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Danowski: Unter Wasser E-Book

Till Raether

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Beschreibung

Nominiert für den Friedrich-Glauser-Preis 2019! In Hamburgs beliebtestem Spaßbad wird eine junge Frau verschleppt, am Sonnabendvormittag, zur absoluten Stoßzeit. Mittendrin Kommissar Adam Danowski und seine Tochter. Sie erleben die kippende Stimmung, die Panik. Die Entführung sorgt für großes Aufsehen. Weil das Bad immer wieder wegen sexueller Belästigung in den Schlagzeilen war. Und weil die Entführte Billi Swopp ist, eine bekannte YouTuberin, deren Videos aber längst nicht mehr so erfolgreich sind wie vor ein paar Jahren. Danowski ist sich deshalb sicher, dass Billi ihre Entführung inszeniert hat, um wieder mehr Klicks zu bekommen. Doch dann melden sich die Entführer, und ihre Drohungen sind weitaus schlimmer als alles, was Danowski sich ausgemalt hätte. Mit der Sondereinheit seiner Kollegin Meta Jurkschat und seinem alten Partner Finzi taucht er in eine Welt ein, in der die Grenzen der Menschlichkeit laufend verschoben werden und niemand mehr festen Boden unter den Füßen hat.

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Till Raether

Danowski: Unter Wasser

Kriminalroman

Über dieses Buch

In Hamburgs beliebtestem Spaßbad wird eine junge Frau verschleppt, am Sonnabendvormittag, zur absoluten Stoßzeit. Mittendrin Kommissar Adam Danowski und seine Tochter. Sie erleben die kippende Stimmung, die Panik. Die Entführung sorgt für großes Aufsehen. Weil das Bad immer wieder wegen sexueller Belästigung in den Schlagzeilen war. Und weil die Entführte Billi Swopp ist, eine bekannte YouTuberin, deren Videos aber längst nicht mehr so erfolgreich sind wie vor ein paar Jahren.

Danowski ist sich deshalb sicher, dass Billi ihre Entführung inszeniert hat, um wieder mehr Klicks zu bekommen. Doch dann melden sich die Entführer, und ihre Drohungen sind weitaus schlimmer als alles, was Danowski sich ausgemalt hätte. Mit der Sondereinheit seiner Kollegin Meta Jurkschat und seinem alten Partner Finzi taucht er in eine Welt ein, in der die Grenzen der Menschlichkeit laufend verschoben werden und niemand mehr festen Boden unter den Füßen hat.

 

«Genauso abgründig wie lustig. Im Zentrum steht ein entführter YouTube-Star. Da Danowski sehr wenig vom Internet versteht, sieht man dabei zu, wie einem Mann die Welt abhandenkommt, die er mal verstanden hat. Dass das nicht in ein ‹Früher war alles besser›-Lamento kippt, liegt vor allem an Raethers Gespür für Witz und absurde Situationskomik, gepaart mit herrlicher Lakonie.» Die ZEIT

 

«In knappen, messerscharfen Sätzen erzählt der Autor von einer digitalen Welt des blanken Wahnsinns und konfrontiert uns mit einer beispiellosen Eskalation des Schreckens.» Die Glauser-Jury

 

«Stilistisch ein Feuerwerk, fintenreich komponiert.» Hörzu

 

«Packend und souverän.» Die Welt

 

«Spannend bis zur letzten Seite!» Hamburger Abendblatt

Vita

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u. a. für Brigitte, Brigitte Woman und das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Seine Romane «Treibland» und «Unter Wasser» wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser. «Blutapfel» wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, Regie führte Markus Imboden.

Für Beatchy und ente.tainor

Unterwasser, das. Worttrennung:

Un|ter|was|ser.

1. Grundwasser (veraltet);

2. tiefere Wasserregionen (Tauchsport);

3. beim Wasserbau (Wehr, Stauanlage o.ä.) unterhalb des Oberwassers gelegene Seite eines Bauwerkes.

 

Handbuch Hydrotechnik,

Friederikenburg 1985

Steht also ein Mann in einem Pool voller Blut.

Wie, der ganze Pool ist voller Blut? Bis zum Rand?

Mann. Nein. Aber da wo der Mann steht, ist das Wasser rot, weil da so viel Blut drin ist, dass das aussieht, als ob …

Und wie tief ist der Pool?

Lass mich doch mal ausreden. Der steht da so bis zu den Knien drin. Oder bis zum Bauch. Ist doch egal.

Okay. Ist das sein Blut?

Auch.

Auch? Echt?

Also. Außer ihm ist keiner da drin. Aber plötzlich sind sie zu zweit, und der andere ist tot …

Wie, zu zweit?

Und die Rutsche ist verstopft. Was ist passiert?

 

Kann doch sein. Dass unendlich viele Universen parallel existieren. Und dass in einem davon alles, was du erlebst, ein Rätsel ist, das Kinder einander erzählen, um sich die Zeit auf einer langen Autofahrt zu vertreiben. Wenn ihnen die Eltern die Geräte weggenommen haben. Eines von diesen Rätseln, die auf Schulhöfen und Übernachtungspartys weitererzählt werden: Steht ein Mann in einer Telefonzelle, stirbt er plötzlich. Springt ein Mann aus dem Fenster, aber bevor er unten ankommt, bereut er es.

Steht also ein Mann in einem Pool voller Blut.

Was ist passiert?

1. Kapitel

Ein großes Haus, bis zur Decke voll Müll. Zumindest in einem Raum hatten sie das geschafft, hinten, neben dem Fenster, durch das man auf die Ginsterbüsche und den verwilderten Garten sah.

März, der Frühling musste sich noch durchkämpfen.

Und in der Zimmerecke hielten die blauen, die weißen und die braunen Müllsäcke einander aufrecht, jeder von ihnen hatte seine spezielle physikalische Funktion: Masse, Volumen, Trägheit, alles im Dienste der Aufgabe, den nach unten breiter werdenden Müllberg sich zur Zimmerdecke strecken zu lassen. Stabil, Bruda.

Dennis mochte so was. Physik hatte ihn interessiert, bis ihn gar nichts mehr so richtig interessiert hatte. Farblich taten einem die Müllsäcke in ihren durcheinandergeworfenen HSV- und Sankt-Pauli-Farben weh, da kriegte man echt Augenkrebs, aber Alex sagte immer: Nur die mit Bändern, Bruda, die zum Zuziehen, wegen dem Gestank, verstehst du. Und dann kaufte Dennis irgendeine Farbe in irgendeinem Supermarkt, an dem er vorbeikam. Immer ein anderer Supermarkt, hatte Alex ihm eingeschärft. Keine Muster entwickeln. Es war Dennis recht, denn es gab ihm Gelegenheit, ziellos durch die Gegend zu driften, weg vom Haus. Wo Alex und der stille Tschetschene vor ihren Rechnern saßen, auf ihre Bildschirme starrten und Müll verursachten. Alex laut, der stille Tschetschene – eben nicht laut.

Der Gestank vom Müllraum ging eigentlich. Dennis hatte die Tür von unten abgeklebt, damit sie im Rest des Hauses in Ruhe arbeiten konnten. Weil er sich mal für Mathe und Physik interessiert hatte, war ihm klar, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Er schätzte, dass sie in etwa zwei Jahren und fünf Monaten das gesamte Untergeschoss des Hauses mit Müll gefüllt haben würden und in knapp vier Jahren auch noch den Keller und die zweite Etage. Das kam davon, wenn die Eltern starben, einem das Haus hinterließen, aber dann kümmerte sich keiner mehr darum, weil man gerade volljährig war, und wer wusste denn, dass man in Schleswig-Holstein für die Müllabfuhr bezahlen und in dem Zusammenhang auch mal irgendwo anrufen musste.

Armer Alex.

Aber so lange würden sie hier nicht rummüllen. Vorher würde das große Ding passieren. Die Sache mit Billi Swopp. Darauf setzte Dennis ganz große Hoffnungen. Alex auch, das wusste er. Der stille Tschetschene legte falsche Spuren und versteckte ihre richtigen, er organisierte Waffen und so was und freute sich vielleicht auch, sagte aber nichts.

Dennis fragte sich, wo Alex diesen Typen gefunden hatte.

Uni, hatte Alex gesagt. Das war der kürzeste Witz, den Alex je erzählt hatte.

Und jetzt würde es bald losgehen: am Samstagvormittag im Erlebnisbad in Norderstedt, wenn es dort am vollsten war, Märzferien. Mit dem Fuß schob Dennis den braunen Müllsack zu dessen Brüdern und Schwestern. Im Müllzimmer roch es mehr nach Plastik als nach verdorbenen Abfällen. Es machte sich bezahlt, dass sie die Essensreste meist ins Klo schütteten, weil die Müllsäcke dann nicht so stanken. Und wegen der Ratten, sagte Alex, die sollten auch nicht leben wie die Hunde.

Billi Swopp. Dennis hatte zuletzt ein bisschen zu viel Zeit mit ihren Videos verbracht, darum ertappte er sich jetzt wieder dabei, wie er beim Türzumachen einen ihrer Songs vor sich hin summte. Und warum hatte eigentlich immer er Mülldienst.

Ich bin Billi, ich bin Billi, Billi Swopp

Ich will kein’ Brilli, ich hab kein’ lamen Shop

Dein Bling, dein Swag interessiert mich null

Dein Lifestyle, Mindstyle, ist für mich alles bull-

shit!

shit!

shit!

Vor allem diese Stelle ging ihm die ganze Zeit im Kopf rum, Hooks konnte sie ja: Wenn sie plötzlich aus dem Versmaß ausbrach und nur noch Shit! brüllte, aber der Beat lief weiter.

Trotzdem machte ihm die Sache Angst. Dieser ganze Plan mit Billi Swopp: Okay, sie hatten nicht viel zu verlieren, aber wenn das zu weit ging, dann würden sie sich in Zukunft keine Gedanken über die Müllabfuhr mehr machen müssen, dann würde jeden Nachmittag um 17 Uhr ein Wärter den Müll einsammeln und ihn stirnrunzelnd mit Plastikhandschuhen durchfühlen.

Die Frage war auch, wie lange ihr Geld noch reichen würde. Fast alles, was im Haus war, hatten sie auf Ebay-Kleinanzeigen verkauft. «Also außer den Sachen, wo irgendwelche Erinnerungen dran hängen, oder?», hatte er Alex am Anfang gefragt, als sie die Kleiderschränke seiner Eltern aufgezogen hatten und dieser Geruch nach intaktem Leben rauswehte, aber wie schnell der sich verflüchtigte.

«Nee», hatte Alex gesagt. «Die ganz besonders.»

Und dann hatten sie alles verkloppt, bis auf ein paar Sachen im Keller, die einfach zu unappetitlich waren oder zu oll. Und die Taucherausrüstungen von Alex’ Eltern, Neoprenanzüge, Masken, Flossen, Atemgeräte. Dafür hätten sie ordentlich Geld kriegen können, aber Alex hatte gelacht und gesagt: «Nee, die behalten wir, damit hab ich noch was vor.»

«Was denn?», hatte Dennis gefragt.

«Na, wir gehen vielleicht tauchen. Aber du ziehst den Anzug von meiner Mutter an, du hast so ihre Hüften.» Dennis war noch nie tauchen gewesen. Skifahren auch nicht. So was gab es in seiner Welt nicht. «Das ist nichts für uns», sagte seine Mutter.

Alex saß an einem der Bildschirmarbeitsplätze, die sie sich im ehemaligen Wohnzimmer eingerichtet hatten. Alex nannte alles ehemalig hier: sein ehemaliges Elternhaus, ehemaliges Kinderzimmer, ehemaliges Wohnzimmer. Stimmte ja auch. Wohnen konnte man das, was sie hier machten, nicht nennen.

«Dimitri!» Alex begrüßte ihn in diesem erfundenen, viel zu dick und breit aufgetragenen quasi-russischen oder fake-osteuropäischen Akzent, den sie sich vor ein paar Monaten zugelegt hatten. Immer zu laut, zu überschwänglich oder zu bedrohlich, als hätten sie sich lange nicht gesehen oder noch viele alte Rechnungen offen. Obwohl Dennis nur kurz eine Mülltour gemacht hatte. Ihm ging das Getue ein bisschen auf die Nerven, aber Alex hatte immer mehr Geduld mit ihren Ritualen und liebte es, sie bis zum Letzten auszureizen. Der stille Tschetschene saß Alex schräg gegenüber, sodass Dennis, als er an ihm vorbeiging, sein Hackerdekolleté sehen konnte: den Anfang der Poritze zwischen dunkelgrauer Cargohose und etwas zu kurzem SpongeBob-T-Shirt. Der stille Tschetschene arbeitete immer auf einem Hocker, weil er meinte, eine Rückenlehne würde seine Konzentration stören. Das war eine von drei oder vier Sachen, die er in den letzten zwei Wochen gesagt hatte. Abgesehen von: Pizza.

«Was gibt’s eigentlich zum Mittag?», fragte Alex.

«Meinst du Abendessen? Guck mal raus. Wird schon dunkel.»

«Wird nie hell.»

«Keine Ahnung. Asiatisch.»

«Kannst du bisschen spezifischer werden.»

Dennis zuckte die Achseln.

«Ich lass mich überraschen», sagte Alex und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Dennis sah, dass er an einer Schriftanimation arbeitete, im Stil der achtziger Jahre, die keiner von ihnen beiden auch nur im Ansatz erlebt hatte. Türkisfarbene Perspektivlinien, die Richtung Horizont verschwanden, eine pinkfarbene, geschwungene Schrift. Jeder von ihnen merkte immer sofort, wenn der andere ihm über die Schulter blickte, darum sagte Alex: «Unser Projekt braucht doch einen Namen.»

3 Guys, 1 Girl, 1 Pool

«Mann», sagte Alex, als wäre Dennis begriffsstutzig, nur weil er nichts gesagt hatte. Dabei überlegte Dennis nur, wie er sagen sollte, dass er es scheiße fand, wenn Alex hier rumspielte, während er den Müll entsorgen musste. Thematisieren, nannte seine Mutter das. «Das ist doch wegen den anderen Videos. Two girls, one cup. Three guys, one hammer.»

Dennis setzte sich auf den ehemaligen Schreibtischstuhl aus dem ehemaligen Arbeitszimmer von Alex’ ehemaliger Mutter, den die beiden anderen ihm übrig gelassen hatten, weil der Stuhl nach Katzenpisse roch. Dennis kannte diese Videos, und er kannte vor allem Alexanders Besessenheit. Alex, Alexander. Benannt nach seinem ehemaligen Vater. «2 Girls and 1 Cup», diese eigentlich schon uralte Internet-Mutprobe, wo zwei brasilianische Pornodarstellerinnen mit einer Tasse und ihren Ausscheidungen ekelhafte Dinge taten (oder waren das Künstlerinnen?). So ekelhaft, dass Dennis immer nur behauptet hatte, er habe das Video gesehen. Bis Alex ihn gezwungen hatte, es wirklich bis zum Ende anzuschauen. Gezwungen mit Worten, wie immer.

So, wie Alex ihn auch gezwungen hatte, «3 Guys, 1 Hammer» anzuschauen. Zwei Typen in ihrem Alter, die einen Betrunkenen an irgendeinem gottverlassenen russischen Waldrand totschlugen und sich dabei filmten und das dann ins Netz gestellt hatten. Seitdem konnte Dennis nicht mehr so gut in den Spiegel schauen. Was wie eine Redewendung klang. Aber es beschrieb einfach einen Vorgang: Er schaffte es nicht mehr, seinen Blick auf sich selbst in einem Spiegel zu richten, die Trägheit seines Kinns wurde zu groß, das Volumen seiner Scham, nichts ging mehr.

Er wollte den Menschen nicht sehen, der das gesehen hatte.

Und jetzt kam Alex mit diesem Scheiß. Weil das, was Alex vielleicht vorhatte, genau betrachtet nicht viel weniger schlimm war, als solche Videos zu schauen, sondern eher schlimmer. Weil sie jetzt nicht mehr zuschauen würden, sondern handeln.

«Thailändisch», sagte Dennis.

«Schon wieder», sagte Alex, aber nicht vorwurfsvoll, sondern mit großer, breiter russischer Anerkennung. «Dimmi, hast du gemacht beste Idee von Welt!»

«Pizza», sagte der stille Tschetschene. Es knisterte, als er mit seiner Tastatur die Spring- und Klappmesser in ihrer dünnen Plastiktüte beiseiteschob, um mehr Platz für seine kräftigen Unterarme auf dem schmalen Tisch zu haben. Eine Weile hatte Dennis gehofft, der stille Tschetschene könnte sein Verbündeter werden gegen Alex. Aber dann war ihm wieder eingefallen, dass Alex doch eigentlich sein Freund war und der stille Tschetschene ein Fremder. Die Zeit schien zu kurz, um beides noch zu ändern.

Dennis setzte ihre üblichen Kreuze auf der Bestellseite, die beides hatte, Thailändisch und Pizza. Eigentlich mochten sie es, wenn alles so war wie immer. Aber ab Sonnabend würde nichts mehr sein, wie es gewesen war. Drei Jungs, ein Mädchen und ein Schwimmbad.

Er öffnete wieder den Rohschnitt von Billi Swopps neuem Video. Ihr Gesicht füllte seinen Bildschirm, ihr spöttisches, wissendes Lächeln. Es schien, als wüsste sie gerade so viel mehr über die Welt als man selbst, dass man sich ihr anvertrauen konnte, ohne sich von ihr bedroht zu fühlen. Er atmete aus und merkte, wie angespannt er gewesen war. Aber wenn sie die Sache mit Billi gemacht hatten, würde alles gut werden. Schon wenn Billi bei ihnen auftauchte, um über ihre Videos zu reden, schien alles nicht so schwierig, so einerseits-andererseits wie sonst. Billi hatte auch keine Antworten, aber die Fragen, die sie stellte, lenkten ihn davon ab, was er alles nicht wusste: Wie willst du leben? Wärst du lieber ein Jahr auf einer Luxusyacht, und alle Wünsche werden dir von den Augen abgelesen? Oder ein Jahr an Land, und du musst dich um alles selber kümmern? Darüber konnte sie auf Youtube lange reden. Zehn Minuten und ein bisschen, das gab mehr Anzeigengeld.

Obwohl die Fragen, die er sich wirklich hätte stellen müssen, ganz andere waren:

Warum bin ich hier mit Alex?

Warum macht Alex mir Angst?

Warum lasse ich das nicht alles, wenn er mir Angst macht?

«Noch drei Tage, dann verkaufen wir dich, Billi Swopp», sagte Alex, ganz ohne jeden Akzent.

Du weißt, dass ich den Gag nicht mag, lass das bitte, sagte Dennis, ohne den Mund zu öffnen.

Der stille Tschetschene verdrehte die Augen.

2. Kapitel

Was Danowski nicht verstand am Leben: Warum es immer an den einfachsten Dingen scheiterte. Stick das mal auf ein verdammtes Kissen, dachte er.

Das Leben scheitert immer

an den einfachsten Dingen

Er sah das Kissen schon vor sich. So wie in dem Ferienhaus, wo sie gerade das erste Wochenende der Märzferien gewesen waren, Ostsee, die Passage mit «aktive Baustelle» hatten sie überlesen auf der Buchungswebsite. Das war aber auch nicht das Hauptproblem gewesen, jedenfalls nicht für ihn. Länger als an einer aktiven Baustelle litt er daran, wenn auf einem Sofakissen stand: «Die Welt gehört denen, die sie genießen». Womit schon mal geklärt war, dass sie nicht ihm gehörte.

Von wegen, wir haben die Welt nur von unseren Kindern geliehen, dachte Danowski. Wir haben total gepennt und sie denen überlassen, die sie genießen. Na, behaltet mal ruhig.

Oder auf dem anderen Kissen: «Der Sinn des Lebens ist zu leben.» Da kam er irgendwie gar nicht drüber hinweg. Wie hieß da eigentlich der einschlägige Straftatbestand? Sachbeschädigung ja wohl nicht, denn das Kissen war ja so geliefert worden. Das ging eher Richtung Nötigung oder seelische Grausamkeit durch Verbreitung von Sinnlosigkeit. Sinnbeschädigung.

«Adam?» Leslie mit diesem Blick. Er riet mal, dass das «Tu doch den Gästen mal auf» bedeutete. Genau. Das Leben und er scheiterten an den einfachsten Dingen. Auftun, zu viert an einem Tisch sitzen. Klang einfach. Essen, reden. Zwei Paare. Da gingen die Probleme schon los: Sobald jemand das Wort Pärchenabend aussprach, war die Sache für ihn gelaufen. Und wenn es nur er selber war, lautlos, in seinem eigenen faltigen Kopf. Denn das hier war definitiv ein Pärchenabend: Finzi und dessen Freundin Meta auf der einen Tischseite, Leslie und er auf der anderen. Finzi, sein alter Partner und vermutlich Freund. Was am Ende womöglich auch keine schlechte Beschreibung für Meta war: seine alte Partnerin und vermutlich Freundin.

Müssen wir machen, hatte Leslie gesagt. Wollen wir doch seit Jahren schon. Und jetzt, wo die beiden wieder zusammen sind … Das ist überfällig, hatte Leslie gesagt.

Den Satz hörte Adam Danowski oft von seiner Frau.

Dann dachte er: Meine alten Partner sind entweder tot oder so was wie meine Freunde, dazwischen gibt es irgendwie nichts.

«Fang ich mal bei dir an», sagte er zu Meta, die die Haare wieder lang hatte, über Winter ein bisschen blass geworden war, aber frisch und wach wirkte, die Augen poliert, glänzender Nagellack, lange Fingernägel. Selbst wenn sie nicht beim ersten Wein für Finzi Apfelschorle gesagt hätte: Ich hab Neuigkeiten, hätte er an den lackierten Nägeln gesehen, dass sie die Beförderung bekommen hatte. In der Mordbereitschaft hatte Meta die Nägel kurz und glattgebissen getragen; unlackiert, praktisch. Ein bisschen musste er in sich reingrinsen: Klar, dass Meta jetzt einen Nagellack gefunden hatte, der ziemlich exakt Hamburger Polizeiuniformen-Dunkelblau hatte.

«Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst», sagte Meta, während er ihr vom Lammcurry auftat.

«Nur das hier», behauptete Danowski. Was gar nicht stimmte. Er kochte viel. Es fiel ihm leicht, weil ihm egal war, wie die Sachen schmeckten. Das Abschmecken überließ er Leslie.

Finzi gefiel ihm nicht so richtig heute. Drönbüddelig wirkte der, hätte man gesagt, wenn man Hamburger wäre und nicht wie Danowski aus Berlin zugereist. Abgeschlagen, bisschen grau, schweigsamer als sonst. Danowski hätte gedacht, dass Finzi sich mehr freuen würde darüber, dass Meta nach einem guten halben Jahr zu ihm zurückgekommen war. Aber Finzi hatte nur gesagt: Na, vielleicht hat sie einfach resigniert. Sich abgefunden. Mit mir. Und damit, dass ich sie im Stich gelassen hab vorigen Sommer.

Ein bisschen wirkte Finzi auf ihn, als hätte er sich in Gedanken darauf eingestellt, allein in der Wohnung in Hammerbrook vielleicht doch wieder mit dem Trinken anzufangen, und dann hätte Meta eines Tages vor der Tür gestanden und diesen Plan durchkreuzt, indem sie ihre Reisetasche vor Finzis Füße knallen ließ. Finzi wirkte unbereit für Metas Rückkehr, aber vielleicht war es auch was anderes.

«Okay, jetzt erzähl mal», sagte Leslie zu Jurkschat, als sie alle etwas auf dem Teller hatten, «was ist das für ein neuer Posten, und wann geht’s los?»

«Hat schon angefangen», sagte Meta. «Vorigen Montag. Inoffiziell. Wir wollen ein paar Strukturen aufbauen und vielleicht auch schon was vorweisen können, bevor wir damit im Mai an die Presse gehen.»

«Was denn nun genau?», fragte Danowski, vom Ton her eigentlich noch ganz konstruktiv, aber er war immer genervt, wenn Meta Jurkschat von der Hamburger Polizei oder dem LKA oder überhaupt allen Strafverfolgungsbehörden in demokratischen Staaten weltweit von «wir» sprach, mit dieser seltsamen Mischung aus Loyalität und positiver Energie, obwohl er, wenn er ehrlich war, genau diese Mischung von ihr brauchte. Außerdem tat es ihm doch ein bisschen weh, dass alle irgendwo hinbefördert wurden und Sachen erlebten, und er saß in der Operativen Fallanalyse, studierte Unterlagen, beriet Dienststellen, und zwischendurch nahm er sich unspezifische Krankentage.

«Die Polizeipräsidentin hatte die Idee für eine permanente Sonderkommission», sagte Jurkschat.

«PerSo», sagte Finzi düster. «Das gibt nur Probleme damit. Klingt doch scheiße.»

«PerSo Sexualisierte Gewalt», sagte Meta und kaute. Leslie guckte automatisch Richtung Treppe, weil sie immer nicht wollte, dass die Kinder bei so was zuhörten. Wäre vielleicht mal ganz gut, dachte Danowski. Martha war elf, Stella vierzehn, da musste man darüber mal reden. Aber Martha übernachtete bei einer Freundin, und Stella saß in ihrem Zimmer unter Kopfhörern und machte irgendwas im Internet, das ins Wanken geriet, wenn Danowski gleichzeitig im Erdgeschoss seine Easy-Listening-Playlist abspielen wollte, weshalb sie schon zweimal runtergebrüllt hatte. Seitdem kein Pieps mehr von ihr. Er hatte im Laufe der Jahre festgestellt, dass er Fahrstuhlmusik mochte. Erst ironisch, dann, weil die anderen sich darüber aufregten, und schließlich, heute, weil sich dieses ausgelassene Gedudel für ihn nach einer besseren Welt anhörte, die sich immer wieder entzog, sobald man ihr zu nahe kam.

«Um die Sache mal strukturiert anzugehen», sagte Jurkschat. «Anders reagieren zu können auf Fälle, die viel Aufsehen erregen. Und zwischen diesen Fällen auf der Grundlage von Forschung und so weiter neue Herangehensweisen zu entwickeln.»

«Hm», machte Leslie. Seine Frau war so schlau, dass sie sich dieses «Hm» angewöhnt hatte, bevor sie irgendeine Analyse raushaute. Damit die anderen noch mal durchatmen konnten. Meistens er. «Ist das so eine PR-Maßnahme wegen der öffentlichen Debatte und so?»

Jurkschat verzog das Gesicht, daher wusste Danowski, dass Leslie recht hatte. «Ja, auch. Das wird zwar nicht offiziell so gesagt, aber es soll schon so Signale geben in die Richtung.»

«Hm», machte Leslie.

«Das ist aber intern nicht das Hauptanliegen. Sexualisierte Gewalt ist einfach ein Riesenthema, bei dem die Zahlen seit Jahren nicht runtergehen, egal, was sich gesellschaftlich alles verändert hat. Da müssen wir was machen.»

«Wir», sagte Danowski. Irgendwie drückte Jurkschat bei ihm doch immer irgendwelche Knöpfe. Was hatte er eigentlich gegen Wir. Wir war doch gut. Alle wollten doch Wir sein. Warum nicht er?

«Ja, du auch», sagte Meta. «Vielleicht.»

«Wie, ich auch?»

«Na ja», sagte Jurkschat und warf einen Blick auf Finzi, als hätten sie sich das gemeinsam überlegt, aber der sah nur auf seinen Teller, als verstünde er das Prinzip Essen nicht mehr. «Wie gesagt, Forschung. Da wird es eine Koop mit der Polizeihochschule Münster geben. Und Fallanalyse, klar. Ich würde gern jemanden dauerhaft ausleihen. Von der OFA.»

«Und du leitest das Ding», sagte Danowski, um Zeit zu gewinnen. Weil er einerseits womöglich leicht gerührt war, dass Jurkschat an ihn dachte, und andererseits genau das nicht wollte: sich mit Sexualverbrechen beschäftigen. Und Jurkschat zur Chefin haben.

«Ich leite das Ding», sagte Jurkschat und griff zu ihrem Glas. Danowski verstand, was das bedeutete, und stieß noch mal mit ihr an. Zugleich merkte er, dass er sich richtig freute, und das tat ihm gut.

«Ich hätte echt gedacht, deine Karriere ist vorbei nach der Neunauge-Sache», sagte er.

Jurkschat nickte. «Ich auch», sagte sie. «Aber am Ende hat’s mir sogar genützt.» Sie war ehrlich, aber nicht gesprächig, wenn es um sie selber ging. Aber Danowski konnte sich vorstellen, was sie meinte. Zwar hatte sie voriges Jahr verschwiegen, dass einer der Getöteten im Schulkellerleichenfall ein Exfreund von ihr war, aber am Ende hatte ihr nicht geschadet, was über das Vorleben dieses Exfreundes herausgekommen war. Danowski saß zwar in einem Einzelbüro, kriegte aber immer noch genug mit, um zu wissen, was die Kollegen über Jurkschat sagten: gerade genug traumatisiert, um ihr ein Dienstvergehen verzeihen zu können, und nicht zu traumatisiert, um nicht weiterarbeiten zu können.

«Das passt natürlich zu deiner neuen Aufgabe», sagte Leslie. «Wenn du mit dem Thema zumindest indirekt selbst schon in Kontakt gekommen bist. Damals. Durch Neunauge und diese Typen.» Manchmal war seine Frau ein bisschen zu schonungslos.

Jurkschat nickte, aber auf diese Art und Weise, die klarmachte, dass jetzt aber auch gut war.

«Denkst du zumindest drüber nach?», fragte sie und sah ihn an. «Wir ziehen auch in die Innenstadt, ganz nah an die Speicherstadt. Soll ein Signal sein: mitten im Leben. Dann wärst du näher an zu Hause.»

Er merkte, dass sie vorhin, als er mit Finzi in der Küche gewesen war, schon mit Leslie darüber geredet hatte. Dass sie sich Leslies Okay geholt hatte: Wie geht’s Adam? Glaubst du, ich kann ihn das fragen? Er merkte es daran, dass Leslie für seinen Geschmack ein bisschen zu aufmunternd in seine Richtung schaute. In ihm zog sich was zusammen. Warum mussten ihn immer Leute aufmuntern? Wann hatte er zuletzt jemanden aufgemuntert?

«Du wärst unsere absolut erste Wahl», sagte Jurkschat.

Danowski wunderte sich.

«Es braucht schon eine gewisse Sensibilität. Und deine Erfahrung mit Aufsehen erregenden Fällen ist überdurchschnittlich.»

Hochsensibilität, dachte Danowski. Und unfreiwillige Erfahrung, wenn es ums Erregen von Aufsehen ging.

«Klar», sagte er, um abzukürzen, was er als unangenehm empfand: wenn jemand was Nettes über ihn sagte. «Müsste ich natürlich mit Ahrens sprechen.» Sein Chef war darauf bedacht, dass alles möglichst reibungslos lief. Und würde daher womöglich gar nicht ungern auf Danowski verzichten.

«Hab ich schon», sagte Jurkschat. «Der sagt, das läuft.»

Danowski spürte eine Machtlosigkeit, die er kannte wie den Geruch seines eigenen Kleinfamilienhauses hier in Finkenwerder. Manchmal war Jurkschat zu pragmatisch und zu zielorientiert. Sie bereute offenbar sofort, dass sie das gesagt und getan hatte. Das merkte er daran, wie sie sich schnell den Mund vollstopfte, um nichts mehr sagen zu müssen. Und daran, dass Finzi das Thema wechselte.

«Gratuliert mir vielleicht auch mal einer», sagte er und probierte sein Grinsen aus. Gelang mittel.

«Zu Meta?», fragte Leslie.

«Ja, so ungefähr.» Finzi hob sein Schorleglas. «Ich bin wieder da. Also, Kripo. Ich hab mich entschieden, meinen ruhenden Posten wieder anzutreten. War jetzt die endgültige Frist zum Jahreswechsel, sonst wär das verfallen.»

«Nicht dein Ernst», sagte Danowski und merkte, was er eben doch hin und wieder feststellte: Freude, die in ihm rieselte. Wie überschüssiges Geschirrspülmittel vom Rand des kleinen Geschirrspülmittelfachs, nachdem man das zugeknirscht hatte und die Geschirrspülertür jetzt mit Schwung nach oben klappte, um sie zu schließen. Das fand er gut: dass Finzi jetzt nicht mehr Fahrradstreife fuhr oder Sicherheitstraining an Grundschulen machte. Das war doch Verschwendung. Aber Finzi wirkte unsicher.

«Und wo?», fragte Leslie, die sich oft genug Danowskis langwierige Personalgeschichten angehört hatte, um zu wissen, dass man im LKA nicht so einfach auf eine alte Stelle zurückkehren konnte, erst recht nicht bei der Mordbereitschaft.

«Hier», sagte Finzi, «diese PerSo halt. Die alte Stelle bei der Mordbereitschaft ist besetzt, da hat Kienbaum sich so einen ganz jungen Streber draufgesetzt. Erst wenn der befördert wird, kann ich wieder …»

«Wie», sagte Leslie, «dann seid ihr ja alle wieder zusammen, das müssen wir doch noch viel größer feiern, da muss mal einer einen Toast sprechen oder so was, Adam, das ist doch dein Fachgebiet.»

Danowski, der in seinem Leben noch keinen Toast gesprochen hatte, der über ein genuscheltes Prost hinausging, hob sein Glas und fühlte sich leer. Aber Jurkschat sprang in die Bresche. «Ich hab da ein paar Fäden gezogen», sagte sie, und Danowski merkte, wie das genau die Art von abgedroschener Formulierung und etwas zu viel Information und Borderline-Angeberei war, der Jurkschat einfach nie widerstehen konnte. Er hatte gedacht, das wäre besser geworden, aber, nee, klar, die hatte jetzt so richtig Oberwasser. Er gönnte ihr das, aber einfach würde es nicht werden mit ihr.

Finzi sah das offenbar ähnlich. Er stürzte seine Schorle runter und studierte dann sein leeres Glas, als verstünde er nicht, wo die Flüssigkeit geblieben war.

«Hast du toll gemacht, Meta», sagte er.

 

Später stand Danowski wieder mit Finzi in der Küche. Als Meta und Leslie im Wohnzimmer irgendwelche Musik von ihren Handys durchs Erdgeschoss jagten, mit der Finzi und er nichts anfangen konnten.

«Tja», sagte Danowski. «Wer hätte das gedacht. Dass Meta mal unsere Chefin wird.»

«Ist ja nicht für immer.»

«Permanent heißt doch immer. Informier dich mal ein bisschen über Wörter und was sie bedeuten. Du kannst jetzt nicht mehr einfach dein Grundschülerprogramm abspulen, Finzi.»

«Aber wir sind nur ausgeliehen, quasi. Außerdem, du weißt doch genau, wie das ist: Permanent heißt die SoKo, solange die damit ihren PR-Scheiß nach vorne ficken können, und wenn das nicht läuft, dann gibt’s einmal Furzkissen-Sound und Ende der Durchsage.»

«Dir passt das nicht mit Meta.»

«Hat dir deine Frau schon mal einen Job besorgt?»

«Ja. 1986, auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin. Wir sind als Videokassetten verkleidet über die Messe gelaufen. Also, wir steckten in so überdimensionalen …»

«Schon klar.»

«Zwölf Mark die Stunde.»

«Also, ich find’s komisch. Und ich mach mir Sorgen um Meta.»

Danowski merkte, dass das hier einer dieser Momente war, wenn sich ihm jemand öffnete, und insbesondere sein Freund, aber wenn das nicht in einer Zeugenbefragung war oder beim Verhör, dann konnte er irgendwie nichts damit anfangen.

«Sorgen um Meta», sagte er, kommunikativ gesehen wirklich unterste Schublade, einfach so nachquatschen.

Finzi sah ihn an. «Na ja, ein falscher Schritt, und die schlachten sie doch im Präsidium.»

Danowski nickte. Da war allerdings was dran.

Finzi sah ganz stark so aus, als würde er jetzt gern einen Schluck von irgendwas nehmen, das nicht Apfelschorle war. Danowski wartete. Da würde noch was kommen. Für einen Moment hatte er Angst, Finzi hätte was mit einer anderen Frau, und darum war der so zerstreut. Wie gut kannte er ihn eigentlich?

«Behling», sagte Finzi schließlich.

Danowski runzelte die Stirn. «Was ist mit dem? Der ist doch in Pension?»

Finzi nickte. «Ja. Und der ruft mich jeden Tag an.»

«Freu dich doch. Väterlicher Mentor und so.»

«Ja, so weit kommt’s noch. Aber … Der ist einfach so wahnsinnig einsam.»

Danowski machte sein Kann-man-nichts-machen-Gesicht. Mit Knud Behling hatte er zehn Jahre bei der Mordbereitschaft zusammengearbeitet, die längste Zeit davon war Behling Danowskis Teamleiter gewesen und hatte ihm das Leben auf regelkonforme, amtliche Weise zur Hölle gemacht.

«Wer nicht.»

«Nee, Adam. Mit so’m Spruch ist das nicht getan in dem Fall. Also, meistens reicht das. Aber der Alte ist wirklich …»

«Dement?»

«Teilweise. Ja. Schon. Das zeichnete sich ja ab.»

«Ging gerade noch so.»

«Ja, aber sobald er im Präsidium durch die Tür war, ist er richtig tüddelig geworden.»

Es war ein Phänomen: Die Polizisten aus Behlings Generation bauten richtig ab, sobald sie nicht mehr jeden Tag ins Präsidium gehen und andere auf ihre Fehler hinweisen konnten. Viele starben auch einfach innerhalb des ersten Jahres. An gebrochenem Herzen, sagten die einen. Am Asbest, das im Altbau des Präsidiums noch verbaut worden war, sagten die anderen.

«Lass dich davon nicht runterziehen», sagte Danowski lahm.

«Kannst du ihn vielleicht mal anrufen?»

«Ich?» Danowski musste lachen.

«Das würde ihn auf andere Gedanken bringen», sagte Finzi.

«Das glaub ich sofort», sagte Danowski. «Aber mich nicht.»

«Unversöhnlich», sagte Finzi und rieb sich den Nasenrücken. «Ich glaub, ich geb ihm mal deine Nummer.»

3. Kapitel

Hamburg im März: Niemandsland des Jahres. Eigentlich mochte sie das ganz gern. Für ein paar Tage schien die Zeit stillzustehen, nicht mehr Winter, noch nicht Frühling, der Himmel sommergrau, der Regen winterkalt.

Aber heute war sie bedrückt. Sie merkte, dass sie sich nicht so wie sonst auf den Unterricht konzentrieren konnte. Freitagvormittag, an der «Schule für alle» der Kirchengemeinde. Das Gemeindehaus am Schenefelder Holt roch nach strapazierter Auslegware, nach Kräutertee und dem Dutzend Flüchtlingen, mit denen sie am großen alten Holztisch des Gemeinderats saß. Sie mochte den Geruch eigentlich. Gewürze, Körper, keine Ahnung. Sie fühlte sich hier zu Hause, seit sie vor anderthalb Jahren damit angefangen hatte, sich mit einer Kollegin aus der Behörde die Freitagsschicht zu teilen. Anfängergruppe. Trennbare Verben. Was machst du gerne, was machst du nicht gerne. Aufräumen, fernsehen, einkaufen, Fußball spielen, Essen kochen.

Dennis, was machst du gerne?

Sie sagte immer noch Flüchtlinge statt Geflüchtete, und sie fand, dass sie das auch durfte, wenn sie hier mithalf, obwohl sie noch berufstätig war, sechzig Prozent. Die meisten kamen aus Eritrea, mussten damit rechnen, womöglich in ihr Einreiseland abgeschoben zu werden, hatten deshalb erstmal keinen Anspruch auf Plätze in Integrationskursen und waren also motiviert, hier in dieser von der Kirche und von Ehrenamtlichen am Laufen gehaltenen Schule so viel zu lernen wie möglich.

Delina, Anfang zwanzig, rundes, hübsches Gesicht, aber die Stimme viel zu leise, sah sie erwartungsvoll an.

«Richtig», sagte Marga Fleischmann. «Mach du bitte weiter bei A2, Delina. Jeden Dienstag kaufe ich in der Stadt ein …»

Delina beugte sich über das Deutschbuch und las den sinnlosen und fremden Satz, so, wie man versucht, etwas Unaussprechliches über die Lippen zu bringen, zaghaft, mit einer gewissen Mischung aus Ehrfurcht und Abneigung. Normalerweise genoss Marga Fleischmann es, sich in diesen Augenblicken selbst über ihr Deutschbuch zu beugen, mitzulesen, sanft zu korrigieren und dieses wunderbare Gefühl über sich spülen zu lassen: wenn man endlich was tat, statt immer nur zu reden oder statt immer nur zu schweigen und ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie war Mitte fünfzig, Sachbearbeiterin im Einwohnermeldeamt, bisschen unterfordert, seit ihr Sohn Dennis mit der Schule fertig war und nicht mehr zu Hause wohnte. Da fand sie es legitim, dass sie das hier machte, um sich selbst gut zu fühlen. Ob Saba Merich, Dehab, Delina, Nardos, Shmendi, Shewit und Michretab sich hier gut fühlten, konnte sie am Ende nicht wissen. Sie konnte ihr Möglichstes geben, damit es vielleicht gelang. Geduldig sein, freundlich lachen. Jedenfalls kamen sie wieder.

Aber das Gefühl war nicht da heute. Weil Dennis ihr die Gutscheine fürs Schwimmbad gegeben hatte und weil sie die hier in der Tasche hatte, musste sie die ganze Zeit an ihren Sohn denken: Wie weit weg Dennis war, wie ernst er immer war, wie lange es her war, dass sie ihm richtig hatte in die Augen schauen können. Immer dieses Ausweichende, Vorsichtige, leicht Gereizte an dem Jungen. Und wenn sie ihn sah, wusste sie nie, ob er ihr überhaupt zuhörte. Er sagte kein Wort, aß, was sie gekocht hatte, wartete, bis sie mit dem Kaffee fertig war, fragte, ob er was am Computer helfen könne, und dann war er wieder weg.

Ist das noch die Pubertät?, dachte sie. Er ist doch schon fast zwanzig. Aber klar, das sind heutzutage noch Kinder. Und vielleicht war das auch zu früh mit der Arbeit. Und überhaupt verstand sie nicht so richtig, was er da überhaupt machte. Also, dass Alex und er eine eigene Firma hatten, das hatte sie und Dennis’ Vater zwar anfangs beeindruckt, aber sie verstanden nicht, was die beiden eigentlich herstellten oder verkauften oder dienstleisteten. Und wer ihnen das bezahlte. Von Investoren war die Rede. Ein Neunzehnjähriger, der von Investoren redete. Gut, die Neunzehnjährigen hier in der Schule waren über die Berge, durch die Wüsten und übers Meer gekommen. Vielleicht war sie diejenige, die sich nicht altersgemäß verhielt. Indem sie alles zu verstehen versuchte und keine Investoren hatte und keinen Drang zu fliehen.

Und was macht ihr da?, hatte sein Vater Dennis gefragt.

Dennis hatte die Visitenkarte über den Couchtisch geschoben, ganz elegant eigentlich, reduziert, keine Farben, keine 3-D-Effekte.

Bitcoin Solutions

Und hinten drauf die Namen von Alex und ihm. Alex, den mochte sie nicht. Aber eigentlich musste man ja dankbar sein. Selbst die, die früher auf dem Schulhof die Kleineren bis aufs Blut verprügelt hatten, waren also heute mit neunzehn Firmeninhaber.

Kryptowährung, hatte Dennis’ Vater gesagt. Staunend, ratlos. Und da braucht ihr ’ne Visitenkarte? Ist das nicht alles im Internet?

Die haben wir nur für euch gemacht, hatte Dennis gesagt, und sie hatte erhascht, wie er beinahe stolz gelächelt hatte.

Und dann bei seinem letzten Besuch dieses Angebot mit den Schwimmbadkarten, nachdem sie monatelang immer das Gefühl gehabt hatte, er hörte gar nicht zu, wenn sie von der Flüchtlingsschule erzählte.

«Hier», hatte Dennis gesagt, nachdem er seinen Kaffeebecher in den Geschirrspüler gestellt hatte, aber den Kuchenteller nicht. Auch typisch. Die eigene Firma haben und immer noch nicht zuverlässig alles so abräumen, wie sich das gehörte. «Kleine Spende von der Firma. Wir haben was für den Bäderbetrieb in Schleswig-Holstein gemacht, die haben uns zum Dank Freikarten geschenkt. Aber weißt du ja, Alex und ich sind nicht so die Wasserratten. Ich dachte, das ist vielleicht was für deine Schüler.»

Sie hatte den kleinen Stapel Gutscheine genommen und sich gefreut. «Gelten aber nur diesen Samstag», hatte Dennis gesagt. «Doofer Deal eigentlich. Aber Samstag ist doch ganz gut. Oder?»

Und dann war er doch wieder einfach verschwunden. Ohne sie in den Arm zu nehmen. Wann hatte das eigentlich aufgehört? Sie vermisste seinen großen, dünnen Körper, das Biegsame, Warme, wie er sich mal angeschmiegt hatte.

«So, Saba», sagte sie. Saba hatte um die Stirn feine Zöpfchen gebunden und lachte mit viel Zahnfleisch, normalerweise ließ sie sich davon anstecken, aber heute nicht. «Nummer drei bitte. Am Wochenende gehe ich gerne schwimmen …»

4. Kapitel

Knud Behling saß am Küchentisch und nahm langsam die Hände vom Gesicht. Wie war er hierhergeraten?

Konnte man deduzieren, musste man nur kurz alles an den richtigen Ort bringen im Kopf. Na ja. Er hatte die Scheiße gemietet hier. Zwanzig Jahre her. Sah man auch. Bisschen verwohnt. Müsste man langsam mal paar Polen durchjagen. Oder vielleicht auch schon zu spät dafür. Keine Ahnung, wie lange er hier noch bleiben würde. Lohnte sich vielleicht gar nicht mehr.

Und jede Nacht kamen Sachen dazu, die er nicht kannte, die er noch nie gesehen hatte. Die Scheiß-Espressomaschine. Wer hatte die da hingestellt. Wer hatte gedacht, es wäre eine gute Idee, diese Scheißkapseln zu kaufen. Seine Kinder machten so was nicht. Seine Frau auch nicht mehr, seit sie tot war. Und das war drei Jahre her. Vier. Oder fünf. Hatte er damals keinem von erzählt. Als dieses verseuchte Kreuzfahrtschiff im Hafen lag und alle dachten, jetzt bricht die Pest aus in Hamburg. Und er mittendrin, da durfte man sich nichts anmerken lassen. Außerdem wollte er keine von deren Fressen bei der Beerdigung sehen. Am Grab von … seiner Frau. Vor allem nicht Danowski, der damals so viel Drama gemacht hatte.

Behling kicherte. Morgens wachte er auf, sah sich in der Wohnung um und erkannte die Hälfte nicht wieder. Der Vorname seiner verstorbenen Frau war für Augenblicke weg. Manches fand er im Nachhinein auch komisch, konnte aber nicht erklären, wieso. Adam Danowski. Der amüsierte ihn inzwischen. Lustig, wie man die ganze Scheiße so ernst nehmen konnte wie der, und gleichzeitig auch wieder nicht.

Und im nächsten Moment liefen ihm plötzlich die Tränen übers Gesicht, und wenn er sich fragte, warum und wer von den vielen Toten dafür verantwortlich war, merkte er, dass ihm Blut in die Schlappen lief, und er war aufgestanden Richtung Wohnzimmer, und seit gestern Nacht stand da ein Couchtisch im Weg, und jetzt war er davorgelaufen und blutete.

Sechsundsechzig, verwitwet, pensioniert. Beste Voraussetzungen, um jetzt mal langsam abzutreten. Oder? Konnte ja eigentlich auch erst so richtig losgehen jetzt. Aber was. Wenn die Dinge nicht an ihren Orten blieben, wo war dann noch Platz für irgendwas Neues?

Im Badezimmer erschrak er vor dem Mann im Spiegel. Stellte sich seine Nase entweder viel jünger oder viel älter vor. Er war ein jugendlicher Greis, ein altes Baby, aber in Wahrheit sah er dann da einfach einen, der das Rasieren nicht mehr verstand und der nach Seniorenteller und Popelinejacke aussah, ganz normal, das Gesicht schon so knitterecht und beige wie eins von diesen verkackten Leinensakkos, in denen die Leute in seinem Alter immer irgendwo auftauchten, wo sich keiner freute, sie zu sehen.

Das Einzige, was ihm noch Halt gab, war die Waffe. Der Hängeschrank mit den Handtüchern. Hatte die eigentlich Marianne alle noch gefaltet? Benutzte er seit Jahren die gleichen drei und legte sie einfach auf den Badewannenrand, von dem sie manchmal müde runterrutschten? Diese hier waren so sorgfältig gelegt, so fluffig und fest zugleich, er steckte da gern die Hand dazwischen.

Nichts.

Da auch nicht.

Konnte doch nicht sein.

Ah.

Seine Finger fanden den rauen Griff der Waffe, das kleine, spitze Waffelmuster der Griffschalen, harter Kunststoff, bündig eingeschraubt in den Stahl des eigentlichen Körpers. Die feste, weiche Rundung des Abzugs. Die Führungslinien des Laufs. Behling schloss seine Hand um die Walther, bevor er sie aus dem Wäscheschrank zog.

Wo hatte er die noch mal her. Seine hatten sie ihm ja weggenommen. Am Ende. Wie leer man sich danach fühlte. Darum gut, wenn man was beiseitegeschafft hatte, kleines Eisen.

Er kicherte. Seit zehn Jahren hatte er die. Oder länger. Die Waffe, die Adam Danowski verloren hatte, als er einen Selbstmörder daran hindern wollte, von der Köhlbrandbrücke zu springen: Hier, ich tu meine Waffe weg. Danowski immer mit seinem Drama. Kolleginnen von der Wasserwacht waren kurz danach getaucht, die wollten auch zum Mittag, aber da hatte Behling die längst heimlich rausgefischt, ziemlich am Rand, nicht mal knietief. Danowski war ja nicht dumm, nur nervig. Der hatte verdutzt geguckt, als die Taucherinnen das Ding unter Wasser nicht gefunden hatten. Jede Menge Papierkram. Hatte den zwei, drei Jahre zurückgeworfen bei den Beförderungsrunden.

Und Behling hatte seitdem was Kleines auf der Seite. Ein volles Magazin, eine Kugel im Lauf. Fühlte sich gut an, wenn er das mal so sagen durfte. Roch auch gut. Keine Spur von Elbeseitenarm mehr. Waffenöl hatte er da, klar. Seine Sachen musste man in Schuss halten, und das hier war seine Sache.

Schmeckte auch gut. Er hatte wieder angefangen, Sachen in den Mund zu stecken. Fand er nicht schlecht, sah ja keiner. Wie ein Baby. Er wurde instinktiver, er fühlte sich der Erde näher.

Behling nahm die Walther aus dem Mund und steckte sie in die Tasche. Er mochte, wie das Gewicht der Waffe ihn auf der rechten Seite ein bisschen nach unten zog. Das ankerte einen doch irgendwie. Kam man besser durch die Wohnung: leichte Schlagseite, sodass die rechte Wand immer ein bisschen näher war. Vor allem, wenn die Tür ging.

Ganz einfache Impulse, auf die man reagieren musste. Die machten einem das Leben auch leichter. Harndrang, und dann ging man aufs Klo. Hunger, dann aß man was. Klappte noch ganz gut. Klingelte es an der Tür, machte man die auf.

Draußen, schon im Treppenhaus, der Dings, der Dingens, der Dingsbums. Der kam immer irgendwie rein ins Haus, bisschen ausgeleierte Jeans, Kapuzenpulli, als wäre er zwölf, dazu auch die Turnschuhe, wann hatte das eigentlich angefangen, dass alle die überall trugen.

Na ja, dachte Behling. Andererseits. Auch mal die Kirche im Dorf lassen. Ich hab auch immer Bootsschuhe getragen, obwohl ich nie auf einem Boot war. Scheißgeschaukel. Die ganzen Spacken mit ihren Segelscheinen. So viel Geld für so viel Langeweile. Wie Hundertmarkscheine unter der kalten Dusche zerreißen. Aber die Schuhe waren gut, bequem, kam man gut rein, und man hatte Schlag bei den Frauen damit. Oder war das 1982 gewesen?

«Na, Knud», sagte Andreas Finzel, den Danowski und die anderen Schwachköpfe Finzi nannten, «ist das eine Schusswaffe in deiner Hand, oder ärgerst du dich nur, mich zu sehen?»

5. Kapitel

So eine wie Billi Swopp müsste man haben.

Haben. In seinem Leben. An seiner Seite. In einer Abseite. An einer Kette.

Nein. Natürlich nicht.

Doch. Natürlich doch.

Also, wenn man so eine wie Billi Swopp hätte. Egal wo. Egal wie. Dann würde man die gar nicht festhalten wollen. Weil. Dann wäre es ja so, dass die einen irgendwie besser machen würde. Und dann müsste man eben eine wie Billi Swopp gar nicht zwingen, bei einem zu sein. Denn dann wäre man ein anderer, und sie wäre sogar freiwillig bei einem.

So nicht, klar.

Oder vielleicht doch? Hatte man nicht irgendwas an sich, was eine wie Billi Swopp dazu bringen könnte, auch einfach so zu einem zu kommen? Einen überhaupt erstmal zu sehen? Wahrzunehmen?

 

Wenn er so im Auto saß, kreisten ihm die Gedanken, als trauten sie sich nicht, näher zu kommen. Er debattierte mit sich selbst, als müsste er unbedingt recht behalten, das letzte Wort. Darum hörte das gar nicht mehr auf. Bis Billi kam.

Golf VI, handgepflegt, und weil er ja nicht blöd war: grau. Beliebtestes Auto, beliebteste Farbe. Aller Staub auf dem mit Weichschaum ausgepolsterten Armaturenbrett kam von ihm, das beruhigte ihn und machte ihn wahnsinnig zugleich. So war das hygienischer. Und einsamer. Andererseits: Natürlich saß er hier allein, denn wenn er hier saß, wartete er auf Billi Swopp, oder er beobachtete sie. Manchmal hoffte er geradezu, sie würde ihn entdecken und wiedererkennen.

Gesehen werden.

Manchmal hatte er sie auf zwei Schirmen: Ihr neues Video auf dem Tablet auf den Knien, und dann durch den großen 16:9-Schirm der Windschutzscheibe, wie sie im wahren Leben aus ihrem Haus kam und direkt vor ihm den Bürgersteig entlanglief. Dann musste er sich entscheiden: Warten, weil sie vielleicht nur Brötchen holen ging? Billi Swopp liebte Brötchen, die ganz hellen, einfachen, die ungesunden, das war ihr Protest gegen den Gesundheitswahn und die Selbstoptimierung, jedenfalls verstand er es so. Aber den ganzen Weg bis zum Nutella ging sie dann doch nicht, wegen dem Palmöl. Orang-Utans. Die spielten auch eine wichtige Rolle bei ihr. Sie hatte da immer so Sachen, die hin und wieder auftauchten. Die Orang-Utans mochte er nicht so, aber die hellen Brötchen und die Möwen-Hände, wenn sie die so hochflattern ließ, und wenn sie zeigte, dass sie in der Wohnung nur barfuß lief, auf rauem Untergrund, den sie extra ausgelegt hatte. Um sich abzuhärten. Für die Welt da draußen, für wenn sie alle wieder barfuß gehen mussten. Aber wenn man das schon in der Wohnung trainierte, im Alltag, dann waren da keine Glasscherben und keine Hundekacke. Genial, halt. Billi Swopp.

Mach ich so, mach ich anders

Mach ich sowieso, denn ich kann das

Mach ich, wie ich will

Pippilangstrumpf mir die Welt

Ich komm näher für den Kill

Für den Ball, den keiner hält

Mach ich so, mach ich anders

Mach ich sowieso, denn ich kann das

Den Song mochte er eigentlich nicht so, bisschen zu einfach, mehr so für die elfjährigen Mädchen unter ihren Followern, aber er ging ihm trotzdem nicht aus dem Kopf.

Ohne den Blick von der Eingangstür in Dulsberg zu wenden, Seitenstraße, Wiederaufbau, angelte er im Fußraum des Beifahrersitzes nach den Cockpitpflegetüchern, um seinen Staub vom Armaturenbrett zu wischen. Dass eine wie Billi Swopp in Dulsberg wohnte, eingeklemmt zwischen den beiden Barmbeks und dem faden Wandsbek, das passte gar nicht. So unscheinbar und bodenständig. Wo sie doch immer abzuheben schien. Irgendwas Leuchtendes, Strahlendes hatte Dulsberg nicht, genau umgekehrt wie Billi Swopp also. Kein Wunder, dass die sich hier immer rausgesehnt und irgendwann den Weg ins Internet gefunden hatte, vor sechs oder sieben Jahren oder so, mit zwölf oder dreizehn. Damals war er auf sie aufmerksam geworden, er bildete sich ein, dass er den ersten Clip gesehen hatte, den sie je hochgeladen hatte. Dass er einer ihrer ersten Abonnenten gewesen war.

Eigentlich war er immer nur auf der Suche nach Mädchen, die auf Youtube Zeug aus ihrem Alltag zeigten und dabei nicht merkten, wie nackt ihre Schultern waren, wie ungemacht ihre Betten. Und dann hatte er Billi Swopp gefunden, und von Anfang an war alles anders gewesen. Es war, als hätte er sie entdeckt, als wäre sie erst durch seinen Blick real geworden. Es war, als hätte sie darauf gewartet, dass er zuschaute, denn wenn er ihre Videos kommentierte, wurden sie danach immer ein bisschen anders und besser. Es gab eine Verbindung zwischen ihnen beiden, er wusste nur noch nicht, auf welche Art er ihr das am besten klarmachen sollte. Solange sie noch nicht mal so ganz genau wusste, dass und wie es ihn auch im real life gab.

Dann fuhr wieder dieses Gefühl durch ihn. Wenn die Welt langsam und schneller zugleich wurde, schärfer und weicher, wenn plötzlich alle Gegensätze miteinander vereint und versöhnt waren, der Löwe und das Lamm. Es war quasi religiös.

Wenn Billi auf Instagram ihre Badetasche mit dem Bikini und den Flip-Flops und den Haargummis und dem Shampoo und dem super flauschigen Bademantel postete und dazu schrieb

Endlich ab ins Wasser

#erlebnisbad

#besteslife

#selbstreinigung

#unterwasser

#lovemylife

#lolfusspilz

#chlorgeruch

#wellenbad

#ridethewave

dann war nicht klar, ob sie längst im Schwimmbad gewesen war und über Tage eine Story vorbereitet hatte, die sie jetzt nach und nach auf ihren Kanälen rausließ, oder ob sie in Echtzeit ihre Schwimmsachen packte und jetzt demnächst losfahren würde.

Sicherheitshalber hatte er seine eigenen Schwimmsachen griffbereit. Vielleicht würde sich jetzt endlich die Gelegenheit ergeben. Nein. Gelegenheiten ergaben sich nicht. Man musste sie herbeiführen, man musste sie schaffen. Sagte Billi das nicht auch immer?

Du bist die Summe der genutzten Chancen, die du dir selbst verschafft hast …

Im gleichen Wasser mit ihr. Ein Blickkontakt. Vielleicht ein Hallo, einfach reden. Aber er ahnte, dass er sich das niemals trauen würde.

Die Haustür ging auf, und ihm war, als gingen die Straßenlaternen an, dabei war es Samstagvormittag. Stonewashed Jeans, High-Waist, die ganzen Fachbegriffe waren Beifang für ihn, dazu diese Superga-Schuhe, die so weiß waren, dass sie von innen zu leuchten schienen, ihre dicken dunklen Haare mit einem gelben Haarband hochgebunden, den Knoten vorne. Er hielt die Luft an und beobachtete, wie sie die Basttasche von der Schulter nahm und hinten in ihren Fiat 500 warf, den sie «Bullet» nannte. Sie stieg ein, machte sich die Haare im Rückspiegel, ruckelte aus der Parklücke und fuhr die schmale Seitenstraße nach rechts Richtung Norden.

Er legte seine linke Hand aufs Lenkrad, startete den Golf und folgte ihr mit zwei Wagen Abstand, wie er es gelernt hatte. Am unteren Rand seines Blickfeldes sah er die Altersflecken, die vor ein paar Jahren angefangen hatten, aus dem Nichts auf seine Hände zu kriechen.

Aber er wusste, dass es egal war, so alt zu sein.

Ich such meinen Daddy, sagte Billi Swopp oft.

Ich will keinen Lauch

auf Poser scheiß ich auch

Ich sag euch wer Boss is

hat den dad bod und Posses

Ist old und secure

So ein’ such ich nur

Sugar Daddy, Salt and Pepper Daddy,

Ich such meinen Daddy …

Und vielleicht müsste er das nachher zu ihr sagen, wie zufällig, wenn er sie im Schwimmbad traf: Hey. Ich bin’s. Dein Daddy.

6. Kapitel

Wie es sich anfühlte, wenn DER NÄCHSTE GROSSE MOMENT bevorstand. Immer erst bevorstand. Immer um die nächste Ecke. Nee, nicht die da vorne. Die danach. Die nächste. Aber man kam nie hin. Oder doch? Wenn, dann ab heute.

Wenn man nur auf das Navi achtete, war der nördliche Rand von Hamburg ein Niemandsland aus Autohändlern, Bettenlagern, Tankstellen, Baumärkten und Spannlakenhimmelgrau. Es gefiel ihr, dass sie immer wieder so poetische Einfälle hatte. Das war wirklich genau die Farbe von Spannlaken. Da musste man mal was drüber machen. Und überhaupt war ihr Ziel, einfach nur den Himmel abzufilmen, eines Tages, und dann würden die sich das trotzdem alle anschauen, einfach, weil sie das gefilmt und auf ihren Kanal gestellt hatte. Und erst ganz am Ende würde sich ihr Gesicht vor den hellgrauen Spannlakenhimmelhintergrund schieben, wie eine stolze Sonne, die da aufging.

Vielleicht bisschen zu platt. Nee, aber optisch stark.

Wachst du morgens auf

ist dein Laken weg

Mach die Augen auf

Schau zum Fenster raus

Check den Himmel aus

Ist dein Laken weg?

«Mach die Augen auf, schau zum Fenster raus», das war’s noch nicht, das hörte sich viel zu sehr nach so FEEL GOOD POETRY SLAM SHIT an, so rollte sie nicht. Erstmal nur Platzhalter, kein Problem.

Wenn Billi Swopp angespannt war, fing sie an, Texte zu machen. Das war ja gerade ihre Stärke. Die ganze Anspannung von allem in genau das zu verwandeln: ihre ganze Kunst und so.

Dann klingelte ihr Telefon. In der Anzeige der Freisprecheinrichtung sah sie: keine Anruferinfo. Vielleicht ihre ehemalige Agentur. Die unterdrückten inzwischen ihre Nummer, weil sie wussten, dass Billi sonst nicht ranging. Die verstanden sie einfach nicht. Die verstanden nicht, wovon sie handelte, was ihre Story war. Seit dem Ding mit den Wendepailletten war sie endgültig durch mit denen, jetzt ging es eigentlich nur noch darum, wer wem Geld schuldete, also immer angeblich sie irgendwelchen Leuten, und welche Hirnis nannten ihren Laden schon Inflowence