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Till Raether

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Beschreibung

Im Hamburger Hafen läuft das Kreuzfahrtschiff «Große Freiheit» ein. An Bord: ein toter Passagier – verstorben an einem geheimnisvollen Virus. Bald herrscht Panik in der Stadt. Kriminalkommissar Adam Danowski, der eigentlich am liebsten am Schreibtisch ermittelt, wird an den Schauplatz beordert. Er kommt einem Verbrechen auf die Spur, das noch unzählige Tote zu fordern droht. Doch das unter Quarantäne gestellte «Pestschiff» darf keiner verlassen, selbst Kommissare nicht, und Danowskis Gegner sorgen mit aller Macht dafür, dass dies so bleibt ...

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Till Raether

Danowski: Treibland

Kriminalroman

Über dieses Buch

Ein schwimmender Sarg. Und keiner darf von Bord.

Im Hamburger Hafen läuft das Kreuzfahrtschiff «Große Freiheit» ein. An Bord: ein toter Passagier – verstorben an einem geheimnisvollen Virus. Bald herrscht Panik in der Stadt. Kriminalkommissar Adam Danowski, der eigentlich am liebsten am Schreibtisch ermittelt, wird an den Schauplatz beordert. Er kommt einem Verbrechen auf die Spur, das noch unzählige Tote zu fordern droht. Doch das unter Quarantäne gestellte «Pestschiff» darf keiner verlassen, selbst Kommissare nicht, und Danowskis Gegner sorgen mit aller Macht dafür, dass dies so bleibt ...

 

«Ein gelungenes Debüt, atmosphärisch packend, mit lebendigen Charakteren, gekonnten Spannungsbögen.» Hamburger Abendblatt

 

«Danowski ist eine ausgesprochen interessante Type. Da merkt man dem Journalisten Raether den trainierten Blick für interessante Leute an.» Der Tagesspiegel

 

«Sollte der Mann sich jemals von diesem Höllen-Trip erholen, wären wir bei seinem nächsten Fall gern wieder dabei.» Brigitte

 

«Ein atemraubend spannender Thriller.» Ruhr Nachrichten

Vita

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u. a. für Brigitte, Brigitte Woman und das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Romane «Treibland» und «Unter Wasser» wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser. «Blutapfel» wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, Regie führte Markus Imboden.

Für Diana: was zu lesen

Treibland (Seew.), so w.v. Butterland, eine durch Dünste auf See verursachte täuschende Erscheinung von Land.

Pierer’s Universal-Lexikon, Altenburg 1857

Prolog

Wenn Cay Steenkamp etwas hasste, dann waren es Menschen, die ihn beim Golf störten. Und alle anderen Menschen.

Sie hatten die Hälfte des Platzes gespielt, und noch war es so früh, dass andere Clubmitglieder nur hier und da als pastellfarbener Schmutz am Rande seines Gesichtsfeldes auftauchten, weit genug entfernt, um namenlos und stumm zu bleiben. Von der Elbe zog Nebel übers Grün, aber die Herbstsonne löste ihn langsam auf. In der Luft lag diese gewisse Kälte, die scharf genug war, um zu Steenkamp durchzudringen. Er war auf der Höhe seines Spiels: Peters und der Neue hatten keine Chance mehr, ihn zu beeindrucken.

Seitdem Steenkamp das achte Loch mit erstaunlich anstrengungslosen drei Schlägen gespielt hatte, waren bei den beiden anderen die Prioritäten verrutscht: Statt sich auf ihr Spiel zu konzentrieren, führten sie eine aufdringlich lebhafte Unterhaltung und streiften dabei Themen, die Steenkamp wütend machten.

«Nennen wir es eine Investitionsmöglichkeit», sagte Peters, dem ein paar Haarsträhnen vom fast kahlen Schädel flatterten. Der Neue hatte seine Standposition eingenommen, um den nächsten Schlag vorzubereiten, brach jetzt aber unverrichteter Dinge wieder ab, stützte die Hände in die Seiten, musterte Peters interessiert und sagte: «Eine Investition, hm? Aber so ziemlich am Rande, also, am Rande …»

«Am Rande von allem», sagte Peters und lachte. Viel zu laut für den Golfplatz. Steenkamp biss die Zähne zusammen. Der Neue lachte auch. Er hieß Lorsch, und angeblich hatte er Geld. Neues Geld, keine zwei Generationen alt, mit Schnaps verdient. Er war braun gebrannt, schwer, ziemlich groß, vielleicht Mitte fünfzig: ein junger Mann. Für Steenkamp waren alle unter sechzig junge Männer. Weil sie noch Pläne und Ziele und etwas zu verlieren hatten. Er selbst war deutlich älter und lebte nur noch in der Gegenwart, und er konnte nicht sagen, dass es ihm dort gefiel.

Der Neue hatte ein offenes Gesicht, aber diese Offenheit wirkte gelernt und aufgesetzt, angemessen für den Golfplatz und ein Gespräch unter Kaufleuten, bedeutungslos darüber hinaus. Hinter dem offenen Gesicht ahnte Steenkamp Zurückgezogenheit und Diskretion, und das beruhigte ihn. Der Neue war seit mindestens zehn Jahren im Club, aber Peters und er hatten ihn bisher geschnitten. Höchstens, dass Peters einmal eine anzügliche Bemerkung gemacht hatte über die Frau des Neuen, die ab und zu im Club zu Mittag aß.

Aber die Situation hatte sich verändert: Seit Monaten versuchte Peters, ihn von einer Geschäftsidee zu überzeugen. Steenkamp verkrampfte sich innerlich, während er einige Meter abseits stand und die beiden bei ihrem absurden Geplänkel beobachtete. Was war passiert, dass einer seiner Mitspieler auf dem Platz oder im Clubhaus andere um Geld anging? Seit wann war eine halbe Million der Rede wert, oder besser: Peters’ Gefasel? Warum musste er, Steenkamp, sich das antun? Nur, weil Peters Dinge über ihn wusste, die andere nicht wussten? Weil er Peters auf den Leim gegangen war und ihm mit der hin und wieder aufflammenden Bedürftigkeit eines älteren Mannes von seinem Leben erzählt hatte, am Ende sogar von seinen Kindern? Von seinen Erfolgen und von Fehlern, die er mit den besten Absichten begangen hatte?

Wut stieg in ihm auf wie Magensäure. Die Situation mit der Firma. Er wusste nicht, was ihn wütender machte: die Formulierung oder das, was sie bedeutete. Wenn er Peters aufforderte, nicht von «Situation» zu sprechen, sagte der: «Schieflage». Steenkamp fand Metaphern feige. Die Wahrheit war: Durch ein paar wenige falsche Entscheidungen war es ihm auf verblüffende Weise gelungen, die Firma, die seit mehr als siebzig Jahren im Besitz seiner Familie war, an den Rand des Ruins zu bringen. Ruin: Das war ein Wort, mit dem er etwas anfangen konnte. Bisher hatte er es immer nur auf andere angewendet.

Um sich abzulenken, wandte Steenkamp sich ein wenig zur Seite, zog den Handschuh aus und steckte die Hand hinter den Hosenbund, tief, bis er dort alles wieder an seinen Ort schieben konnte. Seit der Prostataoperation bekam er in den seltsamsten Augenblicken Erektionen, weiche Schwellungen wie überreifes Obst. Peters und der Neue redeten immer noch, aber wenn man genauer hinsah, redete Peters, und der Neue hörte zu, seine Augen unsichtbar, weil sich in den tropfenförmigen Gläsern seiner Brille die Sonne spiegelte. Während Steenkamp den Handschuh wieder anzog, blickte er in Richtung Elbe, als seien dort Ruhe und Seelenfrieden zu finden.

Aber es hatte keinen Zweck. Zwischen dem zehnten und dem elften Loch stand am Rande des Grüns ein Schuppen, darin Geräte für die Rasenpflege und die Wartung der Carts. Damit die Greenkeeper auf dem Gelände einen zweiten Stützpunkt hatten und nicht jedes Mal den kilometerlangen Weg zurück zum Haupthaus und seinen Wirtschaftsgebäuden machen mussten. Die Clubleitung nannte den Schuppen «Maintenance Point», und Steenkamp hasste ihn. Wenn er hier stand und spielte, wollte er keine Rasenmäher sehen und keine Vertikutierer und ganz bestimmt auch keine Ersatzreifen für Carts – und zuallerletzt das seltsam südländische Personal mit den schwarzen Hosen und den weinroten Windjacken. Die Clubleitung hatte sich bemüht, den Schuppen in der Landschaft verschwinden zu lassen: braunes Holz, das Dach mit Gras bewachsen. Aber meistens stand die Tür offen, und wenn man einmal angefangen hatte, sich daran zu stören, konnte man den Schuppen nie wieder übersehen.

Wie immer, wenn er längere Zeit gestanden hatte, war Steenkamp überrascht, wie schwer seine Beine sich in Bewegung setzten und wie schwierig es war, ihnen die gewünschte Geschwindigkeit abzuverlangen. Er hörte, wie Peters und der Neue hinter ihm weiter in offenen Andeutungen über Geld sprachen, während er sich dem etwa fünfzig Meter entfernten Schuppen näherte. Die Tür stand offen, und an einer Hand auf dem Türblatt sah er von weitem, dass jemand vom Personal sich in Richtung Schuppeninneres bückte. Steenkamp näherte sich dem Schuppen so, dass die offen stehende Tür ihn auf seinem Weg verdeckte. Aus der Nähe sah er, dass sie aus schwerem, billigem Holz war wie eine Blockhüttentür in einem skandinavischen Freizeitpark, lackiert in einem beleidigenden Dunkelbraun, das viel zu billig glänzte, um zu einem Golfclub in den westlichen Elbvororten zu passen.

Steenkamp blieb stehen. Durch den etwa fingerbreiten Spalt zwischen Türblatt und Zarge sah er eine junge, blonde, eher osteuropäische als südländische Frau, die offenbar gerade fand, wonach sie gesucht hatte. Sie wandte sich um und machte einen Schritt in Richtung Tür, und für einen Moment war Steenkamp nicht sicher, ob ihre Blicke sich durch den Spalt getroffen hatten.

Als Steenkamp seine Hand auf die Außenseite der Tür legte, war er froh, einen Handschuh aus Kalbsleder zu tragen, denn er ahnte, wie trostlos und banal sich derlei lackierte Eiche anfühlte. Einen Sekundenbruchteil später, als er die junge Frau direkt dahinter wusste, stieß er mit der ganzen Kraft seines zwar alten, aber golftrainierten Armes die Eichentür Richtung Schloss, so, als wollte er sie wütend zuschlagen und wüsste nicht, dass dahinter ein Mensch war. Er hatte tief eingeatmet, seine Fußhaltung und Körperstellung auf optimale physikalische Wirkung hin ausgerichtet, und alles, was er im Körper hatte, in diesen Stoß gelegt. Er hatte seinen Arm noch nicht ganz durchgestreckt, als die Tür einen Lidschlag später gegen den Kopf der jungen Frau krachte. Er merkte, dass es ihr Kopf war und nicht die Schulter, denn das Schlaggeräusch kam von weiter oben, und es war hart, unnachgiebig, es hörte sich an, als hätte jemand auf einen Stapel Bretter ein weiteres geworfen.

Die Frau ächzte, aber sie schrie nicht, als sie in Steenkamps Gesichtsfeld fiel. Die Tür hatte sie oberhalb der Schläfe und am Wangenknochen getroffen, das sah er an ihren Wunden. Die untere war eine Prellung, die obere eine Platzwunde. Es überraschte ihn nicht zum ersten Mal in seinem Leben, wie hell das Kopfblut war, und er merkte, dass ihm gefiel, wie es in ihr blondes Haar lief. Abgesehen vom fast perfekt gespielten Golf am achten Loch vielleicht der erste Lichtblick heute.

«O mein Gott», sagte Steenkamp, «o mein Gott. Das tut mir so leid, ich habe Sie nicht gesehen.»

Die Frau war zu Boden gesunken und machte keine Anstalten, aus eigener Kraft wieder aufzustehen. Er packte sie so hart am Oberarm, wie er es früher mit Jette und Jörn gemacht hatte, als sie Kinder gewesen waren und laut. Er drückte seinen Daumen in ihr Fleisch, bis er ihren Oberarmknochen spürte, und vielleicht war es dieser zweite Schmerz, der sie zu sich kommen ließ. Sie stöhnte und versuchte, ihn abzuschütteln, aber er ließ sie nicht, sondern richtete sie auf, bis sie unsicher schwankend auf ihren Füßen stand und sich gegen ihn lehnen musste.

«Mein Gott», sagte Steenkamp, «ich wollte doch nur die Tür zuschlagen. Das sieht so hässlich aus vom Grün. Wenn die Tür hier immer offen steht. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie …»

Die junge Frau, die eigentlich ganz hübsch war, wenn er darüber hinwegsah, dass sie ein sehr rundes und etwas flaches Gesicht hatte, starrte ihn fassungslos an. «Aber Sie haben mich doch gesehen», sagte sie mit dem Anflug eines ausländischen Akzents. «Sie haben doch gesehen, dass ich gerade …»

«Um Gottes willen», sagte Steenkamp und schüttelte sie ein bisschen, und dann noch ein bisschen mehr, weil er wusste, dass sie zu verwirrt war, um sich dagegen zu wehren. «Was glauben Sie denn. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie ausgerechnet in dem Augenblick aus der Tür …»

«Aua», sagte die junge Frau, in deren Gesicht etwas zusammenzustürzen schien. «Sie tun mir weh.»

Steenkamp drückte noch einmal fest zu, als hätte er keine Kontrolle über seine Hand, und ließ sie dann los. Er sah befriedigt, wie sie zwei Schritte von ihm wegtaumelte, als wäre sie sehr betrunken. Während sie die Hand zum Kopf führte, sagte er: «Sie sollten das von einem Arzt anschauen lassen. Ich bin zwar selbst einer, aber ich praktiziere leider seit einigen Jahren nicht mehr.»

Als sie sich gefasst hatte und sich umdrehte, fielen ihm zwei Dinge auf: ihr Blick, der ihn wieder an Jette und Jörn erinnerte, denn darin lag eine Verständnislosigkeit, die noch größer war als Abscheu und Angst; und das wirklich schlechte Material der schwarzen Polyesterhosen, mit denen der Club sein Personal ausstattete. Das sollte man vielleicht mal an passender Stelle zur Sprache bringen, dachte Steenkamp.

«Und sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen!», rief er ihr hinterher, als sie unsicher und blutend den Sitz des Carts bestiegen hatte und sich in einem unklaren Halbkreis auf den Rückweg zum Clubhaus machte. Dann hob er den Sonnenschirm auf, den sie aus dem Schuppen geholt hatte, warf ihn achtlos zurück und schloss die Tür. Als er sich umdrehte, sah er, dass Peters und der Neue ihre Schläge gemacht hatten und auf ihn warteten. Er hatte keine Ahnung, was sie von seinem Missgeschick und dem bedauerlichen Unfall gesehen hatten, aber es war nicht wichtig. Er fühlte sich wieder besser und freute sich auf den nächsten Schlag. Golf gab ihm das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein; Golf war stärker als Reue, Vernunft und alle Pläne. Golf war klar und hell. Für ihn war Golf, was für andere Leute Liebe war. Und Liebe war für ihn, was für andere Leute Golf war: eine sinnlose und kostspielige Zeitverschwendung.

Während er überlegte, welches Eisen er jetzt nehmen sollte, betrachtete er Lorsch, den Neuen, der einen Schritt vor Peters stand und so aussah, als wäre er ein offener Mensch. Schräg hinter ihm machte Peters ein billiges, aber eindeutiges Zeichen: Daumen hoch, aber nur nebenhin, wie ein Selbstgespräch in Körpersprache: Der Neue war im Boot, zumindest interessiert. Steenkamp fühlte sich müde, aber besser, seit er seine Wut gewissermaßen vor dem Schuppen abgeladen hatte. Seit zwanzig Jahren hatte er diese Golfplatzfreundschaft mit Wilken Peters, der ihm außerhalb des Clubgeländes nicht mal sympathisch war. Der streng genommen nicht mal dazugehörte, ein Beamter, ein Funktionär, der sich hochgearbeitet hatte, statt immer schon da zu sein, wo man zu sein hatte. Peters hatte ihm genützt über die Jahre, aber er hätte ihn nie so nah an sich heranlassen dürfen. Oder?

Steenkamps Vater hatte immer gesagt: Man muss die Menschen verbrauchen, wie sie sind. Sein Vater hatte dies nie weiter ausgeführt, er hatte sich nur in unkommentierten Einzeilern geäußert. Aber in Steenkamps Erfahrung bedeutete verbrauchen in diesem Zusammenhang nur zwei Dinge: benutzen oder zerstören. Er verdrängte den Gedanken an die Frage, wie die Rollenverteilung in dieser Hinsicht bei Peters und ihm war. Stattdessen schenkte er Lorsch ein väterliches, sympathisch zerstreutes Lächeln und dachte: Ich weiß noch nicht, ob wir dich benutzen oder zerstören werden. Aber wir werden dich verbrauchen, wie du bist.

Teil 1Kaltausschiffung

1. Kapitel

Im Kinderzimmer bot sich Hauptkommissar Danowski ein schreckliches Bild. Er musste sich an den Türrahmen lehnen und für einen Moment die Augen schließen, so ohnmächtig fühlte er sich angesichts der Verheerung. Er atmete tief ein und langsam wieder aus und öffnete dann die Augen weit.

Das Bettzeug war aus dem Etagenbett gezogen und hing halb auf den Fußboden, als hätte jemand die Kinder im Schlaf gepackt und dabei aus Versehen einen Teil der Decken und Laken mitgegriffen. Braune FC-Sankt-Pauli-Bettwäsche oben, gestreifte Ikea-Bettwäsche in Rot und Gelb unten. Die Schränke und Schubladen waren aufgerissen, Spielzeug, Kleidungsstücke und Schulsachen über den Fußboden und die zu eng beieinander stehenden Möbel verteilt, als hätte jemand verzweifelt etwas gesucht. Unter dem mit halb abgekratzten Aufklebern verzierten weißen Kindertisch stand rotbraune Flüssigkeit in einer Lache, die an den Rändern bereits angetrocknet war. Und all das im Zwielicht aus Energiesparleuchtmittel und Maimorgen. Danowski nestelte an seiner Krawatte, um etwas mehr Luft zu bekommen. Dann wandte er sich in Richtung Flur und rief: «Stella! Martha! Seid ihr wahnsinnig? Was ist das hier?»

Er hörte, wie die beiden im Badezimmer kicherten. Immerhin waren sie inzwischen offenbar dabei, sich die Zähne zu putzen. Oder zumindest hatten sie sich dahin begeben, wo die nötigen Utensilien in Reichweite standen.

Leslie kam aus der Küche, er roch ihr Parfüm und hörte am Knarren der Flurdielen, wie weit sie noch entfernt war von ihm. Dann legte sie ihm den Arm um die Hüften, sah ins Kinderzimmer und sagte: «Auweia. Das mit dem Tuschwasser hab ich verbockt. Stella ist gestern Abend noch mal aufgestanden, weil sie unbedingt was malen wollte. Ich war einfach zu müde, um das zu verhindern. Und Martha wollte heute Morgen um fünf ein Bettlakenfort bauen. Aber der Rest …»

«Fernsehverbot», sagte Danowski. «Bis zum Abitur.»

«Finde ich prinzipiell gut», sagte seine Frau. «Aber ich glaube nicht, dass eines der Kinder das Abi schafft.»

«Dann tun wir jetzt einfach so, als wäre nichts, und du schimpfst heute Nachmittag in Ruhe.»

«Also wie immer.»

Sie küssten sich auf die nachlässige, aber nicht lieblose Art und Weise, mit der Ehepaare Ende dreißig einander eine Zuneigung ausdrückten, an die sie sich gewöhnt hatten wie an immer noch schöne Wandfarbe. Obwohl, dachte Danowski: Anfang vierzig. Als er sich umdrehte, stand Stella im Flur und bemerkte mit neunjährigem Ernst: «Wenn ich ein eigenes Zimmer hätte, würde ich auch aufräumen.»

«Das weiß ich», sagte Danowski. «Aber wenn du ein eigenes Zimmer hättest, wärst du nicht meine Tochter, und dann wäre es mir egal, ob du aufräumst oder nicht.» Leslie rollte mit den Augen, gab ihm einen Klaps auf den Hintern und ging in die Küche.

«Das verstehe ich nicht.» Stella sprang ihm unvermittelt auf den Arm. Ihre Knochigkeit und Wärme durch den dünnen Baumwollschlafanzug überwältigten Danowski.

«Na ja», erklärte er nach einer Weile, «ich bin der Mann, den deine Mama geheiratet hat, und deine Mama ist Lehrerin und ich bin Polizist, und im Moment können wir uns diese Wohnung hier leisten. Vielleicht ändert sich das eines Tages, aber dafür müssten wir aufs Land ziehen. Bis dahin teilen meine Töchter sich ein Zimmer. So habe ich das gemeint.»

«Wir könnten nach Pinneberg ziehen», schlug Stella vor.

«Du bist nicht mehr meine Tochter», sagte Danowski und tat, als wollte er sie zu Boden schleudern. Dann kam Martha aus dem Bad, nackt, und erzählte, wie sie zwei Tore geschossen hatte gegen den VfL Pinneberg am vorigen Wochenende. Leslie rief, die Kinder sollten sich anziehen, Drinnen- und Draußensachen, und gleich gehe es los, und ob er sie heute bringen könne, und im Radio missglückte die Übergabe von der Nachrichtensprecherin an den Wettermann, und auch wenn beide sich um freundliche Nüchternheit bemühten, hörte Danowski, dass sie genervt waren und es lange bleiben würden, und er spürte, dass Stella noch nicht bereit war, ihn loszulassen, obwohl sie langsam zu schwer für ihn wurde, erst recht, weil er Sorgen hatte und langsam gern allein gewesen wäre. Bei aller Liebe.

Montag und Dienstag: Leslie. Mittwoch und Freitag: er. Donnerstag war der Tag, den sie immer wieder verhandeln mussten: Bringst du heute die Kinder oder ich? Eigentlich ging es jedes Mal schief.

«Ich kann nicht.» Danowski sah auf die Uhr, obwohl er aus dem Radio wusste, dass es kurz nach halb acht war. «Ich habe eine Sache um acht.»

«Ist schon okay», sagte Leslie. «Aber ich hab morgen für die Kinder einen Impftermin gemacht. Vielleicht kannst du den übernehmen.» Danowski nickte und nahm seine Tasche. Er küsste die Kinder und schob sie in ihr Zimmer. «Hebt irgendwas vom Boden auf und zieht es an.»

«Du weißt, dass sie genau das tun werden», sagte Leslie und folgte ihm in den Hausflur, wobei sie die Tür festhielt, damit sie nicht ins Schloss fiel.

«Manchmal kann ich nicht glauben, dass wir ein Schuhregal haben, das im Treppenhaus steht», sagte Danowski, während er seine Halbschuhe anzog. «Als würden wir halb auf der Straße wohnen. Und fragst du dich nie, was die Nachbarn nachts mit unseren Schuhen machen? Dieser hier sieht richtig traumatisiert aus.»

«Was hast du für eine Sache um acht?», fragte Leslie und strich sich eine Strähne ihrer fast schwarzen Haare hinters Ohr. Danowski seufzte.

«Wegen … der ganzen Sachen.»

«Okay.» Leslie nickte mit ungeduldigem Ernst. «Eine Sache wegen der ganzen Sachen. Danke für das Gespräch.»

«Die Kopfschmerzen, dass ich mich nicht konzentrieren kann, dass ich immer müde bin. Dass mir alles zu viel ist. Diese Sachen.»

«Es heißt Leben.»

«Philosophisch.»

«Noch mal von vorn.»

«Okay. Ich war beim Arzt. Um mal zu gucken, ob ich auch endlich einen von diesen Burn-outs habe.»

«Und?» Warum gingen sie eigentlich ins Treppenhaus, wenn sie ungestört reden wollten? Und konnte es wirklich sein, dass seine Frau noch kleiner war als er und ihn jetzt trotzdem in den Arm nahm, als ginge er ihr nur bis zur Schulter?

«Er hat mich an einen Neurologen überwiesen. Und das ist heute. Die Sache. Die Ergebnisse.»

«Das ist nicht dein Ernst.» Leslie blickte auf. «Du hast das alles schon hinter dir? Die ganzen Untersuchungen?»

«Ja», sagte Danowski und fasste sie an den Schultern, um sie besser sehen zu können. «Es hat irgendwie nie so richtig die Gelegenheit gegeben …»

«Ach komm.»

«Okay», sagte Danowski. «Ich wusste, es geht vorbei, wenn ich nicht darüber rede. Dass es dann nichts Schlimmes ist. Das ist ja meistens so.»

«Kein Hirntumor.» Leslies Unerschrockenheit grenzte an Grausamkeit. «Kein Aneurysma.»

«Genau», sagte Danowski in eine frische Stille, die erst durch dieses Wort zu entstehen schien.

«Wir sprechen uns später», sagte Leslie schließlich. «Und du rufst mich an. Sofort. Alles Gute. Ich liebe dich.»

«Ich dich auch», sagte Danowski und sah, dass er einen Fehler gemacht hatte, den er nie wieder würde gutmachen können: Leslie würde vergessen, wie verletzt sie gerade gewesen war, aber er würde es wissen und sich noch daran erinnern, wenn sie pensioniert waren und endlich allein auf diesen fünfundsiebzig Quadratmetern hier am Ottenser Rand von Bahrenfeld wohnten. Falls er so lange lebte. Er schloss die Augen, fasste das Geländer und ging die Treppe hinab, als stiege er in ein Schwimmbecken, das kälter war als erwartet.

2. Kapitel

Die Chefin stand am Fenster und blickte hinunter Richtung Stadtpark, wo, wenn man es wusste, unter dem dichten grünen Blätterdach die Kirschen, der Ginster und der Rhododendron blühten, beleuchtet von der halsbrecherisch schrägen Morgensonne. Sicher, da blühte noch mehr, aber das andere Zeug interessierte sie nicht. Sie pflegte ihre Vorlieben und blendete den Rest aus, das betrachtete sie als bewährtes Organisationsprinzip, als Talent, ohne das sie es niemals – davon war sie überzeugt – an die Spitze der Mordbereitschaften beim Hamburger Landeskriminalamt geschafft hätte.

«Du siehst nur, was du sehen willst.» Ja, dieses Talent ließ sich auch in einen Vorwurf wenden, und ihre Freundin war darin Fachfrau. Gestritten hatten sie übers Heiraten, genauer gesagt darüber, sich eintragen zu lassen, womit der Fall für die Chefin bereits erledigt war: Sie verbrachte vierzig bis fünfzig Stunden in der Woche mit bürokratischen Vorgängen, da war ihr nicht danach zumute, in ihrem Privatleben einen weiteren zu feiern. «Wir haben doch alles», sagte sie dann, und ihre Freundin sagte dann eben: «Du siehst nur, was du sehen willst.»

Sie hörte das irritierende und zugleich langweilige Geräusch, wenn jemand an eine bereits offene Tür klopfte, um diskret auf sich aufmerksam zu machen. Sie wandte sich vom Fenster ab. Der Inspektionsleiter, den sie nur zwei- oder dreimal im Monat sah und der ihr jedes Mal einen Schrecken einjagte, weil er so alt geworden war in den letzten vierzig Jahren. Zwei Monate älter als sie, um genau zu sein.

«Morgen. Hast du schon gehört?»

Augenblicklich verspürte sie eine leichte Unruhe: Nein, denn alles, was sie gehört hatte, seit sie ins Präsidium gekommen war, war nichts, wonach jemand in diesem Ton gefragt hätte.

«Wir haben ein Kreuzfahrtschiff mit ungeklärter Todesursache an Bord. Route durch die Britischen Inseln. Ist heute Morgen in Altona eingelaufen. Italienische Reederei, Flagge Panama. Das heißt, wir haben an Bord eigentlich keine Jurisdiktion, das ist panamesisches Hoheitsgebiet. Aber …»

«Das brauchst du mir nicht zu erklären», sagte die Chefin.

«Aber der Tote ist offenbar Hamburger. Also müssen wir was unternehmen.»

Sie setzte sich und seufzte. Der Inspektionsleiter kam näher und kniete sich sportlich verklemmt mit einem Bein auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sie spürte, dass sie ihn nicht ausstehen konnte, so, wie sie früher ihre Hämorrhoiden gespürt hatte. Aber die hatte sie sich unter Vollnarkose entfernen lassen; der Inspektionsleiter würde bei ihr bleiben, solange sie hier arbeitete.

«Wie ist denn das reingekommen?»

«Küstenwache, Bremerhaven. Da gab’s einen anonymen Anruf. Bundespolizei ist auch schon da.»

«Unübersichtlich.»

«Ich kann dir sagen. Die Leute vom Präsidialbüro sind unruhig.»

«Wieso, ist doch, wie du sagst: nicht deutsche Jurisdiktion. Sondern Panama.»

Der Inspektionsleiter setzte sich auf seine Fußsohle, als wollte er betonen, was für ein informeller und kurzer Besuch dies hier war, aber sie merkte an der schmalen Gespanntheit seiner Körpersprache, dass er sich alles, was er sagte, auf dem Gang hierher genau überlegt hatte.

«Der Tote ist an einer merkwürdigen Krankheit gestorben, und es ist nicht ganz klar, ob er absichtlich infiziert wurde. Im anonymen Anruf heißt es, der Tote habe stark gefiebert und geblutet – schwer zu verstehen, das war auf Englisch mit Akzent, ihr kriegt dann den Mitschnitt und eine Abschrift. Jedenfalls sind sich alle einig, dass wir daraus keine große Sache machen dürfen. Diese Schiffsgeschichten geraten schnell außer Kontrolle, vor allem, wenn da fünfzehn-, sechzehnhundert Leute an Bord sind. Und die Stimmung ist so, dass wir dabei nur verlieren können. Wenn wir auf die Kollegen aus Panama warten, die eigentlich zuständig sind, sehen wir untätig aus, und wenn wir versuchen, das Ganze zu forcieren, verursachen wir eine Aufmerksamkeit, die vielleicht nicht angemessen ist. Ganz zu schweigen davon, dass wir Erwartungen wecken, die wir vielleicht nicht erfüllen können.»

Die Chefin lächelte. «Schöne Rede. Bisschen zurechtgelegt.»

Er versuchte, ihr Lächeln zu treffen. «Du weißt ja, wie’s ist.»

«Wenn du sagst, alle sind sich einig und so weiter, dann meinst du: der Vizepolizeipräsident will das.»

Er kniff die Augen zusammen, und sie sah, wie sehr sie ihm auf die Nerven ging: die alte Kuh, immer noch da, immer noch stur.

«Nämlich was genau?», fuhr sie fort: alt, stur.

«Dass die Sache ohne größere Umstände vorübergeht», sagte der Inspektionsleiter knapp. «Die Reederei lässt ein oder zwei Leute von dir an Bord, um die Todesursache festzustellen, vielleicht ein paar Spuren zu sichern, Kollegenhilfe für Panama. Es wäre schön, wenn du dafür ein, zwei Leute hättest, die …» Hier machte er eine Kunstpause und hob leicht theatralisch die Schultern, bevor er fortfuhr: «… besonders geeignet sind.»

«Weil sie faul und unfähig sind und die Geschichte lange genug verschleppen, bis wir sie los sind, ohne dass irgendwas an der Behörde oder am Polizeipräsidenten hängenbleibt?»

«Ich bin sicher, dass du niemanden hast, der faul und unfähig ist. Wie gesagt, diese Schiffsgeschichten sind immer kompliziert.»

«Molkenbur und Kalutza.»

Der Inspektionsleiter wiegte den Kopf und verzog den Mund, als lehnte er nur unter Schmerzen ab. «Eben nicht. Die beiden begutachten schon so lange routinemäßig nichts als ungeklärte Todesfälle, dass ich Angst habe, sie geraten in Aufregung und Übereifer, sobald das Ganze einen Hauch maritimen Glamour kriegt.»

Die Chefin sagte nichts.

«Ein eigentlich talentierter Polizist, dessen Entwicklung seit Jahren stagniert und der sich ebenfalls ins Team für ungeklärte Todesfälle hat versetzen lassen, weil ihm der Stress bei Ermittlungen in Strafsachen offenbar zu groß ist. Der hier nur noch seine Stunden abreißt, weil er es nicht erwarten kann, Feierabend zu machen. Nie ganz angekommen in Hamburg, vermutlich längst auf der Tauschliste für einen Platz zurück nach Berlin. Im Team mit einem trockenen Alkoholiker, der sich wacker bemüht, aber nie wieder seine alte Form erreichen wird und der nach seiner Rückkehr ebenfalls zu den ungeklärten Todesursachen versetzt worden ist. Das wären zwei Typen, die ideal dafür wären. Nicht zu offensichtlich auf dem Abstellgleis, aber wo man die Garantie hätte: Die reißen in den nächsten zwei, drei Tagen nicht zu viele Bäume aus.»

Sie fuhr sich durch ihre kurzen Haare, die in ihrer Erinnerung rotbraun waren, nahm ihre Gleitsichtbrille ab und rieb sich mit den Handballen die Augen. Der Inspektionsleiter ging zur weißen Tafel neben ihrer Tür, an der die Bereitschaftspläne hingen und in einem handschriftlich ergänzten Organigramm die Namen aller Kommissare. Er nahm einen Stift aus der Rinne und markierte mit je einem quietschenden Kreis zwei Namen.

«Danowski und Finzi», sagte er und warf den Stift eine Spur zu klappernd zurück. «Wenn ich du wäre, würde ich die dafür einteilen. Die haben ja sowieso Bereitschaft diese Woche. Auf die Weise kann Danowski seine ersten Überstunden des Jahres machen. Aber nicht zu viele.»

Er ging, nachdem sie genickt hatte. Während sie den Hörer nahm, um die beiden anzurufen, dachte sie: Meinetwegen. Das ziehe ich auch noch durch.

3. Kapitel

Ende der Achtziger hatte Danowski seinen ersten Aids-Test gemacht, kurz bevor er an seinem achtzehnten Geburtstag mit Leslie zusammengekommen war. Jetzt, wo er im Wartezimmer saß und auf den Neurologen wartete, erinnerte er sich an das Gefühl: ungläubige, unwirkliche Todesangst. Damals war es unwahrscheinlich, dass er sich bei einem einzigen One-Night-Stand mit HIV infiziert haben könnte, und trotzdem erschien es ihm, während er im zugigen Altbauflur des Zehlendorfer Gesundheitsamtes auf das Testergebnis wartete, absolut folgerichtig, dass es ausgerechnet ihn treffen würde. Nicht als Gottesstrafe oder Schicksal, sondern einfach, weil er kein Problem damit hatte, sich seine damals noch vergleichsweise kurze Lebensgeschichte mit dem Schlusssatz zu erzählen: «… und dann wurde eines Tages festgestellt, dass ich mich infiziert hatte.»

Danowski erinnerte sich an das metallische, undurchdringliche Angstgefühl, und jetzt war es genauso, es war nicht logisch, aber es klang auch überhaupt nicht falsch: halbwegs glückliche Kindheit im Westen Berlins, die Eltern alte Hippies, Mutter früh gestorben, die große Liebe im 12. Schuljahr getroffen und nie eine andere gesucht. Polizeiausbildung als einzige Möglichkeit zu rebellieren, der Umzug nach Hamburg, weil Leslie hier eine Stelle an einer guten Schule gefunden hatte, dann erste Tochter Stella, dann die Beförderung ins Dezernat für Tötungsdelikte. Eine Reihe von Ermittlungserfolgen, kurzfristig der Status als guter Polizist und Lieblingskind der Chefin, dann zweite Tochter Martha, dann die Erschöpfung, die Filmrisse, die Überforderung. Dann die Versetzung in die Abteilung für ungeklärte Todesursachen, weg vom Ermittlungsstress. Dann Stagnation im Job, Hirntumor, tot, Trauer, und das Leben der anderen ging ohne ihn weiter.

Danowski schloss die Augen. Zehntausende Geschichten gingen so zu Ende. Warum nicht seine? Welches Recht hatte er darauf, nicht zu denen zu gehören, die «Warum ich?» fragen mussten?

Er dachte daran, dass er heute Morgen kaum mit Martha gesprochen und sie nicht in den Arm genommen und vor allem: sie nicht abgekitzelt hatte. Was ihr Schönstes war. Es fiel ihm auf, als würde er die Vergrößerung einer Fotografie betrachten. Danowski konnte sich den Gesichtsausdruck von Martha, als sie aus dem Bad gekommen war und ihre große Schwester auf dem Arm ihres Vaters gesehen hatte, ganz genau vor sein inneres Auge holen: schon wieder zu spät, schon wieder nur Zweite.

«Adam Danowski?» Er schlug die Augen auf. Eine junge Sprechstundenhilfe, deren Atem nach löslichem Cappuccino roch, beugte sich über ihn. Gereizte Haut an den frisch gezupften Brauen, der Lippenstift etwas unregelmäßig, eine blonde Strähne auf der linken Seite. «Dr. Fischer ist jetzt so weit. Ich dachte, Sie schlafen.»

Danowski suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen: Holen Sie den Polizisten rein und seien Sie nett zu ihm, denn er wird gleich erfahren, dass er nur noch sechs Monate zu leben hat. Aber er sah nur wohlwollendes Desinteresse und etwas zu viel Mascara und dass sie ihren Chef nicht besonders mochte.

Dr. Fischer saß hinter seinem Schreibtisch und stand nicht auf, als er Danowski hereinwinkte und mit der gleichen Bewegung auf den Patientenstuhl zeigte. Sein langer Oberkörper war über die Computertastatur gebeugt, und seine Stirn berührte fast den Flachbildschirm. «Falsche Brille», murmelte er undeutlich und schluckte hinter beiläufig vorgehaltener Hand etwas hinunter.

Danowski musste lachen. Er hatte plötzlich das Gefühl, den ersten richtigen Atemzug des Tages zu tun. Die Lindenblätter vor dem Fenster waren die grünsten, die er je gesehen hatte. Er setzte sich und sagte, während Licht in ihn strömte: «Sie werden mir mitteilen, dass ich keinen Hirntumor habe. Es ist alles in Ordnung. Natürlich, ich weiß, dies ist trotzdem der erste Tag vom Rest meines Lebens, aber wie lang dieser Rest sein wird, hängt mit nichts zusammen, was Sie mir heute hier in diesem Zimmer sagen werden.»

«Guten Morgen, Herr Danowski», sagte der Arzt und nickte ihm zu, ohne aufzustehen. «Haben Sie sich Sorgen gemacht?»

«Erst nicht. Dann ja. Heute Morgen sehr.»

«Grundlos. Alle Untersuchungsergebnisse sind ohne Befund.»

«Danke.»

«Ich kann nichts dafür.»

«Und jetzt werden Sie mir sagen, dass ich mehr Sport treiben soll, kürzer treten bei der Arbeit, auf meine Work-Life-Balance achten. Ich kenn die Formulierungen.»

«Besser als ich anscheinend.»

«Aber ich mache praktisch nur noch Routine, am liebsten Innendienst, ich hab mich schon vor Jahren versetzen lassen, um jeden Nachmittag um fünf zu Hause zu sein. Und trotzdem dröhnt mir der Schädel, ich bin erschöpft, mir ist alles zu viel.» Er merkte, dass er sich anhörte, als gebe er Dr. Fischer die Schuld daran.

Der Arzt musterte ihn mit leicht zurückgelegtem Kopf durch die Brille, die zu weit vorn auf seiner Nase saß. Danowski spürte, dass Dr. Fischer etwas in petto hatte, dessen er sich selbst noch nicht ganz sicher war.

«Woher wussten Sie, dass ich keine schlechten Nachrichten für Sie habe?», fragte er.

«Die Art, wie Sie da gesessen haben», sagte Danowski, ohne nachzudenken. «Vornübergebeugt, nur mit Ihrem Rechner beschäftigt. Ich nehme an, Sie praktizieren seit etwa dreißig Jahren. Als Neurologe werden Sie immer wieder Menschen schlechte Nachrichten überbringen müssen. Und Sie werden sich, ob Sie es gemerkt haben oder nicht, ein gewisses Protokoll dafür zurechtgelegt haben. Sie werden es entweder sehr schnell oder sehr vorsichtig machen, und ich vermute, dass Sie aus einer Ärztegeneration kommen, in der man aufsteht und den Patienten mit Handschlag begrüßt und ihm in die Augen sieht, bevor man ihm sagt, dass er eine schwere Krankheit hat. Stattdessen haben Sie an Ihrem Computer herumgefummelt, weil es für Sie nichts Besonderes ist, Testergebnisse ohne Befund weiterzugeben. Ab und zu müssen Sie sich daran erinnern, dass es für Ihre Patienten von großer Bedeutung ist, aber … die Routine siegt.»

Dr. Fischer nickte.

«Vor allem das Käsebrot», fuhr Danowski fort. «Oder war es ein Wurstbrot? Sie haben irgendwas runtergeschluckt, als ich reinkam. Wahrscheinlich bin ich Ihr erster Patient, und Sie schaffen es manchmal nicht, zu Hause zu frühstücken. Aber wenn ich todkrank wäre, hätten Sie niemals von irgendwas abgebissen, bevor ich hier reinkam.»

Der Arzt runzelte die Stirn. «Die meisten Menschen sind in emotionalen Stresssituationen ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Neun von zehn Patienten könnten nicht sagen, was ich getan habe, bevor ich ihnen einen Befund mitgeteilt habe.»

«Ich interessiere mich eben für andere Menschen», sagte Danowski ironisch im Tonfall eines Bewerbungsgesprächs.

«Wirklich?»

«Es ist eher so, als würden die Informationen über andere Menschen auf mich einströmen, egal, ob ich mich für sie interessiere oder nicht.» Danowski wunderte sich über seinen Redefluss. Kein Wunder, dass ich Leslie nichts erzählt habe, dachte er. Man hört sich ja bescheuert an, wenn man so viel über sich selbst redet.

Dr. Fischer nickte. «Ich glaube, dass bei Ihnen eine neurologische Besonderheit vorliegt.»

«Irgendetwas, womit ich meinen Vater stolz machen oder meine Kinder beeindrucken kann?»

«Seit zehn, fünfzehn Jahren wird die sogenannte Hypersensibilität beschrieben. Menschen mit dieser Eigenschaft sind weitaus empfänglicher als andere für Sinnesreize und Eindrücke, sie haben eine außerordentliche Wahrnehmung dafür, was in anderen vorgeht, und eine ausgeprägte Intuition.»

«Hm», machte Danowski.

«Die Kehrseite ist, dass sie schnell erschöpft und überfordert sind.»

«Den Zusammenhang verstehe ich nicht», sagte Danowski.

«Sie müssen sich das vorstellen wie bei einem Computer. Ihr Hirn speichert alle Eindrücke in sehr viel höherer Auflösung als normal. Durch die Informationsflut ist Ihr Arbeitsspeicher überlastet, und Ihre Festplatte ist schneller voll. Sie brauchen Pausen, um Ihre Eindrücke zu verarbeiten. All das passiert automatisch und unfreiwillig, Sie können das nicht einfach abschalten. Vermutlich haben Sie diese Veranlagung schon Ihr ganzes Leben, aber je größer die Belastungen werden, desto mehr merken Sie das.»

«Hypersensibel», sagte Danowski und fand, dass das Wort nicht zu ihm passte. «Wenn das einer auf der Dienststelle erfährt, bin ich erledigt.»

«Es ist keine Krankheit. Es ist auch kein Symptom für irgendwas. Es ist einfach so, dass die Neuronenverbünde, die für die Reizdämpfung im Gehirn zuständig sind, bei Ihnen etwas unterentwickelt sind.»

Danowski zeigte mit dem Kinn auf den Rezeptblock auf der Schreibtischunterlage. «Und jetzt? Reizblocker forte in Drageeform?»

«Nein. Ein Beruhigungsmittel wie Adumbran oder Valium könnte Ihnen kurzfristig Erleichterung verschaffen, aber es würde nichts ändern. Menschen wie Sie wirken oft entweder schüchtern oder ruppig, zickig oder einfach sonderbar. Das kann zu Ausgrenzung führen. Dafür gibt es Selbsthilfegruppen.» Der Arzt reichte ihm eine Klarsichthülle mit einigen Kopien. Danowski blätterte mit dem Daumen durch die sechs, sieben Seiten und sagte zweifelnd: «Wirklich? Wikipedia und ein Zeitungsartikel? Das ist alles? Gab es dazu nichts in der Apotheken-Umschau?»

Dr. Fischer hob die Schultern und sagte: «Wie gesagt, es ist keine Krankheit. Und ich bin Arzt.»

«Und was raten Sie mir? Als Arzt?»

«Sie machen das schon richtig: Stress vermeiden. Und keine großen Menschengruppen. Keine unübersichtlichen Situationen. Achten Sie darauf, dass Sie immer Rückzugsmöglichkeiten haben, und begeben Sie sich nicht in Situationen, denen Sie sich nicht jederzeit entziehen können.»

«Okay», sagte Danowski. Er war erschöpft, verwirrt und erleichtert und auch ein bisschen befremdet von dem neuen Etikett, das man ihm angeklebt hatte. Eine Gefühlsmischung, die ihn an die Minuten unmittelbar nach seiner standesamtlichen Trauung vor zwölf Jahren erinnerte.

«Es wäre Ihnen lieber, wenn ich jetzt gehe», sagte er und stand auf, «denn Sie haben noch andere Patienten. Aber Sie wollen den Termin nicht einfach beenden, weil Sie wissen, dass ich mich fühle, als wäre ich gerade dem Tod entronnen. Außerdem würden Sie sich von mir ein wenig mehr Dankbarkeit dafür wünschen, dass Sie als Arzt sich ins unwissenschaftliche Gebiet schlecht erforschter neurologischer Phänomene begeben haben. Andererseits ist es Ihnen egal, denn Sie sind nicht mein Hausarzt, und es ist fast ausgeschlossen, dass wir uns, solange Sie praktizieren, noch einmal begegnen werden.»

«Wie gesagt: schüchtern, ruppig, zickig oder einfach sonderbar», sagte Dr. Fischer und gab ihm die Hand.

4. Kapitel

Auf der Ottenser Hauptstraße sah Danowski, dass es erst kurz nach halb neun war. Von tödlich erkrankt auf einfach nur gestört in unter einer halben Stunde: Das musste ihm erst mal einer nachmachen. Er beschloss, nicht ins Präsidium zu fahren, sondern zu Fuß zur Stresemannstraße zu laufen, um dort im Revier zwischen Autowaschanlage und Aral-Tankstelle Ermittlungsakten einzusehen über eine Häufung von Todesfällen in einem Pflegeheim am Volkspark. Wahrscheinlich nichts mit Relevanz für die Strafverfolgung, aber ein guter Weg, um den Vormittag über die Runden zu bringen, ohne sich mit den Kollegen im Präsidium herumplagen zu müssen. Er strich über seinen Anzug, wie er es früher als Raucher getan hatte, auf der Suche nach Zigaretten und Feuerzeug.

Kurz vor Stellas Geburt hatten Leslie und er das Vorhaben aufgeschoben, aus ihrer preiswerten Genossenschaftswohnung in Bahrenfeld ins familienfreundliche, beliebte und schrecklich schön kleinstädtische Ottensen zu ziehen. Weil sie es beide unsinnig fanden, mit einem Neugeborenen umzuziehen. Und weil Danowski die stille Hoffnung gehabt hatte, dass sie eher früher als später zurück nach Berlin gehen würden. Zehn Jahre später waren die Mieten in Ottensen doppelt so hoch wie damals, der Quadratmeter Neubau-Eigentumswohnung kostete fünftausend Euro, und die Familie Danowski blieb, wo sie war. «Bahrenfeld, Alter», hatte sein Kollege Finzi damals gesagt. «Ich habe zwanzig Jahre gebraucht, um da rauszukommen, und ihr zieht dahin.»

Dann klingelte ein Kinderfahrrad, und er wich einen Schritt zur Hauswand aus, um ein Laufrad und eine Mutter mit Hollandrad und Kindersitz vorbeizulassen, und dann noch eine. Und dann einen Vater und noch mehr Kinder. Die morgendliche Prozession zum Neun-Uhr-Frühstück in den Kindergärten, wenn seine Töchter schon seit über einer Stunde in der Frühbetreuung und in der Schule waren. Danowski probierte ein Lächeln und suchte einen Mülleimer für die Unterlagen. Der am nächsten Laternenpfahl war hoffnungslos überfüllt.

«Hey, Krawatte!» Danowski drehte sich um und sah, dass sein Kollege Finzi mit einem schwarzen Fünfer-BMW die enge Ottenser Hauptstraße blockierte. Finzi hatte das Fenster heruntergelassen, beugte sich über den Beifahrersitz und rief: «Zu deiner Konfirmation bitte hier einsteigen!»

Danowski gab sich einen Ruck, machte eine entschuldigende Geste zu den Autos hinter Finzi und stieg ein. Er brauchte einen Augenblick, um sich auf die neue Situation einzustellen. Der vertraute Geruch im Wageninneren half ihm dabei: ein nicht mehr neuer Fuhrparkwagen, der oft zur Observation eingesetzt wurde und unzähligen Kollegen als Aufenthaltsraum, Ess- und Schlafzimmer gedient hatte. Willkommen zu Hause. Er knüllte die Plastikhülle mit den Ausdrucken, die der Arzt ihm gegeben hatte, ins Seitenfach der Beifahrertür. Jedes Mal fiel ihm auf, dass Finzi nicht nach Alkohol roch. Weil er das früher morgens immer getan hatte. Finzi sah aus, als hätte er die Nacht in einem schlecht beleuchteten Keller verbracht: ein bisschen zerknautscht, die Augen schmal vom ungewohnten Licht. Er sprach laut und immer ein wenig übertrieben, als müsste er es üben, weil er außerhalb der Arbeit meistens allein war.

«Ich trage Anzüge, seit ich bei der Dienststelle bin, und du machst dich immer noch darüber lustig? Wirklich?», sagte Danowski und schnallte sich an. Seit er in Tötungsdelikten ermittelte, verkleidete er sich für seine Arbeit, damit er abends etwas zum Ausziehen und Weghängen hatte. Finzi lebte mit Anfang fünfzig noch immer stur den Gegenentwurf: Kapuzenpulli, Parka, ausgewaschene Jeans, Laufschuhe und T-Shirt. Klamotten für einen Grundschüler, dachte Danowski.

«Ein dünner Hering wie du sieht im Anzug immer aus, als hätte er was ausgefressen», sagte Finzi.

«Wo kommst du eigentlich her? Und wohin fahren wir? Ich muss die Pflegeheimakten in der Stresemannstraße abholen. Sprich mit mir, Andrea.» Finzi war eine Art Halbitaliener, hieß jedoch in Wahrheit Andreas Finzel. Seine Mutter stammte aus Würzburg und war nach dem Krieg nach Hamburg gekommen, weil sie die Sache mit dem Tor zur Welt geglaubt hatte. Dann lernte sie einen stämmigen Matrosen auf Landgang kennen, den sie für einen Italiener hielt und der von der Bildfläche verschwand, nachdem er sie geschwängert hatte. Sodass der kleine Andreas in dem nostalgischen Bewusstsein aufwuchs, Halbitaliener zu sein. Erst als Teenager war ihm klar geworden, dass seine Mutter hinsichtlich der Nationalität seines Vaters kaum mehr als ein Bauchgefühl hatte und er genauso gut Halbbulgare oder Halbportugiese sein mochte. Mit einer Mischung aus Trotz und Selbstironie ließ er sich Finzi nennen.

«Planänderung», sagte Finzi. «Wir haben einen Einsatz. Und Leslie hat mir verraten, wo du bist.»

«Leslie wusste gar nicht, wo ich bin.»

«Sie wusste zwei Dinge: Du bist beim Neurologen und du bist zu Fuß. Es gibt nur zwei Neurologen in fußläufiger Entfernung von eurer Wohnung. Kriminalpolizei, Finzi. Hält sich bei Ihnen ein Typ mit viel zu dünner Krawatte auf? Und dann zack, Blaulicht aufs Dach und ab durch die Fußgängerzone. So einfach geht das. Kennst du ja vielleicht noch von früher. Als du noch draußen unterwegs warst und nicht freiwillig Dienstpläne und Protokolle geschrieben hast.»

«Leslie hat dir erzählt, dass ich beim Neurologen bin?»

«Deine Frau hat keine Geheimnisse vor mir.»

«Du bist nicht im Ernst mit Blaulicht gefahren.»

«Natürlich nicht. Wir sind in Hamburg, das Blaulicht ist kaputt. Und du hast nicht im Ernst einen Hirntumor, oder?»

«Nein. Aber dafür hab ich dich.» Danowski wunderte sich über Leslie.

«Und warum muss jemand mit so einem winzigen und aristokratischen Schädel wie du zum Neurologen?»

«Wegen meiner Migräne.»

«Na gut, dann lass ich dich heute Abend in Ruhe.»

Danowski atmete aus und holte seine Sonnenbrille aus der Brusttasche. Er griff nach einem der beiden Pappbecher im Getränkehalter. Ohne nachzudenken, führte er ihn zum Mund. Bitter und kalt. Finzi kicherte.

«Von Behling und Jurkschat gestern Nacht. Würde mich nicht wundern, wenn da noch ’ne Kippe drin ist.»

«War ja klar», sagte Danowski und sehnte sich nach dem Aktenzimmer und der Asservatenkammer im Revier an der Stresemannstraße. «Und was machen wir?»

«Okay», sagte Finzi, der inzwischen auf die Keplerstraße Richtung Osten abgebogen war. «Wir haben einen Toten an Bord eines Schiffes, das heute Morgen im Hafen eingelaufen ist.»

«Aha», sagte Danowski. «Findet ihr, dass ihr noch nicht genug Tote hier in der Stadt habt? Müsst ihr die jetzt schon von auswärts auf dem Seewege anliefern lassen?»

«Rührend, wie du nach all den Jahren immer noch so tust, als wärst du gerade von der Transitautobahn aus der Hauptstadt gekommen. Jedenfalls ein Passagierschiff. Vor zehn Tagen vom Cruise Terminal zu einer Kreuzfahrt durch die Britischen Inseln aufgebrochen, planmäßige Rückkehr wäre heute Mittag gewesen, aber schon heute Morgen um 5 Uhr 30 wieder hier eingelaufen. Es hat da ein paar Verwicklungen gegeben.»

Danowski kannte die Begeisterung der Hamburger für die großen Kreuzfahrtschiffe, die zwischen Mai und September im Hafen einliefen: Wenn die «Queen Mary 2» kam, brach auf der Elbchaussee vor lauter Schaulustigen der Verkehr zusammen. Ihm verursachten die großen Schiffe Unbehagen. Sie sahen aus wie schwimmende Satellitenstädte, und er stellte sich vor, dass die Kabinen zu eng waren, der Frohsinn zu organisiert und die unausweichliche Gemeinschaft mit tausend oder zweitausend anderen eher teure Gefangenschaft.

«Verstehe ich nicht», sagte er. «Das ist doch erst mal Küstenwache oder Wasserschutzpolizei und dann allenfalls Bundespolizei. Und weil die Kreuzfahrtschiffe alle unter anderer Flagge fahren, sowieso nichts für uns.»

«Ich weiß auch nicht. Die Chefin hat gesagt, das sei reine Routine: Feststellung der Todesursache mit den Kollegen der Rechtsmedizin, Fundortbegutachtung, Ausschluss Fremdverschulden, Stempel drauf, Ende der Durchsage. Du darfst auch den ganzen Papierkram machen, versprochen.»

Ich hasse unübersichtliche Situationen, dachte Danowski und rieb sich die Augen unter der Sonnenbrille.

«Der Tote ist vermutlich an einer Krankheit gestorben, ein seltenes Grippevirus oder so was. Eigentlich hätten sie Bremerhaven anlaufen müssen, um ihn an Land zu bringen. Aber die Wasserschutzpolizei hat einen anonymen Anruf von Bord erhalten: dass irgendwas mit der Leiche nicht in Ordnung ist, nicht transportfähig oder so was. Angeblich hat der Kapitän versucht, das Ganze zu vertuschen.»

«Bringt wahrscheinlich Unglück, einen Toten an Bord zu haben.»

«Jedenfalls hat die Wasserschutzpolizei die Sache auf die Bundespolizei abgewälzt, und die Jungs haben den Kapitän angewiesen, wie geplant Hamburg anzulaufen. Ich vermute mal, die werden uns den Fall überlassen. Die haben ihr Übergabeprotokoll fertig, bevor wir über die Gangway sind.»

«Die Glücksies», brummte Danowski düster, ein Lieblingswort seiner Kinder aufgreifend.

«Jetzt reiß dich mal zusammen», sagte Finzi gutgelaunt. «Das ist echte Polizeiarbeit.»

«Was wissen wir über den Toten?», fragte Danowski in gespielt offiziellem Tonfall, um Finzi eine Freude zu machen.

Sie standen an der Ampel am Altonaer Balkon, und Finzi angelte einen Aktendeckel von der Rückbank. «Glaubst du, ich lerne das Zeug auswendig?»

«Carsten Lorsch», las Danowski. «54 Jahre alt, geboren in Langenhorn, Spirituosen-Importeur, wohnhaft Cordsstraße 49 in 22609. Wo ist das?»

«Nienstedten.»

«Hm. Pfeffersack aus den Elbvororten macht eine Kreuzfahrt, verkühlt sich abends an Deck und stirbt an Grippe, weil er die Impfung verpasst hat. Ein Fall für Finzi und Danowski.»

«Endlich bist du an Bord.» Finzi ballte scherzhaft die Hand zur Faust und bog mit dem Zeigefinger am Lenkrad rechts ab Richtung Cruise Terminal.

«Was dagegen, wenn ich im Auto warte?», fragte Danowski.

 

Am Blick auf die Elbe zwischen Landungsbrücken und Övelgönne hatte selbst er nichts auszusetzen. Die Kräne des Containerhafens auf der anderen Flussseite, die Tanks und Silos und dahinter die scheinbar frei schwebende Trasse der Köhlbrandbrücke, all das eingerahmt und durchzogen von der Elbe und ihren Hafenbecken – es wirkte je nach Wetter und Tageszeit auf ihn futuristisch, postkartenschön, anheimelnd oder auf erhabene Weise menschenfremd und abweisend. Heute überzog die Sonne alles mit einem harten Glanz, sodass Danowski selbst hinter den dunklen Gläsern die Augen zusammenkneifen musste. Der Kreuzfahrtschiffanleger mit dem etwas ungelenken Namen «Hamburg Cruise Center Altona» war erst vor knapp einem Jahr eröffnet worden: eine relativ flache, leicht asymmetrische Durchgangshalle mit großen Glaswänden, gehalten von einer grauen Stahlkonstruktion, davor eine sehr große und etwa halb gefüllte Parkplatzfläche. Und dahinter das Schiff. Danowski hatte Mühe, es mit einem Blick zu erfassen, denn sie waren schon zu nah. Unmöglich zu schätzen, wie lang oder hoch es war: Als sie aus dem Wagen stiegen, schien es in jede Richtung aus seinem Blickfeld zu ragen. Wenn er hinaufsah, wurde ihm schwindelig. Durch die Glasfassade des Terminalgebäudes konnte man eine steile Gangway sehen, die zu einem etwa fünf Meter breiten Eingang im Schiffsrumpf führte. Das Schiff wirkte unruhig: Es hatte Tausende Augen. An jedem Meter Reling, hinter jedem Bullauge und auf jedem Balkon standen Menschen und sahen von Weitem auf sie herab.

Während Finzi unternehmungslustig auf eine Gruppe von Uniformierten und Kollegen in Zivil zulief, blieb Danowski zurück, um sich zu orientieren. Auf dem Parkplatz lehnten Leute an ihren Autos, sprachen in Handys und sahen, indem sie ihre Augen mit flachen Händen gegen die Sonne abschirmten, zum Schiff hinauf, als könnten sie etwas verpassen; Abholer, die eher ungeduldig als besorgt wirkten. Vor allem aber: der Transporter der Spurensicherung, zwei Mannschaftswagen von der Bundespolizei, ein Passat vom Zoll, zwei Streifenwagen und mehrere BMW und Opel, die Danowski aus dem Fuhrpark kannte. Großes Aufgebot. Er wandte sich zur Seite und sah den Krankenwagen von der Uniklinik und daneben den alten roten Golf von Kristina Ehlers, Ärztin am Institut für Rechtsmedizin. Jedenfalls war das hier keine Routineangelegenheit, sondern ganz bestimmt das Gegenteil von dem, was er für seine weitere berufliche Laufbahn geplant hatte. Das ist nicht das, was mein Arzt mir geraten hat, dachte Danowski und modulierte seine innere Stimme Richtung Arztserie.

«Ah, Balsam für meine wunden Augen», rief jemand viel zu nah an seinem Ohr. Er fuhr herum und fand sich so dicht einer blonden und hastig geschminkten Frau seines Alters gegenüber, dass ihr Gesicht seine ganze Welt auszufüllen schien. Er trat einen Schritt zurück. Kristina Ehlers sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Und heute Morgen wie immer die leichte Befürchtung, als Rechtsmedizinerin nicht hierherzugehören und insgesamt nicht ernst genommen zu werden: Liefere deinen Bericht und gib uns die Fakten, aber geh uns nicht auf die Nerven. Ein charakteristisches Schniefen, als ziehe sie in ihrer Freizeit hin und wieder Substanzen durch ihre blasse Nase, für die Danowski sich nur interessierte, wenn andere daran starben oder sich gegenseitig dafür umbrachten. Und im linken Ohr viel mehr Löcher, als sie heute noch brauchte. Weshalb er nicht anders konnte, als sie sich in den Achtzigern mit asymmetrischer Frisur, zwölf Ohrsteckern und vorsichtiger Zuversicht in den Augen vorzustellen. Danowski meinte, unter dem kalten Zigarettenrauch eine Schicht nicht besonders guten Rotweins wahrzunehmen, und darüber Kaffeegeruch. Den Zigarettenrauch roch er gern.

«Frau Doktor Ehlers», sagte Danowski resigniert und streckte seine Hand aus. Sie ging ihm auf die Nerven, aber schon so lange, dass er die Art und Weise als vertraut empfand. «Ebenfalls schön, Sie zu sehen.»

«Adam. Seit wann siezen wir uns?», fragte sie und gab ihm die Hand, Fingernägel und Nagelhäutchen heruntergebissen bis kurz vors Blut.

«Wir haben uns noch nie gesiezt. Ich sieze Sie, und Sie duzen mich. So geht das seit dem ersten Tag.»

«Können wir das nicht mal ganz in Ruhe besprechen, zum Beispiel heute Abend? Bei mir? Ich koche auch.»

«Das möchte ich mir gar nicht vorstellen. Außerdem glaube ich nicht, dass Sie bis heute Abend durchhalten würden.»

«Das klingt so vielversprechend.» Sie ließ seine Hand los.

«Ich meine damit, Sie sehen aus, als wären Sie seit Tagen auf den Beinen», sagte er.

Kristina Ehlers zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch schräg aus dem Mundwinkel und sagte mit Blick auf das Schiff: «Das stimmt. Ich hab mich letzte Nacht ein bisschen verfeiert. Und dann habe ich von der Sache hier gehört und bin direkt hergekommen.»

«Seit wann machen Sie Hausbesuche? Die Toten kommen doch von allein nach Eppendorf.»

«Drei Sorten Polizei und Gerüchte über ein exotisches Virus, dafür mach ich schon mal einen Umweg.»

«Gerüchte? Woher kommen die denn?», fragte Danowski.

«Aus dem Präsidium. Manche Ihrer Kollegen rufen mich an, wenn’s interessant wird.»

Und nur Finzi redete von Grippe: Sie waren wie so oft diejenigen, die am wenigsten wussten.

«Außerdem war ich noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff», sagte Ehlers.

«Dann können Sie sich ja mit Finzi zusammentun, der freut sich auch schon darauf.»

«Ach», sagte sie und blickte in Richtung Finzi, der gerade ausladend gestikulierte und offenbar dabei war, einen desinteressierten Einsatzleiter der Bundespolizei mit seiner Körpergröße und Vehemenz nicht zu beeindrucken. «Der ist mir zu grob und eindimensional. Außerdem ist mein Bett nur eins vierzig breit. Ich bin auf schmale Männer angewiesen.»

Finzi kam zurück, übersah die Rechtsmedizinerin mit Nachdruck und berichtete: «Okay, es gibt ein winzigkleines Problem. Der Bundespolizei-Spacken sagt, dass hier die Behörde für Gesundheit die Ansagen macht. Und die haben ihn und seine grünen Jungs beauftragt, das Schiff zu sichern. Jetzt können wir darüber streiten, was sichern bedeutet, aber wir können auch einfach unsere Ausweise nehmen und da reinmarschieren.»

«Wer macht denn die Spurensicherung?»

«Ein paar Kollegen vom örtlichen Revier, sind aber längst Kaffee trinken. Die Bundespolizei hat sie nicht durchgelassen.»

«Dann winken wir noch mal und fahren brav ins Präsidium und sagen, dass wir hier nicht reinkommen, und …»

«Buhuhu. Interessiert dich gar nicht, was hier los ist?», fragte Finzi, langsam gereizt.

Danowski überlegte. Manchmal hatte er den Eindruck, dass Finzi einfach nur Angst hatte, sich zu langweilen, sobald nichts los war. Eine Zeitlang waren sie fast so was wie Freunde gewesen, aber es war irgendwann zu viel geworden für Danowski: der Alkohol, der Zusammenbruch, der Auszug von Finzis Frau Britta, die Danowski im Grunde an Finzi am liebsten gemocht hatte. Er hatte keine Ahnung mehr, was Finzi machte, wenn er nicht im Dienst war, aber er vermutete, dass es nicht viel war. «Nein», sagte er schließlich. «Ich bin kein Arzt. Was anderes scheint hier im Moment nicht gebraucht zu werden, also …»

«Ganz genau», sagte Kristina Ehlers und trat ihre Zigarette mit dem Stiefelabsatz aus, «und deshalb gehe ich jetzt da hoch und schaue mir an, was da los ist.»

Finzi, der sie nicht ausstehen konnte, weil er vor Jahren zu lange vergeblich hinter ihr her und vielleicht sogar in sie verliebt gewesen war, schaute irritiert in ihre Richtung und sagte zu Danowski: «Du hörst die Frau Doktor. Ich sage, wir gehen mit, um sie im Zweifelsfall am Betreten des Schiffes zu hindern. Falls uns die Typen der Bundespolizei um Kollegenhilfe bitten. Oder um darauf zu achten, dass sie uns nicht einen potenziellen Tatort kontaminiert.»

«Blablabla», sagte Kristina Ehlers und ging los Richtung Gangway. Finzi machte eine übertriebene Nach-Ihnen-Geste, und Danowski zuckte mit den Schultern. Er merkte, dass die Leute der Bundespolizei sie beobachteten, und er wollte nichts von der Schwäche zeigen, die ihn bis unter die Haarwurzeln zu erfüllen schien, als wäre Schwäche etwas Greifbares, wie ein pastellfarbener Dämmstoff aus dem Baumarkt. Dann gingen er und Finzi der Ärztin hinterher.

«Der erste Posten steht an der Tenderpforte, weiter kommt ihr sowieso nicht!», rief ihnen der Einsatzleiter hinterher. Danowski sah noch, wie ein VW-Transporter vom NDR auf den Parkplatz fuhr, dann wandte er seinen Blick nach vorne dem Schiff zu. Es war vor allem weiß, aber unharmonisch: Der Schiffsrumpf war mit blauen, türkis- und petrolfarbenen Wellen verziert, so, wie Kinder das Meer malen; die einzelnen Decks sahen fast alle unterschiedlich aus, als habe ein ganzes Komitee von Schiffsbauern sich nicht auf eine einheitliche Form einigen können. Auf Höhe der Pier begannen zwei Reihen fernseherförmiger Bullaugen, dann ein Deck mit einem zurückgesetzten Rundweg, darin am Gangwayende die Öffnung, die der Angeber von der Bundespolizei als «Tenderpforte» bezeichnet hatte. Darüber fünf gelb-weiße Beiboote und ein Deck mit Balkonen, die offenbar zu den wirklich teuren Kabinen gehörten, und dann mehrere Decks mit unterschiedlichen Glasfronten, hinter denen Danowski Restaurants, Bars, Fitnessräume und insgesamt allerhand Remmidemmi vermutete. Darüber dann – er musste sich weit zurücklehnen, um das noch zu erkennen – zwei offene Decks, vorne die Brücke, hinten der aerodynamisch geschwungene Schornstein. Der Schiffsname «MS Große Freiheit» prangte vorne am Rumpf, oben unterhalb der Brücke und in bunten Buchstaben am Schornstein, als habe die Reederei ihn wirklich auf gar keinen Fall vergessen wollen.

Die großen Container- oder Kühlschiffe, die Tanker und Frachter, die Danowski am Wochenende mit der Familie vom Elbstrand aus bestaunte, als bräuchte man nur den Arm auszustrecken, um ihre großflächig kalfaterte raue Metallhaut zu berühren, waren von erdrückend gleichgültiger Schönheit. Die «Große Freiheit» hatte nichts davon: Das Schiff wirkte nervös, als müsse es mit aller Kraft jedem gefallen und als könne es dabei doch immer nur eine leichte Enttäuschung verursachen.

«Mittlere Schiffsklasse», nuschelte Kristina Ehlers am Filter ihrer nächsten Zigarette vorbei. «Ich schätze mal so zwölf- bis fünfzehnhundert Passagiere, dreihundert Besatzungsmitglieder. Etwa zehn bis fünfzehn Jahre alt. Alt für so ein Schiff. Lief bis vor drei Jahren unter dem Namen ‹MS Romantic›, aber die Reederei hat sie umbenannt, um sie vor allem in Deutschland zu vermarkten. Zweihundert Meter lang, fünfzig Meter hoch …»

«Ist ja irre», sagte Finzi. «Was Akademiker nicht alles wissen.»

«Kleines Hobby von mir», sagte Ehlers.

«Große Schiffe?», fragte Finzi, gegen seinen Willen offenbar schon wieder fasziniert von ihr.

«Nee», sagte sie trocken. «Alles zu wissen.»

Danowski blieb stehen. Er hatte die Sonne schräg im Rücken und blickte in die funkelnde Fläche von Gesichtern der Menschen, die vom Schiff auf ihn heruntersahen. Er hatte das Gefühl, plötzlich von einer Flut von Informationen fortgerissen zu werden: so viel zu lesen, so viel zu verstehen. Familiengesichter, alte Gesichter, Kindergesichter, helle Gesichter und dunkle. Die dunklen in allen Schattierungen eher über weißen und blauen Uniformen, Personal. Die hellen Gesichter über Freizeitkleidung, sehr viele Pullover, die lässig über nach vorn gebeugte Schultern geschlungen waren. Er riss sich los, denn er konnte von hier aus ohnehin nicht genug erkennen. Abgesehen davon, dass die meisten Gesichter unbewegt waren, abwartend, skeptisch, so, als wäre er derjenige, der jetzt durch ein Handzeichen den Bann brechen und alle würde von Bord gehen lassen.

Danowski schloss die Augen. Er hörte, wie die Container auf der anderen Seite der Elbe knallten, das unrhythmische Knacken und Knistern der Funkgeräte vom Pier und von der Tenderpforte, Möwen und wie Wasser sich bewegte. Die Elbe roch frisch, fast salzig, aber darüber lag eine dicke Schicht Dieselabgase, die ihn daran erinnerte, dass die Motoren des Schiffes im Leerlauf weiterarbeiteten, um Strom zu erzeugen und die Systeme an Bord aufrechtzuerhalten.

Als er sich zum Weitergehen zwang, mit Blick immer noch auf das Schiff und all die angespannt wartenden Passagiere, reagierte sein Körper unwillkürlich mit einer tief in Vergessenheit geratenen Muskelerinnerung: Danowski winkte, weil man Schiffen winkte, egal, ob sie an einem vorüberzogen oder vor einem lagen.

Niemand an Bord winkte zurück.

Auf einem Balkon drehte sich eine junge Frau weg, die Personaluniform trug und afrikanisch aussah, und ging ohne einen Blick zurück ins Dunkel. Es fiel Danowski auf, weil dieser Balkon damit als einziger menschenleer war.

Hinter dem Eingang öffnete sich im Inneren des Schiffes ein Foyer, das über mehrere Stockwerke zu gehen schien, mit Balustraden, an denen sich künstliche Palmen nach oben rankten. Zwischen zwei stehenden Rolltreppen wand sich eine große, leicht zur Seite geschwungene helle Treppe aus Marmorimitat. Es sah aus wie die Halle eines besseren, aber nicht besonders schönen Kettenhotels oder wie der Eingangsbereich eines Einkaufszentrums. Mehr konnte Danowski nicht erkennen, denn der angekündigte Posten der Bundespolizei ließ sie nicht passieren. Ein paar Beamte, die Danowski nur noch als grünes Grüppchen wahrnahm, mit dem Finzi und Ehlers vergeblich verhandelten. An den Geländern der Balustraden standen weitere Passagiere, aber die Stimmung war gespannter, als er von draußen vermutet hatte. Er meinte fast, die Spuren zu sehen, die die Gerüchte in den Gesichtern der Passagiere hinterlassen hatten. Einer ist tot, weißt du wer? Der Dicke vom Nachbartisch, der melancholische Zweite Offizier, der Schiffsarzt mit den gebleichten Zähnen? Es war ein Herzinfarkt. Es war Selbstmord. Einfach tot umgefallen, vor allen Leuten. Tagelang tot in der Kabine, und keiner hat’s gemerkt. Manche wollten ihr Geld zurück, anderen war es egal, und dazwischen hielten sich jene am Geländer fest, bei denen jetzt erst die Wirkung der Longdrinks und des Valiums nachließ und die sich noch nicht zu fragen trauten, ob sie was verpasst hatten. Und die Kinder, für die alles in Ordnung war, solange sie ihren Eltern nicht anmerkten, dass die anfingen, sich Sorgen zu machen. Als wäre sein Blick ein Schleppnetz, in dem alles hängenblieb: das, was er suchte; das, wovon er noch nicht wusste, ob er es brauchen würde; und das, was toter Ballast war, nutzloses Wissen.