu begehen. Die Hexe hat sich darauf eingelassen, und die Nixe …«

Die kindliche Parze unterbrach ihre mittlere Schwester; sie sprudelte geradezu über mit der Begeisterung eines Kindes, das den Rest der Geschichte ganz einfach selbst erzählen muss. »… hat sie daraufhin also in Besitz genommen und den Vater der Frau umgebracht. Und dann hätte sie den Körper zurückgeben sollen. Bloß hat sie’s nicht getan. Sie hat ihn dazu genutzt, allen möglichen Ärger zu machen.«

Die mittlere Schwester schaltete sich wieder ein. »Und viele Menschen sind umgekommen … darunter schließlich auch die Nixe selbst. Sie war in einem körperlichen Wesen gefangen und ist den Tod eines körperlichen Wesens gestorben. Weil sie die Gestalt einer Hexe hatte, ist sie hierhergekommen, in die Sphäre der Paranormalen. Wir haben nicht die Voraussetzungen, um mit Quasi-Dämonen umzugehen, aber es ist uns gelungen, sie in einer Höllendimension einzusperren. Für eine Weile jedenfalls.«

»Und sie ist entkommen.«

»Und das ist ein ernsthaftes Problem, weil diese Nixe eben nicht als Geisterwesen durch die Menschenwelt gleitet. Nachdem sie einmal einen menschlichen Körper bewohnt hat, kann sie es jetzt nach Belieben tun.«

»Das ist also der Zusammenhang. Es war gar nicht dieselbe Frau. Es war dieselbe Nixe in verschiedenen Frauen. Sie übernimmt die Kontrolle –«

»Nicht ganz. Sie ist ein toter Geist, sie kann die Kontrolle über einen lebenden Körper nicht mehr vollständig übernehmen. Stattdessen muss sie ihn teilen und der Besitzerin die Entschlossenheit geben, ihre Wünsche auszuführen.«

»Dann kriecht sie also nicht in unschuldige Frauen und verwandelt sie in gemeingefährliche Killerinnen. Sind die Wirte immer Frauen?«

Die Parze nickte. »Nachdem sie sich beim ersten Mal einen weiblichen Wirt ausgesucht hat, ist sie jetzt daran gebunden.«

Ich zögerte. »Da ihr so viel darüber wisst, wie sie vorgeht, vermute ich mal, dass sie schon eine ganze Weile unterwegs ist.«

»Etwas über hundert Jahre.«

»Uh-oh. Und ich nehme an, das bedeutet, dass ich nicht die Erste bin, die ihr hinter ihr herschickt.«

»Es hat drei andere gegeben, die vor dir gegangen sind. Wir haben drei verschiedene Vorgehensweisen gewählt, mit unterschiedlichem Erfolg, aber alle drei haben … ein schlechtes Ende genommen.«

»Was hat sie mit ihnen gemacht?«

Die kindliche Parze erschien, sie lachte. »Ihre erste Frage, und es ist gleich die, auf die keiner von den anderen auch nur gekommen ist. Wenn wir erwähnt haben, dass andere Versuche erfolglos waren, haben sie nur gefragt, wie die Nixe entkommen konnte. Das war es, von dem sie glaubten, dass sie es tun würde – ihnen entwischen und abhauen. Aber du weißt es besser.«

»Gesunder Menschenverstand, sonst nichts. Die beste Methode, das Gejagtwerden zu beenden, ist, die Person auszuschalten, die einen jagt. Aber das ist in diesem Fall ein Problem, stimmt’s? Einen Geist kann man nicht töten. Man kann ihm nicht mal körperliche Schmerzen zufügen. Also wie zum Teufel hält man ihn davon ab, einen zu verfolgen?«

Die mittlere Parze erschien wieder. »Es gibt Schlimmeres als körperliche Schmerzen.«

»Nicht, wenn man es richtig anstellt.«

Die Älteste tauchte auf, das finstere Stieren bereits eingeschaltet. »Du hast immer eine Antwort, stimmt’s?«

»Nein, ich habe nur darauf hingewiesen –«

»Du willst wissen, was sie mit einer deiner Vorgängerinnen gemacht hat, Eve? Lass es mich dir zeigen.«

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4

Der Wandschmuck des Thronsaals verschwand. Selbst der Fußboden löste sich in nichts auf, und ich wartete darauf, in irgendeine Höllendimension zu stürzen. Stattdessen stellte ich fest, dass ich nackt in grauem Nichts trieb.

Trieb ich wirklich? Unter meinen nackten Füßen erstreckte sich eine graue Fläche, glatt wie Glas, die mit dem grauen Himmel verschmolz. Ich konnte meine Füße auf dem Boden stehen sehen, aber unter ihnen spürte ich nichts. Ich schloss die Augen und senkte die Hand. Sie stockte auf Bodenniveau. Ich beugte mich vor, konnte aber immer noch keinen Druck an der Handfläche spüren.

Okay, das war unheimlich. Aber trotzdem gab es tausend üblere Orte, an die die Nixe ihren letzten Verfolger hätte schicken können, und wenn diese etwas beunruhigende Illusion das Beste war, was sie zustande gebracht hatte, dann konnte ich nur lachen.

Ich schloss die Augen und wünschte mir Kleidung. Als ich sie wieder öffnete, war ich immer noch nackt. Hm. Ich nehme an, die Nacktheit war ein Aspekt der Folter. Und für manche Leute wäre sie das vielleicht gewesen, aber ich bin nicht der Typ, der Alpträume davon hat, splitternackt durch ein Einkaufszentrum gehen zu müssen. Es kam also nicht weiter drauf an, vor allem angesichts der Tatsache, dass niemand da war, der mich hätte sehen können.