Nacht der Dämonin - Kelley Armstrong - E-Book

Nacht der Dämonin E-Book

Kelley Armstrong

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Beschreibung

Spannung und Leidenschaft in der Schattenwelt - Teil 8 der großen Mysterythriller-Serie! Hope Adams ist Boulevardjournalistin – und Halbdämonin. Das bedeutet, dass Chaos und Schwierigkeiten aller Art ihr einen beinahe erotischen Kick verleihen. Wild entschlossen, diese etwas anstrengende Gabe zum Besten der Menschheit zu nutzen, beschließt sie, eine Gruppe von blasierten paranormalen Übeltätern auffliegen zu lassen. Die Gefahr lockt sie unwiderstehlich – aber erst, als Morde geschehen, erkennt sie, dass aus dem unterhaltsamen Spiel blutiger Ernst geworden ist. Kelley Armstrongs "Women of the Otherworld" – Die packende Vorlage zur sexy Mysteryserie "Bitten". Lies jetzt weiter! Alle Bände der Otherworld-Serie: Band 1 Die Nacht der Wölfin Band 2 Rückkehr der Wölfin Band 3 Nacht der Hexen Band 4 Pakt der Hexen Band 5 Nacht der Geister Band 6 Blut der Wölfin Band 7 Lockruf der Toten Band 8 Nacht der Dämonin Band 9 Biss der Wölfin

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Seitenzahl: 667

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Kelley Armstrong

Nacht der Dämonin

Magischer Thriller

Aus dem Amerikanischen von Christine Gaspard

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Für meine Schwester Alison. [...]HopeHopeLucasHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeLucasHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeHopeLucasLucasHopeHopeLucasHopeLucasHopeLucasHopeHopeLucasLucasHopeLucasLucasHopeHopeLucasHopeHopeLucasLucasLucasLucasHopeHopeHopeLucasHopeLucasHopeLucasHopeLucasHopeHopeHopeLucasDank

Für meine Schwester Alison.

Deine Unterstützung und unbeirrbare Loyalität waren mir sehr kostbar, und sie werden höher gewürdigt, als ich mit einem gewöhnlichen »Danke« vermitteln könnte.

[home]

Hope

Luzifers Tochter

Es hatte in meinem Leben eine Zeit gegeben, da hätte mich die Vorstellung, einen Mann sterben zu sehen, mit blankem Entsetzen erfüllt. Als ich jetzt neben dem Ehrenmal stand und in dem Wissen schauderte, dass der Tod kam, fühlte ich etwas vollkommen anderes.

Nur das Wissen, dass es viel zu spät war, um zu verhindern, was gleich geschehen würde, hielt mich davon ab, eine Warnung zu brüllen, während ich dastand und mich an den kalten Marmor klammerte.

»Hast du das Geld dabei?«, fragte der erste Mann; seine Stimme klang angespannt, die Nervosität vibrierte förmlich in der Luft. Er trug Anzughosen, die ein paar Zentimeter zu lang waren und rings um die zerschrammten Kaufhausloafers den Boden berührten. Die alte Lederjacke war wegen des kalten Märzwinds geschlossen, allerdings verknöpft. Ich stellte mir vor, wie seine Finger gezittert hatten, als er hinausgerannt war zu diesem mitternächtlichen Treffen.

Der zweite Mann war ein Jahrzehnt älter und hatte die Kapuze seines Jogginganzugs dicht um das rotwangige Gesicht zugezogen. Neben ihm keuchte ein Chow-Chow; das Schnaufen erfüllte die Stille, die schwarze Zunge hing heraus, als der Hund an der kurzen Leine zerrte.

»Hast du das Geld dabei?«, wiederholte der jüngere Mann, während er sich zugleich mit einem schnellen Blick im Park umsah. Seine Nervosität hob sich scharf gegen die kalte Rage ab, die von dem zweiten Mann ausging.

»Hast du wirklich gedacht, ich zahle?«

Der ältere Mann stürzte vor. Eine Explosion von Angst, so heftig, dass meine Lider zu flattern begannen. Dann ein Keuchen, erfüllt von Entsetzen und Schmerz. Chaos rollte über mich hinweg, und das Mondlicht funkelte rot auf der Messerklinge. Der Gestank sich entleerender Eingeweide breitete sich aus, als der jüngere Mann rückwärts gegen einen schütteren Ahorn stolperte. Sekundenlang schwankte er, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt; dann sackte er am Fuß des Baums zusammen.

Der Mörder zog seinen Hund näher heran. Der Chow-Chow tanzte auf der Stelle; sein eigenes Chaos trieb an mir vorbei – Verwirrung, die gegen den Hunger ankämpfte. Der Mann stieß den Kopf des Tieres gegen die Wunde und in das dampfend hervorschießende Blut. Der Hund versuchte es mit einem vorsichtigen Lecken, dann …

Die Vision riss ab, und ich taumelte und umklammerte das Ehrenmal fester. Eine sekundenlange Pause mit fest zusammengekniffenen Augen. Dann richtete ich mich auf und blinzelte in der hellen Morgensonne.

Am Fuß des Sockels war ein improvisierter Schrein entstanden mit anderswo ausgerissenen Narzissen und Zetteln, auf die »Wir vermissen dich, Brian« und »Ruhe in Frieden, Ryan« gekritzelt war. Diejenigen, die Bryan Mills gut genug gekannt hatten, um seinen Namen richtig zu schreiben, saßen noch fassungslos zu Hause. Die Leute, die sich rings um den Schrein schluchzend in den Armen lagen, hofften ganz einfach darauf, die Aufmerksamkeit einer Fernsehkamera auf sich zu ziehen und ein paar Worte dazu sagen zu dürfen, was für ein wunderbarer Mensch »Ryan« gewesen war.

Als ich einen Bogen um den mit Absperrband gesicherten Schauplatz schlug, kam ich an der Gruppe der Möchtegerntrauernden vorbei, und das Geschluchze wurde lauter … bis sie feststellten, dass ich keine Kamera dabei hatte, woraufhin sie sich wieder ihren dampfenden Kaffeebechern widmeten und sich in der morgendlichen Kälte zusammenscharten.

Sie erkannten mich vielleicht nicht als Reporterin, aber der Polizist, der in meiner Nähe den Schauplatz bewachte, tat es; sein finsterer Blick teilte mir mit, dass ich ihn lieber nicht um einen Kommentar bitten sollte. Ich bin mir sicher, mit einem »Hey, ich weiß, wie Ihr Mordopfer umgekommen ist« hätte ich mühelos eine Unterhaltung beginnen können. Aber was hätte ich als Nächstes gesagt?

»Woher ich das weiß? Also, ich hab eine Vision gehabt. Hellseherei? Nein. Ich kann nur die Vergangenheit sehen – ein Talent, das ich von meinem Vater geerbt habe. Eigentlich eher ein Fluch, obwohl er selbst das höchstwahrscheinlich ganz anders sieht. Sie haben vielleicht schon von ihm gehört – Luzifer? Nein, nicht Satan – das ist ein vollkommen anderer Typ. Ich bin eine sogenannte Halbdämonin – ein von einem Dämonen gezeugter Mensch. Die meisten von uns haben irgendeine spezielle Fähigkeit, etwa Feuer, Telekinese oder Teleportation, ohne das dämonische Bedürfnis nach Chaos. Aber ich habe nur den Chaoshunger mitbekommen und dazu ein paar Begabungen, die mir helfen, Chaos ausfindig zu machen. Visionen von traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit zum Beispiel, was auch der Grund ist, warum ich weiß, wie das Opfer hier gestorben ist. Und ich kann chaotische Gedanken lesen, etwa den, der Ihnen gerade durch den Kopf geht, Officer. Sie überlegen sich, ob Sie unauffällig einen Krankenwagen rufen oder mich lieber vorher auf dem Boden fixieren sollten, für den Fall, dass meine psychotische Phase in Gewalttätigkeit ausartet.«

Und so blieb ich bei meinem Job – die Neuigkeiten zu notieren, nicht persönlich zu ihnen beizutragen. Ich fand eine geeignete Auskunftsquelle in dem jüngsten der anwesenden Polizisten – frisch polierte Uniformknöpfe und ein Blick, der den Kameras folgte. Seine Schultern strafften sich jedes Mal, wenn eine davon Anstalten machte, in seine Richtung zu schwenken, und sackten wieder ab, wenn die Kamera sich ein anderes Ziel suchte.

Als ich näher kam, glitt sein Blick über mich hin, und er hob den Kopf, um sein kantiges Kinn ins beste Licht zu rücken. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. Als ich das Notizbuch herausholte, strahlte das Lächeln förmlich auf, und er tat einen Schritt vorwärts, um mir den Weg abzuschneiden, bevor ich es mir anders überlegte.

»Hallo!«, sagte er. »Sie habe ich noch nie gesehen. Neu bei der Gazette?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich arbeite für die überregionale Presse.«

Seine Augen begannen zu funkeln, als er sich vorstellte, wie sein Name in der Time oder in USA Today erschien. Ich hatte in solchen Momenten immer ein etwas schlechtes Gewissen. Dabei erschien True News wirklich landesweit – es war eine Boulevardzeitung, die in den Supermärkten verkauft wurde.

»Hope Adams«, sagte ich, während ich ihm die Hand hinstreckte.

»Adams?«

»Ja, genau.«

Ich sah, wie er unwillkürlich rot wurde. »Sorry, ich … äh, ich war mir einfach nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe.«

Offenbar entsprach ich nicht dem, was der Polizist sich unter einer »Hope Adams« vorstellte. Meine Mutter war als indische Austauschstudentin an das College gekommen, an dem sie meinen Dad kennengelernt hatte. Aber natürlich war Will Adams nicht mein biologischer Vater, und Halbdämonen erben ihre äußere Erscheinung von ihren Müttern.

Während wir noch Bekanntschaft schlossen, kam plötzlich ein Mann hinter dem Grabmal hervorgetorkelt. Er spähte in alle Richtungen, sein Blick wirkte hektisch hinter den grün getönten Brillengläsern. Als er uns entdeckte, kam er auf uns zu. Ein schwarzer Fingernagel stach in unsere Richtung.

»Sie haben ihn erwischt, richtig?«

Die Hand des Polizisten glitt zum Gürtel. »Sir, ich muss Sie bitten zurückzutreten …«

»Oder?« Der Mann kam wenige Zentimeter vor dem Polizeibeamten zum Stehen. Er schwankte leicht. »Sonst erschießen Sie mich? So wie Sie ihn erschossen haben? Nehmen mich auch mit? Um mich zu studieren? Zu sezieren? Und dann bestreiten Sie alles?«

»Wenn Sie von dem Opfer sprechen …«

»Ich rede von dem Werwolf.«

Der Polizist räusperte sich. »Es … äh, es handelt sich nicht um einen Werwolf. Das Opfer wurde …«

»Gefressen!« Der Mann beugte sich vor; Speichel sprühte. »Zerrissen und aufgefressen! Überall Spuren. Dieses Mal können Sie das nicht vertuschen.«

»Ein Werwolf?«, fragte eine Frau im Vorbeigehen. Dann kam sie näher. »Das hab ich auch schon gehört.«

Der Polizist schickte ein winziges »Glaubt man das?«-Lächeln in meine Richtung. Ich gab mir alle Mühe, es zu erwidern. Ich glaubte es – dass die Leute glaubten, hier sei ein Werwolf am Werk gewesen. Das war schließlich der Grund dafür, dass True News die Frau fürs Abgedrehte geschickt hatte, um der Geschichte nachzugehen. Und was die Werwölfe selbst anging, an die glaubte ich auch – obwohl ich schon vor der Vision gewusst hatte, dass dies keiner von ihren Morden war.

»Tut mir leid«, sagte der Polizist, als er den Verschwörungstheoretiker schließlich losgeworden war.

»Werwölfe? Ich frage mich, wo dieses Gerücht hergekommen ist?«

»Die Teenager, die die Leiche gefunden haben, bekamen einen Riesenschreck, als sie überall die Hundespuren sahen, und sie haben im Netz was von Werwölfen geschrieben. Ich habe keine Ahnung, was der Hund mit der ganzen Mordsache zu tun hat.«

In Gedanken formulierte ich bereits meinen Artikel. Auf die Frage nach den Werwolfgerüchten musste ein Polizeibeamter am Schauplatz zugeben, dass er für die Kombination aus Menschen- und Hundespuren keine Erklärung hat. Das ist der Trick, wenn man für eine Boulevardzeitung schreibt: Man nimmt sich die Tatsachen vor und knetet sie zurecht, deutet an, suggeriert, unterstellt … So lange niemand dabei ungerechtfertigterweise gedemütigt wird und keine Quellen genannt werden, habe ich keine Probleme damit, meinen Lesern die Unterhaltung zu liefern, die sie wollen.

Auch Karl hätte das Ganze amüsiert. Hätte man mich vor ein paar Monaten auf diese Geschichte angesetzt, hätte ich begierig auf seinen nächsten Anruf gewartet, um dann sofort sagen zu können: »Hey, ich hab hier eine Werwolfgeschichte. Kann ich von dir ein Statement kriegen?« Er hätte irgendeinen bissigen Kommentar abgegeben, und ich hätte mich auf dem Sofa zusammengerollt in Erwartung eines langen Telefongesprächs, hätte mir eingeredet, dass es einfach nur Freundschaft war, dass ich niemals dumm genug sein würde, mich mit Karl Marsten einzulassen. Reiner Selbstbetrug natürlich. In dem Augenblick, in dem ich ihm gestattet hatte, die Grenze zwischen Freundschaft und etwas anderem zu überschreiten, hatte ich mir die Finger verbrannt … und es war genau so schmerzhaft gewesen, wie ich immer befürchtet hatte.

Ich schob die Erinnerungen an Karl zur Seite und konzentrierte mich auf die Story. Der Polizist hatte gerade etwas über die Identität der Teenager herausgelassen, die die Leiche gefunden hatten – offenbar zwei Mädchen, die in der 7-Eleven-Filiale an der Ecke arbeiteten –, als sich schlagartig Wolken vor die Sonne schoben und den hellen Tag zur Dämmerung machten. Ein Donnerschlag dröhnte, und ich ließ meinen Kugelschreiber fallen. Als der Polizist sich bückte, um ihn aufzuheben, warf ich einen schnellen Blick in die Runde. Niemand sah zum Himmel hinauf oder versuchte hastig ein Dach zu finden. Alle Welt machte gelassen mit dem weiter, was sie gerade tat.

Auch der Polizist redete weiter, aber ich konnte ihn über dem Donnergrollen kaum verstehen. Ich biss die Zähne zusammen und wartete darauf, dass die Vision zu Ende ging. Ein aufziehender Sturm? Möglich, wenn er genug Zerstörungspozential hatte, um sich als chaotisch zu qualifizieren. Aber ich vermutete eher, dass die Ursache ein Tempestras war – ein Sturm-Halbdämon. Eine der Nebenwirkungen meiner Gabe war es, dass ich andere Paranormale an ihren chaotischen Kräften erkennen konnte.

Ich warf nochmals einen verstohlenen Blick in die Runde und entdeckte eine Person, die ich zuvor nicht bemerkt hatte: einen dunkelhaarigen Mann, mindestens einen Meter neunzig groß, mit dem Körperbau eines Linebacker, den ein maßgeschneiderter Anzug nur notdürftig verbarg.

Er schien zu mir herüberzusehen, aber hinter seiner dunklen Sonnenbrille war dies nicht mit Sicherheit zu sagen. Dann schob er die Brille nach unten. Blassblaue Augen fingen meinen Blick auf, und er senkte zur Begrüßung kurz das Kinn, bevor er zu uns herüberkam.

»Ms. Adams? Auf ein Wort, wenn es Ihnen recht ist?«

[home]

Hope

Der Pate

Ich versuchte, mögliche chaotische Schwingungen aufzufangen, und spürte nichts. Nichtsdestoweniger hatte ich, wenn ein riesiger halbdämonischer Fremder mich ein paar hundert Meilen von zu Hause entfernt aufspürte, wahrscheinlich Grund zur Nervosität.

»Gehen wir doch da rüber!«

Er deutete zu einem stillen Fleck unter einer Ulme. Als wir sie erreicht hatten, schauderte er und sah hinauf in das dichte Astgewirr.

»Nicht gerade der wärmste Platz hier«, bemerkte er. »Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass es der einzige ruhige Ort im ganzen Park ist. Keine Sonne.«

»Aber das könnten Sie ja ändern.«

Ich wartete auf den Widerspruch, aber stattdessen bekam ich ein Grinsen, das die Kälte der eisblauen Augen schmelzen ließ.

»Na, das ist mal eine praktische Begabung. Die könnte ich bei meinem Job auch brauchen.«

»Und der ist?«

»Troy Morgan«, sagte er gleichsam als Antwort. »Mein Boss würde gern mit Ihnen reden.«

Bei dem Namen fiel mir auch der Rest wieder ein. Benicio Cortez’ persönlicher Leibwächter.

Ich folgte Troys Blickrichtung zu einem Auto, das mit laufendem Motor in fünfzehn Meter Entfernung stand. Ein weißer Geländewagen mit dem Cadillac-Emblem auf den Radkappen. Neben dem Wagen stand ein dunkelhaariger Mann, der als Troys Zwillingsbruder hätte durchgehen können. Wenn beide Leibwächter von Benicio Cortez anwesend waren, dann bestand kein Zweifel, wer hinter den getönten Scheiben im Auto saß.

Plötzlich lag mir mein hastig hinuntergeschlungenes Frühstück wie ein Stein im Magen.

»Wenn es um das da geht« – ich schwenkte den Arm in Richtung Mordschauplatz –, »dann können Sie Mr. Cortez sagen, es handelt sich hier nicht um einen Werwolf, und somit …« Ich unterbrach mich. »Es geht gar nicht um das Werwolfgerücht, oder?«

Troy schüttelte den Kopf. Was aber hätte Benicio Cortez sonst für einen Grund haben können, von Miami her einzufliegen, um mit einem halbdämonischen Niemand zu reden? Den, dass ich ihm etwas schuldete. Jetzt wurde das Bagel in meinem Magen zu Blei.

»Okay«, sagte ich, während ich auf mein Notizbuch zeigte. »Ich bin hier gerade mitten in einer Story, aber ich könnte mich in, sagen wir, einer Stunde mit ihm treffen …« Ich sah mich nach einem Café um.

»Er muss aber jetzt mit Ihnen reden.«

Troys Stimme war ruhig, geradezu sanft, aber sie hatte einen metallischen Klang, der mir signalisierte, dass ich keine Wahl hatte. Benicio Cortez wollte mit mir reden, und es war Troys Aufgabe, ihm dies zu ermöglichen.

Ich sah zu dem Schauplatz hinüber. »Kann ich noch ein paar Minuten haben? Wenn ich noch mit einem einzigen Zeugen rede, habe ich genug für den Artikel …«

»Darum wird Mr. Cortez sich kümmern.«

Er berührte mich am Ellbogen; sein Blick hielt meinen fest, mitfühlend, aber unnachgiebig. Als ich mich immer noch sträubte, beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Er würde gern im Auto mit Ihnen reden, aber wenn Ihnen ein öffentlicher Ort lieber wäre – das könnte ich arrangieren.«

Ich schüttelte den Kopf, schob das Notizbuch in die Tasche und gab ihm zu verstehen, er solle vorangehen.

 

Als ich an den Bordstein trat, pflügte ein vorbeifahrendes Auto durch eine Pfütze aus halb geschmolzenem Schnee und schleuderte eine Wolke von Matsch zur Seite. Ich machte einen Satz nach hinten, aber sie erwischte mich trotzdem noch; eisige Tropfen sprenkelten meinen Rock und die Strümpfe, rutschten mir an den Beinen hinunter und landeten in meinen Schuhen. Das war es dann wohl gewesen mit dem präsentablen Äußeren.

Ich rieb mir die Arme und redete mir ein, dass die Gänsehaut auf die Dusche zurückging und nicht auf die Furcht vor einer Begegnung mit Benicio Cortez. Ich war in Gesellschaftskreisen aufgewachsen – einen Hauptgeschäftsführer kennenzulernen hätte mich nicht weiter nervös machen sollen. Aber die Cortez Corporation ist nicht einfach irgendein Name aus der Fortune-500-Liste.

Eine »Kabale« sieht nach außen hin aus wie jedes andere multinationale Unternehmen, aber ihre Eigentümer und leitenden Angestellten sind Paranormale, und die spezifischen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter geben ihr einen Vorteil der Konkurrenz gegenüber. Diesen Vorteil nutzt die Kabale zu den verschiedensten Zwecken – von legitimen (dem Schutz ihrer Tresorräume mittels Magierformeln) über ethisch zweifelhafte (schamanische Astralprojektion zum Zweck der Industriespionage) bis zu verabscheuungswürdigen (etwa der Ermordung eines Konkurrenten durch einen teleportierenden Halbdämon).

Ich hatte zwei Jahre lang für die Cortez-Kabale gearbeitet. Unwissentlich. Angeheuert hatte mich Tristan Robard, den ich für einen Repräsentanten des paranormalen Rates gehalten hatte, und er hatte mich auch bei True News untergebracht. Meine Aufgabe dort war es, ein Auge auf paranormale Geschichten zu haben, die echten davon herunterzuspielen oder ganz aus der Presse zu halten und alles Beunruhigende dem Rat zu melden. Bald half ich dem Rat auch dabei, Paranormale aufzuspüren, die sich nicht an die Regeln hielten.

Es war eine perfekte Methode gewesen, meinen Hunger nach Chaos zu befriedigen, ohne dass ich ein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Es könnte einem dabei der Ausdruck »zu gut, um wahr zu sein« einfallen, aber ich war damals in einer sehr üblen Verfassung gewesen: depressiv, wütend, ratlos. Wenn man so weit unten ist und jemand einem die Hand hinstreckt, um einem wieder nach oben zu helfen, dann greift man danach und stellt keine Fragen.

Dann hatte ich meinen bis dahin schwierigsten Auftrag bekommen. Ich sollte bei einer Museumsgala einen werwölfischen Juwelendieb erwischen. Ich war unglaublich stolz auf mich gewesen … bis der Werwolf, Karl Marsten, mir die rosa Brille von der Nase geschlagen und mir gezeigt hatte, dass ich in Wirklichkeit die ganze Zeit für die Cortez-Kabale gearbeitet hatte. Als wir dem Schlamassel mit Mühe und Not entkommen waren, hatte sich eine sehr unerwartete Partei der Aufräumarbeiten angenommen: Benicio. Es stellte sich heraus, dass meine Tätigkeit eine eigenmächtige und geheime Maßnahme vonseiten Tristans gewesen war und sein Vorgehen gegen Karl ein rein persönlicher Akt. Zur Wiedergutmachung hatte Benicio die Leichen verschwinden lassen und Karl die nötige ärztliche Versorgung verschafft.

Dafür standen wir jetzt in seiner Schuld. Bisher hatte ich mir deshalb nie Gedanken gemacht, denn schließlich war ich ja nicht die alleinige Schuldnerin. Karl war professioneller Dieb und eigentlich in der Lage, mich bei jedem Halbweltauftrag anzuleiten, den Benicio uns übertragen würde.

Aber jetzt war Benicio da, um die Schuld einzutreiben, und Karl war nicht in Reichweite, um mich zu schützen.

 

Mein Rock machte ein obszönes Quietschgeräusch, als ich mich auf das Lederpolster des Geländewagens schob. Wenn der Mann im Inneren es gehört hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken – er streckte lediglich eine Hand aus, um mir zu helfen.

Als die Tür geschlossen wurde, verstummte das Dröhnen des morgendlichen Berufsverkehrs. Nur murmelnder Calypso-Jazz war noch zu hören, so leise, dass ich mir Mühe geben musste, die Musik auch nur wahrzunehmen. Auch der Geruch nach Auspuffgas war wie ausgelöscht; stattdessen roch ich kalten Rauch.

»Zigarre«, erklärte der Mann, als er mein unwillkürliches Naserümpfen bemerkte. »Kubanisch, wobei der Preis den Geruch nicht angenehmer macht. Ich habe einen Nichtraucherwagen angefordert, aber bei den besseren Leihwagen bilden die Leute sich ein, wenn sie nur genug zahlen, können sie tun, was sie wollen.«

Benicio Cortez. Er hatte wenig Ähnlichkeit mit dem einzigen anderen Cortez, den ich kannte: seinem jüngsten Sohn Lucas. Benicio war über sechzig, wahrscheinlich nicht über einen Meter fünfundsiebzig groß, untersetzt und mit einem breiten Gesicht. Nur die Augen erinnerten mich an seinen Sohn – es waren schöne Augen, groß und dunkel. Der Typ Mann, den man ohne weiteres bitten würde, einem kurz die Handtasche zu halten oder den kleinen Sohn zum Herrenklo zu begleiten. Ich möchte wetten, dieser Eindruck konnte sehr nützlich sein, wenn er einem erklärte, wie gut er verstehen könne, dass man den seit drei Generationen in der Familie befindlichen Betrieb nicht verkaufen wolle … während er zugleich einem Feuerdämon die Nachricht schickte, er möge den Laden bitte abfackeln, bevor die Besitzer von dem Geschäftsessen zurückkamen.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir fahren?«, fragte er. »Wenn wir noch lang hier stehen bleiben, werde ich versuchen müssen, mich um einen saftigen Strafzettel herumzureden.«

Ich war mir sicher, dass Benicio Cortez mehr als genug Bargeld dabei hatte, um den Strafzettel zu bezahlen. Nun könnte man anführen, dass kein Paranormaler gern mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als unbedingt nötig, aber ich hatte den Verdacht, dass er meine Nerven testen wollte … oder vielleicht auch meine Naivität – herausfinden, ob ich mich von ihm auf eine Fahrt mit unbekanntem Ziel mitnehmen lassen würde.

Ich sagte: »Wenn Sie an der Ampel links abbiegen, stoßen Sie auf eine Baustelle, dort können Sie in aller Gemächlichkeit um den Block fahren.«

»Wunderbar. Danke.«

Ein Knopfdruck, und die Trennscheibe glitt summend nach unten. Als Benicio dem Fahrer Bescheid sagte, öffnete sich die Beifahrertür, und Troy stieg ein. Der zweite Leibwächter blieb zurück, wie um den Halteplatz seines Arbeitgebers zu bewachen.

Benicio fuhr die Scheibe wieder hoch, griff zwischen die Sitze und holte eine Thermosflasche heraus.

»Noch ein Nachteil der Leihwagen«, sagte er. »Keine Getränke im Auto. Ich fürchte, ich bin verwöhnt. Ich habe dies im Jet brauen lassen und kann Ihnen versichern, er ist ausgezeichnet, auch wenn der Behälter vielleicht wenig einladend aussieht.« Ein etwas schiefes Lächeln, als er die zerbeulte militärgrüne Thermosflasche hob. »Hässlich, aber sie erfüllt ihren Zweck besser als jede andere, die ich gesehen habe.«

Der Vakuumverschluss knackte; duftender Dampf breitete sich im Auto aus.

»Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Sie bei der Arbeit unterbrochen habe.« Er reichte mir einen weißen Porzellanbecher. »Es war kein Ratsprojekt, oder? Meine Schwiegertochter wäre gar nicht begeistert.« Lucas war mit Paige Winterbourne verheiratet, der Hexendelegierten des paranormalen Rates.

»Ich war nicht für den Rat dort«, antwortete ich. »Aber der Rat wird einen Bericht haben wollen, und mein Herausgeber will einen Artikel; ich muss also wieder hin, bevor meine Quellen sich davongemacht haben.«

Er füllte meinen Becher und goss sich selbst Kaffee nach.

»Ich fühle mich immer noch verantwortlich für die Schwierigkeiten, die Sie und Karl mit Tristan hatten«, sagte er schließlich. »Ich hätte über seine Aktivitäten Bescheid wissen sollen. Als Entschädigung möchte ich Ihnen und Karl eine Tätigkeit anbieten – eine vorübergehende selbstverständlich –, die Ihren Talenten in ungewöhnlichem Maß entgegenkommt. Natürlich würde diese Tätigkeit honoriert werden, und ich glaube, sie würde Ihnen zugleich sehr wertvolle Kenntnisse vermitteln, die Sie bei Ihrer Arbeit für den Rat brauchen können. Ich hatte gehofft, zuerst mit Karl zu sprechen, aber ich weiß nicht, wie ich ihn kontaktieren kann.«

Sein Blick richtete sich auf mich.

»Ich habe seine Nummer auch nicht«, log ich und fügte dann etwas hinzu, das der Wahrheit entsprach. »Aber er ist sowieso in Europa. Auf unbestimmte Zeit.«

»Unbestimmt?«

»Hat er jedenfalls gesagt.«

»Wie lästig.« Er trank einen langen Schluck Kaffee. »Haben Sie Erfahrung damit, in Straßengangs zu ermitteln, Hope?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Aber Sie verstehen sicherlich das Prinzip – Gruppen von jungen Leuten in einem Alter, in dem sie das Bedürfnis nach Zugehörigkeit haben und ihre Macht erproben wollen. Als junge Paranormale haben Sie vermutlich ein gewisses Verständnis dafür, wie das ist.«

Ich sagte nichts und wartete stattdessen darauf, dass er zur Sache kam.

»Wir erziehen unsere Kinder dazu, ihre Kräfte zu verbergen und sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen, was ihnen nicht immer leicht fällt. Manche schließen sich zu kriminellen Banden zusammen – meist sind es Jungen und junge Männer, vom Teenageralter bis etwa Mitte zwanzig, dem Alter, in dem ihre Kräfte sich voll entwickelt haben. Sie sind besser organisiert als menschliche Gangs – zielgerichteter und weniger auf beiläufige Gewalttätigkeit aus, obwohl sie Gewalt durchaus einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen.«

Es hörte sich an wie die Jugendorganisation einer Kabale.

»Diese Gangs tauchen vor allem in Kabalenstädten auf, weil die Konzentration von Paranormalen dort höher ist und weil sie wissen, dass wir ihre Aktivitäten ein Stück weit decken, um uns selbst zu schützen. Wir könnten diese Gruppen auflösen, aber wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es vernünftiger ist, sie unter Aufsicht gewähren zu lassen. Sie können ihre rebellische Phase ausleben, und wenn sie sich später dann nach einer Stelle umsehen …«

»Sind die Kabalen in Reichweite.«

Er nickte. »Das Problem dabei ist, gelegentlich geht ihnen die Geduld mit uns aus. Eine bestimmte Gang – eine außergewöhnlich gut organisierte Gruppe in Miami – hat in letzter Zeit für Unruhe gesorgt. Ich muss herausfinden, was sie vorhaben.«

»Und deshalb wollen Sie sie infiltrieren lassen. Sie brauchen einen jungen Paranormalen mit Erfahrung in der verdeckten Arbeit und zugleich ein in unserer Gemeinschaft noch unbekanntes Gesicht. Und dafür käme ich in Frage.«

Noch während ich sprach, spürte ich, wie mein Herzschlag schneller wurde bei dem Gedanken daran, wie man es anstellen könnte, wie viel ich lernen würde, wie viel Spaß ich haben würde. Und diese letzte Überlegung veranlasste mich, instinktiv auf die Bremse zu treten. Ich stellte mir hier gerade vor, wie es sein würde, all das kriminelle Chaos zu genießen, auf vollkommen untadelige Art, denn hey, ich führte schließlich nur einen Auftrag aus, beglich meine Schulden, half vielleicht sogar dabei, eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen der Gang und der Kabale zu verhindern …

Wenn ich jedoch schuldfreies Chaos wollte, würde ich bei meiner Arbeit für den Rat bleiben müssen. Dort wusste ich, dass ich für die richtige Seite arbeitete.

»Ich habe noch nie wirklich undercover gearbeitet«, sagte ich. »Wahrscheinlich könnte ich eine Kandidatin für eine Gang nicht mal spielen. Mein persönlicher Hintergrund …«

»Ich kenne Ihren persönlichen Hintergrund, Hope, und wir würden ihn natürlich berücksichtigen. Sie würden eine Variante Ihrer selbst spielen. Mit Karls Unterstützung könnten Sie dies ohne weiteres durchziehen.«

»Ich verstehe noch nicht so ganz, welche Rolle Karl bei alldem spielen würde. Er geht mit Sicherheit nicht mehr als Collegestudent durch.«

»Nein, aber er könnte Sie schützen.«

»Ich kann chaotische Gedanken lesen. Ich habe vielleicht keine Werwolfkräfte, aber wenn jemand vorhat, gleich eine Schusswaffe auf mich zu richten, dann merke ich es.«

»Sie würden vielleicht einmal in ein Büro oder eine Wohnung einbrechen müssen …«

»Die Grundlagen hat Karl mir beigebracht.«

Benicio lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Vielleicht würden Sie ihn dann also gar nicht brauchen. Das würde die Sache mit Sicherheit einfacher machen. Ich verliere ungern die Zeit, die nötig wäre, ihn zu finden und zurückzuholen.«

»Nein, ich … ich habe damit nicht gemeint, dass ich es machen will.«

Benicio zog beide Augenbrauen hoch, als wollte er fragen: Was haben Sie denn dann gemeint? Die Ausflüchte lagen mir bereits auf der Zunge, aber der Dämon in meinem Blut flüsterte: »Warum nicht? Du schuldest ihm was. Bring’s hinter dich.«

Ich stellte das Gefäß in den Becherhalter. »Nein. Es tut mir leid. Ich bin sehr geschmeichelt, dass Sie mich dafür in Betracht ziehen, aber es sieht so aus, als bräuchten Sie Ihre Agentin gleich jetzt und hier, aber ich habe nächste Woche eine Weiterbildung anstehen …«

»Bis dahin wären Sie wieder zu Hause. Wir fliegen jetzt gleich nach Miami, Sie machen die Initiationsprüfung heute Nachmittag und sind heute Abend Mitglied der Gang.«

Heute Abend Mitglied … Ich leckte mir über die trockenen Lippen; dann schluckte ich und brachte ein Auflachen zustande. »Heute? Damit ist die Sache leider entschieden. Ich kann heute unmöglich weg. Heute Abend soll ich wieder in Philly sein mit meiner Story …«

Mein Blick fiel auf einen Laster, der uns überholte. Wir waren auf einer vierspurigen Hauptstraße.

»Wo sind wir? Ich habe gesagt, einmal um den Block …«

»Mein Fahrer nimmt eine längere Route, damit wir etwas mehr Zeit zum Reden haben.«

Ich zögerte, aber schließlich hatte er seinen zweiten Leibwächter beim Park zurückgelassen, was wahrscheinlich bedeutete, dass er mich in diesem Moment nicht gerade kidnappte.

»Was Ihren Artikel angeht«, sagte Benicio, »so habe ich bereits meine Leute drangesetzt. Sie werden Ihnen alles liefern, was Sie brauchen, um ihn zu schreiben. Danach können Sie bei True News anrufen und ihnen sagen, dass Sie im gleichen Zusammenhang einer größeren Story auf der Spur sind – für die ich Ihnen ebenfalls das Material liefern kann.«

Ich zupfte an meinem durchweichten Rocksaum herum und sagte nichts.

»Und was Karl betrifft«, fuhr er fort, »steht es Ihnen frei, diesen Auftrag ohne ihn zu erledigen. Aber ich bestehe darauf, Lucas und Paige zu benachrichtigen, sodass Sie mit ihnen reden und alle Bedenken zur Sprache bringen können, die Sie möglicherweise haben. Ich arrangiere dies nicht hinter dem Rücken meines Sohns. Wenn er nach Miami kommen und das Projekt selbst beaufsichtigen will, wäre er mir sehr willkommen.«

Mir gingen die Ausflüchte aus. Ich hätte ganz einfach sagen sollen: Tut mir leid, aber ich will den Auftrag nicht. Aber ich brachte die Lüge nicht über die Lippen.

Ganz gleich wie Benicio es formulierte, ich schuldete ihm etwas – und auch wenn er selbst niemals von einer Schuld sprechen würde, es lieferte ihm eine Entschuldigung, mir weiterhin »Angebote« zu machen. Dies würde mir die ideale Gelegenheit bieten, die Verpflichtung loszuwerden, die wie eine schwarze Wolke über mir hing. Eine Woche oder weniger, ab sofort; für alle Eventualitäten war vorgesorgt, und Lucas und Paige waren dabei, was mir die Gewissheit gab, dass die Sache rechtens war. Und ich würde auf diese Art nicht nur meine Verbindung zu Benicio loswerden, sondern auch das Letzte, was mich mit Karl verband – die gemeinsame Verpflichtung Benicio gegenüber.

Zudem würde es mir die Gelegenheit liefern, die ich brauchte, um mich selbst auf die Probe zu stellen. Vor einem Jahr hatte ich eine Erfahrung gemacht, die mir immer noch Alpträume verursachte. Ich war in eine Situation geraten, in der das Chaos nur so brandete; ich hatte eine Freundin in Gefahr gesehen, und eine Sekunde lang hatte ich das Bedürfnis verspürt, mich einfach herauszuhalten und die Situation zu genießen. Ich musste meine Grenzen kennenlernen und sie erweitern, lernen, wie ich mit ihnen umgehen konnte.

Ich wandte mich Benicio zu. »Ich mach’s.«

[home]

Lucas

1

Manchen Leuten ist nicht mehr zu helfen. Sie haben sich selbst eine Grube gegraben, bei der kein Seil mehr lang genug ist, um sie herauszuziehen, und in solchen Fällen muss ich sagen: »Es tut mir leid. Es gibt nichts, das ich da tun könnte.«

Ich hatte die Akte des Schamanen auf dem Schreibtisch liegen, seine Telefonnummer stand darauf, ich konnte ihm also mitteilen, dass ich ihn in seiner Auseinandersetzung mit der Nast-Kabale nicht vertreten würde. Aber ich verabscheute es, nein zu sagen, und so sortierte ich stattdessen Büroklammern. Ich sortierte sie erst der Größe und dann der Farbe nach, während ich auf das Klicken von Paiges Tastatur lauschte, das von der anderen Seite der Trennwand her zu mir herüberdrang.

Warum hatten wir eigentlich so viele verschiedene Büroklammern, obwohl der größte Teil der Schreibarbeit elektronisch erledigt wurde? Lag es einfach daran, dass ein Büro ohne Büroklammern undenkbar war? Oder dienten sie einem höheren Zweck – ein Spielzeug, mit dem man sich beschäftigen konnte, wenn man eigentlich hätte arbeiten sollen?

Ich wischte die Klammern zur Seite. Die Sache hinauszuschieben würde sie nicht einfacher machen.

Als ich gerade nach dem Telefon griff, leuchtete das Lämpchen für den externen Anschluss auf. Rettung in letzter Minute – das Klingeln hallte zwei Mal durch den stillen Flur, bevor ich ein verschlafenes »Guten Morgen. Cortez-Winterbourne Investigations« zu hören bekam. Savannah, unsere achtzehnjährige Pflegetochter und zeitweise Büroassistentin.

Ich wartete darauf, dass entweder mein Apparat oder der von Paige zu klingeln begann, aber das Lämpchen blinkte weiter. Wenn es für Adam war, dann müsste Savannah mittlerweile klar sein, dass er nicht da war. Wenn wir nicht gerade etwas Aufregendes zu erledigen hatten, tauchte er nicht vor halb zehn auf.

Savannah erschien in der Tür. »Der Anruf ist für Sie, Sir«, sagte sie mit einem Knicks.

Ein tiefer Seufzer flatterte von der anderen Seite der Trennwand herüber.

»Hey, er hat gesagt, ich müsste meinen Sekretärinnenpflichten in einem ›förmlicheren‹ Stil nachkommen.«

»Er hat ›Geschäftsstil‹ gesagt«, antwortete Paiges körperlose Stimme.

»Irgend so was halt.«

Savannah kam auf mich zugestiefelt und setzte sich auf die Schreibtischkante, wobei sie sich den Rock über die Knie hochschlug. Es war ein schwieriges Unterfangen gewesen, sie aus ihren Jeans herauszubekommen, aber die Eitelkeit hatte gesiegt, als ihr aufgegangen war, dass die Bürokleidung ihr stand. Mittlerweile fühlte sie sich wohl in den Sachen und in ihrer Rolle. Zu sehr, wie wir fürchteten.

Als Savannah beschlossen hatte, sich nach der Highschool ein Jahr freizunehmen und für uns zu arbeiten, waren wir davon ausgegangen, dass sie sich begeistert fürs College entscheiden würde, sobald sie erlebt hatte, wie langweilig der Büroalltag sein konnte. Aber der Abgabetermin für die Bewerbung rückte näher, und die Formulare lagen unberührt auf ihrer Kommode.

Als ich nach dem Hörer griff, sagte sie: »Übrigens, es ist dein Dad.«

Mein Magen vollführte den vertrauten Purzelbaum. Paige spähte um die Trennwand herum, grüne Augen und ein skeptischer Mund, gerahmt von langem dunklem Haar. Sie scheuchte Savannah in den Gang hinaus, folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Beider Schritte entfernten sich den Flur entlang, bis ich mit dem Summen des Computers und dem blinkenden Lämpchen allein war.

Ich griff nach dem Wasserglas und trank einen großen Schluck. Das Wasser war von gestern – lauwarm und abgestanden. Ich nahm einen zweiten Schluck und ging dann ans Telefon. »Guten Morgen, Papá.«

»Lucas. Dies ist doch nicht zu früh, oder?«

»Ich bin schon seit acht da.«

»Gut, gut. Wie geht es Paige?«

Und in diesem Stil ging es noch fünf Minuten lang weiter. Wie ging es Paige? Wie ging es Savannah? Wie gingen die Geschäfte? Bewährte sich das neue Büro? Ich hatte keinerlei Einwände dagegen, Konversation mit meinem Vater zu machen, aber ich wusste genau, dass dies lediglich die Einleitung zu etwas weniger Erfreulichem war. Er hatte um Punkt neun Uhr pazifischer Zeit angerufen – zur frühesten vertretbaren Uhrzeit. Das konnte bedeuten, dass es wichtig war, oder lediglich, dass er bei mir diesen Eindruck erwecken wollte. Bei meinem Vater war beides gleich wahrscheinlich, und beides bot Anlass zur Besorgnis.

»Der Grund für den Anruf …«, begann er schließlich.

»Ja, Papá?«

»Es geht um Hope Adams. Ich habe ihr einen einwöchigen Arbeitsauftrag angeboten – sie soll sich eine ortsansässige Gang ansehen – und sie hat angenommen.«

Er sprach weiter, erklärte die genauen Umstände in sehr viel mehr Details, als notwendig waren, sorgte dafür, dass die eigentliche Botschaft ankam: Er wolle nichts vor mir verbergen, was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass er es tat.

»Hat dies etwas mit dem Gefallen zu tun, den Hope und Karl dir schulden?«, erkundigte ich mich.

»Sie schulden mir absolut nichts, Lucas. Ich habe das schon einmal gesagt. Dies ist ein eigenständiges Projekt.«

»Und Hope fühlt sich in keiner Weise verpflichtet oder unter Druck gesetzt?«

»Nicht im Geringsten. Sie sitzt mit mir hier im Flugzeug. Wenn du möchtest, kannst du gern mit ihr reden.«

Ich schnippte eine vereinzelte Büroklammer auf den Haufen zurück. »Das Ganze klingt sehr plötzlich. Ich habe gar nichts von Rebellionsversuchen unabhängiger Gangs gehört.«

»Es ist bisher eine kleine Organisation, aber sie sind da, und dies ist ein Problem, das man am besten im Keim erstickt.«

»Vor allem dann, wenn dieses Im-Keim-Ersticken zugleich eine Gelegenheit darstellt, eine junge Expisco-Halbdämonin unter die Lupe zu nehmen, ihre Kräfte kennenzulernen und ihr die Vorteile einer Kabalenanstellung nahezubringen?«

Er lachte. »Ich werde jetzt nicht behaupten, dass ich Hope nicht liebend gern einstellen würde. Aber ich werde mich hüten, sie dem Rat abspenstig machen zu wollen.«

»Vielleicht solltest du dann besser mit Paige reden. Sie ist die Delegierte, also ist sie auch diejenige, die in diesem Fall informiert werden …«

»Das ist genau das, was du hoffentlich tun wirst.«

Es gab keinen Grund, dies über mich zu erledigen – sein Verhältnis zu Paige war sogar sehr gut. Was wollte er also wirklich?

»Machst du dir Sorgen wegen diesem Job, Lucas?«, fragte er nach einer kurzen Pause.

»Ehrlich gesagt, ja. Hope ist eine fähige junge Frau, aber dies könnte sich zu einer gefährlichen Situation auswachsen, vor allem wenn sie ohne Karls Rückhalt arbeitet.«

»Karl dabeizuhaben wäre natürlich ideal gewesen, aber er ist nicht greifbar, also …« Er machte eine Pause. »Ich weiß. Warum kommt ihr nicht einfach nach Miami, Paige und du? Erledigt das, was ihr heute zu erledigen habt, und ich schicke euch heute Abend den Jet. Dann könnt ihr Hope unterstützen und direkt ein Auge auf die Dinge haben.«

Ich rieb mir den Nasenrücken und schob zugleich die Brille nach oben. Ich war geradewegs hineingelaufen.

Mein Vater hatte derlei schon bei früheren Gelegenheiten getan – angerufen und mir einen Fall präsentiert, dem meine Beteiligung hätte »zugutekommen« können. Und wenn ich mich darauf einließ, würde er mich während meines Aufenthalts in Miami pausenlos drängen, an Vorstandssitzungen teilzunehmen, ihn zu Abendessen mit Geschäftspartnern zu begleiten, meine Meinung über die neuesten Änderungen in der Organisationsstruktur abzugeben … alles, um mich in das Kabalendasein zu integrieren.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte ich. »Du wirst ihr ja sicherlich einen direkten Zugang zur Sicherheitsabteilung der Kabale geben. Ich kann ihre Arbeit auch von hier aus verfolgen.«

»Für den Fall, dass du es dir noch anders überlegst …«

»Sage ich dir Bescheid. Und wenn du mir einen Moment geben könntest, damit ich Paige dazuholen kann – wir würden wirklich gern mit Hope reden.«

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Hope

Troll-Romeo

Wenn Lucas die Situation beunruhigend fand, hörte ich in seiner Stimme jedenfalls keinen Hinweis darauf. Er war ganz der Lucas, den ich kannte: ruhig und ernst, so sorgfältig in der Wortwahl, als spräche er vor Gericht.

Lucas bestätigte alles, was sein Vater mir bereits über die Gangs erzählt hatte. Er versicherte mir, dass ich eine geeignete Kandidatin sei, wenn man eine davon infiltrieren wolle, und sah nichts Verdächtiges am Vorschlag seines Vaters. Er werde die Entwicklungen von Portland aus verfolgen, und wenn ich ein Anliegen oder eine Frage hatte, brauchte ich ihn nur anzurufen.

Dann hatte ich Paige am Telefon, und der Ton änderte sich. Fühlte ich mich wohl mit dem Auftrag? Wie stand ich selbst zu der ganzen Angelegenheit? Hatte ich den Eindruck, dass alles in Ordnung war? Wenn ich mit dem Job zu irgendeinem Zeitpunkt ein Problem haben sollte, selbst wenn es nur das Gefühl war, dass irgendetwas nicht stimmte, dann konnte ich sie anrufen – Tag und Nacht, zu Hause, im Büro oder auf dem Handy.

Sie wussten nichts darüber, worin meine Gabe wirklich begründet war – der Chaoshunger war mein schmutziges kleines Geheimnis –, und somit sahen sie auch nichts Ungewöhnliches daran, dass ich den Auftrag angenommen hatte. Ich entledigte mich einer Verpflichtung und sammelte ein paar Erfahrungen, und beide Gründe erschienen ihnen vollkommen nachvollziehbar.

Ebenso wenig ließen sie durchblicken, dass die Sache für mich vielleicht eine Nummer zu groß sein könnte. Das wäre der erste Kommentar gewesen, den Karl abgegeben hätte. Ich schob es auf den Altersunterschied. Karl war mindestens fünfzehn Jahre älter als ich – Werwölfe altern langsam, es war also schwer zu sagen, wie viele Jahre es genau waren. Aber Paige war in meinem Alter und Lucas ein, zwei Jahre älter. Sie wären mit einer Aufgabe dieser Größenordnung zurechtgekommen, und somit mussten sie wissen, dass auch ich es konnte.

Als ich das Gespräch beendete, war ich sehr viel entspannter und bereit, mich wieder auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren.

»Ich muss mehr über diese Gang wissen«, sagte ich, als Benicio sich wieder auf den Sitz gegenüber setzte. »Sie haben gesagt, es hat Ärger gegeben. Was genau meinen Sie damit? Haben sie mehr Zwischenfälle verursacht als üblich? Oder planen sie einen Schlag gegen die Kabale?«

»Letzteres, vermute ich, obwohl es sich da im Moment tatsächlich nur um Gerüchte handelt. Ich bezweifle, dass sie schon etwas Spezifisches vorhaben. Sie, Hope, werden lediglich dort sein, um eine klarere Vorstellung von der Situation zu bekommen.«

Er lehnte sich zurück und öffnete die Jalousie des Fensters neben ihm, als bräuchte ich mehr auch gar nicht zu wissen.

»Was genau sagen also diese Gerüchte?«, bohrte ich nach.

Er ließ sich einen Moment Zeit, bevor er antwortete. »Die Gang rekrutiert neue Mitglieder über einen unabhängigen Agenten. Dieser Agent arbeitet gleichzeitig auch für mich, und auf diesem Weg werden auch Sie Zugang finden. Der Anführer, Guy Benoit, weiß genau, dass der Agent einer meiner Angestellten war, bevor wir – angeblich – eine Meinungsverschiedenheit hatten und uns getrennt haben. In jüngster Zeit hat Benoit ihm eine Menge Fragen über die Kabale gestellt.«

»Er hat versucht, Ihren Mann auszuhorchen?«

Benicios Mundwinkel zuckten. »Nein, so plump würde Benoit es nie machen. Er hat sehr wenig mit dem typischen Straßenschläger gemeinsam, Hope, und das sollten Sie im Gedächtnis behalten, wenn Sie mit ihm zu tun haben. Benoit ist ein brillanter Anführer. Ich hoffe sehr, ihn eines Tages zu meinen Angestellten zählen zu können, aber unglückseligerweise ist er nicht sehr erpicht darauf, sich einer Kabale anzuschließen.«

Eine junge Frau erschien aus einem Raum weiter hinten, ein Telefon in der Hand. Benicio gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, sie solle sich das Anliegen des Anrufers aufschreiben, und wartete, bis sie wieder verschwunden war, bevor er weitersprach.

»Guy Benoit ist ein Magier. Sein Vater hat vor zwanzig Jahren eine kleine Kabale in Guyana gegründet. Ein ehrgeiziges Unternehmen und eins, das ich mit Vergnügen unterstützt hätte, wenn es zu einem gewissen Zeitpunkt nicht zu einem Interessenkonflikt gekommen wäre. Die Benoit-Kabale wurde aufgelöst, und Guys Mutter, eine Vodoun-Priesterin, floh mit ihm nach Louisiana. Vor fünf Jahren tauchte Benoit in Miami auf und stürzte den ursprünglichen Anführer seiner Gang in einem meisterhaften Coup.«

»Meisterhaft?«

»Guy hat den Ruf, Gewalttätigkeiten zu vermeiden. Selbst sein Coup erfolgte ohne Blutvergießen. Rücksichtslos, aber gewaltfrei. Das ist einer der Gründe, weshalb ich hoffe, ihn eines Tages rekrutieren zu können.«

»Nach dem, was Sie seiner Familie angetan haben? Wenn er sich in Miami angesiedelt hat, geht es ihm wahrscheinlich eher um Rache als um ein Stellenangebot.«

Benicio zuckte die Achseln, vollkommen unbeeindruckt von meiner Offenheit. »In den letzten fünf Jahren hat Guy mir sehr wenig Ärger gemacht. Vielleicht war das die Ruhe vor dem Sturm – vielleicht wollte er einfach Fuß fassen und sich mit den Gegebenheiten vertraut machen –, aber es hat ganz danach ausgesehen, als wäre er es zufrieden, sich an uns zu rächen, indem er sich auf unsere Kosten bereichert. Indem er die Bereitschaft der Kabalen ausnützt, die Gangs zu schützen. Erst in jüngster Zeit hat er angefangen, meinem Agenten unspezifische Fragen über unsere Sicherheitsabteilung und die generelle Firmenstruktur zu stellen. Das muss etwas zu bedeuten haben. Was genau das ist …«

»Das herauszufinden ist meine Aufgabe.«

Er nickte.

 

Der Name, den Benicio für mich ausgesucht hatte, lautete Faith Edmonds. Faith war Collegestudentin aus reichem Haus und hatte sich eine Auszeit von einem halben Jahr genommen, um sich in Miami ein bisschen zu amüsieren – was ihre Eltern ihr finanzierten im Austausch gegen das Versprechen, im Herbst ans College zurückzukehren. Zu der Rolle gehörten eine Wohnung in South Beach und sämtliche Dokumente einschließlich der Platinversion mehrerer Kreditkarten, damit ich mir eine angemessene Garderobe kaufen konnte.

Zunächst würde ich allerdings die Aufnahmeprüfung bestehen müssen. Noch an diesem Nachmittag würde ich mich mit einem Beauftragten der Gang treffen, der mögliche Neuzugänge unter die Lupe nahm. Benicio hatte mir versichert, die eigentliche Prüfung sei eine Formsache. Eine seltene Expisco-Halbdämonin wäre für jede Gang von Interesse gewesen, und der von Benicio beauftragte Agent hatte mich wärmstens empfohlen. Man hatte mir den Weg bereits freigeräumt – ich brauchte ihm nur noch zu folgen.

 

Man muss wahrscheinlich wirklich nach Miami gehen, um einen Gangagenten in einem Strandpavillon zu finden. Bevor ich mich auf den Weg machte, kaufte ich mir die passende Tarnkleidung – Bikini, Pareo und Sandalen. Im Geschäft hatte der Bikini limonengrün ausgesehen. Draußen in der Sonne wurde er neongrün. Wieder eins von diesen modischen Debakeln Marke Hope Adams. Ich erwog einen zweiten Versuch, aber ein Blick in die Runde teilte mir mit, dass es an diesem Strand sehr viel grellere Outfits zu sehen gab. Noch eine riesige Sonnenbrille, und ich passte wunderbar ins Bild. Sogar die Hautfarbe stimmte, und in meinem Fall hatte ich zu diesem Zweck nicht einmal einen Hautkrebs riskieren müssen.

Ich war schon früher in Miami gewesen, aber es hat etwas umwerfend Surreales, unter einer strahlenden Sonne im Sand zu stehen, nachdem man wenige Stunden zuvor noch mit Schneematsch bespritzt worden war. Ich wusste, dass ich etwas zu erledigen hatte, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, den längeren Weg am Strand entlang zu nehmen.

Während ich mir einen Weg durch das Gewühl von Bikinis und Schirmen in allen Regenbogenfarben suchte, hielt ich das Gesicht himmelwärts gerichtet wie eine sonnenhungrige Blume und vermied mit Mühe, über das eine oder andere ausgestreckte Bein zu stolpern. Mit über den Arm gehängten Sandalen schlurfte ich durch den Sand bis zum Wasser hinunter und ließ mir das Meer um die Füße spülen. Als der leichte Wind umsprang, kam der Duft von Empanadas durch den berauschenden Geruch nach Salzwasser und Sonnenmilch, und mein Magen begann zu knurren.

Ich blieb bei einem Stand mit südamerikanischen Limonaden stehen; die leuchtend bunten unbekannten Etiketten hielten meinen Blick fest, und meine Kehle zog sich zusammen, als ich die eiskalten, kondenswasserbeschlagenen Flaschen musterte. Aber mit einer Flasche in der Hand in dieses Treffen zu schlendern würde nicht den richtigen Eindruck machen. Also ging ich weiter, schneller als zuvor, bis ich in einiger Entfernung das Zelt erkannte.

Auf einer Seitenwand klebte ein Plakat: Spring Break Party Videos – Na los, Mädels, zeigt, was ihr zu bieten habt! Eine Blondine grinste mich an, das T-Shirt hochgezogen; ein strategisch plazierter schwarzer Zensurstreifen mit dem Firmenlogo darauf verdeckte ihre Brüste. Ich warf noch einen Blick auf die Anweisungen, die Benicio mir gegeben hatte, nur für den Fall, dass ich hier falsch war und das Instructional-Tai-Chi-Videozelt, zu dem ich wollte, unterwegs übersehen hatte. Aber nein – das wäre wohl zu schön gewesen.

Mein Kontaktmann sollte der dramatisch klingende Caesar Romeo sein. Er war kein Gangmitglied, einfach ein Paranormaler, den man beauftragt hatte, sich die von Benicios Agenten geschickten potenziellen Neuzugänge näher anzusehen. Welche Spezies von Paranormalem er war schien unwichtig, oder Benicio war der Ansicht gewesen, ich würde auch allein dahinterkommen. Das zu erledigen – unauffällig – würde also meine nächste Aufgabe sein.

Ich ließ mir Zeit, als ich die Sandalen wieder anzog, und schlenderte dann langsam an der Seitenwand des Zeltes entlang, fing aber nicht einmal das Flackern einer Vision auf. Mein Gespür für Paranormale hat eine Treffsicherheit von etwa sechzig Prozent: Je geringer die Kraft des Betreffenden ist, desto geringer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie spüre. Ich hatte mir sagen lassen, dass ich mein Gespür schärfen könnte, hatte aber keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte außer durch Übung und Konzentration. Es gab auf der ganzen Welt vielleicht noch ein halbes Dutzend anderer Expisco-Halbdämonen, und ich wusste nicht, wie ich sie hätte ausfindig machen können. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig, als das Nötige irgendwie selbst herauszufinden.

Zwei Mädchen standen am Eingang und stachelten sich gegenseitig an hineinzugehen, ermutigt von einem Freund. Typische Studentinnen in den Frühjahrsferien mit Sonnenbrand auf der Nase und schlecht blondierten Haaren, Letzteres offenbar eine Entscheidung in allerletzter Minute, um herauszufinden, ob Blondinen wirklich mehr Spaß hatten.

»Ich hoffe bloß, die will sich nicht für einen Spot bewerben«, murmelte eine der beiden, als sie mich näher kommen sah. »Meine vierzehnjährige Schwester hat größere Titten.«

»Also, ich würde sie jederzeit ihr Kamasutra an mir ausprobieren lassen«, bemerkte der junge Mann.

Ich nickte ihnen im Vorbeigehen zu und tat so, als hätte ich nichts davon gehört. Genau wie Mom es gemacht hätte … wobei sie allerdings in Gedanken wahrscheinlich kein »Fickt euch ins Knie« hinzugefügt hätte.

Ich zog die Zeltklappe einen Spaltweit auf. Ein Schwall von Pot- und Weihrauchgeruch trieb mir ins Gesicht, so stark, dass sich mir der Magen umdrehte.

»Caesar Romeo?«, rief ich ins Innere.

»Wer will’s wissen?«

»Faith Edmonds. Ich bin angemeldet.«

Das Zelt war nur matt erleuchtet und in mehrere Räume unterteilt. Der vorderste diente als Empfangsbereich, komplett mit Stühlen und Zeitschriften – Playboy und Penthouse, zur Inspiration vielleicht.

»Ja, und?«, bellte eine Stimme. »Wenn du angemeldet bist, worauf wartest du? Schieb deinen Arsch hier rein.«

Ich folgte der Stimme in einen Raum, der aussah wie das Zelt eines Sultans. Der Sandboden war mit farbenprächtigen Kissen bedeckt. Ein riesiger goldgerahmter Standspiegel war in einem seltsamen Winkel gekippt … jedenfalls wirkte er zunächst seltsam, bis ich das Spiegelbild zu den Kissen zurückverfolgte.

Caesar Romeo saß in einem verzierten Holzsessel, der so riesig war, dass er wie ein Thron aussah. Der Kerl war nicht größer als ich mit meinen eins dreiundfünfzig. Seine Haut war runzelig und so sonnengebräunt, dass ich weder sein Alter noch seine ethnische Abstammung erraten konnte. Glänzende schwarze Augen starrten mich aus tiefen Höhlen an. Ein feuerroter Afro, ein Goldlaméhemd und weiße Lederhosen vervollständigten das Ensemble. Wenn ich an Trolle geglaubt hätte – das wäre die paranormale Spezies gewesen, der ich ihn zugeordnet hätte. Einer der pisachas aus den Geschichten meiner Mutter.

Sein Blick kletterte an mir hoch und dann wieder hinunter, so kalt und kritisch wie der einer Matrone, die eine Scheibe Fleisch begutachtet – eine, die sie nicht einmal ihrem Hund zumuten würde.

»Dreh dich um!«, sagte er.

»Ich bin nicht wegen eines Spots hier«, sagte ich. »Ich bin Faith Edmonds. Ned Baker hat mich geschickt.«

Romeo wedelte mit der Hand, und ich dachte zunächst, er meinte mich damit, bis ich einen Mann bemerkte, der im Hintergrund einen Joint rauchte und mich mit sehr viel mehr Anerkennung musterte.

»Felippe«, sagte Romeo. »Geh Aufnahmen von diesen Bimbos machen, die da an der Tür rumgackern.«

»Soll ich ihnen T-Shirts geben?«, fragte Felippe.

»Verschwend die Werbegeschenke nicht! Die können von Glück sagen, wenn sie in den Film reingenommen werden.«

Felippe drückte seinen Joint in einer Messingschale aus und ging. Romeo sah ihm nach und hörte zu, wie sein Assistent den Mädchen eine »Rolle« anbot.

»Hörst du das?«, fragte er dann. »Die zeigen vor laufender Kamera ihre Titten für nichts als die Ehre, sich hinterher von Männern begaffen zu lassen, um die sie auf der Straße einen großen Bogen machen würden. Richtige kleine Schlampen. Wie alle Mädchen. Können nicht widerstehen, alles vorzuzeigen, solange der Typ keine Gelegenheit zum Hingreifen hat.«

Ich wusste, ich musste nett sein, also begnügte ich mich mit einem nichtssagenden Achselzucken.

»Anderer Meinung?«, fragte er.

»Ich bin mir sicher, für manche Mädchen gilt das.«

»Aber nicht für alle?«

»Für ›alle‹ kann ich nicht sprechen. Baker hat gesagt, ich müsste irgendeine Art von Test bestehen …«

»Dann nehme ich mal an, du hältst dich für was Besseres als diese Mädchen da draußen, stimmt’s? Intelligenter. Mehr Würde.« Seine Lippen verzogen sich zu etwas, von dem ich annehmen musste, dass es ein Lächeln war. »Oder vielleicht auch einfach nur teurer.«

»Vielleicht. Und ist dieser Test …«

»Ich habe eine bessere Idee. Ich habe noch eine andere Serie von Videos im Programm. Anspruchsvollere Sachen für Kunden mit Geschmack, die es gern ein bisschen … exotischer haben. Den Typ Mädchen, der sich nicht um eine Stange wickelt. Klingt das eher nach deinem Stil, Prinzessin?«

»Ich bin … geschmeichelt.« Ich hatte Mühe, das Wort herauszubringen. Bei dem dazugehörigen Lächeln versagte ich kläglich. »Ich würde lieber einfach den Test machen.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Was hältst du davon, wenn wir das Video einfach vergessen? Du ziehst dich aus, gleich jetzt und hier, streckst dich auf den Kissen da aus und … amüsierst dich einfach ein paar Minuten lang. Keine Kamera. Keine Zuschauer außer mir.«

Ich sah keine Gier in seinen Augen. Nicht einmal Interesse. Er wollte mich gar nicht nackt sehen. Würde wahrscheinlich nicht mal auf Touren kommen, wenn er mich masturbieren sähe. Er wollte mich einfach nur dazu bringen, dass ich es tat.

Ich lächelte so reizend, wie ich es zustande brachte. »Ich fürchte, ich bin etwas schüchtern. Mein Hintergrund, die Kultur, weißt du …«

Ich versuchte chaotische Gedanken aufzufangen, entdeckte aber nichts als das Wabern unterschwelliger Missgelauntheit.

»Und wenn ich dir jetzt sage, dass du keine Wahl hast? Mach’s, oder ich sage Baker, dass du im Test versagt hast.«

Der Chaosspiegel stieg. Ich schauderte, fand aber wenig Vergnügen daran. Mein Selbsterhaltungstrieb sorgt dafür, dass ich chaotische Impulse, die sich gegen mich selbst richten, nicht genießen kann – glücklicherweise.

Ich erwiderte seinen Blick. »Dann wirst du das wohl machen müssen.«

Ich machte Anstalten zu gehen. Benicio hatte eine Spionin angeheuert, keine Nutte – er würde eine andere Methode finden müssen, mich in die Gang einzuschleusen.

Romeo wartete, bis ich fast außer Hörweite war, und rief mich dann zurück.

»Dann mach halt den Scheißtest! Ich hab nur versucht, es dir leichter zu machen. Denk einfach dran, wenn du’s dir noch anders überlegst, dann reicht es nicht mehr, ein paarmal auf dein Knöpfchen zu drücken, um an mir vorbeizukommen.« Er warf einen Papierfetzen auf den Boden. »Adresse. Du suchst nach einer Meerschnecke. So ein Touristending, bemalt mit einem Bikinimädchen und Welcome to Miami. Finde es, bring es her, und du bist drin.«

Ich sah mir die Adresse an. »Ist das ein Haus oder …«

»Kann ein Haus sein. Kann auch ein Lagerschuppen sein. Kann ein Scheißfriedhof sein, und die Muschel liegt in einem Grab. Viel Spaß, Prinzessin!«

Ich sorgte dafür, dass mein Gesichtsausdruck neutral blieb, und wandte mich zum Gehen.

»Oh, hab ich erwähnt, dass es ein Wettrennen ist?«

Ich blieb stehen. »Ein Wettrennen?«

»Bildest du dir ein, du bist hier die einzige Muschi, die sich für gangtauglich hält? Irgendwo da draußen ist noch ein Mädchen unterwegs, und die hat die Adresse auch. Und wir haben nur eine Stelle ausgeschrieben.« Er warf einen Blick auf seine falsche Rolex. »Sie ist vor einer Stunde gegangen.«

 

Ich kochte während der gesamten Taxifahrt vor mich hin. War ich überrascht? Ich hatte den Troll um sein kleines Spielchen gebracht und hätte darauf gefasst sein müssen, dass er es mir heimzahlte. Aber wie gründlich würde er es mir heimzahlen? Hatte ich wirklich eine Konkurrentin? Oder behauptete er das nur, damit ich hektisch wurde und Fehler machte?

Selbst wenn Benicio eine andere Möglichkeit finden sollte, mich in die Gang einzuschleusen, mein Versagen würde mir nachgehen. Ja, Mr. Cortez, ich weiß, Sie haben versucht, es mir einfach zu machen, aber wissen Sie, es war nicht meine Schuld.

Jammern. Sich beschweren. Die Schuld anderswo suchen. Ich hasse dieses Benehmen bei anderen, und ich verabscheue es, wenn ich mich selbst dabei erwische. Das Schicksal hat dich zu einer Halbdämonin gemacht? Dir Visionen von Tod und Zerstörung mitgegeben? Und ein Verlangen nach ihnen wie die Sucht nach Zigaretten oder Süßigkeiten? So ein Pech aber auch. Leb damit!

Während ich mich selbst dafür verfluchte, dass ich im Umgang mit Romeo nicht etwas geschickter vorgegangen war, versäumte ich nicht, auch ein paar Flüche in seine Richtung zu schicken. Meine Mutter hätte jetzt gesagt, ich solle mir den Typ einfach ansehen und mir überlegen, wie oft er schon von einem hübschen Mädchen ausgelacht oder zurückgewiesen worden ist. Das entschuldigte sein Benehmen zwar nicht, aber eigentlich hätte ich darüberstehen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich wollte dieses Rennen gewinnen, ihm die verdammte Muschel in den Schoß werfen und das süße Chaos seiner Wut aufsaugen.

Und genau das würde ich auch tun. Auf die eine oder andere Art.

 

Ich tauschte den Bikini wieder gegen Jeans und T-Shirt, und dann setzte mich der Taxifahrer in einem Touristenviertel ab, das aussah, als sei es in den fünfziger Jahren entstanden und habe sich seither nicht verändert. Ich stand vor dem Ocean View Resort, einem etwas heruntergekommenen Motel von der Sorte, in der naive Familien eine Unterkunft buchen, weil sie dem Namen vertrauen, um bei ihrer Ankunft dann festzustellen, dass sie das Meer in der Tat sehen können – wenn sie nämlich aufs Dach steigen und ein Fernglas benutzen.

Die Getränkebar nebenan warb mit authentischen Malzlimos. Ich hatte ein einziges Mal eine dieser Malzlimos probiert und nicht vor, die Erfahrung zu wiederholen. Auf der anderen Seite des Motels lag der unvermeidliche T-Shirt-Laden. Drei Florida-Shirts für zehn Dollar; wenn sie die erste Wäsche nicht überstanden, würde man deswegen nicht zurückfliegen und reklamieren.

Die Adresse, die Romeo mir gegeben hatte, lag auf der anderen Straßenseite. Ein Souvenirladen mit bemalten Meerschnecken im Schaufenster. Keine davon sah so aus, wie Romeo sie beschrieben hatte, aber ein Schild versprach weitere Versionen im Ladeninneren.

Dies war zu einfach. Ich würde diesen Laden mit Sicherheit nicht betreten, ohne mich vorher umgesehen zu haben.

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Hope

Versunkene Schätze

Ich schlug einen Bogen und spazierte zur Rückseite des Ladens und einem Parkplatz voller kompakter Mietwagen und Minivans mit Nummernschildern auswärtiger Bundesstaaten. Zwischen dem Parkplatz und dem Laden verlief ein schmaler Kiesweg.

Ich ging zwischen den beiden Minivans hindurch, die dem Gebäude am nächsten standen, meinen Wohnungsschlüssel in der Hand, als wollte ich einen davon aufschließen. Die Rückwand des Ladens wurde nur von einer Glastür durchbrochen, die wahrscheinlich einmal als Hintereingang gedient hatte – in wohlhabenderen Zeiten, als der Parkplatz noch zum Laden gehört hatte. Jetzt war sie mit einem Regal voller billiger Sonnenbrillen zugestellt.

Ich schob mich bis zu den Kühlern der Autos in der Hoffnung, einen Blick ins Innere des Ladens werfen zu können. Als ich den Kiesweg erreichte, fing ich etwas wie ein mentales Blitzen auf, etwa wie einen Kamerablitz. Ich trat ein paar Schritte zurück und versuchte es noch einmal. An genau der gleichen Stelle wurde auch dieses Mal wieder alles eine Sekunde lang weiß.

Das Souvenirgeschäft Sunken Treasures war mit einer Formel gesichert.

Vor etwa einem Jahr hatte ich während eines Auftrags für den Rat festgestellt, dass ich Sicherungsformeln erkennen konnte. Mit Paiges und Lucas’ formelwirkerischer Unterstützung hatte ich gelernt, den Typ von Formel zu identifizieren, auf den ich da gestoßen war. Wie bei einer Fehlermeldung, die plötzlich auf dem Bildschirm auftaucht – auf den ersten Blick sieht man nur die standardisierte Warnung, aber die Details sind da, wenn man weiß, wo man suchen muss. Paiges Vergleich, nicht meiner. Irgendwo weit hinten in meinem Gehirn gab es eine ererbte dämonische Erinnerung, die mir sagen konnte, was dies für eine Formel war. Und bald hatte ich es auch heraus: eine Perimeterformel, die vor einem spezifischen Typ von Eindringlingen warnen sollte, nämlich vor Paranormalen.

Ein Souvenirgeschäft, von einer Hexenformel geschützt, die Paranormale erkannte? War die Besitzerin oder die Angestellte eine Hexe? Oder war das ein Teil des Tests – jemand würde wissen, wenn ein Kandidat hereinkam, und konnte demjenigen dann das Leben schwer machen?

Mist.

Ich verfolgte, wie eine Gruppe Teenager über den Parkplatz schlenderte. Als einer von ihnen einem anderen eine Plastiktüte zuwarf, kam mir eine Idee.

 

Ich fand meinen Assistenten ohne größere Schwierigkeiten: einen Jungen, etwa dreizehn Jahre alt, noch jung genug also, um mit Mom und Dad in den Urlaub zu fahren, aber alt genug, ihnen zu entwischen, sobald er konnte. Er stand vor dem Schaufenster des T-Shirt-Ladens und las die zweideutigen Sprüche auf den Shirts.

Als er mich kommen sah, wurde er rot, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem erwischt.

»Hey«, sagte ich mit einem breiten Lächeln. »Hast du einen Moment Zeit?«

»Äh, klar.«

Ich zeigte auf den Sunken-Treasures-Laden gegenüber. »Die haben da drin was, das würde ich gern meinem Freund schenken, als Gag. Aber irgendwie ist es mir peinlich, das Ding zu kaufen. Eine Muschel mit einem Bikinimädchen drauf.«

Einem Erwachsenen wäre das wahrscheinlich merkwürdig vorgekommen. Aber für einen Dreizehnjährigen sind alle Erwachsenen merkwürdig und ihre Motive vollkommen unerklärlich. Ich beschrieb ihm die Muschel noch einmal und gab ihm zwanzig Dollar, mit dem Versprechen eines zweiten Scheins, wenn er zurückkam.

Eine lange Viertelstunde später war er mit leeren Händen wieder da.

»Die haben ein ganzes Regal mit Muscheln, und es sind auch bemalte dabei, aber keine mit einem Bikinimädchen. Oder einer in einem Badeanzug.«

»Oh. Muss dann wohl ein anderer Laden gewesen sein.«

Ich ließ ihn die zwanzig Dollar behalten, und er verschwand prompt in dem T-Shirt-Laden.

Mein nächstes Opfer war ein Mann um die vierzig, der den Bauch einzog, als er mich näher kommen sah. Für ihn hatte ich mir eine andere Geschichte überlegt: Ich war am Abend zuvor mit Freunden in dem Laden gewesen, von denen einige angetrunken gewesen waren und eine Szene gemacht hatten. Ich wollte die Muschel wirklich, als Geschenk für meinen Bruder, aber ich fürchtete, der Besitzer würde mich erkennen und rauswerfen.

Auch der Mann kam mit leeren Händen zurück. »Sie steht hinter der Kasse«, erklärte er, während er mir den Schein zurückgab. »Und sie ist nicht verkäuflich. Ich hab’s versucht, aber der Typ sagt, ein Freund von ihm hat sie bemalt, und sie ist nur zur Dekoration da. Tut mir leid.«

 

Zehn Minuten später betrat ich den Laden. Er stank nach billiger Sonnenmilch, die einen anderen Geruch nicht ganz überdecken konnte, einen Geruch, der mich an Grandmas Speicher erinnerte: Schmutz und Staub und Vernachlässigung. Die meisten Touristen wichen wahrscheinlich keinen Schritt von dem Gang ab, der von der Tür zur Kasse führte, gesäumt von T-Shirt-Ständern und Körben mit billigen Muscheln.