Darkest Powers: Höllenglanz - Kelley Armstrong - E-Book

Darkest Powers: Höllenglanz E-Book

Kelley Armstrong

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Beschreibung

Die dunklen Mächte wüten weiter: Band 3 der "Darkest Powers"-Serie Die Toten beherrschen. Das ist meine Gabe. Meine tödlichste Gabe. Und die muss ich einsetzen. Skrupellos. Wenn ich schlafe, beschwöre ich tote Fledermäuse. Wenn ich träume, schicke ich Geister in ihre Körper zurück. Und wenn ich auf einem Friedhof stehe, wecke ich gegen meinen Willen die Seelen von Tausenden Toten. Auch meine Freunde besitzen unkontrollierbar starke Kräfte, die uns zu einer Bedrohung für die gesamte paranormale Welt machen. Wir wissen nicht mehr, wem wir trauen können und wem nicht. Und so muss ich ausgerechnet diejenigen um Hilfe bitten, deren Zorn ich auf mich geladen habe: die Geister der Toten ... Darkest Powers - mystische Hochspannung von Bestseller-Autorin Kelley Armstrong! Die ganze "Darkest Powers"-Serie: Band 1: Darkest Powers - Schattenstunde Band 2: Darkest Powers - Seelennacht Band 3: Darkest Powers - Höllenglanz

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Kelley Armstrong

Die dunklen Mächte: Höllenglanz

Roman

Aus dem Englischen von Christine Gaspard

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel
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Für Julia

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1

Nach vier Nächten als Flüchtling war ich endlich wieder in Sicherheit, lag im Bett und genoss den tiefen, traumlosen Schlaf der Toten … bis die Toten beschlossen, dass ich ihnen wach lieber war. Es begann mit einem Lachen, das sich in meinen Schlaf hineinschlängelte und mich aus ihm herauszog. Als ich mich auf die Ellenbogen hochstemmte, blinzelte und mich zu erinnern versuchte, wo ich eigentlich war, schien ein Flüstern um mich herumzugleiten, ohne dass ich die Worte verstehen konnte.

Ich rieb mir die Augen und gähnte. Trübes graues Licht sickerte durch die Vorhänge. Im Zimmer war es vollkommen still. Keine Geister, Gott sei Dank. Von denen hatte ich in den letzten paar Wochen genug gesehen und gehört, dass es mir für den Rest meines Lebens gereicht hätte.

Ein Kratzen am Fenster ließ mich zusammenfahren. Zurzeit hörte sich jeder an die Scheibe schlagende Zweig in meinen Ohren an wie ein Zombie, den ich beschworen hatte und der Einlass forderte.

Ich ging zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Wir hatten das Haus in der einsetzenden Morgendämmerung erreicht, ich wusste also, dass es mindestens Vormittag oder noch später sein musste, aber der Nebel draußen war so dicht, dass ich nichts erkennen konnte. Ich beugte mich vor und drückte die Nase an das kalte Glas.

Ein Insekt klatschte gegen die Scheibe, und ich machte vor Schreck einen Satz. Hinter mir lachte jemand auf.

Ich fuhr herum, aber Tori lag noch im Bett und wimmerte im Schlaf. Sie hatte die Bettdecke weggestrampelt und lag zusammengerollt auf der Seite. Ihr dunkles Haar hob sich stachelig gegen das Kissen ab.

Wieder ein Lachen hinter mir. Deutlich ein männliches Lachen. Aber es war niemand da. Halt – ich sah einfach niemanden. Für eine Nekromantin bedeutet das nicht notwendigerweise, dass niemand da ist.

Ich kniff die Augen zusammen, versuchte das Schimmern eines Geistes zu erkennen und sah zu meiner Linken eine Hand aufblitzen. Sie war fort, bevor ich mehr erkennen konnte.

»Suchst du jemanden, kleine Nekromantin?«

Ich fuhr herum. »Wer ist da?«

Ich bekam ein Kichern zur Antwort, die Sorte Kichern, die jedes fünfzehnjährige Mädchen schon etwa eine Million Mal von irgendwelchen Widerlingen in der Schule gehört hat.

»Wenn du mit mir reden willst, wirst du dich schon zeigen müssen«, sagte ich.

»Mit dir reden?«, antwortete er im arroganten Tonfall eines Highschool-Quarterback. »Ich glaube, du bist es, die mit mir reden will.«

Ich schnaubte und machte mich auf den Weg zurück zum Bett.

»Nein?« Die Stimme glitt um mich herum. »Hm. Und ich dachte, du willst vielleicht mehr über die Edison Group, die Genesis-Experimente, Dr. Davidoff wissen …«

Ich blieb stehen.

Er lachte. »Dachte ich’s mir doch.«

Wir vier – Tori, Derek, Simon und ich – waren auf der Flucht vor der Edison Group, nachdem wir herausgefunden hatten, dass wir Versuchsobjekte in dem sogenannten Genesis-Projekt waren, einem Experiment zur genetischen Modifikation von Paranormalen. Meine Tante Lauren hatte zu den an dem Projekt beteiligten Ärzten gehört, aber sie hatte ihre Kollegen verraten, indem sie uns bei der Flucht geholfen hatte. Jetzt war sie ihre Gefangene. Das jedenfalls hoffte ich. In der vergangenen Nacht, als die Edison Group uns aufgespürt hatte, hatte ein Geist mir zu helfen versucht … ein Geist, der ausgesehen hatte wie meine Tante Lauren.

Nun waren wir angeblich in einem Schutzhaus, geleitet von einer Gruppe, die den Experimenten ein Ende machen wollte. Und gerade jetzt tauchte der Geist eines Teenagers auf, der über das Projekt Bescheid wusste? Den würde ich kaum bannen, so groß die Versuchung auch sein mochte.

»Zeig dich«, sagte ich.

»Kommandierst du mich rum, kleine Nekro?« Seine Stimme glitt in meinen Rücken. »Du willst ja bloß sehen, ob ich so heiß bin, wie ich mich anhöre.«

Ich schloss die Augen, stellte mir eine unbestimmte männliche Gestalt vor und versuchte es mit einem leichten Ruck. Er begann Gestalt anzunehmen – ein dunkelhaariger Junge, sechzehn, siebzehn vielleicht, nichts Besonderes, aber mit dem selbstgefälligen Lächeln eines Typs, der sich dafür hielt. Ich konnte immer noch durch ihn hindurchsehen, als wäre er ein Hologramm, also schloss ich die Augen und gab ihm noch einen Ruck.

»Oh-oh«, sagte er. »Wenn du mehr willst, sollten wir uns vorher ein bisschen besser kennenlernen.« Er verschwand wieder.

»Was willst du?«, fragte ich.

Er flüsterte mir ins Ohr: »Wie gesagt, dich besser kennenlernen. Aber nicht hier. Du würdest bloß deine Freundin aufwecken. Sie ist süß, aber nicht ganz mein Typ.« Die Stimme bewegte sich auf die Tür zu. »Ich kenne einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können.«

Ja, ganz sicher. Bildete der sich ein, ich hätte erst gestern angefangen, mit Geistern zu reden? Gut, beinahe – genau genommen war es ganze zwei Wochen her. Aber ich hatte immerhin genug gesehen, um zu wissen, dass es Geister gab, die zu helfen versuchten, und andere, die sich wirklich nur ein bisschen unterhalten wollten, aber auch eine ganze Menge, die einfach Ärger machten und ihrem Jenseitsdasein etwas Würze verleihen wollten. Und dieser Typ hier fiel ganz entschieden in die dritte Kategorie.

Aber wenn auch er zu den Versuchspersonen der Edison Group gehört hatte und so, wie es aussah, in diesem Haus umgekommen war, dann würde ich herausfinden müssen, was mit ihm passiert war. Dazu würde ich allerdings Verstärkung brauchen. Tori hatte keinerlei Erfahrung darin, mir gegen Geister beizustehen, und auch wenn wir uns inzwischen besser vertrugen, wollte ich immer noch nicht gerade sie als Rückendeckung haben.

Also folgte ich dem Geist in den Gang hinaus, blieb vor Simons und Dereks Tür aber stehen.

»Hey«, sagte der Geist. »Die Typen brauchen wir dazu aber nicht.«

»Sie würden aber auch gern mit dir reden.« Ich hob die Stimme, als ich antwortete, und betete darum, dass Derek mich hören würde. Meist wachte er beim geringsten Geräusch auf – Werwölfe haben ein viel sensibleres Gehör als Menschen. Aber alles, was ich hörte, war Simons Schnarchen. Und außer uns vieren war niemand hier oben. Andrew, der Mann, mit dem wir hergekommen waren, hatte das Schlafzimmer im Erdgeschoss genommen.

»Komm schon, Nekromädchen. Das hier ist ein zeitlich begrenztes Angebot.«

Du weißt genau, dass der irgendwas ziemlich Zweifelhaftes vorhat, Chloe.

Ja, aber ich musste auch herausfinden, ob wir hier in Gefahr waren. Ich beschloss, sehr vorsichtig zu sein. Meine innere Stimme erhob keine Einwände, was ich als gutes Zeichen auffasste. Also setzte ich mich in Bewegung.

Wir waren nach unserer Ankunft in dem Haus geradewegs ins Bett gegangen, ich hatte also noch kaum einen Blick auf unsere neue Unterkunft werfen können. Ich wusste nur, dass sie gigantisch war – ein weitläufiges Haus des neunzehnten Jahrhunderts, das geradewegs aus einem Gothic-Horrorfilm hätte stammen können.

Als ich der Stimme den Gang entlang folgte, hatte ich das unheimliche Gefühl, in einem dieser Filme gelandet zu sein, in einem endlosen schmalen Gang, in dem ich an einer geschlossenen Tür nach der anderen vorbeikam, bis ich endlich die Treppe erreicht hatte … eine Treppe, die nach oben führte.

Nach allem, was ich beim Näherkommen von dem Haus hatte sehen können, war es zweistöckig. Die Schlafzimmer lagen im ersten Stock, und Andrew hatte etwas davon gesagt, dass der zweite nur aus einem Dachboden bestand.

Der Geist wollte mich also auf den dunklen, unheimlichen Dachboden führen? Ich war wirklich nicht die Einzige, die zu viele Horrorfilme gesehen hatte.

Trotzdem folgte ich ihm die Treppe hinauf. Sie führte zu einem Treppenabsatz mit zwei Türen. Ich zögerte. Eine Hand erschien durch die Tür vor mir und winkte mich weiter. Ich nahm mir eine Sekunde Zeit, um mich zu wappnen. Ganz egal, wie dunkel es da drin war, ich durfte mir die Angst nicht anmerken lassen.

Als ich so weit war, griff ich nach dem Türknauf und … Abgeschlossen. Ich drehte an der Verriegelung, und sie ging klickend auf. Noch ein tiefer Atemzug und eine weitere Sekunde des mich Wappnens, dann stieß ich die Tür auf, und … ein kalter Windstoß schleuderte mich nach hinten. Ich blinzelte verwirrt. Vor mir wirbelte der Nebel.

Eine Verriegelung an einer gewöhnlichen Dachbodentür, Chloe?

Nein, ich stand auf dem Dach.

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2

Ich fuhr herum, als die Tür hinter mir zuzufallen begann. Ich erwischte noch die Türkante, aber etwas versetzte ihr einen Stoß, dass sie krachend zufiel. Ich packte den Knauf, gerade als sich der Riegel mit einem klickenden Geräusch schloss. Ich drehte am Knauf und war sicher, dass ich mich verhört haben musste.

»Du willst schon gehen?«, fragte der Geist. »Wie unhöflich.«

Ich starrte auf den Knauf hinunter. Nur ein einziger, sehr seltener Typ von Geist konnte Dinge in der Welt der Lebenden bewegen.

»Ein Agito-Halbdämon«, flüsterte ich.

»Agito?« Das Wort klang vor lauter Verachtung ganz verzerrt. »Ich gehöre zur Elite, Baby. Ich bin ein Volo.«

Was mir absolut nichts sagte. Ich konnte nur annehmen, dass das ein mächtigerer Typ war. Im Leben konnten telekinetisch begabte Halbdämonen Dinge mit Gedankenkraft in Bewegung setzen. Im Tod konnten sie sie dann von Hand bewegen. Ein Poltergeist.

Ich trat einen vorsichtigen Schritt rückwärts. Holz knarrte unter meinen Füßen und erinnerte mich daran, wo ich mich befand. Ich blieb stehen und sah mich um. Ich stand auf einer Art Galerie, die um das zweite Stockwerk herumlief – den Dachboden, wie ich annehmen musste.

Rechts von mir lag ein beinahe ebener Abschnitt, der mit Bierdosen und verrosteten Kronkorken übersät war, als hätte jemand ihn als improvisierten Freisitz genutzt. Der Anblick beruhigte mich etwas. Ich saß nicht wirklich auf dem Dach fest – lediglich auf einer Art Balkon. Lästig, aber nicht weiter gefährlich.

Ich klopfte an die Tür, nicht zu heftig, denn ich wollte eigentlich niemanden wecken, aber ich hoffte natürlich, Derek würde es mitbekommen.

»Das wird keiner hören«, sagte der Geist. »Wir sind allein hier. Genau wie ich’s mag.«

Ich hob die Hand, um der Tür einen kräftigeren Schlag zu versetzen, und hielt inne. Dad sagte immer, die beste Methode für den Umgang mit einem Tyrannen sei es, ihn nicht merken zu lassen, dass man Angst hatte. Bei dem Gedanken an meinen Vater schnürte sich mir die Kehle zu. Ob er immer noch nach mir suchte? Natürlich tat er das, und es gab nichts, das ich tun konnte.

Dads Ratschlag im Hinblick auf Tyrannen hatte vielleicht bei den Schulkameraden funktioniert, die sich über mein Stottern lustig gemacht hatten – und es aufgegeben hatten, als sie mir keine Reaktion entlocken konnten. Also holte ich tief Luft und ging in die Offensive.

»Du hast gesagt, du weißt über die Edison Group und ihre Versuche Bescheid«, sagte ich. »Hast du auch zu den Versuchsobjekten gehört?«

»Langweilig. Reden wir doch über dich. Hast du einen Freund? Ich wette ja. Niedliches Mädchen wie du, das mit zwei Typen rumhängt … einen wirst du für dich schon klargemacht haben. Also, welcher?« Er lachte. »Blöde Frage. Das niedliche Mädchen kriegt den niedlichen Typ. Den Japsen.«

Womit er Simon meinte, der zur Hälfte Koreaner war. Er versuchte, mich zu provozieren, herauszufinden, ob ich Simon verteidigen und ihm damit bestätigen würde, dass er mein Freund war. Was er nicht war. Na ja, noch nicht, obwohl wir uns in diese Richtung zu bewegen schienen.

»Wenn du willst, dass ich hierbleibe und rede, brauche ich erst mal ein paar Antworten«, sagte ich.

Er lachte. »Tatsächlich? Ich hab nicht den Eindruck, als ob du so bald gehen würdest.«

Ich griff wieder nach dem Türknauf. Ein Kronkorken prallte von meiner Wange ab, dicht unter dem Auge. Ich warf einen wütenden Blick in die Richtung, aus der er gekommen war.

»Das war bloß ein Warnschuss, kleine Nekro.« Ein gehässiger Tonfall hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Hier spielen wir meine Spiele nach meinen Regeln. Jetzt erzähl mir von deinem Freund.«

»Ich hab keinen. Wenn du irgendwas über das Genesis-Experiment weißt, dann weißt du auch, dass wir nicht zum Spaß hier sind. Wenn man auf der Flucht ist, hat man nicht so sehr viel Zeit für Romantik.«

»Werd jetzt bloß nicht patzig.«

Ich hämmerte an die Tür. Der nächste Kronkorken traf mich knapp unter dem Auge.

»Du bist in Gefahr, kleines Mädchen. Interessiert dich das nicht?« Seine Stimme senkte sich zu meinem Ohr herunter. »Im Moment bin ich dein bester Freund, also sei lieber nett zu mir. Jemand hat dich hier geradewegs in eine Falle geführt, und ich bin der Einzige, der dir wieder heraushelfen kann.«

»Geführt? Wer? Der Typ, der uns hergebracht hat …«, ich ließ mir in aller Eile einen falschen Namen einfallen, »… Charles?«

»Nein, ein völlig Fremder, und Charles war einfach bloß derjenige, der euch hergebracht hat. Was für ein Zufall.«

»Aber er hat gesagt, er arbeitet nicht mehr für die Edison Group. Er war früher mal Arzt dort …«

»Ist er auch noch.«

»Er ist Dr. Fellows? Der, von dem sie im Labor immer geredet haben?«

»Der und kein anderer.«

»Bist du dir da sicher?«

»Das Gesicht vergesse ich nicht.«

»Puh, das ist jetzt aber wirklich komisch. Erstens heißt er nicht Charles. Zweitens ist er kein Arzt. Drittens kenne ich Dr. Fellows. Sie ist meine Tante, und der Typ da unten sieht ihr keine Spur ähnlich.«

Der Schlag erwischte mich von hinten, ein harter Hieb in die Kniekehlen. Meine Beine gaben nach, und ich fiel auf alle viere.

»Spiel keine Spielchen mit mir, kleine Nekro.«

Als ich aufzustehen versuchte, schlug er mit einem alten Holzbrett nach mir, das er wie einen Baseballschläger einsetzte. Ich versuchte, mich aus dem Weg zu werfen, aber er erwischte mich an der Schulter und schleuderte mich gegen das Geländer. Ein Knacken, und die Brüstung gab nach. Ich schwankte, und eine Sekunde lang sah ich nichts außer dem asphaltierten Hof zwei Stockwerke unter mir.

Ich packte ein anderes Stück Geländer. Es hielt, und ich hatte das Gleichgewicht zurückgewonnen, als die Latte geradewegs auf meine Hand zujagte. Ich ließ los und rettete mich auf das Stück, das in Richtung Flachdach führte, während das Brett so hart auf dem Geländer auftraf, dass die oberste Geländerstange brach und auch das Brett selbst zersplitterte. Verrottetes Holz flog in alle Richtungen.

Ich rannte auf das Flachdach zu. Er schwang die abgebrochene Latte in meine Richtung, ich stolperte nach hinten und prallte wieder gegen das Geländer.

Ich fing mich wieder und sah mich um. Keine Spur von ihm. Keine Spur von irgendeiner Bewegung. Aber ich wusste, dass er da war, abwartete, was ich als Nächstes tun würde.

Ich rannte auf die Tür zu und bog dann unvermittelt zu dem Flachdach ab. Ein Krachen. Glassplitter schienen vor mir zu explodieren, und der Geist wurde wieder sichtbar, eine zerbrochene Flasche in der Hand. Ich wich zurück.

Ja, klar, tolle Idee. Immer wieder rückwärts gegen das Geländer, mal sehen, wie lang es hält.

Ich blieb stehen. Ich konnte nirgendwohin. Ich erwog zu schreien. In Filmen habe ich das immer verabscheut – Heldinnen, die um Hilfe kreischen, wenn man sie in die Enge getrieben hat –, aber in dem Moment, als ich selbst zwischen einem Poltergeist mit einer zerbrochenen Flasche und einem Sturz über zwei Stockwerke feststeckte, hätte ich die Blamage des Gerettetwerdens ohne weiteres weggesteckt. Das Problem dabei war, niemand würde es rechtzeitig hier herauf schaffen.

Okay … und was machst du jetzt also? Die supermächtige Nekromantin gegen den machtspielchensüchtigen Poltergeist?

Ja, richtig. Ich hatte eine Möglichkeit, mich zu wehren, zumindest gegen Geister.

Ich berührte mein Amulett. Meine Mutter hatte es mir gegeben. Sie hatte gesagt, es würde die Schreckgespenster fernhalten, die ich als Kind gesehen hatte – Geister, das wusste ich heute. Es schien nicht besonders gut zu funktionieren, aber es mit der Hand zu umschließen half mir dabei, mich zu konzentrieren, mich darauf zu besinnen, was ich war.

Ich stellte mir vor, wie ich dem Geist einen Stoß versetzte.

»Wag es ja nicht, kleines Mädchen. Du machst mich bloß wütend, und …«

Ich kniff die Augen zusammen und verpasste ihm einen gigantischen mentalen Tritt.

Stille.

Ich wartete, lauschte, überzeugt davon, dass er genau vor mir stehen würde, wenn ich die Augen wieder öffnete. Irgendwann öffnete ich sie einen Spalt weit und sah nichts als den grauen Himmel. Trotzdem hielt ich das Geländer fest umklammert und wartete darauf, dass eine zerbrochene Flasche auf meinen Kopf zugeflogen kam.

»Chloe!«

Meine Knie gaben nach, als ich die Stimme hörte. Schritte hämmerten über das Dach. Geister hört man nicht gehen.

»Beweg dich nicht.«

Ich sah über die Schulter und erkannte Derek.

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3

Derek kam über den flachen Teil des Daches näher. Er trug Jeans und ein T-Shirt, war aber barfuß.

»Pass auf«, rief ich ihm zu. »Da liegen Scherben.«

»Ich seh’s. Bleib, wo du bist.«

»Schon okay. Ich gehe einfach rückwärts, und …« Das Holz knarrte unter meinen Füßen. »Vielleicht auch nicht.«

»Bleib einfach dort stehen. Das Holz ist verfault. Es trägt dein Gewicht, solange du still stehst.«

»Aber ich bin bis hierher gegangen, also muss es doch immerhin …«

»Wir überprüfen diese Theorie besser nicht, okay?«

Ich hörte keine Spur von der üblichen Ungeduld in seiner Stimme, was wohl bedeutete, dass er sich ernsthaft Sorgen machte. Und wenn Derek sich Sorgen machte, dann blieb ich wahrscheinlich wirklich besser genau dort, wo ich war. Ich packte das Geländer.

»Nein!«, sagte er. »Ich meine, doch, ja, halt es fest, aber ohne Druck drauf auszuüben. Es ist unten durchgefault.«

Na, fantastisch.

Derek sah sich um, als suchte er nach einem brauchbaren Gegenstand. Dann zog er sich das T-Shirt aus. Ich versuchte, den Blick nicht abzuwenden. Nicht, dass er ohne das T-Shirt übel ausgesehen hätte. Eher im Gegenteil, was auch der Grund war … Sagen wir einfach, es ist besser, wenn Freunde vollständig angezogen sind.

Derek kam so nahe heran, wie er es wagte, machte einen Knoten in eine Ecke des T-Shirts und warf ihn mir zu. Ich fing ihn beim zweiten Versuch.

»Ich ziehe dich nicht näher«, warnte er.

Was auch gut so war, denn mit seinen Werwolfkräften hätte er mir das T-Shirt wahrscheinlich aus den Händen gerissen, und ich wäre rückwärts vom Dach gefallen.

»Zieh du dich allmählich zu mir rüber …«

Er brach ab, als ihm klar wurde, dass ich genau das bereits tat. Ich schaffte es auf den flacheren Teil des Dachs, tat noch einen torkelnden Schritt und merkte, dass die Knie unter mir nachzugeben begannen. Derek packte mich am Arm – dem Arm ohne genähte Schnittwunde, Verband und Streifschuss –, und ich setzte mich langsam hin.

»Ich bleibe einfach einen Moment hier sitzen«, sagte ich mit wackeligerer Stimme, als mir lieb war.

Derek setzte sich neben mich, nachdem er sich das T-Shirt wieder angezogen hatte. Ich spürte, dass er mich zweifelnd beobachtete.

»Ich bin schon okay. Gib mir einfach einen Moment Zeit. Hier kann man ja sitzen, oder?«

»Ist okay, die Neigung ist nicht mehr als fünfundzwanzig Grad, also …« Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, sagte er einfach: »Es ist ungefährlich.«

Der Nebel begann sich zu verziehen, und ich sah ringsum Bäume, die sich in alle Richtungen erstreckten. Ein ungeteerter Fahrweg führte durch den Wald auf das Haus zu.

»Da war ein Geist«, sagte ich schließlich.

»So was hatte ich mir gedacht.«

»I-ich habe gewusst, dass ich ihm nicht folgen sollte, aber …« Ich zögerte. Solange ich noch so wackelig war, fühlte ich mich noch nicht bereit, ihm eine vollständige Erklärung zu liefern. »Ich bin vor eurer Tür stehen geblieben, ich habe gehofft, du würdest mich hören. Hast du wahrscheinlich auch?«

»Irgendwie schon. Ich war halb wach. Ziemlich verwirrt, als ich dann aufgewacht bin, also hab ich eine Weile gebraucht, bis ich auf den Beinen war. Ich hab ein bisschen Fieber.«

Jetzt sah ich es auch, die gerötete Haut und die glitzernden Augen.

»Heißt das, du …«, begann ich.

»Ich wandele mich nicht. Jetzt noch nicht. Inzwischen weiß ich, wie sich das anfühlt, und ich hab noch ein bisschen Zeit. Mindestens einen Tag, hoffentlich mehr.«

»Ich wette, dieses Mal wandelst du dich ganz«, sagte ich.

»Ja, vielleicht.« Sein Tonfall teilte mir mit, dass er das bezweifelte.

Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Derek war mit seinen sechzehn Jahren einen ganzen Kopf größer als ich. Solide gebaut mit breiten Schultern und mit Muskeln, die er meist unter weiter Kleidung versteckte, um weniger einschüchternd zu wirken.

Seit er angefangen hatte, sich zu wandeln, hatte Mutter Natur etwas Nachsicht mit ihm gehabt. Seine Haut wurde glatter, und das dunkle Haar sah nicht mehr fettig aus. Es hing ihm zwar nach wie vor ins Gesicht, aber nicht auf diese Emo-Art, sondern einfach als hätte er sich seit einer Weile nicht mehr die Mühe gemacht, es schneiden zu lassen. In letzter Zeit hatte er an anderes zu denken gehabt.

Ich versuchte, mich zu entspannen und die neblige Aussicht zu genießen, aber Derek zappelte und rutschte herum, was noch nerviger war, als wenn er einfach wie üblich eine Auskunft darüber verlangt hätte, was eigentlich passiert war.

»Da war also dieser Geist«, sagte ich schließlich. »Er hat gesagt, er sei ein Volo-Halbdämon. Telekinetisch, aber ein stärkerer Typ als Dr. Davidoff. Wahrscheinlich das Gleiche, was Liz ist. Er hat mich hier raufgelockt und die Tür abgeschlossen, und dann hat er angefangen, mit Zeug nach mir zu werfen.«

Derek sah ruckartig auf.

»Ich hab ihn gebannt.«

»Gut, aber du hättest gar nicht erst mitkommen sollen, Chloe.«

Sein Tonfall war ruhig, vernünftig, so vollkommen derek-untypisch, dass ich ihn anstarrte, während mir der reichlich abgedrehte Gedanke durch den Kopf schoss, dass dies nicht Derek sein konnte. Bevor ich aus dem Labor der Edison Group entkommen war, hatte ich eine Quasi-Dämonin kennengelernt, die als eine Art Kraftquelle dort eingesperrt war. Sie hatte jemanden in Besitz genommen, aber es war nur ein Geist gewesen. Konnte Derek besessen sein?

»Was?«, fragte Derek, als er mein Starren bemerkte.

»Alles okay mit dir?«

»Schon. Einfach bloß …« Er rieb sich den Nacken, zuckte zusammen und ließ die Schultern kreisen. »… müde. Irgendwie daneben. Richtig daneben. Es ist zu viel …« Er suchte nach dem Wort. »Hier zu sein. In Sicherheit zu sein. Hab mich noch nicht dran gewöhnt.«

Das klang logisch. Dereks werwölfischer Beschützerfimmel war seit Tagen auf Hochtouren gelaufen, war ununterbrochen wach und wachsam gehalten worden. Es würde uns allen sehr merkwürdig vorkommen, wenn jetzt jemand anderes über uns wachte. Und doch – mich nicht dafür fertigzumachen, dass ich einem unbekannten Geist mal eben aufs Dach gefolgt war, war so restlos underekmäßig, dass ich wusste, da würde noch mehr kommen.

Als ich mich erkundigte, was ihm zu schaffen machte, murmelte er, es wäre nichts. Ich gab es vorerst auf und wollte das mit dem Geist weiter erklären, als er plötzlich herausplatzte: »Es ist Tori. Mir gefällt ihre Geschichte, wie sie denen entkommen konnte, nicht.«

In der vergangenen Nacht hatte die Edison Group uns beinahe gefasst, und Tori hatten sie vorübergehend tatsächlich erwischt. Aber als sie sich danach auf den Gefährlichsten von uns konzentrierten – Derek –, hatten sie die junge Hexe mit einem einzigen Bewacher zurückgelassen. Sie hatte ihn mit einem Bindezauber ausgeschaltet und war entkommen.

»Du meinst, die haben sie entkommen lassen?«

»Ich will damit nicht sagen … Es ist einfach … Ich habe keine Beweise.«

Und das war es, was ihm unangenehm war – dass sein Misstrauen lediglich auf einem Gefühl beruhte. Der Naturwissenschafts- und Mathefreak fühlte sich einfach wohler, wenn er Tatsachen vorzuweisen hatte.

»Wenn du jetzt meinst, sie wäre von Anfang an so eine Art Maulwurf gewesen, das ist sie nicht.« Ich senkte die Stimme. »Erzähl ihr nicht, dass ich dir das erzählt habe, okay? Als sie mir bei der Flucht geholfen hat, wollte sie eigentlich nur von der Edison Group weg und zu ihrem Vater zurück. Also hat sie ihn angerufen. Er hat stattdessen ihre Mom geschickt – die Frau, der wir grade erst entkommen waren. Es hat Tori verletzt. Wirklich verletzt. Ein richtiger Schock. Das hätte sie nicht spielen können.«

»Ich hab auch nie gedacht, dass sie von Anfang an mit denen verbündet war.«

»Sondern, dass sie sich gestern Nacht auf einen Handel eingelassen hat?«

»Ja.«

»Aber würde Tori uns gegen ihr Versprechen, dass sie ihr altes Leben zurückkriegt, ans Messer liefern? Möglich ist es, und wir sollten vorsichtig sein, aber ich kaufe ihr die Geschichte ab. Wenn ihre Mom den anderen nicht erzählt hat, dass Tori gerade dahinterkommt, wie man Formeln spricht – und ich glaube nicht, dass sie’s getan hat –, dann glauben sie immer noch, dass sie einfach nur diese vollkommen willkürlichen Ausbrüche ihrer Kräfte hat. Und einen einzelnen Bewacher hätte sie mit dem Bindezauber ausschalten können – ich hab gesehen, wie sie die Dinger einsetzt. Sie braucht nicht mal eine Beschwörung zu sprechen. Es ist wie … wenn sie’s denkt, dann kann sie’s tun.«

»Keine Beschwörung? Kein Üben?« Er schüttelte den Kopf. »Erzähl das bloß nicht Simon.«

»Erzähl was bloß nicht Simon?«, fragte eine Stimme hinter uns.

Wir drehten uns um und sahen Simon in der Tür erscheinen.

»Dass Tori keine Beschwörung zu sprechen braucht, wenn sie einen Zauber wirken will«, sagte Derek.

»Im Ernst?« Simon fluchte. »Du hast recht. Erzählt mir das bloß nicht.« Er suchte sich einen Weg über das Dach zu uns herüber. »Noch besser, erzählt ihr nicht, dass ich Beschwörungen und wochenlanges Üben brauche und immer noch nichts Brauchbares zustande bringe.«

»Du warst gut mit dem Rückstoßzauber gestern Nacht«, sagte ich.

Er grinste. »Danke. Und darf man jetzt fragen, warum ihr zwei euch hier oben versteckt? Oder werde ich dann bloß eifersüchtig?«

Simon lächelte, als er es sagte, aber Derek wandte den Blick ab und knurrte: »’Türlich nicht.«

»Ihr habt also kein Abenteuer erlebt?« Simon setzte sich auf meiner anderen Seite aufs Dach, so dicht neben mich, dass er mich streifte, und legte die Hand auf meine. »Sieht nach einem prima Ort für eins aus. Versteck auf dem Dach, alter Aussichtsbalkon – das ist es doch, was das da ist, oder? Eine Galerie, die ganz rumgeht?«

»Yep. Und sie rottet vor sich hin, also bleib weg davon«, sagte Derek.

»Mach ich ja. Also – Abenteuer?«

»Ein Kleines«, sagte ich.

»Oh, Mann. Ich verpasse immer alles. Okay, bring’s mir behutsam bei. Was ist passiert?«

Ich erklärte. Simon hörte zu, aufmerksam und besorgt, und warf dabei den einen oder anderen Blick zu seinem Bruder hinüber. Pflegebruder, sollte man wohl sagen – ein einziger Blick auf die beiden, und jedem Menschen wäre klar gewesen, dass sie nicht blutsverwandt sein konnten. Simon ist fünfzehn, ein halbes Jahr älter als ich, schlank und athletisch, mit mandelförmigen dunklen Augen und stachelig geschnittenem dunkelblondem Haar. Derek war mit etwa fünf Jahren zu Simon und seinem Dad gekommen. Sie waren beste Freunde, und sie waren Brüder, blutsverwandt hin oder her.

Ich erzählte ihm alles, was ich zuvor schon Derek erzählt hatte. Simon sah von mir zu ihm.

»Ich muss wirklich fest geschlafen haben, wenn ich das ganze Gebrüll überhört habe«, sagte er.

»Welches Gebrüll?«, fragte Derek.

»Du willst mir doch nicht erzählen, Chloe hätte dir gesagt, dass sie einem Geist auf ein Dach gefolgt ist, und du hättest sie deswegen nicht von hier bis nach Kanada geblasen?«

»Er ist ein bisschen neben der Spur heute Morgen«, erklärte ich.

»Mehr als ein bisschen, würde ich sagen. Willst du sie nicht nach dem Rest der Geschichte fragen? Dem Teil, in dem sie erklärt, warum sie dem Geist gefolgt ist? Weil ich mir nämlich sicher bin, es hat da einen Grund gegeben.«

Ich lächelte. »Danke. Hat es auch. Es war ein Teenager, er hat über die Edison Group und die Experimente Bescheid gewusst.«

»Was?« Dereks Kopf fuhr herum.

»Deswegen bin ich ihm gefolgt. Es gibt hier einen toten Jungen, der vielleicht auch eine Versuchsperson war, und wenn er hier gestorben ist …«

»Dann wäre das ein Problem«, sagte Simon.

Ich nickte. »Mein erster Gedanke war natürlich: ›O Gott, jemand hat uns in eine Falle gelockt.‹«

Simon schüttelte den Kopf. »Nicht Andrew. Der gehört zu den Guten. Ich hab ihn mein ganzes Leben lang gekannt.«

»Ich aber nicht, und deswegen habe ich nachgebohrt. Und mir wurde ziemlich schnell klar, dass der Geist ihn nicht erkannt hat. Andrew hat irgendwas davon gesagt, dass das Haus dem Mann gehört hat, der diese Widerstandsgruppe hier mitbegründet hat und davor an den Experimenten beteiligt war. Wenn es eine Verbindung zu diesem Jungen gibt, finden wir sie wahrscheinlich dort.«

»Wir können Andrew fragen …«, begann Simon.

Derek unterbrach ihn. »Wir finden unsere Antworten selbst.«

Ihre Blicke hielten einander fest. Nach einer Sekunde knurrte Simon etwas davon, sich das Leben unnötig schwerzumachen, aber er widersprach nicht. Wenn Derek sich damit amüsieren wollte, Detektiv zu spielen – nur zu. Wir würden sowieso bald wieder gehen, zurückgehen, um diejenigen zu retten, die wir zurückgelassen hatten, und der Edison Group ein Ende zu machen … das jedenfalls hofften wir.

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4

Wir gingen wenig später nach unten. Derek machte sich sofort auf den Weg in die Küche, um etwas für ein Frühstück aufzutreiben. Wir hatten vielleicht nur ein paar Stunden Schlaf abbekommen, aber es war inzwischen fast Mittag, und selbstverständlich knurrte ihm der Magen.

Während er nach Essbarem fahndete, sahen Simon und ich uns in unserer vorläufigen Bleibe um. Ich habe einmal ein Buch gelesen, in dem es um ein Mädchen in einem riesigen englischen Landhaus ging und ein geheimes Zimmer, das seit vielen Jahren niemand gefunden hatte, weil man einen Kleiderschrank vor die Tür gezogen hatte. Ich weiß noch, dass ich das damals einfach lächerlich fand. Mein Dad hatte Freunde, die in wirklich großen Häusern lebten, aber auch dort war es vollkommen undenkbar, dass ein ganzes Zimmer einfach verlorenging. Aber bei diesem Haus hier brauchte man nur etwas Fantasie, und die Vorstellung war gar nicht mehr so abwegig. Denn das Haus war nicht einfach nur groß. Es war merkwürdig angelegt. Als hätte der Architekt Räume eingezeichnet, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie sie untereinander verbunden werden sollten. Die Vorderseite war unproblematisch. Es gab den großen Vorraum, der die Haustür, die Treppe, die Küche, ein Wohn- und ein Esszimmer miteinander verband. Dahinter wurde es dann verwirrend, mit mehreren Gängen und Räumen, die teilweise in weitere Räume übergingen. Viele davon waren winzig, drei mal drei Meter groß oder weniger. Ich fühlte mich an einen Kaninchenbau erinnert mit all den kleinen Zimmerchen, die in alle Richtungen führten. Wir fanden weiter hinten sogar noch eine zweite Treppe, die aussah, als sei sie seit Jahren nicht gesäubert worden.

Schließlich ging Simon nachsehen, ob Andrew schon auf war, während ich in die Küche wanderte und dort Derek dabei antraf, wie er eine angerostete Dose mit Bohnen beäugte.

»So ausgehungert?«, fragte ich.

»Demnächst ja.«

Er machte eine Runde durch die Küche und öffnete die Schranktüren.

»Du willst also nicht, dass ich Andrew nach diesem Jungen frage«, sagte ich. »Du vertraust ihm aber, oder?«

»’Türlich.«

Er nahm eine Schachtel Cracker von einem Regalbrett, drehte sie um und suchte nach dem Haltbarkeitsdatum.

»Das hat sich jetzt nicht sehr überzeugend angehört«, bemerkte ich. »Wenn wir zusammen mit jemandem hier sind, dem du nicht traust …«

»Im Moment sind die einzigen Leute, denen ich voll und ganz traue, Simon und du. Ich glaube nicht, dass Andrew irgendwas vorhat. Wenn ich’s täte, wären wir nicht hier. Aber ich gehe hier kein Risiko ein, nicht, wenn wir das Nötige selbst rausfinden können.«

Ich nickte. »Das ist okay. Bloß … Ich weiß, du willst Simon nicht unnötig nervös machen, aber … Wenn du dir Sorgen machst …« Ich merkte, dass meine Wangen heiß wurden. »Ich meine damit nicht, dass du mir alles und jedes sagen musst, bloß, bitte versuch nicht …«

»Dich abzuschütteln, wenn du weißt, dass irgendwas nicht stimmt.« Er drehte sich zu mir um und fing meinen Blick auf. »Werde ich nicht.«

»Ist er schon so weit, dass er Ketchup trinkt?« Simon kam in die Küche gefegt. »Zehn Minuten noch, Bro. Andrew kommt gleich und …«

»Und entschuldigt sich zerknirscht für das Fehlen von Lebensmitteln.« Andrew kam herein. Er war etwa so alt wie mein Dad und hatte sehr kurz geschnittenes graues Haar, breite Schultern, einen untersetzten Körperbau und eine krumme Nase. Er legte Derek eine Hand auf die Schulter. »Sind unterwegs. Jemand von der Gruppe bringt das Frühstück mit und müsste jeden Moment da sein.«

Er ließ die Hand auf Dereks Schulter liegen, drückte sogar kurz zu. Die Geste wirkte ungeschickt, vielleicht weil Andrew mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner war als Derek, aber es schien nicht nur das zu sein. In der vergangenen Nacht, als er Derek zum ersten Mal seit Jahren wiedergesehen hatte, war eine Welle von Überraschung und Unbehagen über sein Gesicht hinweggegangen. Derek hatte es gesehen, und ich wusste, dass er es auch gespürt hatte – den Stich, als ein Mann, den er fast sein ganzes Leben lang gekannt hatte, auf ihn reagierte, als sei er ein jugendlicher Schläger, um den man am besten einen Bogen machte.

Ebenso wie Simon war Andrew ein Magier. Er war ein alter Freund ihres Vaters und ein ehemaliger Mitarbeiter der Edison Group. Außerdem war er der Kontaktmann der Brüder für Krisensituationen. Andrew und der Vater der beiden hatten vor einigen Jahren ein Zerwürfnis irgendeiner Art gehabt, den Kontakt aber aufrechterhalten. Wenn die Jungen also nicht weiterwussten, konnten sie nach wie vor zu Andrew gehen.

Andrew schloss noch einmal die Finger um Dereks Schulter und begann dann, sich in der Küche zu schaffen zu machen, Teller herauszuholen und abzuspülen, Staub von Arbeitsplatten und Tisch zu wischen, sich zu erkundigen, wie wir geschlafen hatten, sich noch einmal dafür zu entschuldigen, dass man nicht auf uns vorbereitet gewesen war.

»Ein bisschen schwer, vorbereitet zu sein, wenn man nicht weiß, dass jemand kommt«, bemerkte Simon. »Ist das in Ordnung so? Dass du mit uns hierbleibst? Ich weiß, dass du arbeiten musst …«

»Was ich jetzt schon seit zwei Jahren von zu Hause aus erledige. Ich bin mittlerweile endlich so weit oben angekommen, dass ich das Nötige per Mail erledigen kann – Gott sei Dank. Jeden Tag nach New York City reinzupendeln, es hat mich fast umgebracht. Jetzt gehe ich noch einmal die Woche zu den Besprechungen hin.«

Simon wandte sich an mich. »Andrew ist Redakteur. Bücher.« Ein Seitenblick zu Andrew hin. »Und Chloe ist Drehbuchautorin.«

Ich wurde rot und stammelte etwas davon, dass ich natürlich keine echte Drehbuchautorin war, einfach gern eine sein wollte. Aber Andrew meinte dazu nur, er würde gern hören, woran ich gerade arbeitete, und mir alle Fragen über das Schreiben beantworten, die ich vielleicht hatte. Er hörte sich an, als meinte er es ernst – im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen, die das Gleiche sagen, um einem einen Gefallen zu tun.

»Im Moment arbeitet sie mit mir zusammen an einem Comic«, sagte Simon. »So eine Art Graphic Novel über unsere Abenteuer. Bloß zum Spaß.«

»Das ist cool. Und du übernimmst dann wohl die Zeichnungen? Dein Dad hat mir erzählt, du bist …«

Es klingelte an der Haustür.

»Und das dürfte das Frühstück sein«, sagte Andrew. »Chloe? Ich weiß, Tori ist wahrscheinlich ziemlich erledigt, aber bei dem Treffen sollte sie dabei sein.«

»Ich geh sie aufwecken.«

 

Die mysteriöse Widerstandsgruppe war also eingetroffen. Sehr eindrucksvoll sah sie aber nicht aus. Neben Andrew noch drei Leute.

Da war Margaret, die aussah wie die Kolleginnen meines Vaters – eine Geschäftsfrau, groß, mit kurzgeschnittenem, ergrauendem braunem Haar. Sie war Nekromantin.

Gwen war nicht viel größer als ich und sah aus, als hätte sie noch nicht mal das College hinter sich. Was ihren paranormalen Typ anging – bei ihrem kurzen blonden Haar, der Himmelfahrtsnase und dem spitzen Kinn fragte ich mich, ob es etwa auch Kobolde gab, aber sie sagte, sie sei eine Hexe, so wie Tori.

Der dritte Neuankömmling war Russell, ein kahlköpfiger Großvatertyp und ein schamanischer Sanitäter – für den Fall, dass wir nach unserer Flucht vielleicht medizinische Versorgung brauchten. Zusammen mit Andrew und Margaret gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe, und auch er hatte früher einmal für die Edison Group gearbeitet.

Andrew erklärte, dass es noch ein halbes Dutzend Mitglieder in New York City und Umgebung und etwa zwanzig weitere im übrigen Land gab, aber unter den gegebenen Umständen wäre es riskant gewesen, sie alle hier zusammenzurufen. Also hatten sie zwei Leute geschickt, die uns helfen konnten – eine Nekromantin und eine Hexe. Derek hatte einfach Pech gehabt. Die Gruppe hatte keine werwölfischen Mitglieder, nicht weiter überraschend, wenn man bedachte, dass es im ganzen Land vielleicht zwei Dutzend Werwölfe gab – aber Hunderte von Nekromanten und Formelwirkern.

Die Paranormalen, die sich seinerzeit der Edison Group angeschlossen hatten, waren keine Verbrecher. Die meisten von ihnen waren Leute wie meine Tante, die ihre Hilfe als Ärztin angeboten hatte, weil sie anderen Paranormalen hatte helfen wollen – Leuten wie ihrem eigenen Bruder, einem Nekromanten, der noch als College-Student entweder Selbstmord begangen hatte oder von Geistern in einen tödlichen Sturz vom Dach getrieben worden war.

Die Edison Group glaubte daran, dass die Lösung des Problems in der genetischen Manipulation lag – darin, dass man unsere DNA modifizierte, um die Nebenwirkungen zu minimieren und unsere Kontrolle über unsere Kräfte zu verstärken. Aber die ersten Probleme waren bereits aufgetreten, als wir noch kleine Kinder gewesen waren. Drei der werwölfischen Versuchspersonen hatten eine Schwester angegriffen. Sie waren »eliminiert« worden. Umgebracht, von ebenden Leuten, die schworen, sie wollten den Paranormalen helfen. Und daraufhin hatten Simons Vater und mehrere andere, darunter Andrew, die Gruppe verlassen.

Aber einfach zu gehen war manchen von ihnen nicht genug gewesen. Sie machten sich Sorgen über das, was sie gesehen hatten, und deshalb hatten sie die Edison Group beobachtet, um sicherzustellen, dass keine Gefahr für andere Paranormale bestand. Und jetzt hatten wir ihnen genau die Nachrichten gebracht, die sie am meisten gefürchtet hatten. Bei den meisten von uns hatte sich die genetische Modifikation als Bumerang erwiesen und Jugendliche mit unkontrollierbaren Kräften hervorgebracht – Hexen, die ihre Formeln wirken konnten, ohne auch nur eine Beschwörung zu sprechen, und Nekromanten, die versehentlich die Toten ins Leben zurückholten.

Als sich herausgestellt hatte, dass diese Fehlschläge unerwartet schwierig zu kontrollieren waren, hatte die Edison Group sich auf die gleiche Maßnahme verlegt wie bei den jungen Werwölfen – die betreffenden Versuchspersonen umzubringen.

Und jetzt wandten wir uns mit der Bitte um Unterstützung an Andrews Gruppe. Wir waren in Gefahr, und wir hatten eine weitere Versuchsperson, Rachelle, und meine Tante Lauren zurücklassen müssen, die jetzt in noch größerer Gefahr waren. Wir baten die Gruppe darum, sie zu retten und die Bedrohung zu eliminieren. Ob sie dazu auch nur in der Lage waren – das wussten wir nicht.

 

Gwen war es, die das Frühstück mitgebracht hatte: Donuts, Kaffee und Schokoladenshakes. Ich bin mir sicher, sie hatte geglaubt, für Teenager würde das genau das Richtige sein. Wäre es auch gewesen … wenn wir uns nicht seit Tagen von solchem Zeug ernährt hätten und wenn nicht einer von uns Diabetiker gewesen wäre.

Simon suchte sich einen Donut und eine Viertellitertüte Schokoladenmilch aus und machte Scherze darüber, dass er jetzt endlich eine Entschuldigung dafür hatte, Zeug zu essen, das für ihn normalerweise nicht in Frage kam. Derek war derjenige, der sich beschwerte. Andrew entschuldigte sich dafür, dass er vergessen hatte, den anderen rechtzeitig Bescheid zu sagen, und versprach, für die nächste Mahlzeit etwas Gesünderes zu besorgen.

Alle waren ausgesprochen nett und mitfühlend, und vielleicht war ich einfach paranoid – vielleicht hatte Derek mich auch nur angesteckt. Aber hinter dem Lächeln und den freundlichen Blicken meinte ich eine Spur von Unbehagen zu spüren, so als könnten sie nicht anders und müssten ständig an unsere verkorksten Kräfte denken. Als würden sie die Befürchtung nicht los, es mit tickenden Zeitbomben zu tun zu haben.

Und ich war nicht die Einzige, die sich unbehaglich fühlte. Als wir alle ins Wohnzimmer gingen, suchte Derek sich eine Ecke aus und zog sich in sie zurück. Simon sprach kaum ein Wort. Tori, die normalerweise nichts mit uns zu tun haben wollte, hielt sich so dicht neben mir, dass ich zunächst glaubte, sie versuchte, sich meinen Donut unter den Nagel zu reißen.

Wir gegen sie. Die genetisch modifizierten Monster gegen die normalen Paranormalen.

Simon und ich erledigten den größten Teil des Redens. Eine merkwürdige Erfahrung für mich. Diejenige, die sonst immer ganz hinten saß und hoffte, niemand würde sie aufrufen, weil sie dann vielleicht ins Stottern geriet, musste nun reden und die Beweise und entscheidenden Hinweise liefern, weil nur ich sie gesehen hatte: die Geister der anderen Teenager und die Dateien in Dr. Davidoffs Computer.

Während wir erklärten, sah ich Mitgefühl in ihren Augen, aber auch Zweifel. Sie glaubten uns, dass das Experiment bei einigen der Versuchspersonen fehlgeschlagen war – es war genau das, was sie befürchtet hatten, als sie sich von der Gruppe losgesagt hatten. Auch den Bericht über Lyle House, die »betreute Wohngruppe«, wo die Edison Group uns untergebracht hatte, glaubten sie uns. Als das Experiment fehlschlug, war es nur in ihrem Interesse gewesen, die Spuren zu verwischen.

Aber alles andere? Dass sie uns gejagt hatten, nachdem wir entkommen waren, auf uns geschossen hatten, erst mit Betäubungspfeilen und dann mit Kugeln? Uns in einem Labor eingesperrt, drei Teenager umgebracht hatten, bei denen auch die Rehabilitation fehlgeschlagen war?

Das hörte sich an, als stammte es aus einem Film. Halt, Korrektur. Wenn man mir als Nachwuchsregisseurin und -drehbuchautorin diese Story präsentiert hätte, hätte ich sie als viel zu überzogen abgelehnt.

Andrew schien uns aber zu glauben. Gwen ebenfalls – ich sah es an ihren entsetzten Gesichtern. Aber Gwen war die Jüngste, und ihre Meinung schien nicht viel zu zählen. Russell und Margaret konnten ihre Skepsis nicht verbergen, und mir wurde klar, dass ihre Hilfe nicht so einfach zu gewinnen sein würde, wie wir gehofft hatten.

Irgendwann platzte ich heraus: »Rachelle und meine Tante sind in Gefahr. Sie könnten jetzt jeden Tag umgebracht werden, wenn es nicht schon passiert ist.«

»Deine Tante ist ein wertvolles Mitglied ihres Teams«, antwortete Margaret. Ihrem strengen Gesicht war nicht anzumerken, was sie dachte. »Man wird sie nicht umbringen. Und deine Freundin scheint mir auch nicht in unmittelbarer Gefahr zu sein. Sie ist zufrieden und kooperativ, und mehr wollen sie im Augenblick ja gar nicht.«

»Aber wenn sie erst die Wahrheit herausfindet, wird sie nicht mehr annähernd so fügsam sein …«

Russell unterbrach mich: »Deine Tante und eure Freundin haben ihre Entscheidungen getroffen, Chloe. So hart es auch klingt. Sie haben euch beide verraten. Ich hätte nicht erwartet, dass du so erpicht darauf sein würdest, sie zu retten.«

»Meine Tante …«

»Hat euch bei der Flucht geholfen, ich weiß. Aber es wäre gar nicht so weit gekommen, wenn eure Freundin euch nicht hintergangen hätte.«

Rae hatte Dr. Davidoff von unseren Fluchtplänen erzählt, sie waren also vorbereitet gewesen, als wir es dann versucht hatten. Sie hatte die Lügengeschichten darüber geglaubt, dass man uns helfen wollte, und gedacht, ich hätte mich von den beiden Jungen aufhetzen lassen.

»Sie hat einen Fehler gemacht. Wollen Sie damit sagen, wir sollten sie dafür sterben lassen?« Meine Stimme wurde lauter. Ich schluckte und gab mir Mühe, ruhig und rational zu bleiben. »Was sie auch getan hat, sie hat zu diesem Zeitpunkt gedacht, es wäre richtig. Ich lasse sie jetzt nicht im Stich.«

Ich sah zu den anderen hinüber. Simon stimmte mir zu, rasch und entschieden. Derek murmelte ein unwirsches: »Yeah, sie hat Mist gemacht, aber Dummheit ist schließlich kein Kapitalverbrechen.«

Und dann sahen wir alle Tori an. Ich hielt den Atem an und spürte die Blicke der Erwachsenen, die auf uns lasteten. Ich wusste, wir mussten hier als Einheit auftreten.

»Nachdem wir wegen Chloes Tante sowieso wieder hingehen, sollten wir auch Rae retten«, sagte Tori schließlich. »Sie müssen beide so schnell wie möglich da rausgeholt werden. Die Edison Group selbst ist vielleicht keine Meute von rachsüchtigen, durchgeknallten Killern – aber meine Mutter dürfte da eine Ausnahme sein, und als wir weg sind, war sie gerade ziemlich sauer auf Dr. Fellows.«

»Ich glaube nicht …«, begann Russell.

»Jetzt kommt dann wohl der langweilige Teil«, schaltete Andrew sich ein. »Warum geht ihr Kids nicht nach oben und seht euch die anderen Zimmer an, ich könnte mir vorstellen, ihr hättet gern jeder ein eigenes.«

»Schon okay so«, sagte Simon.

Andrew warf den anderen einen Blick zu. Sie wollten uns aus dem Zimmer haben, um erörtern zu können, ob sie uns helfen würden oder nicht.

Ich hätte am liebsten gebrüllt: Was gibt es da zu diskutieren? Die Leute, für die ihr früher gearbeitet habt, bringen Jugendliche um. Ich dachte, das wäre eure Absicht gewesen – sicherstellen, dass die Edison Group keinem schadet? Hört auf, hier Donuts zu mampfen, und tut irgendwas!

»Warum geht ihr nicht …«, begann Andrew.

»Wir sitzen gut hier.« Es klang wie ein Knurren, was ganz einfach Dereks Ich-mein’s-ernst-Tonfall war, aber plötzlich war es im Zimmer vollkommen still geworden. Alle Blicke richteten sich auf ihn, und jedes Gesicht wirkte plötzlich wachsam.

Derek sah weg und murmelte: »Willst du, dass wir gehen?«

»Bitte«, sagte Andrew. »Es wäre einfacher …«

»Warum auch immer.«

Derek führte uns aus dem Raum.

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5

Draußen im Gang drehte sich Derek zu uns um. »Geht ihr schon mal ein Zimmer für Tori finden. Ich besorge noch ein paar Donuts.«

Simon und ich wechselten einen Blick. So gern Derek auch aß, im Moment konnte ihm eigentlich nichts ferner liegen als der Gedanke daran, sich den Bauch vollzuschlagen. In Wirklichkeit wollte er damit sagen: Nehmt Tori mit und verschwindet, damit ich in Frieden die Besprechung belauschen kann. Sein werwölfisches Gehör brachte es mit sich, dass er das auch von der Küche aus bewerkstelligen konnte.

»Bring mir eins mit Schokoladenguss mit«, sagte Simon, während er Tori und mich bereits in Richtung Treppe schob.

»Du sollst doch keine …«

»Wollt dich nur ärgern, keine Sorge«, gab Simon zurück. »Komm schon, Tori, suchen wir dir ein Zimmer aus.«

 

Aber wie sich herausstellte, wollte Tori bei mir bleiben. Nicht, dass sie das gesagt hätte – natürlich nicht. Sie sah sich die anderen Möglichkeiten an, zickte und meckerte herum, wie staubig es dort war und dass sie allem Anschein nach bei mir festsaß. Ich erbot mich, selbst ein anderes Zimmer zu nehmen, woraufhin sie auf mich losging – ich sollte nicht immer so nett sein, es würde Zeit, dass ich etwas Rückgrat entwickelte. Ich entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt zum Duschen war.

Die Dusche würde mir auch Gelegenheit geben, mir die Tönung aus den Haaren zu waschen. Als wir aus Lyle House weggelaufen waren, hatte man meinem Dad genau das erzählt – dass ich weggelaufen war. Er hatte keine Ahnung, dass man uns kurz danach wieder eingefangen und ins Hauptquartier der Edison Group gebracht hatte. Er wusste nicht, dass es die Edison Group gab oder was eine Nekromantin war. Er wusste nur, dass seine schizophrene Tochter aus einem Wohnheim geflohen war und jetzt wahrscheinlich in Buffalo auf der Straße lebte. Also hatte er einen Finderlohn ausgesetzt. Eine Belohnung in Höhe von einer halben Million Dollar.

Ich hätte ihn gern wissen lassen, dass es mir gutging. Himmel, wie sehr ich mir wünschte, genau das zu tun. Aber Tante Lauren hatte gesagt, es sei ungefährlicher für ihn, wenn er die Wahrheit nicht kannte, und Derek teilte diese Meinung. Also tat ich bis auf weiteres mein Möglichstes, mir nicht zu überlegen, wie viele Sorgen er sich machen musste. Ich würde ihm eine Nachricht schicken, sobald es möglich war. Aber bis auf weiteres war die ausgesetzte Belohnung ein Problem.

Mit meinem rötlich blonden Haar wäre ich ziemlich leicht zu erkennen gewesen, auch ohne die roten Strähnen, die ich mir hineingefärbt hatte, bevor sie mich nach Lyle House gesteckt hatten. Also hatte Derek mir eine auswaschbare Tönung besorgt. Eine schwarze Tönung. Ich war viel zu blass für schwarzes Haar, und jetzt sah ich genau so aus, wie man sich eine Nekromantin vorstellte. Weiße Haut und schwarzes Haar. Ultragothic. Aber glücklicherweise begann die Farbe bereits zu verblassen. Zumindest hatte ich den Eindruck, dass sie es tat.

Tori trabte den Gang entlang hinter mir her und gab Ratschläge, wie ich die Farbe herausbekam – Miss Hilfsbereit, nachdem sie mich keine zwei Minuten zuvor noch rückgratlos genannt hatte. Zurzeit schien das ihre Einstellung zu mir wiederzugeben – sie machte einen winzigen Schritt in Richtung Freundschaft, dann fiel ihr wieder ein, dass wir Erzfeindinnen waren.

Jetzt war sie gerade im freundschaftlichen Modus. »Wasch’s nicht mehr als dreimal, sonst wird es strohig. Ich hab da drin eine Kurspülung gesehen. Nimm die und lass sie gründlich einwirken.«

»Im Moment wäre mir strohiges Haar immer noch lieber als schwarzes Haar.«

Simon streckte den Kopf aus seinem Zimmer. »Du wäschst die Farbe raus?«

»So schnell ich kann.«

Er zögerte. Der Ausdruck in seinen Augen teilte mir mit, dass er etwas sagen würde, das er lieber ungesagt gelassen hätte. »Ich weiß, dass du es raushaben willst, aber … Na ja, wenn wir rausgehen …«

»Im Moment wäre mir Hausarrest immer noch lieber als schwarze Haare.«

»So schlimm ist es nicht.«

Tori flüsterte laut: »Simon findet den Gothicgirl-Look irgendwie heiß.«

Er stierte sie wütend an. »Nein. Ich meine einfach …« Er verstummte und schoss einen ungeduldigen Blick in Toris Richtung, der ihr mitteilte, sie solle verschwinden. Als sie sich nicht von der Stelle rührte, senkte er den Kopf zu meinem Ohr herunter, während er seine Finger in meine flocht. »Ich weiß, du willst das loswerden. Ich sage Andrew, er soll dir eine bessere Farbe besorgen. Ist mir egal, wie deine Haare aussehen. Ich will einfach, dass du in Sicherheit bist.«

»Das ist ja richtig niedlich«, sagte Tori.

Simon schob sich zwischen uns, mit dem Rücken zu ihr. »Frag Andrew. Vielleicht bin ich auch einfach übervorsichtig?«

»Nein, bist du nicht. Die Dusche brauche ich wirklich, aber ich werde nicht versuchen, die Farbe rauszuwaschen.«

»Gut. Oh, und Derek hat erzählt, du hättest nach Selbstverteidigungslektionen gefragt. Wie wäre es, sollen wir das nachher probieren?«

Ich war eigentlich nicht in der richtigen Stimmung dafür, aber er lächelte und wünschte sich unverkennbar, etwas für mich tun zu können, nachdem er mir die Haarwäsche ausgeredet hatte. Und es war ja nicht so, als ob wir irgendwas Besseres zu tun gehabt hätten, also sagte ich: »Natürlich.«

»Klingt gut«, sagte Tori. »Ja, ich weiß schon, keiner hat mich eingeladen, aber wir könnten das Training beide brauchen. Und nein, ich versuche nicht, mich da zwischen euch zu stellen. Ich bin über dich weg, Simon. Ich bin der Ansicht, du und Chloe, ihr werdet als Paar so niedlich sein, dass einem übel werden kann. Aber ihr könnt euch auch ein andermal seelenvoll in die Augen sehen, im Moment brauche ich gerade Selbstverteidigungslektionen. Also treffen wir uns hinterm Haus.«

Sie ging Richtung Treppe und rief uns über die Schulter zu: »Und ihr wärt sowieso nicht lang allein geblieben. Ich bin mir sicher, Derek stößt dazu, sobald er mit dem Lauschen fertig ist.«

 

Als ich aus dem Bad kam, rannte ich direkt in Derek hinein.

»Besprechung vorbei?«, fragte ich.

»Ja.«

Simon streckte den Kopf aus seinem Zimmer, und Derek winkte ihn in den Gang heraus.

»Wo ist Tori?«, fragte er.

»Draußen. Aber sie wartet auf uns, wir können also nicht lang bleiben.«

»Und das Urteil lautet?«, fragte Simon.

»Gwen und Andrew glauben uns. Margaret nimmt an, wir haben die Situation missverstanden und beim Tod von Liz, Brady und Amber die falschen Schlüsse gezogen. Nur Russell glaubt, wir lügen absichtlich.«

»Arschloch. Wie kommt der dazu …«

Derek warf ihm einen Blick zu, woraufhin Simon verstummte und Derek mit einer Geste sagte, er solle weiterreden.

»Sie haben sich per Telekonferenz mit ein paar von den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe kurzgeschlossen, und …« Derek sah mich an, und an der Art, wie sein Blick dann abglitt, wusste ich, was kam. »Sie wollen sich erst mal Zeit lassen, Informationen sammeln. Sie schicken ein Team nach Buffalo, das sich dort umsehen soll.«

Simon nickte finster. »Na sicher. Die langsame, aber sichere Vorgehensweise, und währenddessen könnten Rachelle und Dr. Fellows …« Er sah zu mir herüber. »Sorry.«

Ich wandte mich an Derek. »Was meinst du? Was sollen wir machen?«

»Im Moment? Mitspielen.« Seine Stimme klang barsch vor Frustration. »Gibt nichts, was wir sonst tun könnten. Die Edison Group sucht nach uns, wir müssen erst mal hierbleiben.«

 

Wir trafen Tori hinter dem Haus an. Ich entschuldigte mich, weil wir sie so lang hatten warten lassen. Die Jungen taten es nicht. Simon hatte eben erst angefangen, uns einen Handgelenkhebel zu zeigen, als Andrew uns wieder ins Haus rief.

Russell war schon gegangen.

»Geflüchtet«, murmelte Simon, »damit er uns nicht ins Gesicht sehen muss, nachdem er den anderen gesagt hat, dass wir seiner Meinung nach lügen.«

Auch Gwen war fort, allerdings nur, um Vorräte und ein Abendessen aus dem Schnellrestaurant zu besorgen. Ja, es wurde bereits Zeit zum Abendessen. Wir waren so spät aufgestanden, dass wir das Mittagessen einfach übersprungen hatten.

Wir aßen mit Andrew, Gwen und Margaret. Sie formulierten ihr Vorhaben natürlich sehr optimistisch – einfach eine schnelle Erkundungsmission, mit der der Rettungseinsatz vorbereitet werden sollte.

»Okay, Leute«, sagte Andrew, »über die nächsten paar Tage habt ihr drei Aufgaben. Euch auszuruhen, uns alles über das Labor zu erzählen, was ihr wisst, und ein bisschen zu trainieren.«

»Trainieren?« Das erregte Toris Aufmerksamkeit. Und meine ebenfalls.

Gwen lächelte. »Ja. Deswegen sind Margaret und ich hier.«

»Und ich arbeite mit Simon«, sagte Andrew, »obwohl ich weiß, dass euer Dad euch seit Jahren trainiert hat.«

»Ich bin mir sicher, er kann die Übung brauchen«, sagte Tori.

Simon zeigte ihr den Mittelfinger. Andrew tat so, als sähe er es nicht.

»Was Derek angeht …«, begann er.

»Ja, ich weiß schon. Gibt keine werwölfischen Lehrer für mich.«

»Stimmt, aber wir haben trotzdem jemanden. Tomas, ein halbdämonisches Mitglied, lebt in New Jersey. Vielleicht erinnerst du dich von deiner Zeit in dem Laboratorium an ihn. Er hat zu dem Team gehört, das innerhalb des Projekts für die Werwölfe verantwortlich war.«

Bildete ich mir etwas ein, oder zuckte Derek zusammen? Ich hätte es ihm nicht übelnehmen können. Derek hatte in dem Labor gelebt, bis Simons Vater ihn mitgenommen hatte und dieser Teil des Experiments aufgegeben worden war. Die anderen drei Werwölfe hatte die Gruppe zu diesem Zeitpunkt bereits »eliminiert«. Einen der Wärter von damals wiederzutreffen … das versprach nicht gerade, ein für Derek sehr glückliches Wiedersehen zu werden.

»Tomas ist gegangen, bevor du aus dem Labor verschwunden bist, vor allem weil er sich mit der Art und Weise nicht anfreunden konnte, wie man mit euch Jungen verfahren war. Aber er weiß mehr über Werwölfe als irgendjemand sonst, den ich kenne. Euer Dad hat ihn immer wieder um Rat gefragt, als er dich aufgezogen hat.«

Dereks Schultern entspannten sich etwas. »So?«

»Er ist dienstlich unterwegs, wird aber nächste Woche zurück sein. Wenn wir dann immer noch auf unseren Einsatz warten – was hoffentlich nicht der Fall sein wird –, dann hast du in ihm wenigstens jemanden, mit dem du reden kannst und der dir Fragen beantworten kann, die du vielleicht hast.«

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