Darkest Powers: Seelennacht - Kelley Armstrong - E-Book

Darkest Powers: Seelennacht E-Book

Kelley Armstrong

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Beschreibung

Die dunklen Mächte sind nicht zu stoppen: Band 2 der "Darkest Powers"-Serie. Ich hatte recht. In Lyle House gehen tatsächlich erschreckende Dinge vor sich. Ich bin keineswegs hier, weil ich verhaltensauffällig, sondern weil ich eine Totenbeschwörerin bin. Ich kann mit den Geistern von Toten reden. Ich kann Tote auferstehen lassen. Meine Kräfte sind unberechenbar. Denn ich bin das Ergebnis eines fehlgeschlagenen genetischen Experiments. Meine Schöpfer, die Edison Group, haben Angst vor mir - und vor den anderen Jugendlichen in Lyle House. Wir sind tickende Zeitbomben. Daher haben sie beschlossen, ihr Experiment endlich zu einem Ende zu bringen. Und uns bleibt nur noch eins: um unser Leben zu rennen... Darkest Powers - mystische Hochspannung von Bestseller-Autorin Kelley Armstrong! Die ganze "Darkest Powers"-Serie: Band 1: Darkest Powers - Schattenstunde Band 2: Darkest Powers - Seelennacht Band 3: Darkest Powers - Höllenglanz

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Seitenzahl: 425

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Kelley Armstrong

Die dunklen Mächte: Seelennacht

Roman

Aus dem Englischenvon Christine Gaspard

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelDank
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Für Julia

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1

Als sich die Tür meiner Zelle klickend öffnete, schoss mir folgender Gedanke durch mein schlafmittelvernebeltes Hirn: Hatte Liz es sich doch noch anders überlegt und war zurückgekommen? Aber Geister öffnen keine Türen. Es kann vorkommen, dass sie mich bitten, eine zu öffnen, damit ich die Zombies ermordeter Paranormaler befragen kann, die von einem wahnsinnigen Wissenschaftler hinter der Tür begraben wurden, aber sie sind niemals darauf angewiesen, dass ihnen selbst Türen geöffnet werden.

Ich setzte mich im Bett auf und rieb mir die Augen, um die Benebelung, die mich umfing, abzuschütteln. Die Tür stand einen kleinen Spalt weit offen. Ich glitt aus dem Bett, schlich auf Zehenspitzen über den dicken Teppich meines Pseudohotelzimmers und betete darum, dass der Mensch auf der anderen Seite weggegangen sein möge und ich entkommen würde, bevor diese Leute mit ihren Experimenten begannen – was auch immer es genau sein mochte, das sie mit mir …

»Hallo, Chloe.« Dr.Davidoff strahlte mich mit seinem schönsten Netter-alter-Herr-Lächeln an, als er die Tür ganz aufstieß. Er war gar nicht so alt – fünfzig vielleicht –, aber in einem Film hätte ich ihn trotzdem für die Rolle des tatterigen, zerstreuten Wissenschaftlers gewählt. Ich bin mir sicher, dass er diese Masche geübt hatte, bis er sie perfekt beherrschte.

Die Frau hinter ihm hatte blonde Haare und trug ein typisches New Yorker Kostüm. Sie hätte ich in der Rolle der Mutter des zickigsten Mädchens der Klasse besetzt. Was Beschiss gewesen wäre, denn genau das war sie: die Mutter von Victoria – Tori – Enright, der einzigen Hausbewohnerin, die wir nicht in unsere Pläne eingeweiht hatten, als wir aus Lyle House geflohen waren. Und zwar aus gutem Grund, denn immerhin war Tori mit dafür verantwortlich gewesen, dass ich überhaupt hatte fliehen müssen.

Toris Mutter hielt eine Klamotten-Tüte in der Hand und sah aus, als käme sie gerade von einem kleinen Einkaufsbummel zurück und würde jetzt nur noch schnell ein paar grauenhafte Experimente durchführen wollen, bevor sie zum Mittagessen ging.

»Ich weiß, dass du eine Menge Fragen hast, Chloe«, sagte Dr.Davidoff, nachdem ich mich wieder auf die Bettkante gesetzt hatte. »Wir sind hier, um dir Antworten zu geben. Wir brauchen vorher nur ein bisschen deine Unterstützung.«

»Simon und Derek«, sagte Mrs.Enright, »wo sind sie?«

Ich sah von ihr zu Dr.Davidoff hinüber, der lächelte und mir ermutigend zunickte, als habe er keinerlei Zweifel daran, dass ich meine Freunde verraten würde.

Ich war nie ein rebellierender Teenager gewesen. Ich war nie von zu Hause weggelaufen, hatte nie mit dem Fuß aufgestampft und gebrüllt, dass das Leben unfair sei und ich mir wünschte, nie geboren worden zu sein. Jedes Mal, wenn mein Dad mir mitgeteilt hatte, dass wir wieder umziehen würden und ich ein weiteres Mal die Schule wechseln musste, hatte ich ein weinerliches »Aber ich hab doch gerade erst Freunde gefunden!« hinuntergeschluckt, genickt und ihm versichert, dass ich das verstand.

Akzeptier dein Schicksal. Sei froh über das, was du hast. Sei ein großes Mädchen.

Als ich jetzt auf ein Leben zurückblickte, in dem ich immer getan hatte, was man mir gesagt hatte, wurde mir klar, dass ich das Spiel einfach mitgespielt hatte. Wenn die Erwachsenen mir den Kopf tätschelten und mir sagten, wie erwachsen ich war, dann meinten sie damit, wie froh sie waren, dass ich nicht erwachsen genug war, um Zweifel zu haben und mich zu wehren.

Als ich jetzt Dr.Davidoff und Mrs.Enright betrachtete und mir bewusst machte, was sie mir angetan hatten – mich belogen, mich eingesperrt –, da wollte ich mit dem Fuß aufstampfen. Wollte brüllen. Aber den Gefallen würde ich ihnen nicht tun. Stattdessen riss ich die Augen auf, als ich Mrs.Enrights Blick erwiderte. »Meinen Sie damit etwa, Sie haben sie noch gar nicht gefunden?«

Ich glaube, sie hätte mich geohrfeigt, wenn Dr.Davidoff nicht beschwichtigend die Hand gehoben hätte.

»Nein, Chloe, wir haben die Jungen noch nicht gefunden«, erklärte er. »Und wir machen uns Sorgen um Simons Sicherheit.«

»Weil Sie fürchten, Derek könnte ihm etwas antun?«

»Nicht absichtlich natürlich. Ich weiß, dass Derek Simon sehr gern hat.«

Gern hat? Was für eine merkwürdige Bezeichnung in diesem Zusammenhang. Derek und Simon waren Pflegebrüder und standen sich näher als jedes blutsverwandte Brüderpaar, das ich jemals kennengelernt hatte. Ja sicher, Derek war ein Werwolf, aber der wölfische Teil von ihm war es ja gerade, der ihn daran hindern würde, Simon jemals zu verletzen. Er würde ihn beschützen, um jeden Preis – das hatte ich bereits mit eigenen Augen gesehen.

Man muss mir die Skepsis angesehen haben, denn Dr.Davidoff schüttelte den Kopf, als sei er enttäuscht von mir. »In Ordnung, Chloe. Wenn du keine Bedenken Simons Sicherheit wegen hast, dann vielleicht seiner Gesundheit wegen.«

»W-was h-hat es mit …« Mein Stottern machte sich vor allem dann bemerkbar, wenn ich nervös war. Aber ich durfte mir nicht anmerken lassen, dass sie einen Nerv getroffen hatten. Also versuchte ich es noch einmal, langsamer jetzt. »Warum? Was hat es mit seiner Gesundheit auf sich?«

»Seine Beschwerden.«

Ganz offensichtlich gab es hier noch mehr Leute, die zu viele Filme gesehen hatten. Als Nächstes würden sie mir erzählen, dass Simon irgendeine seltene, wenig bekannte Krankheit hatte, und wenn er nicht in den nächsten zwölf Stunden seine Medikamente bekam, würde sein Körper innerhalb kürzester Zeit verbrennen, spontane Selbstentzündung eben.

»Welche Beschwerden?«

»Er hat Diabetes«, klärte Dr.Davidoff mich auf. »Sein Blutzuckerspiegel muss überwacht und reguliert werden.«

»Mit einem von diesen Bluttestdingern?«, fragte ich langsam, während ich mir die vergangenen Tage ins Gedächtnis rief. Simon war vor jeder Mahlzeit im Bad verschwunden. Ich hatte immer gedacht, er legte einfach Wert darauf, sich die Hände zu waschen, aber einmal war ich fast in ihn hineingerannt, als er gerade wieder herausgekommen war und einen kleinen schwarzen Behälter in die Hosentasche geschoben hatte.

»Genau das«, antwortete Dr.Davidoff. »Bei ordnungsgemäßer Behandlung kann man mit Diabetes ohne weiteres gut leben. Ihr habt nichts davon bemerkt, weil das nicht sein muss. Simon führt ein normales Leben.«

»Mit einer einzigen Ausnahme«, mischte sich Toris Mom ein. Sie griff in die Tüte und zog einen Rucksack heraus. Er sah genauso aus wie Simons, aber darauf fiel ich nicht rein – wahrscheinlich hatten sie sich das gleiche Modell besorgt. Ja, so musste es sein. Dann zog sie einen Kapuzenpulli heraus, der Simon gehörte. Aber schließlich hatte er in Lyle House einen ganzen Schrank voll Kleidung zurückgelassen. Es war also nicht weiter schwer, sich von dort Sachen zu besorgen. Als Nächstes kamen ein Zeichenblock und ein Beutel mit Farbstiften. Simons ganzes Zimmer war voller Comiczeichnungen gewesen, also galt auch hier, dass sie ohne weiteres … Mrs.Enright blätterte in dem Zeichenblock und zeigte mir einzelne Seiten. Simons halbfertige Arbeiten. Die hätte er nicht zurückgelassen!

Zuletzt legte sie eine Taschenlampe auf den Tisch. Die Taschenlampe aus Lyle House – die, von der ich gesehen hatte, wie er sie in die Tasche geschoben hatte.

»Simon ist abgerutscht, als er über den Zaun geklettert ist«, sagte Mrs.Enright. »Er hatte den Rucksack nur über eine Schulter gehängt, und als er ihm runterfiel, musste er ihn liegenlassen, weil unsere Leute unmittelbar hinter ihm waren. Und hier drin ist etwas, das Simon viel dringender braucht als Kleidung und Zeichenutensilien.« Sie öffnete einen dunkelblauen Nylonbeutel. Darin sah ich zwei kugelschreiberartige Ampullen, eine mit einer rauchigen, die andere mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. »Das Insulin, mit dem Simon das ersetzt, was sein Körper nicht produzieren kann. Er injiziert es sich drei Mal pro Tag.«

»Und was passiert, wenn er es nicht tut?«

Dr.Davidoff ergriff das Wort. »Wir wollen dir jetzt keine Angst machen und behaupten, dass Simon stirbt, wenn er eine einzige Injektion auslässt. Die von heute Morgen hat er aber schon verpasst, und ich bin mir sicher, dass er sich mittlerweile ein bisschen unwohl fühlt. Morgen um diese Zeit wird er sich erbrechen. In etwa drei Tagen wird er ins diabetische Koma fallen.« Er nahm Toris Mom den Beutel aus den Händen und legte ihn vor mich. »Wir müssen dafür sorgen, dass Simon das bekommt. Und deswegen musst du uns sagen, wo er ist.«

Ich versprach, mein Bestes zu geben.

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2

In einem guten Drama findet die Heldin niemals auf direktem Weg zum Ziel. Sie bricht auf, stößt auf ein Hindernis, muss einen Umweg machen, findet sich vor dem nächsten Hindernis wieder, muss einen noch längeren Umweg machen, dann noch ein Hindernis, noch ein Umweg … Erst wenn sie die nötige Charakterstärke entwickelt hat, um die angestrebte Belohnung zu verdienen, wird sie schließlich Erfolg haben.

Meine Geschichte passte jetzt schon in das altbewährte Muster. Genau das Richtige für die Schülerin einer Kunstschule, die den Schwerpunkt Film gewählt hat, nehme ich an. Oder besser gesagt einer ehemaligen Schülerin. Chloe Saunders, ein fünfzehnjähriger Möchtegern-Steven Spielberg. Alle meine Träume davon, Hollywood-Blockbuster zu schreiben und bei ihnen Regie zu führen, waren an dem Tag in Trümmer zerfallen, an dem ich meine Periode bekommen und die Sorte von Leben zu führen begonnen hatte, die ich zuvor immer auf die Leinwand hatte bringen wollen.

An diesem Tag hatte ich angefangen, Geister zu sehen.

Nachdem ich deswegen in der Schule in Panik ausgebrochen war, hatten die Männer in den weißen Kitteln mich weggebracht, und ich war in einem Heim für Teenager mit psychischen Problemen gelandet. Das eigentliche Problem war, dass ich wirklich Geister sah. Und ich war nicht die Einzige in Lyle House gewesen, die paranormale Kräfte besaß.

Simon konnte magische Formeln sprechen. Rae konnte Leuten mit ihren bloßen Fingern Verbrennungen zufügen. Derek hatte übermenschliche Kräfte und Sinnesorgane und würde nach allem, was ich mitbekommen hatte, bald in der Lage sein, sich in einen Wolf zu verwandeln. Tori … okay, ich wusste nicht, was Tori war, vielleicht war sie einfach eine ziemlich verkorkste Tussi, die in Lyle House untergebracht worden war, weil ihre Mom im Vorstand saß.

Simon, Derek, Rae und ich hatten irgendwann festgestellt, dass es kein Zufall war, dass wir alle zusammen in Lyle House eingesperrt waren, und waren geflohen. Rae und ich waren von den Jungs getrennt worden, und nachdem wir zu meiner Tante Lauren geflüchtet waren – dem Menschen, dem ich auf der ganzen Welt am meisten vertraut hatte –, war ich schließlich hier gelandet: einer Art Labor unter der Leitung derselben Leute, denen auch Lyle House gehörte. Und jetzt erwarteten die, dass ich ihnen Simon und Derek ausliefern würde.

Okay, es wurde offensichtlich Zeit, dass ich selbst ein paar Hindernisse ins Spiel brachte. Und so teilte ich Dr.Davidoff ganz im Sinne einer guterzählten Geschichte mit, wie er Simon und Derek finden konnte.

Erster Schritt: Das Ziel abstecken. »Rae und ich sollten uns eigentlich verstecken, während die Jungs Sie alle mit Simons Magie ablenken wollten«, erklärte ich. »Rae war schon vorausgerannt, sie hat das nicht mehr mitgekriegt, aber im letzten Moment hat Simon mich zurückgehalten und gesagt, wenn wir getrennt würden, sollten wir uns alle am Treffpunkt einfinden.«

Zweiter Schritt: Das Hindernis einführen. »Aber wo der ist, das ist das Problem, ich weiß es nämlich selbst nicht. Wir hatten drüber geredet, dass wir einen brauchen, aber es war alles so chaotisch an dem Tag. Wir hatten uns ja gerade erst drauf geeinigt, dass wir abhauen wollen, und dann hat Derek plötzlich gesagt, dass es gleich an diesem Abend sein muss. Die Jungs müssen sich einen Treffpunkt überlegt haben, glaube ich, aber wenn, dann hat Simon vergessen, dass sie mir den nie verraten haben.«

Dritter Schritt: Den Umweg skizzieren. »Aber ich habe ein paar Ideen – Orte, über die wir geredet haben. Einer davon dürfte der Treffpunkt sein. Ich könnte Ihnen helfen, ihn zu finden. Sie werden auf mich warten, also werden sie sich vielleicht versteckt halten, bis sie mich sehen.«

Statt aus diesem Laden hier zu fliehen, würde ich mich von ihnen mitnehmen und als Köder verwenden lassen. Ich würde ihnen Orte nennen, die in den Diskussionen mit Derek und Simon nie zur Sprache gekommen waren, und es würde keinerlei Gefahr bestehen, dass die beiden gefasst wurden. Ein brillanter Plan.

Und die Antwort?

»Wir werden darüber nachdenken, Chloe. Aber sag uns jetzt erst mal, an welche Orte du denkst? Wir haben Möglichkeiten, die Jungen auch ohne dich zu finden, wenn wir erst dort sind.«

Hindernisse. Ein unabdingbarer Teil einer guterzählten Geschichte. Aber im wirklichen Leben? Funktioniert’s nicht.

 

Nachdem Dr.Davidoff und Toris Mutter meine Liste erfundener möglicher Treffpunkte hatten, gingen sie, ohne mir im Gegenzug Antworten auf meine Fragen oder auch nur einen Hinweis darauf zu geben, warum ich hier war oder was als Nächstes mit mir passieren würde.

Ich saß im Schneidersitz auf dem Bett und starrte auf die Kette in meinen Händen, als wäre sie eine Kristallkugel, die mir alle Antworten liefern konnte. Meine Mom hatte sie mir geschenkt, damals, als ich als Kind Schreckgespenster gesehen hatte – Geister, wie ich inzwischen wusste. Sie hatte gesagt, der Anhänger würde sie fernhalten, und er hatte es getan. Ich war immer davon ausgegangen, dass mein Dad recht hatte und die Wirkung eher psychologischer Natur war – ich hatte daran geglaubt, also hatte es funktioniert. Inzwischen war ich mir nicht mehr so sicher.

Hatte meine Mom gewusst, dass ich eine Nekromantin war? Wenn das Nekromantenblut aus ihrer Familie stammte, musste sie es gewusst haben. Sollte der Anhänger wirkliche Geister fernhalten? Wenn das der Fall war, dann mussten seine Kräfte nachgelassen haben. Tatsächlich sah er sogar verblasst aus … Ich hätte schwören können, dass das leuchtende Rot des Edelsteins einen Purpurton angenommen hatte. Eins aber tat er nicht, nämlich meine Fragen beantworten. Das würde ich wohl selbst erledigen müssen.

Ich hängte mir die Kette wieder um den Hals. Was Dr.Davidoff und die anderen auch von mir wollten, es konnte nichts Gutes sein. Denn wenn man Leuten helfen will, sperrt man sie nicht als Erstes einfach mal ein.

Ich würde ihnen mit Sicherheit nicht sagen, wo sie Simon finden konnten. Wenn Simon Insulin brauchte, würde Derek es ihm besorgen, selbst wenn er zu diesem Zweck in eine Apotheke einbrechen musste.

Ich musste mich darauf konzentrieren, Rae und mich hier rauszubringen. Aber dies war nicht Lyle House, wo die einzige Barriere zwischen uns und der Freiheit eine Alarmanlage gewesen war. Das Zimmer hier mochte aussehen, als gehörte es in ein gemütliches Hotel – ein Doppelbett, Teppichboden, ein Sessel, ein Schreibtisch, ein eigenes Bad –, aber es gab kein Fenster, und die Tür hatte an der Innenseite keinen Knauf.

Ich hatte gehofft, Liz würde mir bei der Flucht helfen. In Lyle House hatten wir uns das Zimmer geteilt, aber Liz hatte es nicht lebend ins Freie geschafft. Als ich mich dann hier wiedergefunden hatte, hatte ich in der Hoffnung, sie würde mir einen Weg hier raus zeigen können, versucht, ihren Geist zu beschwören. Dabei hatte es nur ein klitzekleines Problem gegeben: Liz hatte noch nicht gewusst, dass sie tot war. Ich hatte versucht, es ihr so behutsam wie möglich beizubringen, aber sie war ausgerastet, hatte mich beschuldigt, sie anzulügen, und war verschwunden.

Vielleicht hatte sie inzwischen Zeit gehabt, sich zu beruhigen? Ich bezweifelte es, konnte aber nicht länger warten. Ich musste versuchen, sie erneut zu beschwören.

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3

Ich bereitete also meine Séance vor. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Filmszene betrachtet, war sie so lahm, dass ich sie niemals einem Publikum zugemutet hätte. Keine flackernden Kerzen, die unheimliche Schatten über die Wände tanzen ließen, keine verrotteten Schädel, die einen Ritualkreis markierten, keine Kelche, gefüllt mit etwas, von dem der Zuschauer zwar annehmen musste, es sei Rotwein, insgeheim aber hoffte, es wäre Blut.

Verwendeten erfahrene Nekromanten solches Zeug? Kerzen und Weihrauch? Nach dem wenigen, was ich über die paranormale Welt erfahren hatte, war manches von dem, was man in Filmen zu sehen bekam, wahr. Vielleicht hatten die Leute irgendwann vor langer Zeit über Hexen und Nekromanten und Werwölfe Bescheid gewusst, so dass die Geschichten in ihrem Kern eigentlich auf lang vergessene Wahrheiten zurückgehen.

Meine Methode – wenn man es überhaupt eine nennen konnte, denn ich hatte sie erst zwei Mal verwendet – basierte auf ein paar Experimenten und einigen widerwillig gegebenen Tipps von Derek. Derek ist ein Typ, der sich mit seinen sechzehn Jahren auf Hochschulniveau selbst bildet und dem es unglaublich wichtig ist, Tatsachen zweifelsfrei zu belegen. Und wenn er sich einer Sache nicht sicher ist, zieht er es vor, den Mund zu halten. Aber nachdem ich immer wieder nachgebohrt hatte, hatte er mir erzählt, dass Nekromanten Geister entweder am Grab selbst beschwören oder indem sie irgendetwas Persönliches von ihnen einsetzen. In meinem Fall war es Liz’ Kapuzenshirt, das ich in den Händen hielt, während ich im Schneidersitz auf dem Teppich saß und mir vorstellte, wie ich Liz aus ihrer Zwischenwelt herauszog. Zunächst versuchte ich es nicht allzu sehr, denn als ich das letzte Mal meine gesamte Energie in den Versuch gelegt hatte, einen Geist zu beschwören, hatte ich zwei geradewegs in ihre verscharrten Leichen zurückgerufen. Im Moment hielt ich mich zwar nicht in der Nähe eines Grabes auf, aber das musste nicht unbedingt bedeuten, dass sich in der Umgebung nirgendwo Leichen befanden. Also legte ich nur langsam und ganz allmählich mehr Anstrengung in die Sache, konzentrierte mich mehr und mehr, bis …

»Was zum …? Hey, wer bist denn du?«

Meine Augen öffneten sich abrupt. Vor mir stand ein dunkelhaariger Junge, etwa in meinem Alter, mit dem Körperbau, dem Aussehen und dem arrogant vorgereckten Kinn eines Star-Quarterbacks. Dass ich gerade hier den Geist eines zweiten Teenagers antraf, war mit Sicherheit kein Zufall. Ein Name kam mir in den Sinn – der eines weiteren Bewohners von Lyle House, der von dort verschwunden war, bevor ich eingeliefert worden war. Angeblich in eine psychiatrische Klinik verlegt, genau wie Liz.

»Brady?«, fragte ich versuchsweise.

»Yeah, aber dich kenne ich nicht. Und den Laden hier auch nicht.«

Er drehte sich um die eigene Achse und musterte das Zimmer, dann rieb er sich den Nacken. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, ihn zu fragen, ob mit ihm alles okay wäre. Selbstverständlich war es das nicht. Er war tot. Genau wie Liz. Ich schluckte.

»Was ist mit dir passiert?«, fragte ich leise.

Er fuhr zusammen, als habe meine Stimme ihn überrascht.

»Ist sonst noch jemand hier?«, fragte ich in der Hoffnung, er könnte Liz wahrnehmen, irgendwo jenseits der Barriere, wo ich sie nicht sah.

»Ich habe gedacht, ich hätte gehört …« Er musterte mich und runzelte die Stirn. »Hast du mich hergeholt?«

»Ich … ich wollte das nicht. Aber jetzt, wo du hier bist, kannst du mir vielleicht sagen …?«

»Nein. Ich kann dir überhaupt nichts sagen.« Er straffte die Schultern. »Ganz gleich, worüber du reden willst, ich bin nicht interessiert.«

Er wandte den Blick ab, entschlossen, nicht interessiert zu wirken. Als er zu verblassen begann, war ich zunächst bereit, ihn gehen zu lassen. Ruhe in Frieden. Dann fielen mir Rae und Simon und Derek wieder ein. Wenn ich keine Antworten auf meine Fragen bekam, würden wir alle Brady vielleicht bald im Jenseits wiedersehen.

»Ich heiße Chloe«, sagte ich schnell. »Ich bin eine Freundin von Rae. Aus Lyle House. Ich war mit ihr zusammen dort, nach dir …«

Er wurde immer durchscheinender.

»Warte!«, rief ich. »Ich kann’s beweisen. Dort in Lyle House. Du hast einen Streit mit Derek anfangen wollen, und Simon hat dich aus dem Weg gehauen. Aber er hat dich nicht berührt. Er hat Magie verwendet.«

»Magie?«

»Es war eine Formel, mit der man Leute aus dem Weg stoßen kann. Simon ist ein Magier. Alle Teenager in Lyle House …«

»Ich hab’s doch gewusst. Ich hab’s gewusst!« Er fluchte leise vor sich hin, während seine Gestalt wieder klarer wurde. »Die ganze Zeit dort haben die versucht, mir ihre Diagnose ins Hirn zu trichtern, und ich hab ihnen gesagt, wo sie sie sich stattdessen hinschieben sollen, aber ich hab nichts beweisen können.«

»Du hast den Schwestern erzählt, was zwischen dir und Simon passiert ist, oder?«

»Schwestern?« Er schnaubte. »Gefängniswärter ohne Uniform. Ich hab mit dem wirklichen Boss reden wollen, mit Davidoff. Sie haben mich zu seinem anderen Laden gefahren, hat ausgesehen wie ein Lagerhaus oder so was.«

Ich beschrieb ihm, was ich von dem Gebäude gesehen hatte, als wir eingetroffen waren.

»Yeah, das ist es. Sie haben mich reingebracht, und …« Eine Falte grub sich in seine Stirn, als er sich zu erinnern versuchte. »Eine Frau ist gekommen und hat mit mir geredet. So eine Blonde, hat gesagt, sie wär Ärztin. Bellows? Fellows?«

Tante Lauren. Ich fühlte mein Herz gegen die Rippen hämmern. »Diese Frau, Dr.Fellows, hat also …«

»Sie hat gewollt, dass ich sage, Derek hätte den Streit angefangen. Dass er mir gedroht hätte, mich rumgestoßen, geboxt hätte, was auch immer. Ich hab’s mir überlegt. Kleine Wiedergutmachung für den Mist, den ich mir von dem Widerling die ganze Zeit hab gefallen lassen müssen. Aber wir hatten bloß rumgealbert, als Simon plötzlich aggressiv geworden ist und mich mit dieser Formel erwischt hat.«

In der Version, die ich gehört hatte, war Brady derjenige gewesen, der Derek gegenüber aggressiv geworden war, weswegen Simon einen guten Grund gehabt hatte, sich einzumischen – als Derek das letzte Mal wirklich zugeschlagen hatte, hatte er einem Jungen das Rückgrat gebrochen.

»Dr.Fellows hat also gewollt, dass du behauptest, Derek hätte angefangen …«

»Hab’s aber nicht gemacht. Das hätte ja doch bloß wieder Ärger gegeben, wenn ich nach Lyle House zurückgegangen wäre, und das konnte ich echt nicht brauchen. Und da ist dann Davidoff dazugekommen. Er hat sie aus dem Zimmer geholt, aber ich hab trotzdem noch gehört, wie er sie draußen im Gang zur Schnecke gemacht hat. Sie hat immer wieder gesagt, Derek wäre eine Gefahr, und der einzige Grund, warum Davidoff ihn behielte, wäre doch, weil er nicht zugeben könnte, einen Fehler gemacht zu haben, als er Dereks Typ mit reingenommen hat.«

»Typ?«

»Bei dem Experiment.«

Kälte durchflutete plötzlich meine Magengrube. »E-Experiment?«

Brady zuckte mit den Schultern. »Mehr hat sie nicht gesagt. Davidoff hat sie dann auch weggeschickt. Er hat gesagt, bei den anderen hätte er Fehler gemacht, aber Derek wäre anders.«

Andere? Hatte er damit andere Werwölfe gemeint? Oder andere Versuchsobjekte in seinem Experiment? War ich ein Versuchsobjekt in diesem Experiment?

»Hat er noch irgendwas sonst …«, begann ich.

Bradys Kopf fuhr herum, als habe er aus dem Augenwinkel etwas gesehen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Hörst du das nicht?«

Ich lauschte. »Was ist es?«

»Flüstern.«

»Das könnte Liz sein. Sie …«

Brady erstarrte. Seine Augen begannen zu rollen. Dann flog sein Kopf nach hinten, die Sehnen an seinem Hals traten hervor, Knochen knackten. Die Muskeln seiner Kehle schienen sich zu verkrampfen, und er gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Ich streckte instinktiv die Arme aus, um ihm zu helfen, doch meine Hände glitten durch ihn hindurch. Ich spürte die Hitze seines Körpers, eine sengende Hitze, bei der ich vor Überraschung zurückfuhr.

Brady wurde wieder ruhiger. Er senkte das Kinn und ließ die Schultern kreisen, als wolle er seine Muskeln lockern. Dann sah er auf mich herunter. Seine dunklen Augen hatten jetzt ein glühendes Gelborange angenommen. Das kalte Gefühl in der Magengrube begann mein Rückgrat hinaufzukriechen.

»Hast du Angst, Kind?« Die Stimme, die jetzt aus Bradys Mund drang, war eine Frauenstimme, so hell und klar, dass sie fast etwas Mädchenhaftes hatte. »Dein Instinkt scheint recht verlässlich zu sein, aber du hast von mir nichts zu befürchten.«

»W-wo ist Brady?«

Sie sah auf den Körper hinunter, den sie in Besitz genommen hatte. »Gefällt er dir? Ja, er sieht gut aus, stimmt’s? Alle Geschöpfe unseres lieben Dr.Lyle sind so überaus hübsch. Makellose Kugeln aus makelloser Energie, die nur darauf warten, zu explodieren.«

Ein Lidschlag, und »Brady« stand unmittelbar vor mir, das Gesicht direkt vor meinem. Sengend heißer und merkwürdig süßer Atem hüllte mich ein. Der Blick der orangefarbenen Augen fing meinen auf, die Pupillen senkrechte Schlitze wie bei einer Katze.

»Der Junge kann dir nicht helfen, Kind. Aber ich kann es. Du musst nur …«

Ihre Pupillen rollten nach hinten, verdunkelten sich zu Bradys Braun, wurden wieder orange. Sie stieß ein Fauchen aus.

»Die zerren ihn zurück auf die andere Seite. Ruf mich, Kind. Schnell.«

»R-ruf …«

»Ruf mich herauf. Ich kann …«

Ihre Augen begannen wieder zu rollen, und das Fauchen wurde dunkler, unmenschlich, ein Geräusch, bei dem die Kälte in meinen Adern zu Eis zu gefrieren schien. Ich trat zurück und rammte mit dem Rücken gegen die Wand.

»Ruf mich herauf«, forderte sie erneut mit zerrissener Stimme, die dunkler wurde, die wieder zu Bradys wurde. »Ich kann all deine Fragen beantworten. Ruf …«

Bradys Umriss begann zu flackern und verschwand dann wie das Bild eines Fernsehers, wenn man das Kabel herauszieht – ein Knacken, ein weißes Aufblitzen, und er war fort. Ich glaubte, ein Klopfen an der Tür zu hören, konnte mich aber nicht rühren, konnte nur die Stelle anstarren, wo Brady eben noch gewesen war.

Die Tür öffnete sich. Dr.Davidoff trat herein und sah mich an die Wand gedrückt dastehen.

»Chloe?«

Ich taumelte und rieb mir die Arme.

»Chloe?«

»S-Spinne«, sagte ich und zeigte aufs Bett. »S-sie ist da druntergerannt.«

Dr.Davidoff kämpfte sichtlich gegen ein Grinsen an. »Mach dir nichts draus. Jemand wird sich drum kümmern, während wir weg sind. Wir machen einen Spaziergang. Es wird Zeit, dass du einen richtigen Rundgang und eine Erklärung bekommst.«

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4

Während ich Dr.Davidoff durch den Flur folgte, versuchte ich, den Gedanken an das Wesen abzuschütteln, das da in meinem Zimmer aufgetaucht war. Ich war eine Nekromantin. Geister waren meine Spezialität. Also musste es wohl ein Geist gewesen sein, egal wie nachdrücklich jeder Instinkt in mir auch darauf beharrte, dass es keiner gewesen war. Mit Sicherheit wusste ich nur, dass ich es nicht eilig hatte, in mein Zimmer zurückzukehren.

»Also, Chloe …« Dr.Davidoff hielt inne, als er sah, dass ich mir die Gänsehaut auf den Armen rieb. »Kalt? Ich sage Bescheid, sie sollen in deinem Zimmer die Heizung aufdrehen. Es ist uns wichtig, dass es dir gutgeht.«

Wir setzten uns wieder in Bewegung.

»Aber sich behaglich fühlen ist nicht einfach nur eine körperliche Sache, stimmt’s?«, fuhr er fort. »Genauso wichtig, vielleicht wichtiger noch, ist die innere Ruhe. Ein Gefühl der Sicherheit. Ich weiß, dass du wütend und verwirrt bist, und es hat nicht gerade geholfen, dass wir uns geweigert haben, deine Fragen zu beantworten. Wir hatten es eilig, uns die Orte anzusehen, die du uns genannt hast.«

Er war nicht lang genug fort gewesen, um Orte abzuklappern, die Meilen entfernt sein mussten. Ich wusste, was er wirklich überprüft hatte: Er hatte sich meine Geschichte von Rae bestätigen lassen. Und sie dürfte es getan haben. Sie kannte den wirklichen Treffpunkt nicht. Sie wusste nur, dass ich gesagt hatte, die Jungs würden sich mit uns treffen.

Dr.Davidoff öffnete eine Tür am Ende des Flurs. Es war ein Überwachungsraum, die Wände waren mit Flachbildschirmen übersät. Ein junger Mann fuhr auf seinem Drehstuhl herum, als hätten wir ihn gerade dabei erwischt, wie er sich ein paar Pornoseiten im Netz ansah.

»Gehen Sie doch und besorgen sich einen Kaffee, Rob«, sagte Dr.Davidoff. »Wir übernehmen hier so lang.«

Nachdem der Wachmann verschwunden war, wandte sich Dr.Davidoff wieder an mich: »Du bekommst später noch mehr von dem Gebäude zu sehen. Im Moment«, er zeigte zu den Monitoren hinüber, »reicht das vielleicht erst mal, um dir einen ersten Eindruck zu verschaffen.«

Hielt der mich für bescheuert? Mir war klar, was er wirklich tat: mir zeigen, wie gut bewacht das Gebäude war – nur für den Fall, dass ich wieder eine Flucht planen sollte. Allerdings gab er mir so zugleich auch Gelegenheit, mir anzusehen, womit ich es zu tun haben würde.

»Du siehst, in deinem Zimmer gibt es keine Kamera«, erklärte er. »Nur im Flur.«

Zwei Kameras im Flur, an jedem Ende eine. Ich sah mir die übrigen Bildschirme an. Manche davon wechselten von einer Kamera zur anderen und lieferten Aufnahmen von Gängen und Türen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Zwei zeigten Laborräume, beide leer und mit gedämpfter Beleuchtung, wahrscheinlich weil heute Sonntag war.

Auf dem Schreibtisch stand ein Monitor älterer Bauart. Die Kabel liefen kreuz und quer, als hätte man es bei der Installation eilig gehabt. Der winzige Bildschirm war schwarzweiß und zeigte etwas, das aussah wie ein Lagerraum mit von Kisten gesäumten Wänden. Ich sah den Rücken eines Mädchens, das auf einem Beanbag saß. Sie fläzte auf dem Sitzsack, die Beine neben einer Spielkonsole ausgestreckt, den Controller in den dunklen Händen. Lange Locken fielen über die Rückseite des Sacks. Sie sah aus wie Rae. Oder vielleicht auch wie jemand, der die Aufgabe hatte, mich davon zu überzeugen, dass mit ihr alles in Ordnung war – sie spielte Spiele, war nicht eingesperrt, brüllte nicht nach … In dem Moment streckte das Mädchen die Hand nach einer Dose 7UP aus, und ich sah ihr Gesicht. Rae.

»Ja, Rae hat es uns schon erklärt – der GameCube ist vollkommen veraltet. Aber nachdem wir versprochen hatten, ihn durch das neueste Modell zu ersetzen, hat sie sich drauf eingelassen, vorerst auf ihm zu spielen.«

Sein Blick ließ den Bildschirm nicht los, während er sprach. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war beinahe … liebevoll. Als er sich wieder mir zuwandte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, fast als wollte er sagen: Ich mag dich wirklich, Chloe, aber eine Rachelle bist du nicht.

Ich war … verwirrt. Vielleicht sogar eine Spur verletzt, als gäbe es immer noch einen Teil von mir, der einfach nur gemocht werden wollte.

Er zeigte auf den Bildschirm. »Du siehst schon, wir waren nicht drauf vorbereitet, euch Kids hier zu haben, aber wir sind dabei, alles einzurichten. Es wird nie so wohnlich sein wie Lyle House, aber ihr fünf werdet es hier behaglich haben, vielleicht sogar komfortabler als vorher, wenn wir diese ganzen unglückseligen Missverständnisse ausräumen konnten.«

Wir fünf? Das musste dann wohl bedeuten, dass er nicht vorhatte, Derek »einzuschläfern wie einen tollwütigen Hund«, wie Tante Lauren es verlangt hatte. Ich stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.

»Ich werde mich nicht entschuldigen, Chloe«, fuhr Dr. Davidoff fort. »Vielleicht sollte ich es tun, aber wir haben geglaubt, Lyle House aufzubauen sei die beste Methode, um der Situation gerecht zu werden.«

Er winkte mich zu einem Stuhl. Es gab zwei davon in dem Raum, der, auf dem der Wachmann gesessen hatte, und einen zweiten, der an der Wand stand. Als ich einen Schritt auf den zweiten Stuhl zu machte, rollte er aus dem Schatten hervor und kam unmittelbar vor mir zum Stehen.

»Nein, das war kein Geist«, erklärte Dr.Davidoff. »Sie können Gegenstände in unserer Welt nicht bewegen, außer es handelt sich um einen sehr spezifischen Typ, nämlich den Geist eines Agito.«

»Eines was?«

»Agito. Es ist Latein, die Übersetzung lautet mehr oder weniger ›etwas in Bewegung setzen‹. Es gibt viele verschiedene Typen von Halbdämonen, wie du noch feststellen wirst. Die Gabe eines Agito, wie der Name schon nahelegt, ist die Telekinese.«

»Dinge mit Gedankenkraft bewegen.«

»Sehr gut. Und es war ein Agito, der den Stuhl da bewegt hat. Allerdings einer, der noch sehr lebendig ist.«

»Sie?«

Er lächelte, und eine Sekunde lang bekam die Maske des tattrigen alten Narren Risse, so dass ich einen Blick auf den wirklichen Mann dahinter werfen konnte. Und was ich sah, waren Stolz und Arroganz wie bei einem Mitschüler, der seine mit 1+ benotete Arbeit schwenkt, als wollte er sagen Mach’s doch besser.

»Ja, ich bin ein Paranormaler, und das gilt für fast jeden, der hier arbeitet. Ich weiß, was du geglaubt haben musst – dass wir Menschen sind, die eure Gaben entdeckt haben und jetzt versuchen, das zu vernichten, was wir nicht verstehen, wie in diesen Comics.«

»X-Men.«

Ich weiß nicht, was für mich schockierender war – dass Dr.Davidoff und seine Mitarbeiter Paranormale waren oder die Vorstellung, dass dieser gebeugte, linkische Mann X-Men las. Hatte er sich als Junge in sie vertieft, sich vorgestellt, dass auch er selbst Xaviers Schule für junge Begabte besuchte?

Bedeutete das, dass Tante Lauren eine Nekromantin war? Dass auch sie Geister sah?

Bevor ich eine Frage stellen konnte, sprach er weiter: »Die Edison Group wurde vor achtzig Jahren von Paranormalen gegründet. Und sosehr sie seit ihren Anfangstagen auch gewachsen ist, es handelt sich immer noch um eine von Paranormalen und für Paranormale betriebene Organisation mit dem Ziel, unseresgleichen ein besseres Leben zu ermöglichen.«

»Edison Group?«

»Nach Thomas Edison benannt.«

»Dem Mann, der die Glühbirne erfunden hat?«

»Dafür ist er vor allem bekannt. Er hat aber auch den Filmprojektor erfunden, wofür gerade du ihm wahrscheinlich dankbar sein wirst. Andererseits kannst du, Chloe, etwas, wovon er immer träumte, das ihm aber nie gelungen ist.« Eine dramatische Pause. »Kontakt zu den Toten aufzunehmen.«

»Thomas Edison wollte mit den Toten reden?«

»Er glaubte an das Jenseits und wollte mit den Toten kommunizieren. Allerdings nicht durch Séancen und Spiritismus, sondern auf wissenschaftlichem Weg. Man glaubt, dass er zum Zeitpunkt seines Todes an einem Gerät zu ebendiesem Zweck gearbeitet hat – einem Telefon ins Jenseits. Pläne allerdings wurden nie gefunden.« Dr.Davidoff lächelte verschwörerisch. »Oder zumindest nicht offiziell. Wir haben den Namen gewählt, weil wir uns dem Paranormalen ebenso wie Edison auf dem wissenschaftlichen Weg nähern.«

Paranormalen mit Hilfe der Wissenschaft das Leben leichter machen. Wo hatte ich so etwas schon einmal gehört? Ich brauchte einen Moment, bis ich darauf kam, und als es mir wieder einfiel, schauderte ich.

Die Geister, die ich im Keller von Lyle House gerufen hatte, hatten einem Magier namens Samuel Lyle als Versuchsobjekte gedient. Zunächst als freiwillige Versuchsobjekte, hatten sie gesagt, weil er ihnen ein besseres Leben versprochen hatte. Stattdessen waren sie zu Laborratten geworden, die den Visionen eines Verrückten geopfert wurden – so hatte einer der Geister es ausgedrückt. Und dieses Wesen in meinem Zimmer hatte Brady – und mich, glaube ich – Samuel Lyles »Geschöpfe« genannt.

»Chloe?«

»E-es tut mir leid. Ich bin einfach …«

»Müde, nehme ich an, nachdem du die ganze Nacht auf den Beinen warst. Würdest du dich lieber ausruhen?«

»N-nein, mir geht’s gut. Es ist einfach … Wie passen wir in das Ganze? Und Lyle House? Es gehört alles zu einem Experiment, oder?«

Sein Kinn hob sich, nicht viel, aber es war gerade genug, um mir mitzuteilen, dass ich ihn unvorbereitet erwischt hatte und dass ihm das nicht passte. Ein freundliches Lächeln ließ den Ausdruck verschwinden, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Es ist ein Experiment, Chloe. Ich weiß, wie sich das anhören muss, aber ich kann dir versichern, es handelt sich hier um nichtinvasive Studien, bei denen nur harmlose psychotherapeutische Techniken zum Einsatz kommen.«

Harmlos? Es war ganz sicher nicht harmlos gewesen, was Liz und Brady zugestoßen war.

»Okay, und wir sind dann also Teil dieses Experiments …«, begann ich.

»Paranormaler zu sein ist sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Und die Pubertät ist für uns die schwierigste Entwicklungsphase überhaupt. Denn es ist die Zeit, in der unsere Kräfte sich zu manifestieren beginnen. Eine der von der Edison Group vertretenen Theorien besagt, dass es für unsere Kinder möglicherweise einfacher ist, wenn sie ihre Zukunft nicht kennen.«

»Wenn sie nicht wissen, dass sie Paranormale sind?«

»Ja. Und man sie stattdessen als ganz normale Menschen aufwachsen lässt, ihnen Gelegenheit gibt, ihren Platz in der menschlichen Gesellschaft zu finden, ohne dass sie sich über die bevorstehenden Veränderungen Sorgen machen müssen. Du und die anderen, ihr seid ein Teil dieser Studie. Für die meisten von euch hat es sich bewährt. Aber bei manchen, bei dir zum Beispiel, haben die paranormalen Kräfte zu plötzlich eingesetzt. Das machte es nötig, euch behutsam auf die Wahrheit vorzubereiten und zugleich dafür zu sorgen, dass ihr währenddessen weder euch selbst noch anderen Schaden zufügt.«

Weshalb sie uns in eine betreute Wohngruppe gesteckt und uns erzählt hatten, wir wären verrückt? Uns unter Medikamente gesetzt hatten? Das ergab keinerlei Sinn. Was war mit Simon und Derek, die zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst hatten, was sie waren? Wie konnten sie dann noch Teil dieser Studie sein? Aber wenn das, was Brady erzählt hatte, stimmte, war Derek zweifellos Teil dieser Studie.

Und was war mit dem Wesen, das uns als Dr.Lyles Geschöpfe bezeichnet hatte? Was war mit Brady und Liz, die man dauerhaft aus dieser Studie herausgenommen hatte? Ermordet. Man bringt eine Versuchsperson doch sicher nicht um, wenn sie auf die »harmlosen psychotherapeutischen Techniken« nicht gut anspricht?

Sie hatten uns von Anfang an belogen. Hatte ich mir wirklich eingebildet, sie würden jetzt auf einmal die Wahrheit sagen? Wenn ich die wirklich hören wollte, würde ich mit dem weitermachen müssen, was ich bisher getan hatte: mir die Antworten selbst suchen.

Also ließ ich Dr.Davidoff weiterschwafeln, ließ mir die Studie erklären, dann von den anderen Teenagern erzählen, davon, wie sie uns kurieren wollten und wir sehr bald wieder draußen sein würden. Und ich lächelte und nickte und begann, eigene Pläne zu schmieden.

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5

Als Dr.Davidoff mit seinem Propagandavortrag fertig war, brachte er mich zu Rae, die immer noch in dem improvisierten Spielezimmer saß und Zelda spielte. Er öffnete die Tür, winkte mich ins Innere, schloss sie wieder und ließ uns allein.

»Ist die Zeit schon vorbei?«, fragte Rae, während sie sich langsam umdrehte. »Lassen Sie mich einfach noch fertig …«

Als sie mich sah, sprang sie auf, der Controller landete klappernd auf dem Boden, umarmte mich und wich dann zurück.

»Dein Arm«, sagte sie. »Hab ich dir …«

»Nein, der ist verbunden. Musste genäht werden.«

»Au.« Rae musterte mich mit einem langen Blick. »Und du solltest schlafen, du sieht ja halb tot aus.«

»Das sind einfach bloß die Nekromantengene, die sich da melden.«

Sie lachte und umarmte mich noch einmal, bevor sie sich wieder auf ihren Sitzsack plumpsen ließ. Trotz der langen Nacht, die wir im Wesentlichen mit Wegrennen verbracht hatten, sah Rae gut aus. Andererseits gehörte Rae zu den Mädchen, die eigentlich immer gut aussehen – makellose kupferfarbene Haut, kupferfarbene Augen und die langen Locken, die, wenn das Licht im richtigen Winkel fiel, ebenfalls einen kupferfarbenen Schimmer bekamen.

»Nimm dir eine Kiste. Ich würde dir ja einen Stuhl anbieten, aber die Raumausstatter heutzutage?« Sie verdrehte die Augen. »So was von langsam. Aber wenn die erst mal mit Renovieren fertig sind, ist der Laden hier nicht wiederzuerkennen. Stereoanlage, DVD, Computer … Sessel. Und ab morgen haben wir hier außerdem eine Wii.«

»Wirklich?«

»Yep. Ich hab gesagt ›Leute, wenn ich euch bei eurer komischen Studie helfen soll, müsst ihr mir was im Gegenzug bieten. Und ein GameCube bringt’s einfach nicht.‹«

»Hast du auch einen größeren Fernseher verlangt?«

»Hätt’s machen sollen. Nach dem ganzen verkorksten Zeug mit Lyle House fallen die jetzt fast übereinander, damit wir zufrieden sind. Wir werden ja so verwöhnt werden hier. Natürlich verdienen wir alles, was wir kriegen können.«

»Und wie.«

Sie grinste. Ihr ganzes Gesicht strahlte. »Hast du’s schon gehört? Ich bin eine Halbdämonin. Eine Exau … Exustio. Das ist die höchste Stufe von Feuerdämon, die man sein kann. Cool, was?«

Ein Halbdämon zu sein war cool. Aber eine halbdämonische Laborratte in unmittelbarer Gefahr, vernichtet zu werden? Ganz entschieden weniger cool. Trotzdem, sosehr ich mir wünschte, ihr die Wahrheit zu sagen, ich konnte es nicht. Noch nicht.

Gestern Abend erst hatte Rae in Lyle House auf ihrem Bett gelegen und verzweifelt versucht, mit bloßen Fingern ein Streichholz zu entzünden – in der Hoffnung auf einen Beweis dafür, dass sie eine paranormale Fähigkeit besaß. Jetzt hatte sie entdeckt, dass sie ein ungewöhnlicher Typ von Halbdämon war. Das war Rae auf eine ganz besondere Art wichtig, die ich nicht ganz verstand – auf eine Art, die ich wohl einfach akzeptieren musste. Jedenfalls so lange, bis ich mehr Beweise dafür hatte, dass dies eben doch nicht das Beste war, was ihr jemals passiert war.

»Und weißt du was noch?«, fragte sie jetzt. »Sie haben mir Fotos von meiner Mom gezeigt. Meiner richtigen Mom. Keine von meinem Dad natürlich, schon klar, er ist ja ein Dämon. Irgendwie unheimlich, wenn man sich’s überlegt. Dämonen sind ja nicht gerade …« Zum ersten Mal sah ich einen Schatten von Besorgnis in ihren Augen. Sie zwinkerte, und er war fort. »Aber Dr.D. sagt, das macht einen nicht schlecht oder so was. Jedenfalls, meine Mom, ihr Name ist Jacinda. Das ist hübsch, oder?«

Ich öffnete den Mund, um zuzustimmen, aber sie redete aufgeregt weiter.

»Sie hat früher hier gearbeitet, genau wie Simons Dad. Sie haben Bilder von damals. Sie sah umwerfend aus, wie ein Model. Und Dr.D. sagt, vielleicht kriegen sie sogar raus, wo sie sie finden können, sie wollen’s versuchen. Einfach mir zuliebe.«

»Was ist mit deinen Adoptiveltern?«

Der Schatten sank wieder herab, und dieses Mal blieb er länger. Ich fühlte mich schlecht, weil ich es war, die ihr jetzt die Stimmung verdarb. Erst hatte ich Liz mitgeteilt, dass sie tot war, dann hatte ich Brady gezwungen, seinen letzten Abend noch einmal zu durchleben, und jetzt erinnerte ich Rae an ihre Eltern … ich versuchte nur, die Antworten zu finden, die uns allen helfen würden. Aber es kam mir grausam vor.

Nach einer kurzen Pause sagte Rae: »Sie sind keine Paranormalen.«

»Oh?«

»Nee, bloß Menschen.« So wie sie es sagte, bekam das Wort einen hässlichen Beigeschmack. »Sie sagen, als meine Mutter hier weggegangen ist, hat sie alle Verbindungen zu der Gruppe abgebrochen. Und irgendwie bin ich dann zur Adoption freigegeben worden. Dr.D. sagt, das muss ein Irrtum gewesen sein. Jacinda hat mich geliebt, sie hätte mich nie hergegeben. Er sagt, die Geschichte, die meine Adoptiveltern mir da erzählt haben, dass sie mich nicht hat behalten können, war gelogen, und wenn die Edison Group von der Adoption gewusst hätte, hätten sie mir Eltern so wie uns gesucht. Aber als sie mich aufgespürt hatten, war es zu spät, also konnten sie nichts weiter tun, als ein Auge auf mich zu halten. Als sie rausgefunden haben, dass ich Probleme hatte, haben sie meinen Eltern angeboten, mich kostenlos in Lyle House unterzubringen. Ich wette, es dauert Wochen, bis meine Leute auch nur merken, dass ich nicht mehr dort bin, und dann werden sie einfach bloß erleichtert sein.«

»Ich kann mir nicht vorstellen …«

»Ich war fast einen Monat lang in Lyle House. Und weißt du, wie oft meine Eltern mich besucht haben? Angerufen haben?« Aus Daumen und Zeigefinger formte sie eine Null.

»Vielleicht durften sie ja nicht vorbeikommen? Vielleicht haben sie dir Nachrichten hinterlassen, die du nie gekriegt hast?«

Sie rümpfte ihre Nase. »Warum sollte ich sie nicht gekriegt haben?«

»Weil deine Adoptiveltern keine Paranormalen sind. Wenn sie mit ins Spiel kommen, würde das die Sache komplizieren.«

Der Ausdruck in ihren Augen ließ erkennen, dass sie abschweifte, während sie überlegte. Dann flackerte ein Funken auf – die Hoffnung, dass sie sich geirrt haben könnte, dass die einzigen Eltern, die sie je gekannt hatte, sie doch nicht aufgegeben hatten. Dann ein scharfes Kopfschütteln. »Nein, ich hab ihnen Ärger gemacht, Mom war froh, dass sie mich los war.« Ihre Hände gruben sich hart in den Sitzsack, ließen wieder los und strichen die Falten glatt. »Es ist besser so. Mir geht’s besser so.«

Besser eine ungewöhnliche Halbdämonin auf der Schwelle eines neuen Lebens als ein ganz normales Mädchen, das in sein normales Leben mit seinen normalen Eltern zurückgeschickt wurde. Ich streckte den Arm aus und griff nach dem Controller.

»Wie weit warst du?«, fragte ich.

»Wieso, willst du mich herausfordern?«

»Klar.«

 

Rae und ich aßen zusammen zu Mittag. Pizza. Anders als in Lyle House schienen sie hier eher an unserer Zufriedenheit als an unserer gesunden Ernährung interessiert zu sein.

Vielleicht weil sie nicht vorhaben, uns am Leben zu lassen?

Mit Rae zu reden, zu hören, wie aufgeregt sie über all das war, hatte mir genug Distanz von dem Kummer und dem Verrat verschafft, dass ich jetzt eine sehr reale und sehr verstörende Möglichkeit erkennen konnte.

Was, wenn ich vollkommen falschlag? In jeder Hinsicht?

Ich hatte keinerlei Beweise dafür, dass die Leute hier Liz und Brady wirklich umgebracht hatten. Liz hatte »geträumt«, festgeschnallt in einer Art Krankenhauszimmer zu liegen. Ich wusste absolut nichts – sie konnte in der Nacht, in der sie sie hierher verlegt hatten, bei einem Autounfall umgekommen sein. Oder in der gleichen Nacht Selbstmord begangen haben. Oder sie hatten sie aus Versehen umgebracht, als sie versucht hatten, sie zu bändigen.

Dann sind Liz und Brady also ganz zufällig beide verunglückt, unmittelbar nachdem sie Lyle House verlassen hatten?

Okay, das war unwahrscheinlich.

Raes leibliche Mutter und Simons Dad haben sich also ganz unabhängig voneinander mit der Edison Group überworfen und sind geflohen, und beide haben ihre Kinder, die zugleich Studienobjekte der Gruppe waren, mitgenommen?

Nein, hier stimmte ganz entschieden irgendwas nicht. Ich brauchte Antworten, und die würde ich nicht finden, wenn ich eingeschlossen in meiner Zelle hockte. Außerdem hatte ich es nicht eilig damit, dieses Wesen in meinem Zimmer wiederzutreffen.

In dem Moment, in dem ich gerade noch diesen Gedanken dachte, tauchte Dr.Davidoff auf, um mich genau dorthin zurückzubringen. Als ich ihm durch den Flur folgte, suchte ich hektisch nach einem Grund, warum ich innerhalb des Gebäudes noch woandershin gehen müsste – wohin auch immer, solange ich meinem privaten Lageplan ein paar weitere Details hinzufügen konnte.

Ich erwog, um eine Unterhaltung mit Tante Lauren zu bitten. Aber dann hätte ich so tun müssen, als hätte ich ihr verziehen, dass sie mich mein ganzes Leben lang belogen und mich am Ende verraten und der Edison Group ausgeliefert hatte. Eine so gute Schauspielerin war ich einfach nicht. Und Tante Lauren war dafür einfach auch nicht dumm genug. Außerdem gab es einen Grund, dass sie gar nicht erst versucht hatte, mit mir zu reden. Sie ließ die Zeit für sich arbeiten, wartete, bis ich mich einsam fühlte und ein vertrautes Gesicht sehen wollte, bis ich mir verzweifelt wünschte, irgendeine Entschuldigung zu hören und glauben zu dürfen. Bis dahin würde sie sich fernhalten.

Aber es gab noch eine andere Person, mit der ich vielleicht reden konnte. Bei dem Gedanken bekam ich eine fast ebenso üble Gänsehaut wie bei der Vorstellung, mit Tante Lauren zu reden. Aber ich brauchte Antworten.

»Doktor Davidoff?«, sagte ich, als wir uns meiner Zimmertür näherten.

»Ja, Chloe?«

»Ist Tori auch hier?«

»Ja, das ist sie.«

»Ich habe gedacht … Ich würde sie gern sehen, einfach fragen, ob alles okay ist.«

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6

Dr. Davidoff erklärte dies zu einer »fabelhaften Idee«, hatte also offensichtlich keine Ahnung, dass ich dahintergekommen war, wer unsere Fluchtpläne verpetzt haben musste. Die zweite Hälfte des Plans, bei dieser Gelegenheit eine klarere Vorstellung von dem Gebäude zu bekommen, funktionierte nicht ganz so gut, denn es stellte sich heraus, dass Toris Zelle nur ein paar Türen von meiner entfernt war.

Dr.Davidoff öffnete mir die Tür und schloss sie dann hinter mir wieder ab. Als ich das Klicken hörte, wich ich vorsichtig zurück, bereit, beim ersten Anzeichen von Ärger zu brüllen. Bei meinem letzten Zusammensein mit Victoria Enright unter vier Augen hatte sie mich mit einem Backstein bewusstlos geschlagen, mich gefesselt und in einem pechschwarzen Kriechkeller meinem Schicksal überlassen. Insofern war es vielleicht nachvollziehbar, dass die verschlossene Zimmertür mich ein bisschen nervös machte.

Das einzige Licht im Zimmer kam von dem Wecker auf dem Nachttisch. »Tori?«

Eine Gestalt richtete sich auf der Matratze auf. Das kurze Haar bildete eine Art stachelige Aureole um ihren Kopf. »Puh. Wenn strenge Vorträge nicht helfen, versuchen sie’s mit Folter, oder was? Alles klar, ist angekommen. Sag ihnen, ich gebe auf, wenn sie dich bloß wieder wegbringen. Bitte.«

»Ich bin hergekommen, weil ich …«

»Triumphieren will?«

Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Ja klar. Ich bin hier, weil ich triumphieren will. Mich über dich halb tot lachen will, weil du hier eingesperrt bist. Genau wie ich drei Türen weiter.«

»Wenn du jetzt noch sagst ›wir stecken hier zusammen drin‹, dann kotze ich.«

»Hey, wir würden überhaupt nicht hier drinstecken, wenn du uns nicht bei den Schwestern verpetzt hättest. Nur hattest du anscheinend nicht damit gerechnet, dass sie dich auch gleich mit einsperren würden. So was nennt man Ironie des Schicksals.«

Ein Augenblick des Schweigens. Dann lachte sie kurz auf. »Du bildest dir ein, ich hätte dich verpetzt? Wenn ich gewusst hätte, dass du abhauen willst, hätte ich dir beim Packen geholfen.«

»Nicht, wenn ich zusammen mit Simon abhaue.«

Sie schwang die Beine über die Bettkante. »Ah, ich habe also in einem Anfall von rasender Eifersucht eure Pläne verraten und so dafür gesorgt, dass du und der Typ, der mich deinetwegen zurückgewiesen hat, in eine psychiatrische Anstalt gesperrt werdet? Aus welchem Film ist denn das wieder?«

»Demselben, in dem die Cheerleaderin die Neue mit einem Backstein zusammenschlägt und in einen Kriechkeller sperrt.«

»Ich bin keine Cheerleaderin.« Sie spuckte das Wort mit so viel Gehässigkeit aus, dass man hätte meinen können, ich hätte sie Flittchen genannt. »Ich hätte dich nach dem Abendessen schon wieder rausgelassen, bloß hatte unser nicht so edler Ritter dich da schon gefunden.« Sie rutschte vom Bett. »Ich hab Simon gemocht, aber kein Typ ist es wert, dass man sich seinetwegen zum Affen macht. Du willst irgendwem die Schuld geben? Guck in den Spiegel. Du bist es schließlich, die das alles ins Rollen gebracht hat. Du mit deinen Geistern. Deinetwegen haben sie Liz weggebracht, du hast Derek in Schwierigkeiten gebracht und mich auch.«

»Du hast dich selbst in Schwierigkeiten gebracht. Ich hab überhaupt nichts getan.«

»Natürlich nicht.« Sie trat näher an mich heran. Ihre Haut wirkte gelblich, und purpurne Schatten lagen unter ihren braunen Augen. »Ich hab eine Schwester, die ist genau wie du, Chloe. Das ist die Cheerleaderin, die süße kleine Blonde – wenn sie mit den Wimpern klimpert, kommt die ganze Welt angerannt. Genau wie du in Lyle House, wo Simon fast über seine eigenen Füße gefallen ist, weil er dir helfen wollte. Sogar Derek ist dir zu Hilfe gekommen …«

»Ich hab doch …«

»Gar nichts gemacht. Davon rede ich ja grad. Du kannst ja auch gar nichts machen. Du bist eine alberne, nutzlose Barbiepuppe, genau wie meine Schwester. Ich bin intelligenter, tougher, beliebter. Aber bringt das irgendwas? Nein.« Sie ragte über mir auf, fast einen Kopf größer als ich, und starrte auf mich herunter. »Alle haben es immer mit der hilflosen kleinen Blonden. Dumm nur, dass Hilflosigkeit eben nur funktioniert, wenn einer da ist, der dich rettet.«

Sie hob beide Hände. Funken stoben von ihren Fingern. Als ich zurückwich, grinste sie.