Ich werd dann mal ... - Till Raether - E-Book

Ich werd dann mal ... E-Book

Till Raether

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Beschreibung

Ich werd dann mal ... ja, aber was eigentlich? Aufbrechen, abhauen, richtig loslegen oder demnächst ins Bett gehen? Ich werd dann mal älter, erwachsener, seltsamer oder ganz anders? In 86 Kolumnen, Essays und ganz neuen Texten schreibt Till Raether liebevoll, unerschrocken und sehr witzig über die Herausforderungen und Tröstungen des Lebens, wenn man schon mittendrin und nicht mehr ganz am Anfang ist. Und wenn es sich trotzdem anfühlt, als müsste man jetzt aber dringend aufbrechen, weil einem zu warm ist, man noch so viel vor hat, und einem jede Ausrede recht ist, und sei es: Ich muss los, ich hab noch Hack im Auto

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Seitenzahl: 344

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Till Raether

Ich werd dann mal ...

Nachrichten aus der Mitte des Lebens

Über dieses Buch

Ich werd dann mal ... ja, aber was eigentlich? Aufbrechen, abhauen, richtig loslegen oder demnächst ins Bett gehen? Ich werd dann mal älter, erwachsener, seltsamer oder ganz anders?

 

In 86 Kolumnen, Essays und ganz neuen Texten schreibt Till Raether liebevoll, unerschrocken und sehr witzig über die Herausforderungen und Tröstungen des Lebens, wenn man schon mittendrin und nicht mehr ganz am Anfang ist. Und wenn es sich trotzdem anfühlt, als müsste man jetzt aber dringend aufbrechen, weil einem zu warm ist, man noch so viel vor hat, und einem jede Ausrede recht ist, und sei es:

Ich muss los, ich hab noch Hack im Auto.

Vita

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, unter anderem für Brigitte, Brigitte Woman und das SZ-Magazin, wo viele seiner hier versammelten Texte erschienen. Seine Kriminalromane über den hochsensiblen Kommissar Adam Danowski wurden von der Kritik gefeiert und mehrfach für Preise nominiert, «Blutapfel» ist mit Milan Peschel fürs ZDF verfilmt. Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mehr Geschichten aus seinem Leben auf tillraether.de und bei Twitter (@TillRaether).

Für meine Mutter und alle anderen, die Heimweh nach Berlin in Hamburg haben

Inhalt

Vor*ort 9

1.Aufbruchstimmung

Ich muss los, ich hab noch Hack im Auto 13

2.Unvollkommenheit

Soll das warm? 63

3.Liebe

Die Frau mit dem orangefarbenen Fahrradhelm 111

4.Nähe und Distanz

Spiel doch was mit den anderen 155

5.Lebensfreude

Es soll getanzt worden sein 205

6.Improvisieren

Die Erotik des Aufbrauchens 247

7.Erwachsensein

Keine Ahnung, welchen Sinn es hat, aber schön,

wenn alle dabei sind 283

Dankeschön 341

Register 343

Vor*ort

Ich hatte immer das Gefühl, am Rand der Welt aufzuwachsen, da, wo nichts los war, und das, was los war, lag gerade eben so außer Reichweite. West-Berlin, vom S-Bahnhof Zehlendorf den Teltower Damm noch ein Stück runter, Richtung, wie sich das für mich anfühlte, Niemandsland. «Da ist die Welt zu Ende», sagte meine Mutter.

Ich glaube, das ist keine West-Berliner Spezialität, trotz der geographischen und politischen Besonderheiten. Wer Ende der Sechziger bis Ende der Siebziger im Westen Deutschlands in eine Mittelschichtfamilie geboren wurde, durfte aufwachsen in dem Gefühl, dass die Welt ein einziger Vorort ist: ganz angenehm, ein bisschen langweilig, ein bisschen runtergekommen, die Welt hatte die besten und die schlechtesten Zeiten schon hinter sich, aber so richtig konnte einem nichts passieren, und die großen Probleme waren immer anderswo.

In meinem Gefühl setzte sich das fort in der Wahrnehmung des eigenen Lebens: Noch mit Mitte, Ende zwanzig fühlte ich mich wie ein Teenager, immer nur am Rande des Erwachsenseins, es schien mir immer wieder zu entgleiten, es war für andere, sagenhafte Gestalten, die darin irgendwie gut waren, aber nicht für mich. Cary Grant, Aretha Franklin und Wolfgang Mischnick, das waren Erwachsene. Wann würde ich ankommen in deren Welt? Auf seltsame Weise fühlte ich mich noch ein paar Jahre nach meiner Volljährigkeit, wie ich mich als Kind gefühlt hatte, wenn ich die Stimmen der Erwachsenen im Wohnzimmer hörte. Das Gläserklirren, ihr wissendes Lachen. So, wie wenn man brasilianischen Bossa nova aus den sechziger Jahren hört, aber die Sprache der Sänger*innen nicht versteht: fremd, verheißungsvoll, wie etwas, das einem noch bevorsteht, und das man auf keinen Fall verpassen will.

Die Mauer fiel. Deutsche drangsalierten und töteten Menschen, die wir damals «Ausländer» nannten. Der 11. September war. Die Welt kam nahe, die Lage war ernst, aber ich spielte immer noch bestenfalls das Erwachsensein wie eine Rolle. Ich bekam einen Job, den ich oft liebte und manchmal kaum ertragen konnte. Ich erlebte die ersten tiefen biographischen Einschnitte, bei mir und anderen, das, was wir hilflos Schicksalsschläge nennen, als kämen sie aus dem Nichts und nicht einfach dem Leben. Jetzt regten mich alle auf, die sagten, sie müssten eigentlich erwachsen werden, könnten es aber nicht. Obwohl ich mich selber immer noch fühlte, als würde ich nur so tun.

Ich weiß nicht, wann mir klarwurde, dass auch die Erwachsenen, die ich damals so Bossa-nova-artig durch den Flur unserer Vorort-Mietswohnung gehört hatte, damals nur erwachsen gespielt hatten. Dass alles eigentlich immer nur eine Rolle ist und dass man deshalb in diesem Satz auch gar nicht «nur» sagen muss. Wir spielen Rollen, und das ist das Leben. Wir spielen Männer, wir spielen Frauen. Wir spielen erwachsen. Aber sind wir gut darin? Sind wir glücklich in der Rolle, die wir oder andere für uns ausgesucht haben?

Ich denke, wir bekommen Routine. Ich hab sie, seit ich so etwa Mitte, Ende vierzig bin. Seit ich in dem bin, was Leute, deren Job es ist, den Dingen unschöne Namen zu geben, «Lebensmitte» nennen. Man gewöhnt sich an alles, heißt es. Vielleicht sogar daran, erwachsen zu sein.

Eine Zeit lang war ich bei der Arbeit so was wie ein Chef, es hieß in der Firma Führungsperson. Ich hatte keine Ahnung, wie man das macht, ich dachte, mit allen befreundet sein und mich hin und wieder verstecken, wäre ein gangbarer Weg. Bis mir eine Psychologin, die uns schulen sollte, sagte: «Führen heißt entscheiden im Konfliktfall.» Ich fand und finde das interessant, aber wie immer, wenn jemand in Deutschland das Wort «führen» sagt, auch etwas peinlich und unangebracht. Ich habe noch die Generation erlebt, die «der Führer» gesagt hat, zwar in Anführungszeichen, aber beim Abendbrottisch. Scheiß auf Führen. Sagen wir: Erwachsensein heißt entscheiden im Konfliktfall. Oder besser: nicht wegrennen im Konfliktfall. Dranbleiben. Wegrennen und verstecken, wenn es Probleme oder große Schmerzen gibt (und was sonst meinen wir mit «Konfliktfall»), sind Strategien, die ich immer noch liebe, aber ich sehe ein, dass sie besser zu Kindern passen als zu einem ausgewachsenen Menschen. Ob man dann als Erwachsener, wenn man nicht weggerannt ist, die Dinge aushält, sie über sich ergehen lässt, sich gegen sie wehrt, sie lieben lernt, versucht, sie zu verändern – das ist von Fall zu Fall verschieden, und davon handelt dieses Buch.

Und es handelt davon, dass man nicht für immer in einem Vorort der Seele verharren kann. Dass man sich zwar einige Jahre am Rande der Dinge in Sicherheit wähnen mag. Aber wann, wenn nicht in der Mitte des Lebens, soll man raus in die Mitte der Welt, sich den Sachen stellen, mitmischen und ein Teil von allem werden?

1. Über Aufbruchstimmung:Ich muss los, ich hab noch Hack im Auto

Hack im Auto
YouTube
Langsames Gehen
Nicht schlafen
Nichtrauchen
Surfen
Passbild
Laufen
Sitzen
Fliegen
A.W. M.
Reis
Kreuzworträtsel

(Ich muss los, ich hab noch) Hack im Auto

Manchmal fragen sich Leute, warum alle nur noch zu Hause sitzen und niemand mehr etwas unternimmt, und ich kann es, was mich betrifft, recht klar beantworten: Abende außer Haus dauern oft viel zu lange. Ich verstehe das, wenn es ums Regietheater oder um Superheldenfilme geht, also im Sinne von: Ich sehe die Logik und das Zwangsläufige dahinter, man hat halt so viele Special Effects programmiert und so viele Leute ins Theater gesperrt, nun kann man es ausnutzen. Ich verstehe einvernehmliches Ausnutzen, es geht in Ordnung. Aber warum müssen Abende mit ganz normalen Freunden sich ins Unendliche dehnen, ohne Special Effects? Ich gehe so gern ins Bett. Bitte beachtet, dass ich ausdrücklich nicht «früh» oder «rechtzeitig» oder gar, das wäre nun wirklich die völlige Kapitulation, «zeitig» gesagt habe. Es ist nur so: Ich gehe gern ins Bett, und warum sollte man endlos aufschieben, was man gern tut.

Allein, die Freunde und Freundinnen sehen es nicht alle so. Sie sehen es geradezu anders. Es dauert ewig, bis sie sich ausgemärt haben. Die Dinge ziehen sich. Dat dürt, denke ich auf Plattdeutsch, obwohl ich dazu keinen Grund habe, nur, dass mein Vater aus einer Gegend kommt, wo man es schon zu seiner Kindheit kaum noch sprach. Zum Beispiel hatten wir eine Pokerrunde, und ganz ehrlich, ich liebe und liebte Pokern so sehr wie alle anderen während des Wir-haben-eine-Pokerrunde-Booms Anfang der Zweitausender. Aber meine Güte, dat dürte.

Wenn die Abende zu lang zu werden drohten, pflegte meine Freundin Miriam in den Neunzigern zu meiner Freundin Manuela zu sagen, ob sie dann «in nicht allzu ferner Zukunft» mal gehen würden. Sie gingen immer zusammen, daher betraf es auch mich, denn Manuela und ich waren ein Paar. Dieses «in nicht allzu ferner Zukunft» wurde für Manuela und mich zum geflügelten Wort für Erlebnis-, wenn nicht Lebensverweigerung. Heute weiß ich, wie ungerecht das war, denn mein Leben findet längst in der Miriam-Zone statt: Egal, wo ich bin, ich würde gern in nicht allzu ferner Zukunft wieder gehen. Selbst wenn ich auf einem Konzert bin, auf das ich mich lange gefreut habe, denke ich: Wie schön es sein wird, sich später hieran zu erinnern. Nun könnte es auch langsam vorüber sein. Ich würde gern in nicht allzu ferner Zukunft …

Beim Pokern nun wollten aber auch langsam andere «los», es ging auf halb zwei, und wir spielten immer unter der Woche, Dienstag auf Mittwoch. Irgendwann sagte Sandro, er müsste langsam los. Ich liebte ihn dafür noch mehr als vorher. Die anderen wollten wissen, warum. Er sagte, er müsste zu Hause noch die Suppe umrühren.

Nun wurden weitere, scherzhafte Aufbruchsbekundungen geteilt. Und am besten gefiel mir: Ich muss los, ich hab noch Hack im Auto. Es war nicht nur eine für meine Begriffe lustig formulierte Begründung, nun doch langsam eher schnell loszumüssen. Es war auch auf einmal genau der Ausdruck, der mir gefehlt hatte, um eine Stimmung auszudrücken, die ich umso häufiger habe, je älter ich werde: eine Aufbruchstimmung, die zum Teil aus Unruhe, zum Teil aus der Angst, was zu verpassen, aus Ungeduld, aber auch aus dem plötzlichen Interesse, etwas Neues anzufangen, besteht. Weil sonst etwas schlecht werden könnte, etwas Verderbliches, das auf der Rückbank liegt oder im Fußraum.

Ich glaube, das Leben ist vorbei, wenn man irgendwann nicht mehr denkt: Ich muss los. Oder eben: Ich werd dann mal.

Außerdem stelle ich mir eine große Menge Hack vor, natürlich bio, vielleicht, weil man einen ganzen Kindergeburtstag mit Buletten versorgen will oder Freundinnen mit Hamburgern oder weil man jemanden, den man sehr liebt oder sehr hasst, aus Hack formen, zum Hackbraten braten und dann verzehren möchte, aus Liebe oder zum Austreiben.

YouTube

Manchmal bleibe ich im Flur stehen und lausche, was die Kinder in ihren Zimmern reden. Nicht weil ich ihnen nachspioniere, sondern weil es oft so süß ist. Oder zumindest jahrelang immer so süß war. Wenn das Kind mit kleinem Stimmchen irgendwelche Stofftiere oder Puppen maßregelte, weil sie die Süßigkeiten aufgegessen hatten, oder wenn das andere Kind mit Hilfe der entsprechenden Lego-Aufbauten in halblautem Konversationston vermischte Harry-Potter- und Herr-der-Ringe-Abenteuer kommentierte. Man musste dann immer nur aufpassen, dass der Fußboden nicht knarrt, denn sobald das allein spielende Kind einen hört, ist der Zauber des Alleinspielens vorbei und wird ersetzt durch den für mich oft nicht ganz so magischen Zauber von «Papa spielt die etwas weniger beliebte Puppe bzw. die immer leicht unterlegenen Gegner der Lego-Helden».

Leider dauert es lange, bis Kinder begreifen, dass die meisten Erwachsenen nicht so besonders gut im Spielen sind. Etwa so lange, bis sie sowieso nicht mehr mit einem spielen wollen.

Jetzt jedenfalls dringt bei meiner Tochter eine andere Stimme aus dem Zimmer. Meine Frau und ich nennen sie die YouTube-Stimme. Sie hört sich etwa so an: «Hallo, ich bin’s wieder, und heute zeige ich euch mal, wie ihr euren Hefter verzieren könnt. Hier, ihr seht ja, der Hefter ist nicht so besonders schön. Aber ihr habt ja bestimmt ein paar Washi-Tapes in der Schublade. Ich liebe meine Washi-Tapes. Es ist ganz wichtig, dass ihr euch für ein Farbkonzept entscheidet. Also ich hab jetzt zum Beispiel gedacht, Silber. Ihr könnt aber auch eine andere Farbe nehmen – was euch gefällt!» Und so weiter. In diesem lässigen, positiven, aber schon auch sehr konzentrierten Weltherrschaftston, mit dem junge Frauen und Männer oder besser gesagt alte Kinder auf YouTube in «DIYs» und «Tutorials» erklären, wie man allerhand selber macht. Meine Tochter filmt sich allerdings nicht dabei, sie darf keinen YouTube-Account haben. Es muss schrecklich sein mit solchen Eltern, aber ich bin nicht bereit, mehrmals täglich die selbstgemachten Videos einer Elfjährigen durch meine Vaterzensur laufen zu lassen. Daher tut sie eigentlich immer nur so, sie filmt sich nicht mal, sie kommentiert einfach das, was sie sowieso gerade tut, als würde sie einen YouTube-Film drehen.

Ich fand das erst super putzig, dann gruselig. Mein Gott, wir waren damals wenigstens noch richtig fernsehsüchtig! Die Kinder von heute sind süchtig nach anderen Kindern, deren Eltern sie nicht daran hindern, Videos auf YouTube hochzuladen! Wo soll das alles enden! Ja, das Alarmierende an derartigen Entwicklungen ist, dass sie mich verleiten, innerlich wie der Simpsons-Opa die Faust gegen eine Wolke zu schütteln. Ich werde mir selber peinlich, wenn ich erzieherisch die gute alte Zeit heraufbeschwöre.

Darum habe ich YouTube lieben gelernt. Zum einen führt der Nachahmungsdrang des Kindes dazu, dass es mitunter sogar ungeliebte Tätigkeiten klaglos hinter sich bringt, weil es einfach so tut, als würde es ein YouTube-Tutorial darüber machen: Hallo, heute zeige ich euch mal, wie man am besten den Tisch abräumt. Also, beim Geschirrspüler müsst ihr aufpassen, in welche Richtung ihr die Teller … usw.

Zweitens hat sich meine anfängliche Sorge zerstreut, das Kind könnte dem Kult um allerhand Influencerinnen und Influencer verfallen, also den knapp der Kindheit entwachsenen YouTube-Stars, die ihren Einfluss nutzen, um Schleich- oder offene Werbung für Lifestyle-Quatsch zu machen, oder gleich ihren eigenen Kram feilbieten, Duschschaum, der nach Cupcakes riecht und so. Tatsächlich verfolgen die Kinder nämlich die Aktivitäten von YouTubern mit einer Aufmerksamkeit, die ich mir für meine väterlichen Aktivitäten nur wünschen kann, aber: mit einer stabilen ironischen Distanz. Ich frage mich, ob YouTuber wissen, dass die meisten Kinder ihre Accounts nur abonnieren, um keine Gelegenheit zu verpassen, sich über sie lustig zu machen.

Außer wie gesagt die Selbermach-Tutorials, die werden sehr ernst genommen bei uns. Seitdem können meine Frau und ich am Wochenende länger ausschlafen, ich begrüße das in vollem Umfang. Zumindest, bis meine Tochter durch die Wohnung brüllt: «Papa, haben wir Bastelkleber, Rasierschaum, Kontaktlinsenflüssigkeit und Speisefarbe? Und einen Karton? Und baust du eine Slime-Maschine mit mir? Wo ist der Cutter?» Dann gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, und sich schlafend stellen ist keine davon. Man kann dann nur übellaunig mitmachen oder versuchen, sich anstecken zu lassen von diesem seltsam durchdringenden und mir so fremd positiven Selbstmachsound. Übellaunig bin ich genug, darum habe ich Option zwei gewählt.

Die Slime-Maschine ist erstaunlich gut geworden, besser als im Tutorial. Als Nächstes lerne ich Shuffle-Dance von zwei elfjährigen Belgierinnen.

Langsames Gehen

Seit ungefähr zwanzig Jahren lebe ich in Hamburg. Der Hauptunterschied zwischen Hamburg und Berlin ist, dass die Bürgersteige in Hamburg schmaler sind und dass niemand in Berlin sich über den Hauptunterschied zu Hamburg Gedanken macht. Die schmalen Bürgersteige empfinde ich als sehr belastend, immer noch. Es wird eigentlich jeden Monat schlimmer. Man ist auf den schmalen Bürgersteigen gefangen hinter Leuten, die langsam gehen. Ich meine hier keine älteren Menschen, Leute, die Esel führen oder kleine Kinder, die Radkappen bestaunen. Für all das habe ich vollstes Verständnis, ich begrüße es sogar und würde es selber jederzeit tun, alt und langsam sein, Esel führen, Radkappen bestaunen, gern alles zugleich. Aber langsam gehen, obwohl man auch schnell gehen könnte?

Für Städte gibt es eigentlich keine Berechtigung, sie sind laut und dreckig, die Lebensqualität, wie wir Menschen jenseits der dreißig das nennen, ist nicht so gut. Einer der wenigen Vorteile ist, dass die Dinge sich in Städten schnell bewegen, wer entschleunigen möchte, ist hier fehl am Platze.

Bitte erzählt mir nichts vom Schlendern und Flanieren. Das Erste ist für Touristen, und, seid bitte ehrlich zu euch selbst, niemand mag Touristen, nicht einmal du und ich, wenn wir selber welche sind. Flanieren ist eine kulturelle Praxis, die früher dazu diente, Material für Feuilletons zu sammeln oder für soziale und philosophische Betrachtungen, aber niemand kann mir erzählen, dass der Typ hier vor mir ein Walter Benjamin unserer Gegenwart ist. Er ist einfach nur jemand, der latscht.

Warum regt mich langsames Gehen ohne medizinische Indikation so auf? Es ist ein bisschen dieses Gefühl, mitten im Alltag, mitten auf dem Bürgersteig, für einige Augenblicke als Geisel der Lebensfreude eines anderen genommen zu werden. Überholen als Fußgänger ist so schwierig und theatralisch, wenn man nicht anfangen will zu rennen, es wird eine riesige Produktion daraus, es kriegt so etwas unangenehm Demonstratives. Und dann steht man bzw. geht man da als der gestresste Typ, der den anderen nicht ihre Entschleunigung gönnt.

Stimmt ja vielleicht auch. Denn je älter ich werde, desto weniger glaube ich, dass der Weg das Ziel ist. Was nicht nur eine der am nachhaltigsten abgedroschenen Lebensweisheiten ist, sondern auch ein völlig unzureichendes Trostpflaster für alle, die sich oder anderen nicht mehr zutrauen, noch etwas zu erreichen, geschweige denn ihr Ziel, in eher kurzer als langer Zeit.

Es gibt im Gegenteil aber so viele Orte, an die ich noch kommen will. Im übertragenen wie im eigentlichen Sinne, und wenn es nur der hellgrüne Alnatura-Supermarkt am anderen Ende der Fußgängerzone ist. Ich möchte nicht dieser Mensch sein, der die Banalitäten einer Stadtstraße bestaunt wie ein Pflanzenfan den Dahliengarten, ich möchte die Dinge nicht auf mich wirken lassen, ich möchte sie hinter mir lassen. Langsames Gehen mag für jene, die schleppende Bewegungen schätzen, etwas damit zu tun haben, den Augenblick zu würdigen oder gar zu genießen. Der Augenblick aber wird womöglich überschätzt: Ich hab lieber was vor als direkt neben mir. Schnelles Gehen ist Utopie in Bewegung. Wer langsam geht, hat es nicht vor, sondern hinter sich.

Nicht schlafen

Eines Tages im Frühjahr war es vorbei. Ich wachte um drei auf, lag wach und suchte in der Peripherie des Schlafes nach einem verborgenen Eingang. Ich fand ihn nicht. Nach ein paar Minuten wieder einschlafen, wie sonst: Das ging nicht, es war, als hätte ich es verlernt. Und dabei blieb es. Erst dachte ich: Ach du Scheiße. Das hat mir noch gefehlt. Das moderne Leben mit Job, Kindern, Trump-Nachrichten, Facebook-Sorgen und der deutlich spürbaren, aber nur vage umrissenen Vorstellung, das könne ja wohl nicht alles gewesen sein, oder es ist zu viel – dieses Leben ist auf seine Weise hart genug. Wie soll ich es durchstehen, ohne durchzuschlafen? Normalerweise redet man ja über sich selbst wie über ein Kind im Windelalter: Die Nacht war gut, ich habe durchgeschlafen.

Aber nun wachte ich morgens um drei auf und lag wach. «Die Stunde des Wolfes» nennt der Schlafforscher Jürgen Zulley die Zeit zwischen etwa drei und vier Uhr morgens: In dieser Zeit wachen viele Menschen auf, weil sie zwischen zwei Tiefschlafphasen liegt und weil in dieser Zeit der Körper überdurchschnittlich viel Melatonin ausschüttet, ein Hormon, das den Schlaf reguliert, aber auch leicht depressiv macht.

Wer nachts um drei aufwacht, fängt an zu grübeln, die Uhrzeit beschert einem dunkle Gedanken, die umso bedrohlicher werden, je länger man auf ihnen herumkaut. Vor diesem Herumkauen bin ich geflohen. In eine völlig neue Welt, für die ich in den ersten Wochen gar keinen Namen hatte. Das heißt, ich habe einfach nicht versucht, wieder einzuschlafen. Ich habe ein, anderthalb Stunden etwas ganz anderes gemacht, ich bin aufgestanden und habe mich in dieser neuen Welt bewegt, bis ich wieder müde war.

Ich dachte, ich hätte diese Welt erfunden, für mich allein, und ich wäre ihr einziger Bewohner. Es fühlte sich an, als hätte ich einen neuen Planeten entdeckt. Er hat aber bereits einen Namen, das fand ich nach ein paar Wochen heraus: segmentiertes Schlafen. Also: in Stücken oder Teilen schlafen, mit Unterbrechung, so, als wäre der Nachtschlaf ein neuer «Star Wars», und in der Mitte geht das Licht an, und man vertritt sich ein bisschen im Foyer die Beine und atmet Popcornluft, nur: viel, viel schöner.

Wir haben gelernt, in einem Stück zu schlafen, zum Beispiel von etwa halb zwölf bis halb sieben, so wie ich früher. Ein wunderbar durchschnittlicher Wert, denn die Menschen in Deutschland schlafen etwa sieben Stunden pro Nacht. Und wachen ein paar Dutzend Mal auf, aber fast, ohne es zu merken, sie schlafen gleich wieder ein. Segmentierter Schlaf verläuft nicht in einem Stück, sondern mit einer bewussten, sogar absichtlichen Unterbrechung ziemlich genau in der Mitte.

Seit etwas über zwanzig Jahren, lese ich eines Nachts in einem «New York Times Magazine», das ich mir aus dem Flugzeug mitgebracht und für die Nacht aufgehoben habe, gehen Schlafforscher*innen und Historiker*innen davon aus, dass die Menschen bis zur Erfindung des elektrischen Lichts vermutlich überwiegend in Phasen geschlafen haben. Weil man ins Bett ging, wenn es dunkel wurde – die meiste Zeit des Jahres über in Mitteleuropa also recht früh –, und wenn man nach der ersten Tiefschlafphase aufwachte, war noch so viel von der Nacht übrig, dass man aufstand und Briefe schrieb, Tagebuch führte oder einander sogar besuchte, weil die Chancen gut waren, dass der Nachbar auch auf den Beinen war, mitten in der Nacht. Bis man sich zu einer zweiten Halbzeit Schlaf bis zum Morgengrauen wieder hinlegte. «Dorveille» nannten die vorindustriellen Franzosen diese Zeit mitten in der Nacht, was zu Deutsch so viel wie «Wachschlaf» bedeutet, und die Engländer sagten schlicht «the watch», die Wache.

Um mir nicht sinnlos den Kopf zu zerbrechen, habe ich angefangen, nachts zwischen drei und vier Dinge zu tun. Nicht so wie am Tag. Schlafwandlerischer und wacher zugleich. Zielloser. Um mich dann wieder hinzulegen, gegen vier, und noch mal eine Tiefschlafphase von zweieinhalb, drei Stunden mitzunehmen. Mich darin einzurichten, hat mir die Nächte, die Tage und vielleicht den Seelenfrieden gerettet.

Was am Anfang wie ein Fluch wirkt (warum wache ich jede Nacht auf?), wird herrlich, wenn man aufhört, sich dagegen zu wehren. Normalerweise droht immer irgendeine Art von Gefahr, Peinlichkeit oder Erniedrigung, wenn jemand die folgende Formulierung verwendet, aber beim segmentierten Schlaf passt sie: Man muss sich halt drauf einlassen. Man darf nicht dagegen kämpfen. Was Schlimmeres, als zu grübeln und um den Schlaf zu kämpfen, kann einem dabei ja nicht passieren. Chronobiologen sagen sogar, dass das Schlafen in zwei Phasen womöglich den ursprünglichen Schlafbedürfnissen und -gewohnheiten unseres Körpers entspricht: Versuchspersonen, denen man die Uhr und den festen Tagesablaufs nimmt, fangen jedenfalls nach einer Weile von allein mit dem segmentierten Schlafen an.

Nun habe ich eine Uhr und einen festen Tagesablauf, aber auch dazu passt der segmentierte Schlaf, und sogar besonders gut. Die gute Stunde zwischen meinen beiden Schlafhälften ist ein Gegenentwurf zu meiner Tagwelt geworden. Das habe ich gemerkt, nachdem ich anfangs versuchte, «die Wache» als eine Art Add-on des Tages zu nutzen: Ich schrieb ein paar Mails über Dinge, die am nächsten Tag anstanden, ich deckte schon mal den Frühstückstisch, sorgfältig und liebevoll, ganz leise, oder ich ließ schon mal eine Wäsche durchlaufen im Keller. Aber der Effekt war seltsam, ich war eine Art Heinzelmännchen meiner selbst, und wenn ich morgens den gedeckten Frühstückstisch vorfand und die durchgelaufene Waschmaschine, war es mir unheimlich. Und die Nacht-Mails waren schwafelig, redundant und unfokussiert, oder überkurz wie zwischen zwei Wimpernschlägen geschrieben. Die Antworten klangen alarmiert: «Warum schreibst du mir um 3:20? Bist du krank?»

Tatsächlich fühlt sich die Schlafwache ein bisschen an wie früher als Kind eine von den guten Krankheiten, wenn man fiebrig genug war, um zu Hause zu bleiben, aber nicht so, dass man sich schlecht fühlte, nur ein wenig matt und verlangsamt. Wie die Vormittage vorm Fernseher damals entzieht sich die Wache der Nutzwertigkeit: Sie ist nicht dafür da, um Dinge zu erledigen, sondern im Gegenteil, um ganz wenig zu tun. Was seit langem ein Traum: möglichst wenig tun, wird nun Wirklichkeit in der guten Stunde zwischen dem Schlafen.

Ich lese ein bisschen, aber nichts, was besonders handlungsreich ist, nichts, wo man sich viele Namen merken muss, denn das Gehirn ist zwar da, aber es signalisiert ganz klar, dass es zum Zugucken gekommen ist und nicht zum Mitmachen. Ich fange an, Proust zu lesen, «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», zuerst, weil es mir wie eine Art Fachliteratur erscheint, denn es geht darin ja viel um Schlafen und nicht Schlafen, und wer hat tagsüber Zeit für die Empfindsamkeiten des französischen Großbürgertums der vorvorigen Jahrhundertwende? Schnell merke ich, dass Proust lesen wie weiterschlafen und darum ideal ist, und der Vorrat geht nie aus, nach einem halben Jahr segmentierten Schlafens bin ich immer noch nicht beim letzten Band.

Gern aber wandere ich auch einfach durchs Haus. Wobei weder das Wort «wandern» noch das Wort «Haus» präzise beschreibt, wie ich in Schlafanzughosen durch die Wohnung tapere, aber es fühlt sich so an: Alles wird ein wenig fremd und dadurch größer im Wachschlaf, man fühlt sich als Besucher im eigenen Leben. Und wie ein Besucher sieht man manche Dinge dann auch klarer als tagsüber, wenn man einheimisch im eigenen Leben ist: wie sanft die Kinder atmen, die tagsüber so groß und streitlustig sind, wie gewissenhaft die Frau immer ihre Handtasche neben das Bett stellt, vielleicht, damit sie alles gleich hat, wenn die Erde bebt. Und wie herrlich tot die Handys an ihren Aufladekabeln hängen, die Bildschirme endlich schwarz wie die Nacht.

Social Media auf dem Telefon nämlich oder Fernsehserien auf dem Laptop: das geht gar nicht während der Wache. Und es ist nicht das blaue Licht, das einen dann wieder viel zu wach macht, das kann man rausfiltern, ich habe alle Apps dafür. Nein, es sind die Donald-Trump-Reize aus anderen Zeitzonen, die Sorgenmacher in den Timelines, und in den Serien fällt einem plötzlich diese seltsam gleichförmig aufregende Struktur mehr auf als alles andere, ein Cliffhanger zappelt am nächsten, wer will so leben, und dann kann man doch nicht einschlafen und irrt später mit kleinen Augen durch den nächsten Tag, als hätte man sich darin verlaufen.

Was ich liebe, ist nachts aufzustehen und am Tisch ein Kreuzworträtsel zu lösen. Es ist eine wunderbar sinnlose Tätigkeit, die keinem Zweck dient und keinen Nutzen hat als den, dass ich ein halbes, dreiviertel Stündchen vor mich hin atme und mich daran erfreue, wie der vorne so angenehm runde und weiche Bleistift übers Zeitungspapier huscht. Es ist ein Bild dafür, wie durch die Unterbrechung in der Nacht der Schlaf umgewidmet wird. Normalerweise dient die Nacht der Regeneration, genauer gesagt: der Wiederherstellung unserer Arbeitskraft, und all die Ängste, die damit verbunden sind, nicht schlafen zu können, gehen genau in diese Richtung. Wir fürchten, am nächsten Tag nicht fit zu sein, wenn die Nacht schlecht war, nicht durchhalten zu können, es nicht zu schaffen, was immer «es» im Moment auch ist. Im Grunde ist das die harte Währung geworden im Alltagskampf der Mehrfachbelasteten: die Frage, ob deine Nacht gut oder schlecht war, wie du schläfst, wie du aufwachst. Durch das Schlafen in zwei Portionen ist es mir zum ersten Mal gelungen, mich dem innerlich zu entziehen. Die Nacht ist für mich kein Entmüdungsbecken mehr, in dem ich mich ungeduldig auf die Anforderungen des Tages vorbereite, sondern sie hat wieder ein Eigenleben. Sie ist die Zeit, in der ich schlafe, aber auch die, in der ich ziellos durch die Wohnung wandere, einlullende Bücher lese, Kreuzworträtsel löse oder einfach nur aus dem Fenster schaue.

Schlafforscher*innen nennen diesen Zustand «non-anxious wakefulness», unangespannte Wachheit, im Gegensatz zur angespannten Wachheit des Grübelns und Nicht-wieder-einschlafen-Könnens. Tatsächlich ist es mir im letzten halben Jahr nur zwei- oder dreimal nicht gelungen, im Morgengrauen noch mal für ein paar Stunden wieder einzuschlafen. Und dann hilft, wenn man weiß, dass jeder einigermaßen gesunde Mensch genug Reserven hat, um nach einer Nacht mit nur drei oder vier Stunden Schlaf ganz gut durch den nächsten Tag zu kommen. Auch das sagt die Schlafforschung, und tatsächlich geht es.

Der segmentierte Schlaf beschert einem im Laufe der Zeit zwar auch tagsüber eine weniger angespannte Wachheit, aber man zahlt durchaus einen Preis dafür: Ich wache nur gegen drei auf, wenn ich zwischen zehn und elf ins Bett gegangen bin. Der segmentierte Lebenswandel passt also nicht so gut zu irgendeiner Art von Partymodus. Andererseits gehe ich seit Jahren ganz gern um diese Zeit schlafen, und wenn ich es nicht getan habe, dann meist, weil ich mir irgendwas beweisen oder dem Tag noch was abringen wollte, das er gar nicht mehr im Programm hatte.

Wenn man sich an ihn gewöhnt und ihn gepflegt hat, kommt der segmentierte Schlaf nach einer Weile immer wieder zu einem zurück und mit ihm diese andere Art von Nacht, die nur einem selbst gehört. Im berühmten «Abendlied» beschreibt Matthias Claudius die Nacht als «eine stille Kammer, wo Ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt». Früher fand ich das Bild mit der Kammer passend. Aber sobald man sich ein Stück herausbricht aus dem Schlaf, kommt einem die Nacht nicht mehr wie ein enger Raum vor, sondern wie ein großer, punktuell beleuchteter Saal, dessen Pracht man nur ahnen kann, und der sich immer wieder aufs Neue nur für eine einzige Person öffnet.

Nichtrauchen

Vor fünf Jahren habe ich schon einmal aufgehört zu rauchen, aber diesmal klappt es, das spüre ich. Es gibt nur eine Situation, in der ich mich nach einer Zigarette sehne: immer. Moment, das habe ich gar nicht gemeint, das haben die Hände geschrieben, die Hände ärgern mich jetzt manchmal, weil sie nicht genug zu tun haben. Ich wollte sagen: wenn ich eine Pause machen möchte. Was tut man während einer Pause ohne Zigarette? Meine Kollegin Simone sagt, man gewöhne sich daran und irgendwann finde man es genauso schön, einfach rauszugehen und zehn Minuten lang «ein Efeublatt zu betrachten». Aha. Nun ja. Wir arbeiten an einem gemeinsamen Projekt, aber noch nie hat Simone währenddessen zu mir gesagt: «Komm, lass uns mal ein Efeublatt betrachten gehen.» Würden wir beide noch rauchen, dann würde ständig einer sagen: «Komm, wir rauchen mal eine», und alles wäre schöner.[*]

Denn mehr als die konkrete Zigarette fehlt mir die Idee des Rauchens. Mir wird schlecht, wenn ich sehe, wie vernünftig mein Leben ist: Alles ist sparsam und bio, ich bin verantwortungsbewusst und einsatzbereit, ich höre zu und denke nach und versuche immer, das Richtige zu tun. Es kommt mir vor, als lebe ich mein Leben nicht, sondern als trage ich es wie vernünftiges Schuhwerk. Rauchen war genau das irrationale Element, das allem eine gewisse Leichtigkeit gegeben hat.

«Warum hast du dann aufgehört?», fragt meine Kollegin Christine und bläst Rauch in meine allgemeine Richtung.

Eine reine Vernunftentscheidung: Ich kann damit rechnen, ein empfindliches Herz und ebensolche Gefäße zu haben, und ich möchte nicht in den nächsten Jahren nach einem Herzinfarkt aufwachen oder nicht aufwachen und als Erstes denken: Oh Mann, ich hab’s doch gewusst. Über diese Gemengelage sprach ich neulich mit meiner Frau und unserer gemeinsamen Freundin Isa. Wir hatten uns gerade dagegen entschieden, noch eine Flasche Wein aufzumachen, denn die nächste wäre mitten in der Woche verantwortungslos gewesen.

Wir erinnerten uns daran, seit wann wir nicht mehr rauchen: Isa seit fünfzehn Jahren, ich seit vier Monaten, und meine Frau ist so vernünftig, es bei einer Zigarette am Tag belassen zu können. Ich malte mir aus, dass ich jetzt, mit Mitte vierzig, noch dreißig, vierzig Jahre ohne Zigarette und mit immer weniger Alkohol vor mir hatte, und ich fragte mich, was aus mir werden sollte: einer dieser hageren, sehnigen Männer in den besten Jahren, die ihr Leben irgendeinem zeitaufwendigen Sport widmen und anderen Vorträge darüber halten, welche Nahrungsmittel die Verdauung anregen? Ich gönne jedem seinen Spaß, aber für mich klingt das nicht nach «beste Jahre».

Während ich in Trübsal versank, machten die beiden Frauen einen Plan. Das kommt immer wieder vor: Ich bin trübsinnig, meine Frau macht einen Plan. Wir würden, verkündeten sie, hier und jetzt einen Pakt schließen: Mit siebzig fangen wir alle drei wieder zu rauchen an, und ab diesem Zeitpunkt werden wir trinken, so viel wir wollen, wir werden unvernünftig sein und es so richtig krachen lassen. Dies auszusprechen, mir dies vorzunehmen (und es in bunten Farben auszumalen), hat mich Zuversicht gelehrt. Immer mehr Freunde schließen sich unserer an. Plötzlich ist das, was mir als Verlust erschien, ein Versprechen, dass mich voller Vorfreude in die Zukunft sehen lässt. Ich bin zuversichtlich, dass ich die nächsten siebenundzwanzig Jahre bei guter Gesundheit und mit regenerierter Lunge im Bewusstsein überstehen werde: Das Beste kommt erst noch. Es fühlt sich gut an.

Und jetzt gehe ich raus, mit zusammengebissenen Zähnen irgendein Blatt betrachten.

Surfen

Aus unterschiedlichen Gründen haben Männer statistisch eine niedrigere Lebenserwartung als Frauen. Zum einen ist das Y-Chromosom nicht so gut. Zum anderen bringen Männer sich ständig in höchste Gefahr, damit andere Männer sie nicht für Memmen halten.

Im Urlaub habe ich meinen Freund Jay in Montauk besucht, an der amerikanischen Ostküste. Jay hat mit Ende dreißig mit dem Surfen angefangen. In Montauk kann man super surfen. Ich kann nirgendwo surfen. Ich will auch gar nicht surfen. Die Brandung ist mörderisch, nie käme ich auf die Idee, mich hineinzustürzen.

Jay kommt mit dem Brett unterm Arm zurück an den Strand. «Willst du auch mal?», fragt er, gleich am ersten Tag. Ich prüfe die Brandung mit der Skepsis eines Menschen, der jeden Tag in seinem Leben eine Brandung prüft. «Morgen», sage ich. «Ja», stimmt er mir zu, «ist ein bisschen wild heute. Morgen. Ich hab ein total breites Anfänger-Board für dich.» Jeden Tag wird die Brandung wilder. Erst bin ich erleichtert über die sich täglich von selbst erneuernde Ausrede. Am letzten Tag fragt Jay schon gar nicht mehr. Das ärgert mich. Unter den weniger besorgten als vielmehr hämischen Augen Luises ziehe ich mit einem schmatzenden Geräusch ein viel zu enges Neopren-Oberteil an und breche auf. Das Meer möchte nicht von mir betreten werden, es wirft mich aus wie ein Parkautomat die falsche Münze. Ich klammere mich ans Brett und versuche, hinaus zu paddeln. Der berühmte Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) hat eine autobiographische Erzählung geschrieben, die in Montauk spielt, sie handelt von seiner Affäre mit einer mehrere Jahrzehnte jüngeren Frau. Max Frisch war nicht surfen, er war beschäftigt. Komischerweise habe ich in «Montauk» vor Jahren nur einen Satz unterstrichen: «Ich lebe stets in Unkenntnis der Lage.» Bildung gilt ja als sehr wichtig, ihr Fehlen wird allerorten beklagt, aber ich muss sagen, wenn es hart auf hart kommt, nützt sie einem wenig. Ich (1969–?) ertrinke, und dabei denke ich an Max Frisch.

Es ist ein beängstigendes Gefühl, von einer haushohen Welle untergespült zu werden und dabei über ein unzerreißbares Plastikseil am linken Knöchel mit einem großen Brett verbunden zu sein. Alle sind gegen mich, das Meer und das Brett. Ich schlucke Salzwasser. Alles nur, damit mein Freund Jay mich nicht für eine Memme hält.

So schwer es war, ins Meer zu gelangen, so unmöglich scheint es nun, ihm wieder zu entkommen. Endlich packt mich eine Welle, sie ist nicht perfekt, aber für meine Zwecke ausreichend, das heißt, sie schleudert mich ohne weitere Umstände an den Strand zurück, und das Brett hinterher. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Hunderte Meter von dort, wo Luise und Jay im Sand herumlungern. Ich klemme mir das Brett unter den Arm und gehe zurück, wobei ich Sand ausspucke, bis ich in Sichtweite bin.

«Dude!», sagt Jay, die amerikanische Begrüßung für einen Mann, an dessen Männlichkeit kein Zweifel besteht. «Habt ihr mich gesehen?», frage ich und lege das Brett beiläufig beiseite, ein starkes Zittern in den Armen unterdrückend. «Nee, zu viel Verkehr da draußen», sagt Luise. «Und, wie war’s?», fragt Jay. Ich blicke unbeteiligt in Richtung Brandung und sage lässig: «Ziemlich gut.»

Meine blauen Flecken sind größer als der Nachruhm von Max Frisch, doch meine vergiftete, selbstzerstörerische Vorstellung von Männlichkeit ist bis zur nächsten Prüfung intakt.

Passbild

Mein Pass ist abgelaufen. Irre, wie schnell zehn Jahre vergehen. Ich weiß noch, wie ich den Reisepass im Februar 1996 auf meinem Bezirksamt abholte, das damals noch nicht Kundenzentrum hieß, weil wir zu jener Zeit noch Bürger waren und nicht Kunden der «Deutschland-AG». Berti Vogts war ja noch Bundeskanzler, das war eine ganz andere Zeit damals. Als ich zum ersten Mal das Gültigkeitsdatum meines damaligen Passes sah, dachte ich: ha ha, 2006, was ist denn das für eine ulkige Jahreszahl! Dann ging ich nach Hause, machte ein bisschen Drum&Bass an, schaute «Akte X» oder was man sonst so machte 1996, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren zehn Jahre vergangen. Ich also wieder los.

Ins Kundenzentrum. Mit ein paar alten Passbildern. Ich weiß, dass man für den neuen, elektronischen Reisepass ein neues Passbild braucht: etwas größer, frontal von vorne, viel schärfer als die alten, deutlich ausgeleuchtet, und man darf nicht lächeln. Biometrisch. Damit auch eine Maschine mein Gesicht lesen kann. Ich brachte aber ältere, freundlich unscharfe Automatenfotos mit, denn man soll im Verkehr mit Behörden immer erst mal versuchen, ob man mit dem alten Zeug nicht doch durchkommt. Kam ich aber nicht. Das Kundenzentrum verwies mich an einen speziell geschulten Fotografen nebenan. Der Fotograf zeigte auf einen Spiegel in der Studio-Ecke und sagte: «Wenn Sie noch was mit Ihren Haaren machen wollen.» Wollte ich nicht. Ich wollte mich ganz darauf konzentrieren, nicht zu grinsen. Es ist sehr schwer, nicht zu grinsen, wenn man weiß, dass man nicht grinsen darf, denn sonst sind 15 Euro futsch. Der Fotograf setzte ein hartes Licht, während ich versuchte, meine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu bringen. «Was kostet denn der neue Reisepass?», fragte er und dirigierte mich frontal vor die Linse. «Inklusive Foto machen lassen 74 Euro», sagte ich düster. Es blitzte. «Funktioniert immer», sagte der Fotograf. Um mir drei Minuten später das fertige Werk mit den Worten zu überreichen: «So sehen Sie biometrisch aus.»

«Stern»-Gründer Henri Nannen soll einmal beim Betrachten eines Porträtfotos des Schriftstellers Heinrich Böll ausgerufen haben: «Aaah, ein Gesicht wie eine Landschaft!» Eine seltsame, versunkene Zeit, als alte Männer sich noch so aneinander ergötzen konnten. Wenn man jedoch bei dieser Metaphorik bleiben möchte, dann zeigt mein biometrisches Passbild die verwehte Gelbgrünfläche zwischen zwei Autobahnzubringern im Morgengrauen, die ungeschönte Tristesse der norddeutschen Tiefebene.

Das biometrische Passbild ist eine Kulturrevolution, denn es ist das erste Bild im Leben eines Menschen, auf dem er exakt so aussieht, wie er sich nie sehen wollte. Erst das biometrische Passbild macht einem die evolutionäre Bedeutung des Lächelns so richtig klar. Jeder zieht auf einem Bild, auf dem er nicht lächeln darf, sondern mit schlaffen Gesichtsmuskeln in die Kamera schaut, einen sogenannten Flunsch. Alt, niedergedrückt und beleidigt, so sollen wir im Dienste der Terrorabwehr der Welt entgegentreten. Oder ist dies einfach das Ergebnis unserer Besessenheit mit Authentizität? Sind wir endlich da, wo wir sein wollten, ohne aufgesetztes Lächeln, ohne neckisches Halbprofil, frontal und fälschungssicher, ganz wir selbst?

Den Maschinen wünsche ich in den nächsten zehn Jahren viel Spaß beim Lesen meines Gesichts. Immer haben wir befürchtet, die Maschinen würden eines Tages die Macht übernehmen. In Wahrheit betrachten sie unsere biometrischen Fressen und lachen sich kaputt.

Laufen

Das Wunder des menschlichen Gehirns: seine Fähigkeit, sich selbst bzw. mich immer wieder zu bescheißen. Manchmal fragt mich jemand, ob ich eigentlich Sport mache. Also zum Beispiel der Arzt, wenn ich über Unwohlsein klage. Oder meine Jeans, wenn ich mich abrupt hinsetzen will. Oder Leute, die ein Smalltalk-Thema suchen. Ich sage dann: «Ich laufe. So zwei, drei Mal die Woche.» Dies ist eine der säulenartigen Wahrheiten, auf denen mein Verständnis der Welt ruht: die Erde ist eine Art Kugel, man darf nicht auf die Lücken zwischen den Pflastersteinen treten, und ich gehe zwei, drei Mal die Woche laufen.

Luise nimmt mich beiseite und fragt: «Wann genau gehst du denn eigentlich immer laufen?»

«Na ja, so am Sonntagnachmittag», sage ich, «wenn nichts dazwischenkommt.»

Ihre Miene changiert vom Erwartungsvollen ins Hämische, während ich gedanklich die weiteren Wochentage durchgehe. «Ich bin da nicht so festgelegt», sage ich schließlich. «Das Schöne am Laufen ist ja, dass man so spontan sein kann. Schuhe an, Tür auf, und los geht’s.»

Dann kommt sie mit: «Anders gefragt – wann warst du das letzte Mal laufen?»

«Vorm Urlaub!», sage ich, um Zeit zu gewinnen. Die Wahrheit ist: Es ist Wochen her, wenn nicht Monate. Dann war ich krank. Dann war, wie gesagt, Urlaub. Dann war mir nicht danach. Dann die Knie. Dann der verregnete Sommer. Meine Frau sieht zu, wie mein Selbstverständnis in sich zusammenstürzt. Laufe ich am Ende … so gut wie nie?

«Aber das kann nicht sein», wende ich ein, verzweifelt an ihre Vernunft appellierend, «ich habe das Laufen sozusagen mit erfunden, ich war einer der allerersten Läufer, damals, noch zu Schulzeiten, mit zwölf oder so, unser Sportlehrer hat uns dazu gezwungen, und ich habe nie wieder aufgehört! Ich laufe schon so lange, ich habe noch erlebt, wie das erst Waldlauf hieß und später Joggen und eine Zeitlang sogar Running! Ich war dabei!»

«Zu recht», sagt Luise, «verwendest du die Vergangenheitsform.»

Ich habe dann meine Schuhe gesucht und bin losgelaufen, denn ich erinnere mich, dass ich früher immer gut nachdenken konnte beim Waldlauf. Dass ich mich in diesem Ausmaß so lange selbst belügen konnte, liegt allein an der Verführungskraft der Formulierung «zwei, drei Mal die Woche». Sie klingt vage und wahr zugleich. Ich habe eine einfache Faustregel gefunden, wie man diese Formulierung entschlüsselt. Wenn es um etwas geht, von dem eine größere Anzahl besser ist als eine kleinere, dann gilt die Formel: zweite Zahl minus erste Zahl plus das Wort «höchstens». Beispiel, meinetwegen: Sex-Frequenz, die wird unter engen Freunden ja hin und wieder abgefragt. Lautet die Antwort «zwei, drei Mal die Woche», so rechnet man: drei minus zwei plus «höchstens», und das ergibt: höchstens einmal pro Woche. Ist dagegen eine niedrigere Anzahl wünschenswert, lautet die Formel: erste Zahl plus zweite Zahl plus «mindestens». Beispiel, am Sonntagabend: «Sag mal, du weißt doch, dass ich morgen früh ein Vorstellungsgespräch habe, wie viel Knoblauchzehen hast du denn dran