Darkest Powers: Schattenstunde - Kelley Armstrong - E-Book

Darkest Powers: Schattenstunde E-Book

Kelley Armstrong

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Beschreibung

Die dunklen Mächte begehren auf - Band 1 der "Darkest Powers"-Serie Ich heiße Chloe Saunders, und mein Leben wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Ich wollte immer eine ganz normale Jugendliche sein. Doch heute weiß ich nicht einmal mehr, was das ist, normal sein. Alles begann an dem Tag, an dem ich meinen ersten Geist sah – und er mich. Nun kommen immer mehr Tote auf mich zu. Und da das alles andere als normal ist, wurde ich nach Lyle House geschickt – angeblich ein Heim für verhaltensauffällige Jugendliche. Aber da steckt mehr dahinter. Und die anderen Jugendlichen hier sind auch nicht einfach nur durchgeknallt. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich muss versuchen, den dunklen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Denn nur so kann ich die Toten, die immer näher kommen, zum Schweigen bringen … Darkest Powers - mystische Hochspannung von Bestseller-Autorin Kelley Armstrong! Die ganze "Darkest Powers"-Serie: Band 1: Darkest Powers - Schattenstunde Band 2: Darkest Powers - Seelennacht Band 3: Darkest Powers - Höllenglanz

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Kelley Armstrong

Die dunklen Mächte: Schattenstunde

Roman

Aus dem Englischen von Christine Gaspard

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Vorspann1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. KapitelDie dunklen Mächte wüten weiter …Fragen an Kelley Armstrong
[home]

Zwölf Jahre zuvor …

 

Mommy hatte vergessen, die neue Babysitterin über den Keller aufzuklären.

Chloe schwankte auf der obersten Stufe, die runden Händchen ausgestreckt, um beide Geländerstangen packen zu können. Ihre Arme zitterten so sehr, dass sie sich kaum halten konnte. Die Beine zitterten ebenfalls, so sehr, dass die Scooby-Doo-Köpfe auf ihren Hausschuhen nickten. Und ihr Atem kam in Stößen, als sei sie gerannt.

»Chloe?« Emilys Stimme trieb gedämpft aus dem dunklen Keller herauf. »Deine Mom hat gesagt, die Cola ist im Kühlraum, aber ich finde sie nicht. Kannst du runterkommen und mir helfen?«

Mommy hatte gesagt, sie hätte Emily das mit dem Keller erzählt. Da war Chloe sich sicher. Sie schloss die Augen und dachte angestrengt nach. Bevor Mommy und Daddy zu der Party gegangen waren, hatte sie im Fernsehzimmer gespielt. Mommy hatte gerufen, und Chloe war in den Vorraum hinausgerannt, wo Mommy sie auf die Arme genommen und gelacht hatte, als Chloes Puppe ihr dabei fast ein Auge ausstach.

»Ah, du spielst mit Prinzessin, ich meine mit Piratin Jasmine. Hat sie Aladin schon vor dem bösen Flaschengeist gerettet?«

Chloe schüttelte den Kopf und flüsterte dann: »Hast du Emily das mit dem Keller gesagt?«

»Ja, und zwar ganz deutlich. Kein Keller für Miss Chloe. Die Tür da bleibt zu.« Als Daddy um die Ecke kam, sagte sie zu ihm: »Wir müssen das mit dem Umzug wirklich mal in die Wege leiten, Steve.«

»In dem Moment, in dem du was sagst, rufe ich sofort den Makler an.« Daddy zerzauste Chloe das Haar: »Sei nett zu Emily, Schätzchen.«

Und dann waren sie fort.

»Chloe, ich weiß, dass du mich hörst!«, schrie Emily.

Chloe nahm die Hände vom Geländer und presste sie auf die Ohren.

»Chloe!«

»Ich k-kann nicht in den Keller«, rief sie zurück. »Ich d-darf nicht!«

»Na ja, im Moment habe ich hier das Sagen, und ich sage, du darfst. Du bist ein großes Mädchen.«

Chloe zwang ihre Füße dazu, eine Stufe hinunterzusteigen. Hinten in der Kehle tat es weh, und alles sah verschwommen aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

»Chloe Saunders, du hast noch fünf Sekunden, dann hole ich dich hier runter und schließe die Tür ab.«

Chloe stürzte so schnell die Treppe hinunter, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte und ungeschickt auf dem Treppenabsatz landete. Dort lag sie, ihr Knöchel pochte, und Tränen brannten in ihren Augen, als sie in den Keller hinunterstarrte mit seinen Geräuschen und Gerüchen und Schatten. Und mit Mrs.Hobb.

Es waren noch andere Leute da gewesen, bevor Mrs.Hobb sie verscheucht hatte. Wie die alte Mrs.Miller, die mit Chloe Verstecken gespielt und sie Mary genannt hatte. Und Mr.Drake, der merkwürdige Fragen stellte, zum Beispiel, ob schon jemand auf dem Mond lebte. Meistens konnte Chloe seine Fragen nicht beantworten, aber er lächelte trotzdem und sagte, sie sei ein nettes Mädchen.

Früher war sie gern hier heruntergekommen und hatte mit den Leuten geredet. Sie durfte nur nicht hinter den Ofen sehen, wo ein Mann mit einem Gesicht, das ganz violett und aufgedunsen war, von der Decke hing. Er sagte nie etwas, aber allein ihn dort hängen zu sehen verursachte Chloe Bauchschmerzen.

»Chloe?«, rief Emilys gedämpfte Stimme. »Kommst du jetzt endlich?«

Mommy würde sagen: »Denk an die guten Sachen, nicht an die schlechten.« Als Chloe die letzten drei Stufen hinunterstieg, dachte sie an Mrs.Miller und Mr.Drake und ganz und gar nicht an Mrs.Hobb … oder jedenfalls nicht sehr.

Am Fuß der Treppe spähte sie in die fast vollständige Dunkelheit. Nur die Nachtlichter waren an, die Mommy überall angebracht hatte, als Chloe nicht mehr in den Keller hatte gehen wollen und Mommy geglaubt hatte, sie habe Angst vor der Dunkelheit. Was zutraf, aber nur ein bisschen und nur deshalb, weil Mrs.Hobb sich in der Dunkelheit an sie heranschleichen konnte.

Jetzt konnte Chloe aber die Tür des Kühlraums sehen, hielt ihren Blick also fest auf sie gerichtet und lief so schnell sie konnte auf sie zu. Als sich etwas bewegte, vergaß sie, dass sie nicht hinsehen durfte. Es war aber nur der hängende Mann, und sie sah auch nichts weiter als seine Hand, die ganz kurz hinter dem Ofen sichtbar wurde, als er schwankte.

Chloe rannte zur Kühlraumtür und riss sie auf. Im Inneren war es pechschwarz.

»Chloe?«, rief Emily aus der Dunkelheit.

Chloe ballte die Fäuste. Jetzt wurde Emily wirklich gemein. Sich zu verstecken und …

Rasche Schritte über ihrem Kopf. Mommy? Schon wieder zu Hause?

»Jetzt komm schon, Chloe. Du hast doch wohl keine Angst im Dunkeln, oder?« Emily lachte. »Wahrscheinlich bist du doch noch ein Baby.«

Chloe verzog finster das Gesicht. Emily hatte keine Ahnung. Sie war einfach bloß ein dummes, gemeines Mädchen. Chloe würde ihr eine Cola holen und dann ins Erdgeschoss hinaufrennen und Mommy alles erzählen. Und dann würde Emily nie wieder auf sie aufpassen dürfen.

Sie beugte sich in den winzigen Raum hinein und versuchte sich zu erinnern, wo Mommy die Cola aufbewahrte. Da stand sie doch, dort auf dem Regal, oder? Chloe rannte hin und stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre Finger schlossen sich um eine kühle Dose.

»Chloe? Chloe!« Es war Emilys Stimme, aber sie klang weit entfernt und schrill. Schritte donnerten auf dem Fußboden über ihrem Kopf. »Chloe, wo bist du?«

Chloe ließ die Dose fallen. Sie landete mit einem lauten Schlag auf dem Betonboden, platzte und rollte Chloe zischend und spuckend gegen den Fuß. Cola sammelte sich in einer Pfütze rings um ihre Hausschuhe.

»Chloe, Chloe, wo bist du?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Die Stimme klang fast wie Emilys Stimme, aber nur fast.

Chloe drehte sich langsam um.

In der Tür stand eine alte Frau in einem rosa Hausmantel, ihre Augen und Zähne glitzerten in der Dunkelheit. Mrs.Hobb. Chloe hätte gern die Augen zugekniffen, aber sie wagte es nicht, denn das machte Mrs.Hobb nur verrückter und alles noch schlimmer.

Mrs.Hobbs Haut begann sich zu kräuseln und aufzufalten. Dann wurde sie schwarz und glänzend und prasselte wie Zweige in einem Lagerfeuer. Große Fetzen begannen abzufallen und landeten auf dem Fußboden. Ihr Haar zischte und brannte. Und dann war nichts mehr übrig als ein Schädel mit einzelnen Resten von verkohltem Fleisch. Die Kiefer öffneten sich, die Zähne glitzerten immer noch.

»Willkommen zurück, Chloe.«

[home]

1

Ich fuhr im Bett hoch, eine Hand um meinen Anhänger geklammert, die andere ins Laken gekrallt, und versuchte, Fetzen des Traums, der bereits zu zerfließen begann, noch zu erwischen. Irgendwas mit einem Keller … einem kleinen Mädchen … mir? Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir jemals einen Keller gehabt hätten. Wir hatten immer in Appartementhäusern gewohnt.

Ein kleines Mädchen in einem Keller, irgendwas Beängstigendes … waren Keller nicht immer beängstigend? Ich schauderte bei dem bloßen Gedanken an sie, dunkel und feucht und leer. Aber dieser war nicht leer gewesen. Da war etwas gewesen … ich konnte mich nicht erinnern was. Ein Mann hinter einem Ofen?

Ein kräftiges Klopfen an meine Tür ließ mich zusammenfahren.

»Chloe!«, kreischte Annette. »Wieso hat dein Wecker nicht geklingelt? Ich bin Haushälterin hier, nicht dein Kindermädchen. Wenn du dich wieder verspätest, ruf ich deinen Vater an.«

Auf der Skala gängiger Drohungen war das nichts, das mir Alpträume verursacht hätte. Selbst wenn Annette meinen Dad in Berlin wirklich erwischen sollte, würde er so tun, als hörte er zu, den Blick auf sein Blackberry gerichtet, die Aufmerksamkeit voll und ganz von etwas Wichtigerem in Anspruch genommen – der Wettervorhersage zum Beispiel. Er würde etwas à la »Ich kümmere mich drum, sobald ich zurück bin« murmeln und mich vergessen haben, sobald er die Auflegtaste drückte.

Ich schaltete das Radio ein, drehte die Lautstärke hoch und kroch aus dem Bett.

 

Eine halbe Stunde später war ich im Bad und machte mich für die Schule fertig.

Ich zog mein Haar seitlich mit Spangen nach hinten, warf einen Blick in den Spiegel und schauderte. Mit dieser Frisur sah ich aus wie zwölf. Und das war nichts, bei dem ich noch zusätzliche Unterstützung gebraucht hätte. Ich war gerade fünfzehn geworden, und im Restaurant brachten mir die Kellner immer noch die Kinderkarte. Ich konnte es ihnen nicht mal übelnehmen. Ich war eins dreiundfünfzig groß, und Kurven sah man nur, wenn ich enge Jeans und ein noch engeres T-Shirt trug.

Tante Lauren schwor Stein und Bein, dass ich in die Höhe – und in die Breite – gehen würde, wenn ich endlich meine Periode bekam. Ich neigte inzwischen zu der Ansicht, dass dies weniger ein Fall von »wenn« als von »falls« war. Die meisten meiner Freundinnen hatten sie mit zwölf, wenn nicht mit elf Jahren bekommen. Ich versuchte, nicht allzu viel darüber nachzudenken, aber natürlich tat ich es. Ich machte mir Sorgen, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Wenn meine Freundinnen über ihre Tage redeten, kam ich mir wie eine Mutantin vor und betete, sie würden nicht herausfinden, dass ich sie immer noch nicht hatte. Tante Lauren sagte, mit mir sei alles in Ordnung. Und da sie Ärztin war, nahm ich an, dass sie es wissen musste. Zu schaffen machte es mir trotzdem. Sehr sogar.

»Chloe!« Die Tür zitterte unter Annettes massiver Faust.

»Ich sitze auf dem Klo!«, brüllte ich zurück. »Gibt’s hier vielleicht noch ein bisschen Privatsphäre?«

Ich versuchte es mit einer einzelnen Spange am Hinterkopf, die die seitlichen Strähnen oben hielt. Gar nicht so übel. Als ich den Kopf drehte, um die Angelegenheit von der Seite zu betrachten, rutschte die Spange aus meinem feinen Haar.

Ich hätte es nie abschneiden dürfen. Aber ich hatte meine langen glatten Kleinmädchenhaare gründlich satt gehabt. Stattdessen hatte ich mich für eine schulterlange, fedrig geschnittene Frisur entschieden. An dem Fotomodell hatte es fantastisch ausgesehen. An mir? Na ja.

Ich beäugte die ungeöffnete Tube mit Tönungscreme auf der Ablage. Kari schwor, rote Strähnchen würden in meinem rötlich blonden Haar umwerfend aussehen. Ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, dass ich eher wie eine von diesen gestreiften Zuckerstangen aussehen würde. Andererseits, wenn ich damit älter wirken würde …

»Ich gehe jetzt ans Telefon, Chloe«, brüllte Annette.

Ich nahm die Tube mit Tönungscreme, stopfte sie in meinen Rucksack und riss die Tür auf.

 

Ich rannte die Treppe nach unten – wie immer. Die Häuser, in denen wir wohnten, mochten wechseln, aber meine Gewohnheiten taten es nicht. An meinem ersten Kindergartentag hatte meine Mutter mich an der Hand genommen und sich, als wir oben am Treppenabsatz standen, meinen Sailor-Moon-Rucksack über den freien Arm gehängt.

»Bist du so weit, Chloe?«, hatte sie gefragt. »Eins, zwei, drei!«

Und wir waren losgestürzt, die Treppe hinunter bis ganz nach unten, keuchend und kichernd. Der Fußboden hatte unter unseren unsicheren Füßen geschwankt, und all meine Ängste, die ich wegen meines ersten Kindergartentags hatte, waren verflogen gewesen.

Danach waren wir jeden Morgen zusammen die Treppe hinuntergerannt, während meiner gesamten Kindergartenzeit und in der ersten Hälfte des ersten Schuljahrs und danach … na ja, danach gab es dann niemanden mehr, mit dem ich die Treppe hätte hinunterrennen können.

Am Fuß der Treppe zögerte ich und berührte den Anhänger unter meinem T-Shirt. Ich schüttelte die Erinnerungen ab, hängte mir den Rucksack über und verließ das Treppenhaus.

Nachdem meine Mom gestorben war, waren wir innerhalb von Buffalo ziemlich oft umgezogen. Mein Dad kaufte Luxuswohnungen, wenn das Gebäude noch im letzten Bauabschnitt war, und verkaufte sie wieder, wenn die Arbeiten abgeschlossen waren. Den größten Teil seiner Zeit war er dienstlich unterwegs, und damit war es nicht sonderlich wichtig, irgendwo Wurzeln zu schlagen – jedenfalls nicht für ihn.

An diesem Morgen war es keine sonderlich brillante Idee gewesen, die Treppe zu nehmen. Denn angesichts meiner Spanisch-Halbjahresprüfung flatterte mein Magen sowieso schon vor Nervosität. Die letzte Klassenarbeit hatte ich vermasselt und letztlich nur mit Ach und Krach bestanden, weil ich das Wochenende, an dem ich eigentlich hätte lernen sollen, bei Beth verbracht hatte. Spanisch war nie mein bestes Fach gewesen, aber wenn ich mich nicht wenigstens auf ein C verbesserte, würde Dad irgendwann doch noch aufmerksam werden und sich wahrscheinlich fragen, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, mich eine Schule mit einem Kunstzweig besuchen zu lassen.

Draußen wartete Milos mit seinem Taxi. Er fuhr mich jetzt seit zwei Jahren, zwei Umzügen und drei Schulen. Als ich einstieg, verstellte er die Sonnenblende auf meiner Seite. Die Morgensonne stach mir trotzdem noch in den Augen, aber das erwähnte ich nicht.

Mein Magen entspannte sich etwas, als ich mit den Fingern über den vertrauten Riss in der Armlehne strich und den künstlichen Kieferngeruch des Duftbaums einatmete, der sich im Windzug der Lüftung drehte.

»Ich hab gestern Abend einen Film gesehen«, sagte Milos, während er das Taxi in einer Diagonale über drei Spuren schob. »Die Sorte, die du magst.«

»Ein Thriller?«

»Nein.« Er runzelte die Stirn, und seine Lippen bewegten sich, als probierte er mögliche Bezeichnungen aus. »Action-Abenteuer. Du weißt schon, jede Menge Waffen, Explosionen. Ein richtiger Shoot’em-down-Film.«

Ich hätte Milos’ Englisch viel lieber unverbessert gelassen, aber er bestand darauf, dass ich ihn korrigierte. »Du meinst ein Shoot’em-up-Film.«

Er zog eine dunkle Augenbraue hoch. »Wenn man einen Mann erschießt, in welche Richtung fällt er dann? Aufwärts?«

Ich lachte, und ein paar Minuten lang redeten wir über Filme, mein Lieblingsthema.

Während Milos einen Anruf auf seiner Sprechanlage entgegennahm, sah ich zum Fenster hinaus. Plötzlich kam ein langhaariger Junge hinter einer Gruppe von Geschäftsleuten hervorgeschossen. Er hatte eine altmodische Lunchbox dabei, Plastik mit irgendeinem Superhelden darauf. Ich war so sehr damit beschäftigt, den Superhelden zu identifizieren, dass ich nicht weiter darauf achtete, in welche Richtung der Junge lief, bis er mit einem Satz auf die Straße hinausstürzte und zwischen unserem Taxi und dem Auto vor uns landete.

»Milos!«, kreischte ich. »Pass …«

Das letzte Wort wurde mir geradezu aus der Kehle gerissen, als ich gegen den Gurt krachte. Der Fahrer hinter uns und der Fahrer hinter ihm drückten auf die Hupe. Eine Kettenreaktion des Protests.

»Was?«, fragte Milos. »Chloe? Was ist los?«

Ich sah über die Motorhaube hinweg und entdeckte … nichts. Bloß eine leere Fahrspur vor uns und Autos, die nach links geschwenkt waren, um uns zu überholen. Die Fahrer zeigten Milos den Mittelfinger, als sie vorbeifuhren.

»D-d-d-« Ich ballte die Fäuste, als ob ich die Worte auf diese Weise herauszwingen könnte. Wenn du irgendwo feststeckst, nimm eine andere Strecke, sagte meine Sprachtherapeutin immer. »Ich habe gedacht, ich hätte was ge-ge-ge …«

Rede langsam. Leg dir die Worte vorher zurecht.

»Es tut mir leid. Ich habe gedacht, ich hätte gesehen, wie jemand vors Auto rennt.«

Milos ließ sein Taxi wieder anrollen. »Das passiert mir auch manchmal, vor allem wenn ich den Kopf drehe. Ich glaube, ich sehe jemanden, aber dann ist niemand da.«

Ich nickte. Die Magenschmerzen meldeten sich gerade zurück.

[home]

2

Nach dem Traum, an den ich mich nicht erinnern konnte, und dem Jungen, den ich nicht gesehen haben konnte, war ich etwas verstört. Wenn ich nicht wenigstens eine Frage aus meinem Kopf bekam, würde ich mich unmöglich auf meine Spanischprüfung konzentrieren können. Also rief ich Tante Lauren an. Ich erreichte ihre Voicemail und hinterließ ihr die Nachricht, dass ich in der Mittagspause wieder anrufen würde. Als ich auf dem Weg zum Schließfach meiner Freundin Kari war, rief meine Tante zurück.

»Hab ich jemals in einem Haus mit einem Keller gewohnt?«, fragte ich.

»Dir auch einen guten Morgen.«

»Tut mir leid. Ich hab diesen Traum gehabt, und der nervt mich jetzt.« Ich erzählte ihr das Wenige, an das ich mich noch erinnern konnte.

»Ah, das muss das alte Haus in Allenham gewesen sein. Du warst noch richtig klein damals, es wundert mich nicht, dass du dich nicht erinnerst.«

»Danke. Es war …«

»Das hängt dir ganz schön nach, oder? Das muss ja ein Hammer von einem Alptraum gewesen sein.«

»Irgendwas mit einem Ungeheuer, das im Keller wohnt. Klischierter geht’s nicht mehr. Es ist mir richtig peinlich.«

»Ungeheuer? Was …«

Die Lautsprecheranlage an ihrem Ende schnitt ihr das Wort ab, und eine blecherne Stimme sagte: »Dr.Fellows bitte auf Station 3B.«

»Das klingt nach deinem Stichwort«, sagte ich.

»Das kann warten. Ist alles in Ordnung, Chloe? Du hörst dich ein bisschen durcheinander an.«

»Nein, es ist bloß … irgendwie spielt meine Fantasie heute verrückt. Ich hab Milos heute Morgen schon einen Schreck eingejagt, weil ich gedacht habe, ich sehe einen Jungen vors Taxi rennen.«

»Was?«

»War keiner da. Jedenfalls nicht außerhalb von meinem Kopf.« Ich sah Kari an ihrem Schließfach stehen und winkte. »Es klingelt gleich, also …«

»Ich hol dich nach der Schule ab. Tee im Crowne. Dann reden wir.«

Die Verbindung war weg, bevor ich widersprechen konnte. Ich schüttelte den Kopf und rannte hinter Kari her.

 

Schule. Viel gibt es darüber nicht zu sagen. Die Leute denken, im Kunstzug müsste es irgendwie anders sein – diese ganze kreative Energie, die da vor sich hin brodelt, Klassenzimmer mit lauter glücklichen Schülern, sogar die Emos sind so glücklich, wie ihre gequälten Seelen es eben zulassen. Sie glauben, in Kunstklassen gäbe es weniger Schikane und weniger Konkurrenz. Schließlich gehören die meisten Schüler hier zu dem Typ, der anderswo gehänselt werden würde.

Es stimmt schon, in dieser Hinsicht ist die A. R. Gurney High gar nicht so übel, aber wenn man Schüler zusammensperrt, ganz egal, wie ähnlich sie sich zu sein scheinen, dann werden Grenzen abgesteckt, und Cliquen bilden sich. Statt der Sportler und der Streber und der Außenseiter kriegt man hier eben die Künstler und die Musiker und die Schauspieler.

Ich war für die darstellenden Künste eingeschrieben und wurde somit in den gleichen Topf geworfen wie die Schauspieler, bei denen es weniger auf Talent als auf Aussehen, Selbstsicherheit und Wortgewandtheit anzukommen schien. Ich war nicht gerade der Typ, nach dem sich alle umdrehten, und in puncto Selbstsicherheit und Wortgewandtheit war ich eine komplette Null. Auf der Zehn-Punkte-Beliebtheitsskala hätte ich eine Fünf eingefahren. Absoluter Durchschnitt. Die Sorte Mädchen, über die sich niemand viele Gedanken macht.

Aber ich hatte immer davon geträumt, auf eine Schule mit einem Kunstzug zu gehen, und es war wirklich so cool, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Besser noch, mein Vater hatte mir versprochen, dass ich bis zum Abschluss hier bleiben konnte, ganz gleich, wie oft wir bis dahin noch umzogen. Das bedeutete, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht die Neue war. Ich hatte an der A. R. Gurney als Freshman in der neunten Klasse angefangen. Wie alle anderen hier. Wie ein ganz normales Mädchen. Endlich.

Aber an diesem Tag kam ich mir nicht normal vor. Ich verbrachte den Vormittag damit, an den Jungen auf der Straße zu denken. Es gab jede Menge logische Erklärungen. Ich hatte seine Lunchbox angestarrt und wahrscheinlich einfach nicht gesehen, wohin er wirklich gelaufen war. Er war wahrscheinlich in ein Auto gestiegen, das am Straßenrand wartete. Oder im letzten Moment abgebogen und in der Menge verschwunden. Das war vollkommen plausibel. Warum also machte es mir immer noch zu schaffen?

 

»Oh, komm schon«, sagte Miranda, als ich in der Mittagspause in meinem Schließfach herumwühlte. »Er steht da drüben. Frag ihn, ob er tanzen geht. So schwer ist das ja wohl nicht.«

»Lass sie in Frieden«, sagte Beth. Sie griff über meine Schulter, holte den leuchtend gelben Beutel mit meiner Lunchbox vom obersten Brett und ließ ihn vor mir baumeln. »Ich weiß nicht, wie du den übersehen kannst, Chloe. Praktisch neonfarbig.«

»Sie bräuchte eine Leiter, um da raufsehen zu können«, sagte Kari.

Ich rammte sie mit der Hüfte, und sie sprang lachend zur Seite.

Beth verdrehte die Augen. »Kommt schon, Leute, wir kriegen keinen Tisch mehr.«

Wir schafften es bis zu Brents Schließfach, bevor Miranda mich mit dem Ellbogen anstieß. »Frag ihn, Chloe.«

Sie sagte es in einem Bühnenflüstern, das kaum zu überhören war. Auch nicht für Brent. Er sah zu uns herüber … und dann hastig fort. Ich merkte, dass mein Gesicht heiß wurde, und drückte die Lunchbox fester an mich.

Karis langes dunkles Haar streifte meine Schulter. »Er ist ein Trottel«, flüsterte sie. »Ignorier ihn einfach.«

»Nein, er ist kein Trottel. Er mag mich einfach nicht. Dafür kann er nichts.«

»Okay«, sagte Miranda. »Ich frag ihn für dich.«

»Nein!« Ich packte sie am Arm. »B-bitte.«

Ihr rundes Gesicht verzog sich angewidert. »Herrgott, du bist manchmal ein richtiges Baby. Du bist fünfzehn, Chloe. Du musst die Dinge selbst in die Hand nehmen.«

»Zum Beispiel so lange bei einem Typ anrufen, bis seine Mutter sagt, du sollst ihn in Frieden lassen?«, fragte Kari.

Miranda zuckte nur die Achseln. »Das war Robs Mutter. Er hat so was nie gesagt.«

»Ach? Ja, red dir das nur weiter ein.«

Jetzt fingen sie wirklich an zu streiten. Normalerweise hätte ich mich eingemischt und gesagt, sie sollten aufhören, aber ich war immer noch sauer, weil Miranda mich vor Brent blamiert hatte.

Kari, Beth und ich hatten ständig über Jungen geredet, aber wir waren nicht vollkommen von ihnen besessen. Miranda war es, sie hatte schon mehr Freunde gehabt, als sie aufzählen konnte. Als sie anfing, mit uns herumzuhängen, wurde es plötzlich wichtig, einen Typen zu haben, an dem einem wirklich etwas lag. Ich machte mir sowieso schon genug Gedanken darüber, zu unreif zu sein, und da hatte es nicht gerade geholfen, dass sie laut losgelacht hatte, als ich zugab, noch nie ein richtiges Date gehabt zu haben. Also hatte ich einfach einen Schwarm erfunden. Brent.

Ich hatte gedacht, ich könnte einfach irgendeinen Typ nennen, den ich mochte, und das würde reichen. Von wegen. Miranda hatte mich geoutet – hatte ihm erzählt, dass ich ihn mochte. Ich war entsetzt gewesen. Na ja, überwiegend entsetzt. Ein kleiner Teil von mir hatte gehofft, er würde sagen: »Cool. Ich mag Chloe auch.« Schon wieder von wegen. Vorher hatten wir uns im Spanischunterricht manchmal unterhalten. Jetzt saß er zwei Reihen entfernt, als hätte ich plötzlich üblen Körpergeruch entwickelt.

Wir hatten gerade den Eingang der Schulkantine erreicht, als jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um und sah Nate Bozian auf mich zutraben. Sein rotes Haar stach aus der Menschenmenge im Gang heraus wie ein Leuchtfeuer. Er rammte einen älteren Schüler, entschuldigte sich grinsend und lief weiter.

»Hey«, sagte ich, als er in Hörweite war.

»Selber hey. Hast du vergessen, dass Petrie den Filmclub diese Woche in die Mittagspause verlegt hat? Wir reden über Avantgarde. Ich weiß doch, dass du Arthouse-Filme liebst.«

Ich tat so, als müsste ich mich übergeben.

»Okay, ich richt’s aus. Und ich sage Petrie auch gleich, dass du nicht dran interessiert bist, die Regie bei diesem Kurzfilm zu machen.«

»Das wird heute entschieden?«

Nate setzte sich rückwärts wieder in Bewegung. »Vielleicht. Vielleicht nicht. Ich sage Petrie …«

»Ich muss los«, rief ich meinen Freundinnen zu und stürzte ihm nach.

 

Das Filmclub-Treffen begann wie üblich im Nebenraum hinter der Bühne, wo wir Organisationsfragen besprachen und aßen. Im Vorführraum war das Essen nicht erlaubt.

Wir redeten über den Kurzfilm, und ich stand wirklich auf der Liste möglicher Regisseure – die Einzige aus der Neunten, die es geschafft hatte. Danach sahen alle anderen sich Szenen aus Aventgarde-Filmen an, während ich bereits über die Möglichkeiten für einen Bewerbungsfilm nachdachte. Ich schlich mich davon, bevor die Vorführung vorbei war, und ging zurück zu meinem Schließfach.

Mein Hirn ratterte währenddessen weiter. Dann plötzlich knurrte mein Magen, was mich daran erinnerte, dass ich vor lauter Aufregung über meinen Platz auf der Auswahlliste das Essen vergessen hatte.

Und jetzt hatte ich meine Lunchbox im Besprechungszimmer liegen lassen. Ein Blick auf die Uhr: noch zehn Minuten bis zur nächsten Unterrichtsstunde. Es war zu schaffen.

 

Das Filmclub-Treffen war zu Ende, und der Letzte, der gegangen war, hatte das Licht ausgeschaltet. Ich hatte keine Ahnung, wo ich es wieder hätte einschalten können. Und um den Lichtschalter zu finden, hätte ich ja was sehen müssen. Im Dunkeln leuchtende Lichtschalter, damit würde ich meinen ersten Film finanzieren. Natürlich würde ich zuerst jemanden finden müssen, der die Dinger herstellte. Wie die meisten Regisseure war ich beim Ideenhaben besser als bei ihrer Ausführung.

Ich tastete mich zwischen den Sitzreihen hindurch und rammte mir zweimal das Knie. Irgendwann hatten sich meine Augen an die trübe Notbeleuchtung gewöhnt, und ich fand die Treppe, die hinter die Bühne führte. Jetzt wurde es schwieriger.

Der Bereich hinter der Bühne war in kleinere, mit Vorhängen voneinander getrennte Abschnitte aufgeteilt, die als Lagerräume und improvisierte Garderoben dienten. Natürlich gab es hier eine Beleuchtung, aber die hatte bisher immer jemand anderes eingeschaltet. Nachdem ich die vordere Wand abgetastet hatte, ohne einen Schalter zu finden, gab ich es auf. Die matte Notbeleuchtung ließ mich die Umrisse erkennen – gut genug.

Es war trotzdem ziemlich dunkel. Ich habe Angst vor der Dunkelheit. Als Kind habe ich ein paar ziemlich üble Erfahrungen gemacht, erfundene Freunde, die an dunklen Orten lauerten und mich erschreckten und so. Ich weiß, dass sich das leicht abgedreht anhört. Andere Kinder erfinden Spielgefährten, ich stellte mir irgendwelche Schreckgespenster vor.

Der Geruch nach Theaterschminke verriet mir, dass ich in der Garderobe stand, aber das Aroma – vermischt mit dem unverwechselbaren Geruch von Mottenkugeln und alten Kostümen – beruhigte mich heute weniger, als es das normalerweise tat.

Noch drei Schritte, und ich stieß einen Schrei aus, als plötzlich Stoff rings um mich wogte. Ich war gegen einen Vorhang gestolpert. Toll! Wie laut hatte ich geschrien? Ich hoffte, dass die Wände schallgedämpft waren.

Mit der Hand strich ich über das kratzige Polyester, bis ich die Öffnung gefunden hatte, und teilte den Vorhang. Weiter vorn erkannte ich den Esstisch, auf dem etwas Gelbes lag. Mein Beutel?

Der improvisierte Gang schien sich meilenweit vor mir zu erstrecken, ein gähnender Tunnel in die Dunkelheit hinein. Es war die Perspektive – die beiden mit Vorhängen markierten Seitenwände, die aufeinander zu zu laufen schienen, als würde der Raum nach hinten schmaler. Eine interessante Illusion, vor allem für einen Thriller. Das musste ich mir merken.

Sobald ich den Gang als eine Filmkulisse zu betrachten begann, wurde ich ruhiger. Ich gab der Szene einen Kamerarahmen und verlieh ihr durch den Rhythmus meiner Schritte eine ruckelige Bewegung, die sie unmittelbarer wirken ließ und die Zuschauer in den Kopf der handelnden Person versetzte: ein unvorsichtiges Mädchen, das auf die Quelle des seltsamen Geräuschs zuging.

Ein dumpfer Aufschlag. Ich fuhr zusammen, und meine Schuhe quietschten. Und das Geräusch ließ mich erst recht erschaudern. Ich rieb mir die Gänsehaut auf den Armen und versuchte zu lachen. Okay, ich hatte schließlich ein seltsames Geräusch haben wollen, oder? Toneffekte einspielen, bitte.

Wieder ein Laut. Ein Rascheln. Es gab also Ratten in meinem unheimlichen Gang, richtig? Was für ein Klischee. Es wurde Zeit, meine galoppierende Einbildungskraft unter Kontrolle zu bekommen und mich zu konzentrieren. Regie zu führen.

Unsere Protagonistin sieht etwas am Ende des Gangs. Eine schattenhafte Gestalt …

Also bitte. Geht’s noch ein bisschen abgedroschener? Mach es origineller, geheimnisvoll.

Zweiter Take.

Was ist es, das sie da sieht? Den Lunchbeutel eines Kindes, leuchtend gelb und neu, fehl am Platz in dem alten, zum Abbruch bestimmten Haus.

Lass die Kamera weiterlaufen. Lass die Gedanken nicht abschweifen …

Ein Schluchzen hallte durch die leeren Räume, brach ab und wurde zu einem nassen Schniefen.

Weinen. Okay. In meinem Film. Die Protagonistin sieht den Lunchbeutel eines Kindes und hört gespenstische Schluchzer. Etwas bewegt sich am Ende des Gangs. Eine dunkle Gestalt …

Panisch stürzte ich zu meinem Beutel, packte ihn und jagte davon.

[home]

3

Chloe! Moment!«

Ich hatte mein unberührtes Mittagessen im Schließfach verstaut und wollte gerade wieder gehen, als Nate hinter mir herrief. Als ich mich umdrehte, schob er sich mit der Schulter voran durch eine Gruppe von Mädchen. Die Klingel schellte, und der Gang explodierte. Die Schüler drängten und wimmelten wie Lachse, die sich stromaufwärts kämpfen, und rissen alles mit sich, das sich ihnen in den Weg stellte; Nate hatte Mühe, sich zu mir durchzuarbeiten.

»Du bist aus dem Filmclub verschwunden, bevor ich dich erwischt habe. Ich wollte fragen, ob du zu dieser Party gehst.«

»Morgen? Äh, yeah.«

Ein aufblitzendes Grübchengrinsen. »Na prima. Bis dann.«

Ein Schwarm von Schülern spülte ihn mit sich fort. Ich stand da und starrte hinter ihm her. Hatte Nate mich gerade eben eigens aufgespürt, um mich zu fragen, ob ich zu der Party gehen würde? Es war nicht das Gleiche, als wenn er mich gefragt hätte, ob ich mit ihm hingehen würde, aber nichtsdestotrotz … ich würde mir noch mal ganz genau überlegen müssen, was ich anziehen sollte.

Ein älterer Schüler rammte mich, schlug mir den Rucksack von der Schulter und murmelte etwas von »mitten im Gang rumstehen«. Als ich mich bückte, um den Rucksack aufzuheben, spürte ich einen Nässeschwall zwischen meinen Beinen.

Ich fuhr hoch und stand einen Moment lang wie erstarrt da, bevor ich einen vorsichtigen Schritt wagte.

O Gott. Ich hatte mir doch wohl nicht in die Hose gemacht? Ich holte tief Luft. Vielleicht war ich wirklich krank. Mein Magen hatte schon den ganzen Tag Ärger gemacht.

Probier’s halt, sauber zu machen, und wenn es zu übel ist, nimm ein Taxi nach Hause.

Im Mädchenklo zog ich den Slip nach unten und sah leuchtendes Rot.

Ein paar Minuten lang saß ich einfach auf dem Klositz, grinste wie ein Idiot und hoffte, dass das Gerücht über Kameras auf Schultoiletten nicht stimmte.

Dann legte ich mir zusammengefaltetes Klopapier in den Slip, zog die Jeans hoch und watschelte aus der Kabine. Und da war er, ein Anblick, der mir seit dem Herbst vorgekommen war wie blanker Hohn: der Bindenautomat.

Ich schob die Hand in die hintere Hosentasche und fand einen Fünfdollarschein, einen Zehner und zwei Ein-Cent-Stücke. Zurück in die Kabine. Rucksack durchwühlen. Ich fand eine Fünf-Cent-Münze. Na toll.

Ich beäugte das Gerät. Trat näher heran. Begutachtete das zerkratzte Schloss, von dem Beth sagte, dass man es mit einem langen Fingernagel aufbekam. Lange Nägel hatte ich nicht, aber der Hausschlüssel funktionierte problemlos.

Was für eine Woche. Auf die Auswahlliste für den Regiestuhl zu kommen, von Nate nach der Party gefragt zu werden, meine erste Periode und jetzt meine erste kriminelle Handlung.

Nachdem ich da unten alles in Ordnung gebracht hatte, schob ich die Hand in den Rucksack, um die Haarbürste herauszuholen, und fand stattdessen die Tube mit Tönungscreme. Ich hob sie hoch. Mein Spiegelbild grinste mich an.

Warum eigentlich nicht noch »erste geschwänzte Schulstunde« und »erste Tönung« auf die Liste setzen? Mir am Waschbecken des Schulklos die Haare zu färben würde nicht einfach sein, aber wahrscheinlich immer noch einfacher als zu Hause, wo Annette auf der Lauer lag.

Die Erstellung eines Dutzends leuchtend roter Strähnchen kostete mich zwanzig Minuten. Ich hatte das T-Shirt ausgezogen, um keine Farbe darauf zu verspritzen, und stand folglich in Jeans und BH am Waschbecken. Glücklicherweise kam niemand herein.

Ich drückte die letzte Strähne mit einem Papiertuch trocken, holte tief Atem, sah in den Spiegel … und lächelte. Kari hatte recht gehabt. Es sah wirklich gut aus. Annette würde ausrasten. Mein Vater würde es vielleicht bemerken, möglicherweise sogar wütend werden. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass niemand mir jetzt noch die Speisekarte für die unter Zwölfjährigen bringen würde.

Die Tür knarrte. Ich stopfte die Papiertücher in den Eimer, packte mein T-Shirt und stürzte in eine Kabine. Ich hatte die Tür kaum verriegelt, als das andere Mädchen zu weinen begann. Als ich nach unten sah, entdeckte ich ein Paar Reeboks in der Nachbarkabine. Sollte ich fragen, ob alles in Ordnung war? Oder würde ich sie damit nur in Verlegenheit bringen?

Die Spülung wurde bedient, und der Schatten drüben bewegte sich. Die Kabinentür ging klickend auf. Aber als das Wasser am Waschbecken zu laufen begann, wurde das Schluchzen noch lauter.

Das Wasser wurde abgestellt. Die Handtuchrolle quietschte. Papier wurde zusammengeknüllt. Die Tür öffnete sich. Sie schloss sich. Das Weinen hörte nicht auf.

Ein kalter Finger schien an meinem Rückgrat entlangzugleiten. Ich sagte mir, dass sie es sich einfach anders überlegt hatte und hier bleiben wollte, bis sie sich unter Kontrolle hatte. Aber das Weinen war unmittelbar neben mir. In der Nachbarkabine.

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Es war einfach nur meine Einbildungskraft.

Langsam ging ich in die Hocke. Keine Schuhe unter der Trennwand. Ich beugte mich noch weiter vor. Keine Schuhe in irgendeiner der Kabinen. Das Weinen brach ab.

Ich zerrte mir das T-Shirt über den Kopf und stürzte aus der Mädchentoilette, bevor es wieder anfangen konnte. Als die Tür hinter mir zufiel, war alles still. Ein leerer Gang.

»Du!«

Ich fuhr herum, sah einen Hausmeister auf mich zukommen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»D-das Klo«, sagte ich. »Ich war nur auf dem Klo.«

Er kam näher. Ich erkannte ihn nicht. Er war etwa im gleichen Alter wie mein Dad, hatte einen Bürstenhaarschnitt und trug die Hausmeisteruniform unserer Schule. Jemand, der für Mr.Teitlebaum einsprang.

»Ich … ich gehe jetzt wieder ins Klassenzimmer.«

Ich setzte mich in Bewegung.

»Du da! Komm zurück, ich will mit dir reden.«

Das einzige andere Geräusch waren meine Schritte. Meine Schritte. Warum konnte ich seine nicht hören?

Ich ging schneller.

Ein Schatten überholte mich. Die Luft schimmerte etwa drei Meter vor mir, wo ein Mann in Hemd und Hose eines Hausmeisters Gestalt anzunehmen begann. Ich fuhr herum und begann zu rennen.

Der Mann stieß ein Knurren aus, das im Gang widerhallte. Ein Schüler kam um die Ecke, und wir wären beinahe zusammengeprallt. Ich stammelte eine Entschuldigung und warf einen Blick über die Schulter. Der Hausmeister war verschwunden.

Ich atmete tief aus und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war das blaue Uniformhemd unmittelbar vor mir. Ich sah auf … und stieß einen gellenden Schrei aus.

Er sah aus wie eine Schaufensterpuppe, die zu dicht ans Feuer geraten ist. Das Gesicht war verbrannt. Geschmolzen. Ein Auge quoll hervor, vollkommen freigelegt. Das andere war auf den Wangenknochen hinuntergerutscht, die ganze Wange sackte herab, die Lippen waren verzerrt, die Haut glänzend und verunstaltet und …

Die formlosen Lippen öffneten sich. »Vielleicht hörst du mir jetzt zu.«

Ich stürzte blind den Gang entlang. Als ich an einer Klassenzimmertür vorbeirannte, öffnete sie sich.

»Chloe?« Eine Männerstimme.

Ich rannte weiter.

»Rede mit mir!«, knurrte die fürchterlich verzerrte Stimme, während sie immer näher kam. »Weißt du eigentlich, wie lang ich hier schon gefangen bin?«

Ich stürzte durch die Tür ins Treppenhaus hinaus und die Treppe hinauf.

Aufwärts? Alle dummen Filmheldinnen rennen nach oben!

Ich schlingerte über den Treppenabsatz und nahm die nächste Treppe in Angriff. Der Hausmeister hinkte unter mir die Stufen hinauf, seine Finger umklammerten das Geländer, geschmolzene Finger mit sichtbaren Knochen.

Ich bog in das nächste leere Klassenzimmer ab und knallte die Tür zu. Als ich bis in die Mitte des Raums zurückwich, kam der Hausmeister durch die Tür. Geradewegs durch sie. Das fürchterliche geschmolzene Gesicht war verschwunden, und er sah wieder normal aus.

»Ist das besser? Hörst du jetzt auf zu kreischen und redest mit mir?«

Ich rannte zum Fenster und begann nach einem Mechanismus zu suchen, mit dem man es öffnen konnte. Dann sah ich erst, wie weit es draußen nach unten ging. Mindestens zehn Meter – auf Asphalt.

»Chloe!«

Die Tür flog auf. Es war die stellvertretende Rektorin, Ms. Waugh, zusammen mit meinem Mathelehrer Mr.Travis und einem Musiklehrer, an dessen Namen ich mich nicht erinnerte. Als sie mich am Fenster stehen sahen, streckte Ms. Waugh die Arme aus und versperrte den beiden Männern den Weg.

»Chloe?«, sagte sie leise. »Liebes, du musst von dem Fenster da weggehen.«

»Ich wollte bloß …«

»Chloe …«

Ich sah mich verwirrt nach dem Fenster um.

Mr.Travis stürzte an Ms. Waugh vorbei und riss mich mit sich um. Der Aufprall, mit dem wir auf dem Fußboden auftrafen, verschlug mir den Atem. Als er sich aufrappelte, rammte er mir aus Versehen das Knie in die Magengrube. Ich fiel nach hinten, krümmte mich und rang nach Luft.

Als ich die Augen öffnete, sah ich den Hausmeister über mir stehen. Ich schrie und versuchte aufzuspringen, aber Mr.Travis und der Musiklehrer hielten mich fest, während Ms. Waugh hektisch in ihr Handy redete.

Der Hausmeister beugte sich vor, durch Mr.Travis hindurch. »Und, redest du jetzt mit mir, Mädchen? Du kommst hier nicht weg.«

Ich schlug um mich, trat nach dem Hausmeister und versuchte, mich aus dem Griff der Lehrer zu reißen. Aber sie packten nur noch fester zu. Ich hörte undeutlich, dass Ms. Waugh ihnen zurief, es sei Unterstützung unterwegs. Der Hausmeister schob das Gesicht, das wieder zu der fürchterlichen zerschmolzenen Maske geworden war, bis auf wenige Zentimeter an meins heran, so dicht, dass ich in das eine hervorquellende, fast aus der Höhle getretene Auge starrte.

Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu schreien. Blut füllte meinen Mund. Je mehr ich kämpfte, desto fester hielten mich die beiden Lehrer, und Schmerz schoss durch mich hindurch, als sie mir die Arme verdrehten.

»Seht ihr den eigentlich nicht?«, brüllte ich. »Er steht genau dort. Bitte. Bitte, bitte, bitte. Bringt ihn weg von mir. Schafft ihn weg!«

Sie hörten nicht zu. Ich wehrte mich, ich argumentierte, aber sie hielten mich fest, während der verbrannte Mann stichelte.

Irgendwann kamen zwei uniformierte Männer zur Tür hereingestürzt. Einer half den Lehrern, mich festzuhalten, während der andere hinter meinem Rücken verschwand, wo ich ihn nicht sehen konnte. Finger schlossen sich um meinen Unterarm. Dann ein Nadelstich. Eis schien durch meine Adern zu gleiten.

Der Raum begann zu schwanken. Der Hausmeister verblich, wurde wieder klarer und verschwand wieder.

»Nein!«, brüllte er. »Ich muss mit ihr reden. Kapiert ihr’s nicht? Sie kann mich hören. Ich will doch nur …«

Seine Stimme verklang, als die Sanitäter mich auf eine Trage legten. Die Trage hob sich schwankend. Schwankend, wie ein Elefant. Ich war einmal auf einem geritten, in einem Zoo, mit meiner Mom. Meine Erinnerung kehrte dorthin zurück, Moms Arme, die sie um mich gelegt hatte, ihr Gelächter …

Das wütende Aufheulen des Hausmeisters jagte durch die Erinnerung. »Bringt sie nicht weg. Ich brauche sie!«

Schwanken. Der Elefant schwankte. Mom lachte …

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4

Ich saß auf der Kante des Krankenhausbetts und versuchte mir einzureden, dass ich noch schlief. Das war die beste Erklärung für die Dinge, die ich hörte. Ich hätte es auch auf eine Sinnestäuschung schieben können, aber das mit dem Traum war mir lieber.

Tante Lauren saß neben mir und hielt meine Hand. Mein Blick fiel auf die Schwestern, die im Gang vorbeischwebten. Sie folgte meiner Blickrichtung, stand auf und schloss die Tür. Durch den Schleier von Tränen beobachtete ich sie und stellte mir vor, sie sei meine Mom. Etwas in mir gab nach, und ich war wieder sechs Jahre alt, kauerte auf dem Bett und weinte nach meiner Mutter.

Ich strich mit den Händen über die Überdecke, sie war steif und kratzig, und Fasern blieben an meiner rauhen Haut hängen. Das Zimmer war so heiß, dass sich meine ausgetrocknete Kehle bei jedem Atemzug zusammenzuziehen schien. Tante Lauren gab mir mein Wasser, und ich legte die Hände um das kühle Glas. Das Wasser schmeckte metallisch, aber ich schluckte es hinunter.

»Eine betreute Wohngruppe«, sagte ich. Die Wände schienen mir die Worte aus dem Mund zu saugen wie bei einer Tonbühne, sie zu verschlucken und nur tote Luft zu hinterlassen.

»O Gott, Chloe.« Sie holte ein Papiertuch aus der Tasche und wischte sich über die Nase. »Weißt du, wie oft ich schon einem Patienten habe sagen müssen, er würde sterben? Und irgendwie ist das hier noch schlimmer.«

Sie drehte sich so, dass sie mir ins Gesicht sah. »Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, an der UCLA studieren zu können. Und dies ist die einzige Methode, wie wir es schaffen können, dass die dich nehmen, Liebes.«

»Ist es Dad?«

Sie zögerte, und ich wusste, dass sie die Schuld gern auf ihn geschoben hätte. Nach dem Tod meiner Mutter hatte sie mich zu sich nehmen wollen, um mir ein Leben mit Haushälterinnen und leeren Wohnungen zu ersparen. Sie hatte meinem Vater niemals verziehen, dass er seine Zustimmung verweigert hatte. Ebenso wenig wie sie ihm die Nacht verziehen hatte, in der meine Mutter gestorben war. Es kam nicht darauf an, dass ihr Auto von einem anderen gestreift worden war, dessen Fahrer daraufhin Unfallflucht begangen hatte – mein Vater hatte am Steuer gesessen, also machte sie ihn verantwortlich.

»Nein«, sagte sie schließlich. »Es ist die Schule. Du musst zwei Wochen unter ärztlicher Beobachtung in dieser Einrichtung verbringen, sonst kommt die Sache in dein Zeugnis.«

»Was kommt dann in mein Zeugnis?«

Ihre Finger schlossen sich um das Tuch herum zur Faust. »Es ist diese verd…« Sie unterbrach sich. »Es ist die Null-Toleranz-Vorgabe.« Sie spuckte die Worte so hasserfüllt aus, dass sie übler klangen als jeder Fluch.

»Null Toleranz? Du meinst bei Gewalttätigkeit? A-aber ich habe doch nicht …«

»Ich weiß, dass du nichts getan hast. Aber in ihren Augen ist es ganz einfach. Du hast gegen einen Lehrer angekämpft. Jetzt brauchst du Hilfe.«

In einem Heim. Für psychisch gestörte Jugendliche.

 

Ich wachte in dieser Nacht mehrmals auf. Beim zweiten Mal sah ich meinen Vater in der Tür stehen. Beim dritten Mal saß er an meinem Bett. Als er sah, dass meine Augen offen waren, streckte er den Arm aus und tätschelte mir verlegen die Hand.

»Es kommt schon wieder in Ordnung«, murmelte er. »Es kommt alles wieder in Ordnung.«

Ich schlief wieder ein.

 

Mein Vater war auch am nächsten Morgen noch da. Seine Augen waren verquollen, die Falten um den Mund tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte. Er war die ganze Nacht wach gewesen, weil er von Berlin aus nach Hause geflogen war.

Ich glaube nicht, dass Dad jemals Kinder wollte. Aber das würde er mir gegenüber niemals zugeben, nicht mal im Streit. Was Tante Lauren auch von ihm hält, er tut sein Bestes. Er scheint einfach nicht recht zu wissen, was er mit mir anfangen soll. Ich bin wie ein Hündchen, das ihm von jemandem hinterlassen wurde, den er sehr geliebt hat. Und er versucht nun, ihm gerecht zu werden, obwohl er eigentlich kein Hundeliebhaber ist.

»Du hast deine Haarfarbe geändert«, sagte er, als ich mich aufsetzte.

Ich wappnete mich. Wenn man schreiend durch die Flure seiner Schule rennt, nachdem man sich kurz zuvor auf dem Mädchenklo die Haare gefärbt hat, dann fragen die Leute als Erstes – na ja, sobald sie das mit dem Schreiend-durch-den-Flur-Rennen abgehakt haben – »Du hast was gemacht?«. Sich auf dem Schulklo die Haare färben ist nicht normal. Nicht bei Mädchen wie mir. Und leuchtend rote Strähnen? Während man gleichzeitig den Unterricht schwänzt? Das brüllt geradezu Nervenzusammenbruch.

»Gefällt es dir?«, fragte mein Vater nach einem Augenblick.

Ich nickte.

Er zögerte und gab dann ein angespanntes kleines Lachen von sich. »Na ja, es ist nicht ganz das, was ich ausgesucht hätte, aber es sieht okay aus. Wenn es dir gefällt … darauf kommt es an.« Er kratzte sich am Hals, die Haut war vom Bartschatten wie gesprenkelt. »Ich nehme an, deine Tante Lauren hat dir das mit der betreuten Wohngruppe erzählt. Sie hat eine Einrichtung gefunden, von der sie glaubt, dass sie soweit ganz in Ordnung wäre. Klein und privat. Ich kann nicht behaupten, dass ich von der Vorstellung begeistert bin, aber es ist ja bloß für zwei Wochen.«

 

Niemand wollte mir sagen, was eigentlich mit mir los war. Ich musste mit einer Menge Ärzte reden, sie führten ein paar Tests durch, und ich merkte ihnen an, dass sie eine ziemlich klare Vorstellung davon hatten, was es war, und es mir einfach nicht verrieten. Das bedeutete, dass es übel sein musste.

Es war nicht das erste Mal, dass ich Leute gesehen hatte, die nicht wirklich da waren. Das war es auch, worüber Tante Lauren nach der Schule mit mir hatte reden wollen. Als ich meinen Traum erwähnte, war ihr eingefallen, dass ich früher über Leute in unserem alten Keller gesprochen hatte. Meine Eltern hatten geglaubt, dass es einfach eine ungewöhnlich kreative Variante von erfundenen Freunden gewesen war, denn ich hatte eine ganze Belegschaft von Figuren erfunden. Aber dann hatten diese Freunde angefangen, mir Angst zu machen, und wir waren umgezogen.

Auch danach hatte ich gelegentlich noch Leute »gesehen«, woraufhin mir meine Mom den roten Anhänger gekauft und gesagt hatte, er würde mich beschützen. Dad sagte, das sei reine Psychologie gewesen: Ich hatte geglaubt, er würde wirken, und so hatte er es auch getan. Aber jetzt passierte es wieder. Und dieses Mal schob es niemand auf eine überaktive Einbildungskraft.

Sie schickten mich in ein Heim für geistesgestörte Teenager. Sie glaubten, ich wäre verrückt. Ich war nichts dergleichen. Ich war fünfzehn und hatte endlich meine Periode gekriegt, und das musste irgendwas zu bedeuten haben. Es konnte ja kein Zufall sein, dass ich am gleichen Tag angefangen hatte, dieses ganze Zeug zu sehen. Die ganzen aufgestauten Hormone mussten explodiert sein, in meinem Hirn hatte es eine Fehlzündung gegeben, und es hatte Bilder aus irgendwelchen vergessenen Filmen nach oben gespült und mich glauben lassen, sie wären Wirklichkeit.

Wenn ich verrückt wäre, würde ich mehr tun als einfach nur Leute sehen und hören, die nicht da waren. Ich würde mich verrückt verhalten, aber das tat ich nicht.

Oder?

Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger war ich mir da sicher. Ich fühlte mich normal. Ich konnte mich nicht erinnern, irgendetwas Verrücktes getan zu haben. Außer dass ich mir auf dem Schulklo die Haare gefärbt hatte. Und die Unterrichtsstunde geschwänzt hatte. Und den Bindenautomaten aufgebrochen hatte. Und auf einen Lehrer eingeschlagen hatte.

Das Letzte zählte nicht. Ich war panisch gewesen, weil ich den verbrannten Typen gesehen und versucht hatte, ihm zu entkommen. Ich hatte niemanden verletzen wollen. Davor war mit mir alles in Ordnung gewesen. Meine Freundinnen hatten den Eindruck gehabt, dass alles in Ordnung war. Mr.Petrie hatte geglaubt, es wäre alles in Ordnung, als er mich auf die Auswahlliste für die Regie gesetzt hatte. Nate Bozian glaubte offensichtlich, es wäre alles in Ordnung. Kein Mensch würde sich darüber freuen, wenn eine Verrückte zu einer Party kommen würde.

Er hatte sich doch gefreut, oder?

Wenn ich jetzt daran zurückdachte, kam mir alles verschwommen vor, wie eine ferne Erinnerung, die ich vielleicht auch nur geträumt hatte.

Was, wenn nichts von all dem wirklich passiert war? Ich hatte die Regie gewollt. Ich hatte mir gewünscht, dass Nate sich für mich interessieren würde. Vielleicht hatte ich mir alles eingebildet? Es halluziniert, genau wie den Jungen auf der Straße und das weinende Mädchen und den verbrannten Hausmeister?

Wenn ich verrückt wäre, würde ich es dann überhaupt wissen? Das war es doch schließlich, was Verrücktheit ausmachte, oder? Man selbst hielt sich für normal, aber alle anderen wussten es besser.

Vielleicht war ich ja verrückt.

 

Mein Vater und Tante Lauren fuhren mich am Sonntagnachmittag nach Lyle House. Sie hatten mir, bevor ich das Krankenhaus verlassen durfte, irgendein Medikament gegeben, das mich schläfrig machte. Unsere Ankunft war eine Montage aus Standbildern und kurzen Clips.

Ein riesiges weißes viktorianisches Haus mitten auf einem gigantischen Grundstück. Gelbgestrichene Schmuckelemente. Eine Schaukel auf einer Veranda, die um das halbe Haus herumführte.

Zwei Frauen. Die erste, grauhaarig und breithüftig, kam auf uns zu, um mich zu begrüßen. Die verkniffenen Augen der Jüngeren folgten mir. Sie hatte die Arme verschränkt und zeigte deutlich, dass sie mit Schwierigkeiten rechnete.

Eine lange schmale Treppe hinauf. Die ältere Frau – eine Krankenschwester, die sich als Mrs.Talbot vorstellte – gab zwitschernd die Fremdenführerin, aber mein wattiges Gehirn nahm nichts davon auf.

Ein Schlafzimmer, weiß und gelb mit Margeritendekor, das nach Haargel roch.

An der gegenüberliegenden Wand ein breites Bett, dessen Steppdecke nachlässig über zerknüllte Laken gezerrt worden war. Die Wand über dem Bett war mit Seiten aus Teenager-Zeitschriften geschmückt. Die Kommode mit Make-up-Tuben und Flaschen bedeckt. Nur der winzige Schreibtisch war leer.

Meine Hälfte des Zimmers war das sterile Spiegelbild: das gleiche Bett, die gleiche Kommode, der gleiche winzige Schreibtisch, alles Persönliche eliminiert.

Dad und Tante Lauren mussten gehen. Mrs.Talbot erklärte, ich würde sie ein paar Tage lang nicht zu sehen bekommen, da ich Zeit brauchte, um mich in meiner neuen Umgebung »einzugewöhnen«. Wie ein Haustier in einer neuen Wohnung.

Ich nahm Tante Lauren in den Arm und tat so, als würde ich ihre Tränen nicht sehen.

Dann eine verlegene Umarmung von Dad. Er murmelte, dass er in der Stadt bleiben und mich besuchen würde, sobald man es ihm erlaubte. Dann drückte er mir ein Bündel Geldscheine in die Hand und küsste mich auf den Scheitel.

Mrs.Talbot, die mir mitteilte, sie würden meine Sachen wegräumen, weil ich ja wahrscheinlich müde war. Leg dich einfach ins Bett. Die Jalousie wurde heruntergelassen. Das Zimmer wurde dunkel. Ich schlief wieder ein.

Die Stimme meines Vaters, die mich weckte. Zimmer jetzt vollkommen dunkel, Schwärze draußen. Nacht.

Dad als Schattenriss in der Tür. Die jüngere Schwester, Miss Van Dop, hinter ihm, das Gesicht missbilligend verzogen. Mein Vater trat neben mein Bett und drückte mir etwas Weiches in die Arme. »Wir haben Ozzie vergessen. Ich war mir nicht sicher, ob du ohne ihn schlafen kannst.« Der Koalabär, der seit nunmehr zwei Jahren in meinem Zimmer auf dem Regal gesessen hatte, aus meinem Bett verbannt, als ich für ihn zu alt geworden war. Aber jetzt nahm ich ihn und vergrub die Nase in seinem abgewetzten Kunstpelz, der nach Zuhause roch.

 

Ich wachte von dem pfeifenden Atem des Mädchens in dem anderen Bett auf. Ich sah zu ihr hinüber, konnte aber nichts erkennen als eine Gestalt unter der Decke.

Als ich mich auf den Rücken drehte, liefen mir heiße Tränen über die Wangen. Kein Heimweh. Scham. Verlegenheit. Demütigung.

Ich hatte Tante Lauren und Dad einen Schreck eingejagt. Sie hatten hastig entscheiden müssen, was sie mit mir anfangen sollten, was mit mir nicht stimmte, wie man es in Ordnung brachte.

Und in der Schule …

Meine Wangen brannten heißer als meine Tränen. Wie viele von den Schülern hatten mich schreien hören? Einen Blick in das Klassenzimmer hineinwerfen können, während ich gegen die Lehrer ankämpfte und etwas davon faselte, dass ich von geschmolzenen Hausmeistern verfolgt wurde? Gesehen, wie ich auf eine Trage geschnallt weggebracht wurde?

Jeder, der die Vorstellung verpasst hatte, würde inzwischen davon gehört haben. Jeder würde wissen, dass Chloe Saunders ausgerastet war. Dass sie verrückt war, durchgeknallt, weggesperrt wie die anderen Bekloppten.

Selbst wenn sie mich an die Schule zurückkehren ließen, ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals den Mut haben würde, wieder hinzugehen.

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5

Ich wachte von dem klingelnden Geräusch von Metallbügeln auf. Ein blondes Mädchen sah Kleidungsstücke durch, von denen ich mir ziemlich sicher war, dass es meine waren. Mrs.Talbot musste sie gestern noch aufgehängt haben.

»Hallo«, sagte ich.

Sie drehte sich zu mir um und lächelte. »Schöne Sachen. Teure Marken.«

»Ich bin Chloe.«

»Liz. Wie Lizzie McGuire.« Sie schwenkte die Hand zu einem alten und verblichenen Zeitschriftenausschnitt an ihrer Wand hinüber. »Nur dass ich mich nicht Lizzie nenne, weil ich finde, dass es irgendwie …«, sie senkte die Stimme, als wollte sie die Lizzie auf dem Foto nicht kränken, »… babymäßig klingt.«

Sie redete weiter, aber ich bekam nichts davon mit, weil ich nur an eins denken konnte: Was stimmt nicht mit ihr? Wenn sie in Lyle House war, dann stimmte etwas mit ihr nicht. Irgendeine Art von »psychischem Problem«.

Sie sah nicht verrückt aus. Ihr langes Haar war zu einem schimmernden Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie trug Guess-Jeans und ein T-Shirt von Gap. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann hätte ich gedacht, dass ich in einem Internat aufgewacht wäre.

Sie redete immer noch. Vielleicht war das ein Symptom?

Andererseits wirkte sie ganz harmlos. Musste sie wohl sein, oder? Sie würden hier ja keine gefährlichen Leute unterbringen. Oder wirklich Verrückte.

O nein, Chloe. Die bringen keine wirklich verrückten Leute hierher. Bloß diejenigen, die Stimmen hören und verbrannte Hausmeister sehen und mit Lehrern kämpfen.

Mein Magen begann wieder weh zu tun.

»Komm schon«, sagte sie. »Frühstück fängt in fünf Minuten an, und die können ein bisschen giftig werden, wenn man zu spät kommt.« Liz streckte die Hand aus, als ich eine Kommodenschublade öffnete. »Zum Frühstück kannst du den Schlafanzug anbehalten. Mittagessen und Abendessen haben wir mit den Jungs, aber Frühstück kriegen sie nach uns, wir haben also ein bisschen Privatsphäre.«

»Jungs?«

»Simon, Derek und Peter.«

»Das ist hier gemischt?«

»Hm.« Sie schob vor dem Spiegel die Lippen vor und kratzte ein loses Hautfetzchen ab. »Das Erdgeschoss gehört uns allen, aber der erste Stock ist unterteilt.«

Sie lehnte sich durch die Zimmertür hinaus, um mir zu zeigen, wie kurz der Flur war. »Sie haben die andere Hälfte. Es gibt nicht mal eine Verbindungstür. Als ob wir uns nachts rüberschleichen würden, wenn wir könnten.« Sie kicherte. »Na ja, Tori würde. Und ich vielleicht, wenn es da jemanden gäbe, für den sich das Rüberschleichen lohnen würde. Tori hat was mit Simon.« Sie musterte mich im Spiegel. »Peter könntest du mögen. Er ist niedlich, aber viel zu jung für mich. Dreizehn. Fast vierzehn glaube ich.«

»Ich bin fünfzehn.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Oh, Mist. Na ja, jedenfalls, Peter ist sowieso nicht mehr lang da. Ich habe gehört, er geht demnächst nach Hause.« Sie unterbrach sich. »Fünfzehn, ja? Welche Klasse?«

»Neunte.«

»Genau wie Tori. Ich bin in der Zehnten und Simon, Derek und Rae auch. Aber ich glaube, Simon und Rae sind noch fünfzehn. Hab ich eigentlich schon gesagt, dass ich deine Haare toll finde? Ich hab das auch machen wollen, mit blauen Strähnchen, aber meine Mom hat gesagt …«

 

Liz redete weiter, als wir nach unten gingen und beschrieb mir die ganze Belegschaft. Es gab Dr. Gill, die Psychologin, aber sie kam nur zu ihren Terminen und Sprechstunden ins Haus, ebenso wie die Lehrerin, Ms. Wang.

Zwei der drei Schwestern hatte ich bereits kennengelernt. Mrs.Talbot, die Ältere, die Liz als »wirklich nett« beschrieb, und die jüngere, Miss Van Dop, die, wie Liz flüsterte, »nicht so nett« war. Die dritte Schwester, Mrs.Abdo, war an den Wochenenden da, damit die beiden anderen sich jeweils einen Tag freinehmen konnten. Sie wohnten im Haus und kümmerten sich um uns. Liz bezeichnete sie als Schwestern, aber in meinen Ohren hörten sie sich eher nach den Hausmüttern an, von denen Internatsschüler erzählten.

Am Fuß der Treppe wartete ein überwältigender Geruch nach Zitronenputzmittel. Es roch wie bei meiner Oma. Nicht mal Dad wirkte jemals wirklich entspannt im makellosen Haus seiner Mutter. Wie sollte man auch unter dem grimmigen Stieren, das einem mitteilte, dass man zum Geburtstag lieber kein Geldgeschenk erwarten sollte, wenn man Cola-Spritzer auf dem weißen Ledersofa hinterließ. Aber nach einem kurzen Blick in das Wohnzimmer stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war zwar genauso sauber wie bei meiner Oma – der Teppich war fleckenlos, das Holz glänzte –, aber es hatte etwas leicht Abgenutztes, Wohnliches an sich, das dazu einlud, sich auf dem Sofa zusammenzurollen.

Auch dieses Zimmer war in der Farbe gestrichen, die man in Lyle House offenbar bevorzugte: ein sehr blasses Gelb. Kissen lagen auf dem dunkelblauen Sofa und den beiden Schaukelstühlen. Eine alte Standuhr tickte in einer Ecke. Auf den Tischchen an den Sofaenden standen Vasen mit Margeriten und Narzissen. Hell und fröhlich. Zu hell und fröhlich sogar, wie in dieser Frühstückspension in der Nähe von New York, in der Tante Lauren und ich im letzten Herbst ein paar Nächte verbracht hatten. Sie hatten dort so verzweifelt versucht, den Laden heimelig zu machen, dass er am Ende mehr von einer Bühne gehabt hatte als von einem wirklichen bewohnten Haus.

Nicht besser als hier, nahm ich an. Eine Einrichtung, die einen davon zu überzeugen versuchte, dass sie keine war, dass man sich zu Hause fühlen konnte. Eine Einrichtung, die einen vergessen machen sollte, dass dies ein Heim für verrückte Teenager war.

Liz hielt mich vor der Tür des Esszimmers zurück, so dass wir vorher einen Blick ins Innere werfen konnten.