Das Gold der Fugger - Peter Dempf - E-Book

Das Gold der Fugger E-Book

Peter Dempf

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Beschreibung

Ein riskanter Handel, ein hinterhältiger Betrug und der Kampf einer jungen Frau um Gerechtigkeit!

Augsburg, 1516. Lange stand Agnes‘ Vater als Fuhrwerker in Diensten der Fugger. Eines Tages aber wird ihm vorgeworfen, Gold gestohlen zu haben. Weil ein junger Patriziersohn ihn beschuldigt, reichen den Gerichtsherren drei Münzen als Beweis, um ihn auf dem Schindanger hinzurichten. Agnes ist von der Unschuld ihres Vaters überzeugt und schwört herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Eine Spur weist nach Prag, zum letzten Reiseziel ihres Vaters. Heimlich schließt sie sich einem Fuggertross an und macht sich unter Lebensgefahr auf den Weg von Augsburg nach Prag ...

Peter Dempf nimmt uns mit ins raue Mittelalter - auf eine abenteuerliche Reise im Tross der Fugger.

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Inhalt

Cover

Grußwort

Über dieses Buch

Titel

Die Figuren der Handlung

Prolog

TEIL I: IN ACHT UND BANN

1

2

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4

5

6

7

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9

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TEIL II: DIEBE UND VERRÄTER

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TEIL III: DIE VERBOTENE STRASSE

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TEIL IV: DIE GOLDENE STADT

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TEIL V: VOM PREIS DER GERECHTIGKEIT

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61

Nachwort

Glossar

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

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Über dieses Buch

Ein riskanter Handel, ein hinterhältiger Betrug und der Kampf einer jungen Frau um Gerechtigkeit!

Augsburg, 1516. Lange stand Agnes’ Vater als Fuhrwerker in Diensten der Fugger. Eines Tages aber wird ihm vorgeworfen, Gold gestohlen zu haben. Weil ein junger Patriziersohn ihn beschuldigt, reichen den Gerichtsherren drei Münzen als Beweis, um ihn auf dem Schindanger hinzurichten. Agnes ist von der Unschuld ihres Vaters überzeugt und schwört herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Eine Spur weist nach Prag, zum letzten Reiseziel ihres Vaters. Heimlich schließt sie sich einem Fuggertross an und macht sich unter Lebensgefahr auf den Weg von Augsburg nach Prag …

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Peter Dempf

Das Gold der Fugger

Historischer Roman

*

Die Figuren der Handlung

Die Kursivsetzungen verweisen auf historische Personen.

IN UND UM AUGSBURG

Jakob Fugger (1459–1525)– Kaufherr und Bankier

Hans Sultzer – Patrizier und Kaufmann

Balthasar Regner – Fuhrwerker in fuggerschen Diensten

Agnes – seine Tochter

Kettlin – Hübschlerin

Berblin – verbanntes Mädchen

Hoja – Bettlerkönigin

Utz – ehemaliger Fuhrwerker und Kamerad von Balthasar in Oberhausen

Matheis – Fuhrwerker und Kamerad von Balthasar Regner in Meitingen

DER FUGGER-TROSS NACH PRAG

Georg Sultzer – junger Patrizier und Kaufmann, Trossführer

Bernward – sein Handlanger; begleitet den Tross als Waffenknecht

WEITERE WAFFENKNECHTE BEIM ZUG

Gerold, Kurt und Oswin

DIE FUHRWERKER

Hannes – junger Fuhrwerker, führt den Wagen von Balthasar Regner

Helle und Michael – Hannes’ Fuhrwerksknechte

Merten – Fuhrwerkslenker

Martin, sein Fuhrwerksknecht

Roter Michl – übernimmt den Wagen von Merten

Wirth – Fuhrwerkslenker

Leo und Johann – seine Fuhrwerksknechte

Krummer Hans – Fuhrwerkslenker

Bert und Marx – seine Fuhrwerksknechte

Doktor Mirabilis – Arzt, der den Fugger-Zug begleitet

FUHRWERKSDIEBE

Joss – Anführer der Bande

Jörg, Fatzer, Helmbrecht, Wendelin (auch: Wendel) – seine Männer, ehemalige Fuhrwerker

Abensberger – Raubritter

Meinhard – Mann des Abensbergers

Jörg von Wiespeck (1487–1518) – Herr auf Burg Wernberg

Henrich von Brugg – sein Gefolgsmann

Raymund Fugger (1489–1535) – Neffe Jakob Fuggers

Georg III. (1502–1555) – Landgraf von Leuchtenberg

Georg der Fromme (1484–1543)– Markgraf von Ansbach

Prolog

AUGSBURG, ANFANG OKTOBER 1516

Überall Krähen.

Ihr blauschwarzes Gefieder glänzte in der Sonne, und ihr Geschrei betäubte die Ohren. Immer wieder flogen Tiere auf, flatterten unwillig und mit gesenkten Schnäbeln über der Stätte und ließen sich unter ihre Artgenossen fallen, nur um noch mehr Geschrei und Gekeife auszulösen. Sie krächzten, hackten sich gegenseitig, machten sich die besten Plätze streitig, als forderten sie diese für das kommende Schauspiel ein. Ein unaufhörliches Gezeter, das Agnes nicht ertrug. Sie presste sich beide Hände auf die Ohrmuscheln, um dem Lärm der zänkischen Vögel zu entgehen. Doch es war vergeblich.

Dann spürte sie das Anrollen des Karrens, noch ehe sie ihn sah. Ein Vibrieren im Bauch, ein Beben, das vom steinigen Untergrund auf ihre Beine übertragen wurde und ihr bis in die Kehle stieg. Sie vermochte plötzlich nicht mehr zu schlucken. Ihr Hals dörrte aus, und sie musste husten. Ein Husten, der sich zum Würgen steigerte.

Die eisenbeschlagenen Reifen des Henkerskarrens schlugen den Takt in den frühen Tag, während sich die geschundene Gestalt darin an den hölzernen Gitterstäben festzukrallen versuchte.

Das Gefährt verließ die Stadt durch das Gögginger Tor und hielt sich leicht nach Norden. Ein Priester schritt vorweg und begleitete den Todgeweihten auf seinem letzten Weg. Der Geistliche murmelte fortwährend Gebete, hielt die Hände gefaltet und blickte zu Boden. Links und rechts liefen bewaffnete Büttel, und am Ende der Prozession schritt der Rote Freimann mit gesenktem Kopf, Schwert und Seil geschultert.

Agnes, die einige Fuß abseits von der Gruppe Neugieriger stand, meist Bauern auf dem Weg in die Stadt, konnte sehen, wie ihr der Verurteilte, dessen Lumpen kaum seine Blöße bedeckten, den Kopf zudrehte. Seine Augen waren leer, sein Gesicht war grau, die Haut von blauen Striemen gezeichnet. Sein Haar hatte lichte Stellen, die blutig verschorft waren, wo man ihm ganze Büschel ausgerissen hatte.

»Vater«, flüsterte sie unhörbar und sank auf die Knie, den Blick starr auf den Karren gerichtet. Unwillkürlich faltete sie die Hände und bewegte die Lippen, als wolle sie beten. Doch fielen ihr keine frommen Worte ein. Wie gebannt starrte sie auf ihren Vater.

Plötzlich schaute er auf, als müsse er erst nachdenken, was er da sah. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

Agnes’ Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, nur noch hören.

»Geh weg, Moidl!«, rief Balthasar Regner mit der kräftigen Stimme eines Fuhrwerkers in die Gebetslitanei des Priesters hinein. »Tu’s dir nicht an!«

Der Schlag eines Büttels mit dem Spieß gegen die hölzernen Gitterstäbe des Karrens ließen ihn sogleich wieder verstummen. Die Zuschauer murrten verhalten.

Agnes hoffte so sehr, dass in diesem Augenblick ein Weltgericht hereinbrechen würde, dass das Fehlurteil sich wie Schweißgeruch in der Luft verbreiten und sie verpesten würde, dass die Menschen erstickten, dass die Erde beben und der Jüngste Tag anbrechen möge. Der Herrgott durfte solch eine himmelschreiende Schändlichkeit doch nicht zulassen! Er musste doch die Welt aus den Angeln heben und die bestehende Ordnung umstürzen oder hinwegfegen, wie er es für Noah bereits einmal getan hatte.

Aber nichts geschah. Die Luft war noch frisch und roch nach Feuchtigkeit. Die Sonne stieg am Himmel empor und versprach einen lauen Herbsttag. Nur das Geschrei der Krähen stahl sich fremd und bedrohlich in diesen Morgen.

Das Maultier zog den Henkerskarren bis zu der gemauerten Richtstätte vor dem Gögginger Tor, die den Weg nach Pfersee hinüber um etliche Fuß überragte.

Agnes wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. Sie konnte erkennen, wie die Büttel ihren Vater grob von dem Karren stießen, wie er stolperte und beinahe in einen der Spieße gestürzt wäre. Blitzschnell hatte ihn einer der Henkersknechte beiseitegezogen, und ihr Vater fiel auf die Knie. Ein Stich mit der Lanze in die Seite trieb ihn wieder hoch und den Hügel hinauf.

Gemächlich folgte ihm der Rote Freimann, den schweren Beidhänder, das Zeichen seines Rechts, einen Menschen vom Leben in den Tod zu befördern, geschultert, als gelte es, einen Balken in den oberen Stock eines Hauses zu schleppen. Ein weiterer Lanzenhieb ließ ihren Vater erneut auf die Knie sinken. Er stieß einen Schrei aus, in dem sich das Aufbegehren gegen all das Unrecht Bahn brach, das er erlitten hatte und gegen das er sich nicht hatte wehren können.

Aufgescheucht durch den unmenschlichen Laut hob sich der Krähenschwarm laut krächzend in die Luft. Es war, als wäre der Teufel selbst erschrocken über das Fehlurteil, das Balthasar Regner das Leben kosten würde.

Der Henker verrichtete seine Arbeit mit Ruhe und Gelassenheit. Er ließ den Fuhrwerker von seinen Bütteln bewachen, reichte das Schwert an seinen Knecht weiter, richtete den Strick, lehnte die Leiter an das leere Dreibein, das den Galgen bildete.

Gestern noch hatte man die beiden Unglücklichen abgeschnitten, die dort seit einer Woche verrotteten, und ihre Leiber in der Nähe verscharrt.

Zuvor hatten die Leichenfledderer ihr Geschäft versehen, hatten die Toten beraubt, ihnen Zehen- und Fingernägel ausgerissen, Zähne entfernt, die Glieder abgetrennt, Haare eingesammelt und die Feuchtigkeit, die von den Leichnamen abgetropft war, vom Boden gewischt.

Agnes schlug die Hände vor die Augen. Sie wollte nicht zusehen, konnte sich aber auch nicht dazu entschließen, sich abzuwenden.

»Vater!«, flüsterte sie immer wieder. »Vater, Vater, Vater.«

Sie lag weiter flehend auf den Knien, als würde allein diese Haltung den Allmächtigen erbarmen und das Schicksal aufhalten können. Doch sie wusste, dass sie vom Himmel in dieser Welt nichts zu erwarten hatte. Sie entstammte nicht einem der reichen Kaufleutegeschlechter der Oberstadt, sie war die Tochter eines Fuhrwerkers. Sie war arm. Sie war eine von vielen. Sie war überflüssig in dieser Stadt und in dieser Welt. Und deshalb wurde sie vom Herrgott übersehen. Warum auch sollte er sich mit ihr abgeben, sich um sie und ihre Wünsche und Sehnsüchte kümmern? Von ihr war nichts weiter zu erwarten als ein paar inbrünstige Gebete – keine Kirche, keine Stiftung, keine Pfründe.

Vor ihr auf der Richtstätte war der Henker fertig. Er hatte das Seil an den Balken geknüpft und befahl ihrem Vater, sich auszuziehen. Die Kleidung, und war sie noch so ärmlich und zerrissen, gehörte dem Roten Freimann. Selbst die Bastschuhe, die Balthasar Regner trug, musste er abstreifen. Nur ein Tuch, das seine Blöße bedeckte, blieb ihm. Barfuß und halb nackt wankte er auf das Blutgerüst zu. Der Henker trat hinter ihn und band ihm die Arme im Rücken zusammen. Dann gab er ihm mit einem Wink zu verstehen, er solle die Leiter hochsteigen. Selbst von ihrem Platz am Rand des Weges aus konnte Agnes erkennen, dass er kalkweiß wurde.

Einmal – sie war noch ein Kind gewesen und hatte zusammen mit ihrem Vater gespielt – war sie auf seinen Knien geritten und hatte sich nach hinten geworfen und geschrien: »Jetzt bin ich tot!«

Da war er plötzlich ernst geworden und hatte sie ermahnt, nicht leichtfertig über den Tod zu sprechen. »Der Tod hat nichts Beiläufiges. Er ist endgültig. Und deshalb sollte man nicht mit ihm spaßen«, hatte er damals gesagt und sie auf die Stirn geküsst.

Durch den Schleier aus Tränen konnte sie sehen, wie ihr Vater die Leiter erklomm, mühsam, weil ihm die Hände auf den Rücken gebunden worden waren. Der Rote Freimann kletterte ihm nach und legte ihm die Schlinge um den Hals.

»Er hat doch nichts gestohlen!«, flüsterte Agnes. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste. »Dieser Laffe hat ihn hingehängt. Der Sultzer hat alle belogen, um seine Untat zu vertuschen.«

Mit einem Ruck zog der Henker die Schlinge um den Hals des Verurteilten fest, und mit einer Bewegung, die kaum wahrnehmbar und so leichthin war, dass Agnes von Übelkeit übermannt wurde, stieß er ihren Vater von der Leiter. Balthasar Regner pendelte noch hin und her, versuchte, mit den Beinen die Sprossen zu finden, doch der Freimann war rasch abgestiegen und hatte die Leiter entfernt.

Mit einem kurzen Blick prüfte er, ob alles passte, dann winkte er seinen Männern zu. Aus einem Kasten über der Deichsel holten sie zwei Krüge mit Wein oder Schnaps und tranken sich zu, während Agnes’ Vater am Galgen zappelte und die Bewegungen immer langsamer und spärlicher wurden. Dann ging ein Zittern durch seinen Körper. Eine Mischung aus Urin und Kot lief ihm an den Schenkeln hinab und tropfte auf die Richtstätte.

Agnes konnte den Blick nicht von dem Gehenkten abwenden. Aus seinem Mund quoll blau eine Zunge, und das Blutgerüst quietschte, weil sich der Körper drehte und hin und her baumelte.

Ihr Vater war tot. Sie musste es sich mehrmals vorsagen, musste es sich regelrecht einreden, sonst hätte sie es selbst nicht geglaubt, obwohl sie es sehen konnte.

Sie presste die Fäuste an die Schläfen. Warum, fragte sie sich, warum ist in der Zwischenzeit nicht die Welt untergegangen? Warum hat die Erde nicht gebebt? Warum dreht sich die Welt weiter, statt stehen zu bleiben? Warum scheint die Sonne noch immer und steigt höher und höher ans Firmament, statt im Lauf innezuhalten?

Die Antwort war so einfach, dass sie fast hätte lachen müssen.

Es gab keinen Gott, der gütig über die Menschen wachte. Es gab keine höhere Gerechtigkeit außer der, die man sich selbst verschaffte. Und wer sich auf das Jenseits vertrösten ließ, in dem alles geordnet werden würde, war den Lügen der Kirche und der Mächtigen auf den Leim gegangen. Man musste sich in dieser Welt seine Gerechtigkeit selbst holen, oder man war verloren. Die Welt, sie kümmerte sich nicht um den, der stillhielt und auf Erlösung wartete.

Mit einem Kopfnicken befahl der Henker, die Krüge wieder zurückzustellen, und warf jedem der Helfer eine Münze zu. Er drückte dem Pfarrer die Hand und reichte auch diesem ein Geldstück. Schließlich raffte er die spärlichen Kleidungsstücke des Gehenkten zusammen und legte sie hinten auf den Wagen. Dann gab er seinem Knecht ein Zeichen. Der grobschlächtige Kerl reichte ihm das Schwert zurück, griff dem Maultier in die Zügel und wendete den Karren.

Der Freimann warf einen letzten Blick auf den Mann am Galgen und schritt, gefolgt von dem leeren Karren und den Bütteln, neben dem Geistlichen her zurück in die Stadt. Sie unterhielten sich laut, sie lachten und scherzten. Selbst der Pfarrer beteiligte sich an dem heiteren Geplauder.

In diesem Augenblick schwor sich Agnes, ihren Vater und das Unrecht, das an ihm begangen worden war, zu rächen. Sie schüttelte die geballte Faust gen Himmel und gegen die Stadt. Doch die Männer waren bereits an ihr vorbeigelaufen. Sie hatten die junge Frau, die etwas abseits ihrem Treiben zugesehen hatte, gar nicht beachtet.

Als wäre sie unsichtbar. Als wäre sie nichts.

TEIL IIN ACHT UND BANN*

1

AUGSBURG, OKTOBER 1516

Agnes hatte das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Sie hatte sogar den Lehmboden abgeklopft. Nun blieb nur noch der Kühlkeller, dessen Zugangsklappe sich im Flur befand.

Sie suchte nach der Kuriertasche, die ihr Vater auf der fuggerschen Frühjahrsfuhre nach Prag gestohlen haben sollte, sowie nach dem Ring und dem Brief, die darin aufbewahrt wurden. Von beiden Dingen hatte Georg Sultzer gefaselt. Angeblich hatte er gesehen, wie ihr Vater die späterhin gestohlene Tasche in Händen hielt. Agnes war überzeugt, dass der Patriziersohn log, was das Zeug hielt, konnte ihm jedoch nichts beweisen. Sie wusste aber, dass ihr Vater irgendwo im Haus ein Versteck besaß. Wenn er die Tasche tatsächlich heimlich mitgenommen hatte, hätte er sie dort verbergen können. Dann aber hätte er sie nicht gestohlen, sondern allenfalls aufbewahrt, dachte sie sich. Doch sie glaubte nicht daran, etwas zu finden, denn er war völlig verzweifelt gewesen, als ihm seine Kuriertasche abhandengekommen war.

Ihr Vater hatte den Zugang zum Keller so gebaut, dass man entweder in das Kellerloch hinabsteigen oder aber nach draußen gehen konnte. Nur das eine oder das andere war möglich. Wenn die Klappe offen stand, versperrte sie die Tür. Um sie öffnen zu können, musste man die Haustür schließen. Das führte dazu, dass zum Beispiel das Sauerkrautfass, das im Hof gefüllt wurde, erst ins Haus gebracht werden musste, bevor man es in den Keller bringen konnte.

Seit ihre Mutter tot war, hatten sie sich immer wieder über diese Fehlkonstruktion gestritten. Heute wünschte sich Agnes von Herzen, sie könnte das noch einmal tun. Sie seufzte und zügelte ihre Gedanken. Als sie auf die Leiter schaute, die nach unten führte, trat ihr die schmale Gestalt ihres Vaters vor Augen, und ihr wurde kurzzeitig schwindlig. Doch dann fasste sie sich, stieg hinab und setzte die Suche fort. Auch dort klopfte sie die Wände und den Boden ab. Nachdem sie beinahe nicht mehr daran geglaubt hatte, entdeckte sie das Versteck in einem Hohlraum in dem Balken, der den kleinen Raum in der Mitte abstützte.

Sie griff hinein und zog einen Lederbeutel heraus. Fast blieb ihr das Herz stehen, als sie die Silbermünzen, die sich darin befanden, in ihre Hand gleiten ließ. Sie waren kühl, schwer und dunkel angelaufen. Agnes stiegen die Tränen in die Augen, als sie das Geld nachzählte. Es waren gut eineinhalb Jahreslöhne, die ihr Vater offenbar über die Jahre hinweg beiseitegelegt hatte, und die sie jetzt gut gebrauchen konnte. Sie hätte nicht gewusst, wovon sie leben sollte, sobald das Säckchen mit Hirse aufgebraucht war, das oben neben der Kochstelle stand.

Agnes saß auf der untersten Sprosse der Leiter, die in den Vorratskeller hinabführte, und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, als plötzlich an der Haustür gerüttelt wurde. Zuerst war es nur ein leises Scheppern, dann jedoch schlug jemand kräftig gegen die Klappe. Agnes fuhr auf und blickte nach oben.

Sie schluckte. Wer um alles in der Welt wollte etwas von ihr? Seit ihr Vater in die Hexenlöcher gesperrt worden war, hatte sich niemand bei ihr blicken lassen. Das galt sowohl für das Handelshaus Fugger als auch für die Freunde und Mitfahrer ihres Vaters. Alle hatten wohl Angst, die Wahrheit zu erfahren: die einen, dass Balthasar unschuldig gewesen war, die anderen, dass sie ihn verraten hatten.

Wieder schlug die Haustür gegen die schräg gestellte Klappe des Kellerabgangs, und Agnes dankte im Stillen ihrem Vater, dass er so überlegt gehandelt und diese Sperre eingebaut hatte. Wäre jemand aufgetaucht, während die Klappe offen stand, hätte er sie hier unten einsperren können. So war das unmöglich.

»Was ist?«, schrie sie hinauf. »Wer will etwas von mir?«

Keine Antwort. Nur das Krachen verstärkte sich und das unangenehme Gefühl, dass mit ihrem Besucher etwas nicht stimmte. Warum sagte er nichts? Agnes’ Mund war trocken, und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wer stumm blieb, wollte nicht an der Stimme erkannt werden. Wer nicht erkannt werden wollte, führte Böses im Schilde. Sie überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Noch hielt die Klappe, noch beschützte sie die Umsicht ihres Vaters. Aber wenn der Unbekannte oben weiter so rüttelte … Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Einer Eingebung folgend, stieg sie die Leiter wenige Sprossen höher.

»Enderlin, schließ die Klappe und schau nach, wer uns da besuchen will!«, rief sie laut in den Hausflur hinein.

Sofort hörte das wilde Klappern auf.

Agnes erklomm zwei weitere Sprossen und horchte. Sie konnte ein leises Fluchen und schließlich das Knirschen von Schritten vernehmen. Sie entfernten sich rasch.

Sie stieg ganz aus dem Keller und spähte vorsichtig nach draußen. Niemand war mehr zu sehen. Sie ließ sich neben der Tür an der Wand zu Boden gleiten und lachte auf. Doch es war kein fröhliches, unbeschwertes Lachen, sondern eines der Verzweiflung. Wer immer sie hatte besuchen wollen, war durch die bloße Nennung eines Namens vertrieben worden. Der Unbekannte konnte keine guten Absichten hegen. Aber er schien sie auch nicht wirklich zu kennen, denn der Name Enderlin hätte niemanden von den Freunden ihres Vaters aufgehalten oder gar in die Flucht geschlagen. Keiner kannte einen Enderlin.

Agnes stand mit bebenden Knien auf und legte den Riegel vor die Tür. Sie war jetzt allein, besaß keinen Schutz mehr durch ihren Vater und hatte auch sonst keine Verwandten in Augsburg. Von einem Tag auf den anderen war sie zum Freiwild geworden, wie es ihr die Szene eben bewiesen hatte. Wäre die Klappe nicht geöffnet gewesen, hätte der Unbekannte einfach in ihre Stube spazieren können. Niemand wäre ihr beigesprungen. Niemand hätte ihm Einhalt geboten.

Agnes schloss die Klappe und überprüfte noch einmal den Riegel. Dann sah sie auf ihre Hände, streckte sie vor sich hin und sah und fühlte, wie sie immer noch zitterten. Das Wasser lief ihr aus den Augen, als ihr ein neuer Gedanke in den Sinn kam.

Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass alle Fuhrwerker ihre Karren mit kleinen Verstecken ausgestattet hatten, in denen sie persönliche Dinge und Geld verbargen. Immer wieder kam es vor, dass die schweren Wagen überfallen und ausgeraubt wurden. Doppelte Böden oder hohle Balken sollten verhindern, dass wichtige Dokumente, Geld oder mitgeführte Edelsteine Räubern in die Hände fielen.

Vielleicht hatte ihr Vater etwas in seinem Fuhrwerk versteckt. Sie musste zum Fugger-Hof, um herauszufinden, was wirklich geschehen war. Doch zunächst galt es, einen sicheren Platz für den Beutel mit den gesparten Münzen zu finden.

Die Mittagszeit war noch nicht vorüber. Es bestand also keine Gefahr, dass es draußen dunkel wurde und sie nicht sehen konnte, ob ihr jemand auflauerte. Agnes nahm das Säckchen mit den Münzen, verbarg es unter ihrem Rock, öffnete vorsichtig den Riegel und spähte nach draußen. Aber dort war niemand. Sie schloss die Tür hinter sich und lief um das Haus herum zum Abtritt. Diesen hatte ihr Vater auf ihre Bitte hin aus Holz gezimmert. Er hatte immer behauptet, niemand würde ihr etwas wegschauen, wenn sie draußen im Freien über der Grube ihre Geschäfte verrichtete. Erst als seine Tochter ins mannbare Alter kam, war er endlich bereit gewesen, das Häuschen zu bauen. Auch wenn es ein wenig windschief geraten war, bot es doch zumindest einen Schutz vor unliebsamen Blicken.

Jetzt sollte es ihren kleinen Schatz aufnehmen. Wohl kaum jemand käme auf den Gedanken, in einem Abtritt nach etwas Wertvollem zu suchen. Im Haus war es ihr zu unsicher. Schließlich hatte sie das Versteck auch gefunden. Dann wäre es für andere ebenfalls ein Leichtes, es ausfindig zu machen, wenn sie es wollten. Hier aber würde hoffentlich niemand nachsehen.

Agnes kauerte sich hinter der Tür auf den Boden, hob das schmale Trittbrett vor der Grube auf und legte den Beutel darunter. Dann schob sie etwas trockenes Erdreich darüber und legte das Brett wieder auf. Das alles geschah, ohne dass sie einmal einatmete, sonst hätte sie der Geruch vermutlich getötet.

Zuvor hatte sie sich zwei Silbermünzen herausgenommen. Das würde für einige Mahlzeiten reichen. Außerdem wollte sie nicht so bald wieder darauf zugreifen müssen. Sie trat in den Garten hinaus, atmete tief durch und klopfte sich den Staub von ihrem Rock. Aus einem Schuppen hinter dem Haus holte sie sich einen Tonkrug. Sie würde ihn am Brunnen mit Wasser füllen. So konnte sie zumindest den Anschein erwecken, eine Dienstmagd zu sein. Mit dem Krug in der Hand machte sie sich auf den Weg zum Hauptkontor des Fuggers.

Erst als sie durch das Frauentor schritt und das Gelände des Doms betrat, formte sich in ihrem Kopf allmählich so etwas wie ein Plan.

Ihr Vater hatte ihr immer vorgeworfen, zuerst zu laufen und dann zu denken. Wie oft hatte sie atemlos vor ihm gestanden, nach Luft ringend und einzelne Wörter hervorstoßend, weil sie ihn etwas Wichtiges hatte fragen wollen – und im Grunde gar nicht wusste, was sie bewegte. Ihr Vater hatte dann nur den Kopf geschüttelt und sie zurückgeschickt, mit der Aufforderung, erst wiederzukommen, wenn sie wüsste, was sie wollte. Meist war es bei diesem einen Versuch geblieben. Aber sosehr sie sich auch bemüht hatte, sie war eben so und konnte nicht anders. Pläne entwickelten sich bei ihr, während sie lief, während sie ihr Tun in die Tat umsetzte.

Und diesmal erging es ihr nicht anders.

2

AUGSBURG, OKTOBER 1516

Das Geschrei der Fuhrwerker, Packer und Hucker war ohrenbetäubend und erinnerte sie an den Richtplatz. Nur flatterten hier keine schwarzen Krähen kreischend über den Hof, sondern es liefen bunt gekleidete Menschen umher, und sie stritten nicht, sondern erinnerten Agnes an Ameisen: geschäftig in einem verwirrenden Durcheinander, aber zielgerichtet.

Sie zögerte keinen Augenblick, als sie durch das Tor ins Innere des Fugger-Hofes ging. Den gefüllten Wasserkrug trug sie auf ihrer Hüfte. Sie lief an den Wachen vorbei, als gehöre sie zum wimmelnden Heer aus Leibern, das den Turnierhof füllte.

Aufmerksam schaute sie sich um. Vier Fuhrwerke und ein bunter Wagen standen in kurzen Abständen rund um den Baum in der Platzmitte. Rechts in der Ecke ragte über dem Durchgang zum kleinen Ladehof eine Balustrade hervor. Dort stand der Lademeister an einem Pult und überwachte das Geschehen unten im Hof.

Vor allem Barchent, das feste Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle für die grobe Kleidung der Waffenknechte, aber auch Damaskin, Baldacchino – Seide mit eingewobenen Figurenornamenten – aus dem Orient oder noch wertvollere Stoffe wie Taft und Kamokas, jene Seide aus dem entfernten China, wurden zu wasserdichten Ballen gepackt. Gewürze wie Pfeffer, Nelkenköpfe und Muskat wurden in Fässer verstaut, die man mit Pech abdichtete. Es roch nach Safran und Honig, nach Zimt und Ingwer, die ebenfalls in Leinensäcke gestopft und in Fässer gesteckt wurden. Verzierte Rüstungsbleche der Plattner fanden ihren Weg in Kisten und Körbe, ägyptische Mumien wurden in ganzen Stücken und als Pulver in Säckchen aufgeschichtet und dort hingepackt, wo Platz frei war. All diese Waren wurden auf großen Tischen vor den Fuhrwerken gestapelt, zusammengefasst, verschnürt und schließlich aufgeladen, nachdem ihr Packort, die Menge und Qualität fein säuberlich notiert und festgehalten worden waren. Alles geschah mit ruhigen Handgriffen und dem sicheren Wissen, wohin alles geliefert werden sollte. Ihr Vater hatte Agnes erzählt, dass es eine Kunst war, die Fuhrwerke so zu beladen, dass sie nicht immer ganz entladen werden mussten, wenn man die jeweiligen Waren an ihren Bestimmungsort gebracht hatte. Die Stimmen, die von der Balustrade in den Hof hinunterschallten, klangen aufgeregt und manchmal ungeduldig. Dort oben wurden, das wusste Agnes, die Listen geführt, fein säuberlich mit gestochener Schrift und peinlicher Genauigkeit. Dort oben schauten die Buchhalter ihren Gehilfen an den Stehpulten über die Schulter und überwachten jeden Handgriff. Dort oben kratzten Gänsefedern Zahlenkolonnen auf die Papierseiten. Dort stand Jakob Fugger und achtete darauf, dass sauber geschnürt, gepackt und geladen wurde.

Agnes ging umher, stellte ihren Krug immer wieder ab, als wäre er ihr eine Last, tat so, als fülle sie Becher auf, goss auch den einen oder anderen Schluck in die ihr gereichten Krüge und suchte gleichzeitig nach dem Wagen ihres Vaters. Es war der letzte in der Reihung und damit der erste, dem Pferde vorgespannt werden konnten, weil er dem Tor am nächsten war.

»Grüß Gott, Jungfer.« Ein junger Kerl hatte sich ihr in den Weg gestellt und hielt ihr seinen Becher hin. »Ich hab Euch hier noch nie gesehen.«

Sie goss ihm ein und versuchte, ihn so freundlich wie möglich anzulächeln. »Da geht es mir wie Euch. Ihr seid neu bei den Fuhrwerkern?«

»Nein«, entgegnete er. »Bis jetzt war ich Fuhrwerksknecht beim alten Regner. Aber nun fahr ich seinen Karren«, fügte er stolz hinzu.

Agnes tat unwissend und sah ihn neugierig an.

»Das ist der, den sie letztens aufgeknüpft haben«, fuhr der Mann fort. »Armer Kerl. Hat seinen Wagen gut in Schuss gehalten, der Alte. Hätte man dem Gauner gar nicht zugetraut, wenn man weiß, was der alles getrieben hat.«

Agnes nickte mit zusammengepressten Lippen und füllte den erneut hingestreckten Becher so schwungvoll mit Wasser, dass es überschwappte und dem jungen Kerl die Hosenbeine tränkte.

»Oh, wie ungeschickt von mir!«, sagte Agnes entschuldigend. Es klang nicht nur halbherzig, sondern war es auch.

Seine Hose war vorn so durchnässt, als hätte er sich auf dem Abtritt bepinkelt. Agnes musste unwillkürlich grinsen. Und auch seine Miene wechselte von verärgert zu vergnügt, als er ihr unterdrücktes Kichern vernahm.

Und plötzlich brachen beide in Gelächter aus, obwohl es Agnes keineswegs zum Lachen zumute war. Am liebsten hätte sie geweint, aber sie durfte sich nicht verraten. Und es sah nur zu komisch aus.

»Halb so schlimm. Ist ja nur Wasser«, sagte der junge Mann. Er trat einen Schritt zurück und besah sich die Bescherung. »Außerdem habt Ihr ja recht. So redet man nicht über den alten Fuhrwerker.« Er senkte die Stimme und flüsterte beinahe unhörbar: »Im Grunde hat er nichts getan, aber das darf man nicht laut sagen wegen …« Er deutete mit dem Kopf nach hinten. Dort hatte sich eine kleine Gruppe von Kaufleuten versammelt und unterhielt sich gestenreich.

Agnes sah hinüber und entdeckte den jungen Sultzer unter den Männern, wie er versuchte, ebenso weltläufig und erwachsen zu wirken wie diese. Dabei gibt er nur eine lächerliche Figur ab, dachte sie. Er zappelt zwischen den gestandenen Kaufleuten wie eine Handpuppe.

»Ich hab was gut bei Euch!«, sagte der Fuhrwerker und holte Agnes damit wieder aus ihren Gedanken zurück. »Ich werde Euch dran erinnern.«

Sie nickte und wollte sich schon abwenden. Aber dann begriff sie, dass sie die Gelegenheit beim Schopf ergreifen musste, bevor der junge Mann verschwand. Sie wandte sich ihm zu, bot ihm nochmals Wasser an und schenkte ihm ein Lächeln.

»Ich wollte schon immer einmal so einen Wagen aus der Nähe sehen. Zeigt Ihr mir, wie man mit ihm arbeitet?« Sie kreuzte ihre Hände vor dem Schoß, sah ihn von unten her an, als wäre sie verlegen. Agnes wusste, dass alle Männer auf solche Blicke hereinfielen.

»Nun gut«, sagte der Fuhrwerker. »Balthasar hat immer gesagt, man soll einer jungen Frau keine Bitte abschlagen.«

Verblüfft sah Agnes ihn an und packte ihn am Arm, als er sich umdrehen wollte. »Kanntet Ihr meinen … ich meine, den alten Regner, gut?«

Sie sah, wie sich seine Augen zu Schlitzen verengten, wie er sich kurz aber vorsichtig umschaute. »Warum fragt Ihr?«, zischte er leise.

»Kanntet Ihr ihn?«, wiederholte sie.

Sofort schien es kälter zu werden um sie herum. Sie fröstelte.

»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht. Und jetzt habe ich zu tun. Wir brechen bald auf.«

In Agnes’ Gedächtnis öffnete sich eine kleine Tür. Und als sie eintrat, vernahm sie die Stimme ihres Vaters, der von einem Jungspund schwärmte, der sich so geschickt anstellte, dass er sich überlegte, ob er nicht sein Nachfolger werden könnte.

»Ihr seid Hannes, nicht wahr?«

Der Fuhrwerker, der sich schon einige Schritte entfernt hatte, drehte sich um. Er runzelte die Stirn, trat wieder näher und stemmte die Arme in die Hüften. Dann fuhr er sich über die Stirn und besah sich seine Hände. »Könnt Ihr etwa hellsehen? Hat mir das irgendjemand aufgemalt?«

Agnes musste lächeln.

Sofort formten sich erste kleine Fältchen um die Augen des jungen Mannes. Sie hatte seine Aufmerksamkeit gewonnen.

»Nein …« Sie stockte, überlegte kurz, ob sie ihr Geheimnis aufdecken sollte, dachte aber dann an die Worte ihres Vaters und die Tatsache, dass er nicht mit jedem fuhr, sondern sich seine Männer aussuchte. Ehrlich und treu mussten sie sein, sonst ließ er sie nicht auf sein Fuhrwerk. Sie räusperte sich.

»Mein Vater hat es mir gesagt, der alte Regner«, antwortete sie ihm leise. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. »Aber verratet mich nicht.«

Hannes sah ihr in die Augen, als wollte er durch ihre Pupillen hindurch in ihren Kopf schauen und ihre Gedanken erraten. »Ihr seid also Balthasars Tochter«, sagte er langsam. »Was treibt Euch hierher?«

Agnes lächelte schief. »Wolltet Ihr mir nicht das Fuhrwerk zeigen?«

Wieder ließ er seinen Blick ihren Körper hinauf- und hinuntergleiten, blieb erneut an ihren Augen hängen.

»Warum interessiert Euch der Wagen?« Er ließ seine Zunge über die Lippen gleiten, bis diese feucht glänzten, als würde er die Frage abschmecken.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur neugierig. Vater hat mich nie mit hierhergenommen. Ich will einfach nur wissen, wo und wie er … gearbeitet hat.«

Hannes nickte. Dann zeigte er mit einer kurzen Kopfbewegung an, sie solle ihm folgen. Er schritt um das Gefährt herum und ging in die Hocke.

Agnes lief hinter ihm her und kauerte sich neben ihn.

»Euer Vater war ein braver Mann«, sagte Hannes leise.

»Ich habe anderes gehört«, widersprach Agnes. »Sie haben ihn wegen Diebstahls und Veruntreuung …«

»Unsinn«, unterbrach Hannes sie. »Nichts davon stimmt.«

Agnes legte ihre Hand auf den Unterarm des Fuhrwerkers. Sie spürte, wie sie leicht zitterte. »Warum habt Ihr das nicht dem Richter gesagt? Jetzt ist mein Vater tot.«

»Ich wollte es ihm sagen, aber er hat mich nicht angehört. Die Beweise, die dieser … dieser …«

»Sultzer?«, führte Agnes den Satz zu Ende. »Georg Sultzer?«

»Und sein Vater Hans«, ergänzte Hannes. »Die Beweise, die beide Sultzer angeblich vorgelegt haben, waren vor dem Gildeausschuss ausreichend. Niemand hat an der Wahrhaftigkeit gezweifelt.«

»Welche Beweise?«, fragte Agnes leise. »Ich kenne keine Beweise.«

»Ich auch nicht. Es waren nur … nur kurze Berichte darüber, was sie angeblich gesehen haben. Aber, wie gesagt, niemand hat sie infrage gestellt!«

»Ihr auch nicht?« Agnes musterte Hannes streng.

Er wich ihrem Blick nicht aus, sondern starrte zurück. »Ich habe nicht daran geglaubt, dass diese Kerle überhaupt die Wahrheit sagen.«

Agnes musste schlucken. Jetzt, da ihr Vater am Galgen hing und dort über die nächsten Wochen hin verrotten würde, bevor man die abfallenden Reste seines Körpers irgendwo in der Nähe verscharren konnte, jetzt hatte sie jemanden gefunden, der an seine Unschuld glaubte.

»Wollt Ihr das nicht gegenüber …«

»Nein!«, fuhr der Fuhrwerker sie an.

»Aber ich habe doch noch gar nicht …«

»Ich sagte: Nein. Weder gegenüber einem Vogtgericht noch gegenüber einem bischöflichen Gericht werde ich irgendeinem Patrizier etwas anhängen. Ich bin doch nicht lebensmüde.«

Agnes schluckte. Sie wagte es nicht mehr, Hannes anzublicken. Sie wäre sonst aus der Haut gefahren. Stattdessen schaute sie zu der Gruppe der Kaufleute hinüber, doch diese hatte sich aufgelöst. Sie sah nur noch, wie ein pelzverbrämter Rock im Zugang zum kleinen Ladehof verschwand.

»Reicht es dir nicht, was mit deinem Vater geschehen ist? Die Messer dieser … dieser Kaufleute sind länger, als wir beide uns das vorstellen können. Nichts würde ich erreichen – und du auch nicht. Außer vielleicht, dass wir deinem Vater Gesellschaft leisten«, ereiferte sich Hannes.

Er war lauter geworden, als es Agnes lieb war, und ins Duzen verfallen.

»Zeigst du mir jetzt den Wagen und … wie man ihn belädt?«, fragte sie stockend, um vom Thema abzulenken. Auch sie sprach ihn nun mit dem Du der Bediensteten an. Vielleicht ließ er sich ja durch die vertraulichere Anrede umstimmen, doch noch zugunsten der Ehre ihres Vaters auszusagen.

»Was soll er dir zeigen?«, fuhr eine Stimme dazwischen.

Agnes fuhr herum. Hinter ihr stand Georg Sultzer, ganz Patrizier und Herr. Der Hals verschwand beinahe völlig in einem Pelzkragen, die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, und er musterte sie mit einem Blick, der selbst Stein hätte bersten lassen.

»Ich … äh … wir …«, stotterte Agnes.

»Antworte gefälligst!«, fauchte er. »Was …?«

»Herr, meine Verlobte wollte nur sehen …«, setzte Hannes an.

Wie kleine Blitze zuckten die Blicke des jungen Kaufmanns zwischen ihnen hin und her. Wenn er das kurze Erstaunen in Agnes’ Augen gesehen hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken. »Niemand, der nicht mit dem Beladen zu tun hat, hat hier in diesem Hof etwas zu suchen.«

Langsam fasste sich Agnes und gewann ihre Zuversicht und ihr Selbstvertrauen zurück. Was bildete sich dieser Flegel ein? Er war nicht der Herrgott. »Ich schenke Wasser aus. Und was habt Ihr hier zu suchen? Ein Fugger seid Ihr nicht!«

Georg Sultzers Mund klappte kurz nach unten. »Ich muss mich einer Magd gegenüber nicht erklären!«, fuhr er sie an. »Und jetzt aus meinen Augen! Sonst lasse ich die Büttel holen!«

Agnes funkelte ihn an, doch sie wusste sehr genau, dass mit solchen Drohungen nicht zu spaßen war. Sie hob ihren Krug auf, stellte ihn auf ihre Hüfte, wandte Georg Sultzer den Rücken zu und marschierte in Richtung Tor. Sie drehte sich nicht mehr um, spürte aber seine glühenden Blicke in ihrem Nacken. Als ihr Vater im Frühjahr das letzte Mal abgefahren war, hatte sie ihm nachgewinkt – und der junge Kerl, der den Fugger-Zug begleitete, hatte sie damals schon lüstern gemustert. Hatte er sie wiedererkannt?

3

AUGSBURG, OKTOBER 1516

Keine halbe Stunde später war sie zurück und hielt sich zwischen Deichsel und Warenballen am Fuhrwerk ihres Vaters versteckt.

Leise hatte Agnes nicht sein müssen, denn über den ganzen Innenhof hinweg wurden Befehle und Bitten gerufen. Und das in einer Lautstärke, die einem die Ohren zerriss. Dutzende von Menschen liefen kreuz und quer über den Hof, trugen Warenballen, Stricke, kleine und große Kisten allein oder zu zweit. Ein Fluchen und Schreien erfüllte die Luft. Die Unruhe hatte zugenommen, seit sie vertrieben worden war. Der bevorstehende Aufbruch war schon zu spüren, auch wenn die Vorbereitungen noch Tage in Anspruch nehmen würden. In dem allgemeinen Trubel war es leicht gewesen, sich wieder hereinzuschleichen, sich unter die Menschen zu mischen und sich dem Wagen zu nähern.

Sie wartete einen geeigneten Moment ab, duckte sich und schlüpfte unter den Karren. An den Seiten hingen Stricke und Planen herab, sodass sie nur gesehen werden konnte, wenn jemand bewusst unter den Wagen sah. Erst wenn das Fuhrwerk fertig beladen war, würde man die Planen hochklappen und den Rest verschnüren.

Sie suchte nach der Kiste, in der alle Fuhrwerker die wichtigsten Gegenstände versteckten, die sie zu transportieren hatten – vor allem das Geld. Es war die Kiste mit den Dingen, zu denen auch der Ring und der Brief gehören sollten, die ihr Vater angeblich veruntreut hatte. Dort musste auch die Kuriertasche liegen. Sie war nicht bei jedem Wagen an derselben Stelle angebracht. Die Fuhrwerker passten sie mit ihrem doppelten Boden irgendwo am Karren ein, meist auf der Unterseite. Oftmals gab es ein weiteres Geheimfach, einen zusätzlichen hohlen Holm oder eine ähnliche Vorrichtung, wo man Münzen einpassen oder Rollen mit Schriftstücken verstecken konnte.

Dieses geheime Fach galt es zu suchen. Oft wussten nur die Fuhrwerker selbst davon, nicht aber deren Auftraggeber. Und sie waren nicht so leicht zu finden. Ihr Vater hatte ihr noch erzählt, dass es zwei wichtige Voraussetzungen für das Versteck gab: Es musste jederzeit zugänglich sein, damit Geld, Wechselscheine oder Schmuck darin verstaut werden konnten, ohne das Fuhrwerk ganz entladen zu müssen. Andererseits durfte es nicht so offensichtlich angebracht sein, dass man es sofort entdeckte. Die Unterseite eines Fuhrwerks bot dafür die besten Voraussetzungen, da die Wagen keinen Kutschbock hatten und die Fuhrwerker auf den Pferden ritten oder nebenherliefen.

Ihre persönlichen Gegenstände, die sie tagtäglich benötigten, hängten die Männer ohnehin in einem Ledersack unter das Fuhrwerk. Vielleicht war auch der Beutel ihres Vaters noch vorhanden – man hatte ihn Agnes nicht ausgehändigt.

Auf allen vieren kroch sie unter den Karren, klopfte jede Sprosse und jedes Brett ab, zog an herabhängenden losen Strickenden, um festzustellen, ob diese womöglich nur blinde Knoten bildeten. Doch sie blieb erfolglos. Entweder waren die Kiste und das Geheimfach entfernt worden, oder sie hatte ihren Vater unterschätzt.

»Ich hab sie gerade wieder hier herumschleichen sehen!«, hörte sie eine Stimme sagen.

Agnes zuckte zusammen, sog erschrocken die Luft ein und duckte sich unwillkürlich, obwohl niemand sie sehen konnte. Sie wusste sofort, wer hier sprach. Offenbar hatte Georg Sultzer sie beobachtet. Vor ihr tauchten vier Beine auf, die sie bis zu den Waden sehen konnte. Das eine Paar war mit einfachen roten Kuhmäulern beschuht, das andere steckte in feinstem, grünlich schimmerndem und fettglänzendem Lammleder. Allein einer dieser Schuhe kostete mehr, als ihr Vater in einem ganzen Jahr hätte verdienen können.

»Kennst du die Magd, Bernward?«, fragte Georg einen seiner Leute.

»Noch nie gesehen. Aber vorhin hat sie sich mit diesem Hannes unterhalten. Ein Querkopf, wie der alte Regner. Ihr solltet Euch den Mann vom Hals schaffen, wenn Ihr mich fragt. Bringt nichts als Ärger.«

»Was will das Weibsstück hier?«

»Was alle hier wollen, Herr. Brosamen auflesen. Hier fällt eine Münze zu Boden, dort springt ein Warenballen auf.«

»Wirf sie aus dem Hof, oder lass ihr die Hände abschlagen.«

Der Mann, den Sultzer Bernward genannt hatte, lachte hustend. Offenbar war er belustigt und zugleich erzürnt, wollte es aber nicht zeigen.

»Wenn wir alle Hände abschlagen ließen, die sich beim Ein- und Umpacken zusätzlich bedienen, würden bald nur noch Menschen mit verstümmelten Gliedmaßen herumlaufen. Wer sollte dann packen?«

Er lachte gehässig und kratzte sich mit dem Rist seines Schuhs an der Wade. Dort hatte sich eine entzündliche Stelle gebildet – und Agnes wusste, was es damit auf sich hatte. In einigen Wochen würde der Mann das Heer der Aussätzigen vermehren, weil ihn bis dahin die Krätze angefressen haben würde. Jetzt kümmerte sich noch niemand um die Wunde am Unterschenkel, die nur juckte und leicht blutete, wenn sie aufgekratzt wurde.

»Halt die Augen offen, Bernward. Ich will nicht, dass sie hier herumschnüffelt«, sagte Sultzer und ging davon.

Agnes atmete auf und wollte eben unter dem Wagen hervorkriechen, als sich ihr die roten Kuhmaulschuhe zuwandten. Sie verharrte in der Bewegung, starrte auf die Füße, deren Fersen sich zu heben begannen. Schließlich kniete sich der Mann hin, hob die Plane etwas an und streckte den Kopf unter den Wagen.

»Wusste ich’s doch, dass ich dich gehört habe!«

Bernward hatte ein spitzes Gesicht, das dem einer Ratte nicht unähnlich war. Seine Zähne standen so stark hervor, dass sich die Lippen kaum um die Mundöffnung schlossen. In seiner Stimme lag keinerlei Gefühl. Sie war schneidend wie ein frisch geschliffenes Messer.

»Raus jetzt, und zwar langsam. Auf meiner Seite!«

Agnes dachte nicht daran. Rasch kroch sie rückwärts und stand auf. Ihr wurde leicht schwindlig. Jetzt rächte es sich, dass sie heute früh nichts gegessen hatte. Sie musste sich an einem der Holme des Fuhrwerks festhalten. Erst dann konnte sie prüfen, von welcher Seite der Kerl kommen würde. Doch da war es bereits zu spät.

Finger schlossen sich um ihr Handgelenk, als würde es in Eisen gelegt. Sie wurde mit Gewalt nach unten gezogen und musste in die Knie gehen.

»Du willst mir doch nicht etwa davonlaufen?«

Bernward war ihr einfach nachgekrochen, hatte sich unter dem Karren hindurchgezwängt und hielt sie jetzt fest. Sie kniete halb, halb stand sie gebeugt über dem Mann, der sich langsam unter dem Wagen hervorschob.

»Lasst mich los!«, zischte sie.

Doch Bernward zeigte sich völlig unbeeindruckt. »Wo werd ich denn ein gutes Geldstück loslassen?«, kicherte er rau.

Er richtete sich auf und zog sie neben sich hoch, ohne seinen Griff zu lockern. Sein dunkles und volles Haar erinnerte sie an das der welschen Fuhrwerker, die ihr Vater ab und zu mit nach Hause genommen hatte, wenn sie ein Quartier benötigten. Das brachte zusätzlich ein paar Münzen und ein wenig von der weiten Welt ins Haus. Die unbekannten Sprachen, die fremden Gesichter, die oft unheimlich und wenig einladend wirkten, hatten Agnes anfangs eingeschüchtert. Schließlich hatte sie sich jedoch daran gewöhnt – und die Männer hatten sie behandelt wie eine kleine Prinzessin.

Die Wangen von Georg Sultzers Handlanger waren dunkel von blauschwarzen Stoppeln, und ein blaues Auge sowie ein kleiner Riss in der Oberlippe zeugten davon, dass er offenbar keiner Prügelei aus dem Weg ging.

»Was wollt Ihr von mir? Lasst mich sofort los!«, rief Agnes und versuchte, den Mann zu treten. Doch der drehte ihr Armgelenk so grob zur Seite, dass sie vor Schmerzen aufschrie und sich vorbeugen musste. Sie verlor den Stand. Fußtritte wurden unmöglich.

»Ich will nichts von dir, Mädchen, aber mein Herr sucht dich und hätte dich gern näher kennengelernt.«

Agnes spuckte dem Mann ins Gesicht, doch er tat, als sei nichts geschehen. Er bemerkte ihren Speichel gar nicht, obwohl er ihm von der Wange tropfte. Dafür ging der Blick an ihr vorbei und zu einem der Patrizier hinüber, der nur den Kopf hob, als der Mann ihn ansah und herübernickte.

»Wärt Ihr so freundlich, Herr, und würdet Georg Sultzer sagen, ich hätte die Gesuchte!«, rief er. Plötzlich war er die Demut in Person.

Der Angesprochene war in schwarzes Tuch gehüllt, das am Hals von einem gewaltigen Pelzkragen abgeschlossen wurde. Alles an ihm wirkte vornehm und kostspielig. Die Ringe an seinen Fingern glänzten und warfen Lichtreflexe auf den Boden. Gold und Edelsteine in unterschiedlichsten Farben glänzten und glitzerten an seinen Fingern.

Der reiche Kaufmann nickte, drehte sich um und rief eine Bemerkung in den hinteren Teil des Hofs, in dem Agnes Georg Sultzer vermutete. Dann wandte er sich wieder seinen Geschäften zu und begann, mit den Fingern beider Hände zu zählen, indem er immer wieder eine Faust bildete und verschiedene Finger nach unten streckte.

Währenddessen versuchte Agnes, sich zu befreien. Aber sobald sie zerrte und zog, packte Bernward ihren Arm nur umso fester. Schließlich gab sie mutlos auf.

»Du entkommst mir nicht, Täubchen. Und den Tauberich sehe ich auch schon heranflattern.«

Tatsächlich näherte sich mit fliegenden Mantelschößen Georg Sultzer über den Hof. Sein Kopf war hochrot, seine Miene verriet kaum unterdrückte Wut. Er schoss regelrecht auf sie zu.

Kurz bevor er bei ihr ankam, ließ Bernward sie los, stellte sich jedoch so dicht hinter sie, dass es ihr unmöglich war zu entkommen.

»Sie hat unter dem Wagen herumgeschnüffelt. Ist ihr aber nicht gut bekommen«, sagte Bernward.

»Ein hübscher Fang, Bernward. Ansehnlich. Sehr ansehnlich.« Eine steile Falte zog sich quer über die Stirn des jungen Kaufmanns. Obwohl seine Worte fröhlich geklungen hatten, schwang doch ein bedrohlicher Ton mit. Er grinste Agnes anzüglich an.

Sie zitterte innerlich, und ihr Blick heftete sich auf Georg Sultzer, als würde er von diesem angezogen. Auch seine Augen saugten sich förmlich an ihr fest. Sie riss sich los und schaute zu Boden, suchte aber gleichzeitig aus den Augenwinkeln nach Hilfe. Sie musste sich bemerkbar, musste andere Fuhrleute auf sich aufmerksam machen, sie zu sich rufen. Vielleicht würde das den Zorn des Patriziersohnes etwas im Zaum halten. Doch niemand achtete auf sie.

»Ich hatte dir verboten, dich hier herumzutreiben!«, zischte er. »Schau mich gefälligst an!«

Trotzig hob Agnes den Kopf und warf ihre Haare in den Nacken. »Ihr verbietet mir gar nichts, Sultzer. Nicht im Hof Jakob Fuggers.«

Offenbar war er solche Antworten nicht gewohnt. Eine Augenbraue hob sich, und Bernward hinter ihr zischte: »Halt dein freches Maul!«

Doch Agnes stemmte ihre Arme in die Hüften und trat einen Schritt vor. Wer angriff, verteidigte sich am besten, hatte ihr Vater immer behauptet. »Geht mir aus dem Weg!«

Sie wollte noch einen Schritt tun, doch Bernwards Hand auf ihrer Schulter hielt sie auf und riss sie zurück.

»Ihr lasst die Finger von …«, schrie sie. Sie konnte den Satz nicht vollenden, denn ein Schlag an den Kopf traf sie, dass ihr die Ohren klingelten. Sie schmeckte Blut im Mund. Offenbar hatten ihr die Zähne die Wange innen aufgerissen. Sie taumelte rückwärts und wurde sogleich wieder nach vorn gestoßen.

»Du wirfst dich mir an den Hals? Dann komm mit, Jungfer. Wir finden ein ruhiges Fleckchen.«

Georg Sultzer grinste, und Agnes, die noch immer völlig benommen darum kämpfte, auf beiden Beinen zu stehen, spürte, wie Finger an ihre Brust griffen. Sie schlug die Hand beiseite.

»Du wehrst dich? Aber du wolltest es doch. Hab ich dich nicht aus dem Hof gewiesen, und du bist zurückgekommen und hast dich mir in die Arme geworfen?«

Agnes versuchte erneut zu schreien, doch sie hatte noch keinen rechten Laut von sich gegeben, als sie ein weiterer Schlag traf, der sie kleine bunte Sterne sehen ließ.

Diesmal griff Georg ihr in den Schritt. Sie konnte sich nur dagegen wehren, indem sie sich bückte und so mit ihrem Oberkörper den Mann und seinen Arm beiseitedrängte.

Vor ihren Augen flimmerte der Boden. Sie keuchte und sog mühsam Luft in die Lungen. Blutgeschmack füllte ihren Mund. Sie musste ausspucken. Ihr Hals schwoll zu. Sie rang nach Atem und spürte, wie ihr wieder jemand an die Brust griff.

Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer schmerzenden Kehle. Agnes drehte sich weg, wurde aber von einem weiteren Arm gehalten. Sie ließ sich fallen, rutschte nach unten und bekam den Oberarm ins Gesicht gedrückt. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, biss sie zu.

Der junge Mann schrie auf und ließ los. Aber Agnes’ Zähne saßen noch immer tief in seinem Fleisch. Wie im Krampf hatte sich ihr Mund geschlossen, und die Zähne hatten sich in den Arm verbissen.

Georg Sultzer brüllte wie am Spieß.

Und dann prasselten Schläge auf Agnes’ Kopf, auf ihre Wangen, auf ihre Schultern. Schließlich hatte ihr Körper Erbarmen. Der Beißkrampf löste sich und gab den Oberarm des Mannes frei. Sie hatte wieder den metallischen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge und wusste nicht, ob es ihr eigenes oder das des Patriziersprösslings war.

4

AUGSBURG, OKTOBER 1516

Um sie herum herrschte ein Stimmengewirr, das sie ganz durcheinanderbrachte. Vor ihren Augen war alles rot, als blicke sie durch Rubinglas. Nur das Schreien hatte aufgehört.

Agnes kniete auf dem Boden und rang nach Atem.

»Das Weib ist ja tollwütig!«, beschwerte sich eine Stimme, die sie zu kennen glaubte.

Ein Tritt traf sie in die Seite, doch sie spürte den Schmerz kaum. Sie war wie betäubt.

»Lasst das Mädchen in Ruhe, Herr!«, hörte sie Hannes sagen.

Ein hartes Lachen antwortete, und irgendwo in ihrem Kopf begann eine Glocke zu läuten, hoch und schrill wie die Sturmglocke der Stadt.

»Sie hat mich gebissen. Ohne ersichtlichen Grund!«

Das war Georg. Der Sultzer. Wer hatte ihn gebissen? Sie konnte sich nicht erinnern.

»Sie hat Euch nichts getan, was Ihr nicht verdient hättet.«

»Halt dein vorlautes Maul, Fuhrwerker. Sie hat sich mir angeboten, und ich habe abgelehnt.«

Langsam verstand Agnes, dass es um sie ging, dass sie ihn gebissen haben sollte. Aber sie hatte sich niemandem angeboten. Schon gar nicht Georg Sultzer. Zu lügen gehörte vermutlich zu seiner Art, sich in dieser Welt zu behaupten.

»Er wollte …«, murmelte sie. »Er hat …« Doch niemand konnte hören, was sie sagte.

Das Gespräch wurde lautstark geführt. Agnes vermutete, dass mehrere Personen um sie herumstanden und zuhörten. Doch sie war weder in der Lage, den Kopf zu heben, noch sich ausreichend zu verteidigen.

»Ihr glaubt doch Eure Lügen selbst nicht!«

»Du wagst es, meine Geschichte anzuzweifeln? Wer bist du, Fuhrwerker, dass du glaubst, dich in die Angelegenheiten eines Patriziers mischen zu dürfen?«

Agnes versuchte, sich hochzudrücken, wollte aufstehen, wollte Sultzer das Blut, das sich in ihrem Mund ansammelte, ins Gesicht spucken, doch sie war von den Schlägen so benommen, dass es ihr nicht gelang, sich aufzurichten.

»Bleib liegen. Der Kerl hat dich übel zugerichtet.«

Agnes spürte eine Hand, die ihr sanft über den Rücken strich.

»Ich habe sie nicht übel zugerichtet, sondern mich nur gewehrt. Schau dir mein Wams an und meinen Oberarm. Alles ist voller Blut! Wenn ich keinen Mantel getragen hätte, hätte mir das Weib glatt den Arm durchgebissen.«

»Hättet Ihr sie nicht geschlagen …«

»Da hört sich doch alles auf!«, brüllte Georg Sultzer aus Leibeskräften. »Du nimmst diese Hübschlerin in Schutz?«

Langsam lichtete sich der Nebel vor Agnes’ Blick. Ihr Schwindel ließ nach, obwohl sie befürchtete, dass sie stürzen würde, wenn sie aufstand.

Hannes griff ihr unter die Achsel und zog sie mehr hoch, als dass sie sich selbst aufrichtete.

Als sie den Kopf hob, sah sie in das spöttisch lächelnde Gesicht Georg Sultzers. In seinen Augen blitzte etwas Triumphierendes auf, was sie wütend und ängstlich zugleich machte.

Er wandte sich zu Hannes um. »Bist du nicht einer der Fuhrwerker, die mich nach Prag begleiten sollen?«

»Und wenn’s so wäre?«, fragte Hannes barsch zurück.

»Weil du dir seit heute eine andere Tätigkeit suchen darfst. Aus meiner Fuhre bist du draußen. Auf meinen Wagen fahren nur Leute, die ich ausgesucht habe«, verkündete der Sultzer in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er es ernst meinte. Er stemmte die Arme in die Hüften und bedachte den Fuhrwerker mit einem herrischen Blick.

Inzwischen hatte sich eine Gruppe aus Fuhrleuten und Packern um die Streitenden versammelt. Sie bildeten eine Mauer aus Leibern, in deren Mittelpunkt Georg Sultzer, Hannes und Agnes standen. Stumm blickten sie den Patrizier an. Der starrte zurück.

»Was gafft ihr Gesindel so?«, fauchte Georg Sultzer sie an. »Ich bestimme, wer meine Fuhre begleitet!«

Keiner sagte ein Wort. Niemand rührte sich. Nur eine merkliche Feindseligkeit, die die Luft in Schwingung versetzte, umgab die Gruppe. Hätte der junge Patrizier jetzt noch etwas gesagt, wäre es vermutlich zu Handgreiflichkeiten gekommen. Agnes spürte das und wollte schon dazwischengehen, als eine dröhnende Stimme ertönte.

»Eure Fuhre? Eure Fuhrwerke?«

Die Worte hallten über die Köpfe hinweg, ohne dass man den Sprecher gesehen hätte. Aber die Stimme war allgegenwärtig wie keine sonst auf dem Hof. Sie drang in alle Gehörgänge und kribbelte auf der Haut.

Eine Gasse bildete sich, und ein Mann in einem feinen Lodenwams schritt zügig hindurch. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Die Ärmelschoner, die er sich übergestülpt hatte, waren dunkel von Tintenflecken, die Ellbogen dünn gewetzt. Die Schuhe passten nicht zur Kleidung. Nur die golden schimmernde Mütze, die er auf dem Kopf trug, deutete an, dass er nicht zu den Packern gehörte.

Die Köpfe der Umstehenden senkten sich. Kappen wurden abgenommen.

Auch der junge Patrizier senkte leicht den Kopf zur Begrüßung, behielt den Mann aber im Blick. »Herr!«, murmelte er.

»Ich habe Euch etwas gefragt. Und ich bin es gewohnt, dass man meine Fragen beantwortet. Also: Sind das Eure Fuhrwerker und Fuhren?«

Georg Sultzer blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Ihr seid der Besitzer, Fugger.«

»Dann hätten wir das geklärt. Meine Ware, meine Männer, meine Fuhren. Ich bestimme, wer diesen Zug begleitet. Und nur ich. Merkt Euch das für die Zukunft.«

Er sah herausfordernd in die Runde. Obwohl er kleiner war als alle anderen und seine schmächtige Gestalt unter den muskelbepackten Kerlen zu verschwinden drohte, bestand kein Zweifel daran, wer hier das Sagen hatte. Er sprach nun leise, und doch war es, als bahne sich seine Stimme von selbst den Weg ins Ohr.

»Dieser Mann hier …« Er deutete auf Hannes. »Er gehört zu meinen besten Fuhrleuten und wird Prag erreichen, weil ich es so will. Wenn Ihr damit nicht einverstanden seid, Georg Sultzer, sagt es mir. Ihr könnt gern eine andere Fuhre bekommen. Im nächsten Frühjahr.«

Agnes sah, wie der Patriziersprössling blass wurde, wie seine Unterlippe zu zittern begann. In der Menge war unterdrücktes Gelächter zu hören. Man freute sich, dass Jakob Fugger den aufgeblasenen Gockel in die Schranken gewiesen hatte. Doch alle wussten auch, dass ein Frischling wie Georg Sultzer eine solche Niederlage nicht hinnehmen und schon gar nicht vergessen würde.

Langsam kam wieder Farbe in das Gesicht des Jünglings, und je lauter das Murmeln und Lachen wurde, desto röter lief es an. Er presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch einen Strich bildeten.

Auch wenn sie ihn nicht mochte, in diesem Moment empfand Agnes Mitleid mit ihm. Menschen wie er, die aus den großen Familien der Stadt stammten, erlebten selten Niederlagen. Dafür sorgten schon die Geldbeutel ihrer Väter und die Netze aus Verbindungen, mit denen sich die Augsburger Geschlechter umgaben. Sie federten vieles ab. Umso heftiger mussten solche Schläge wirken.

»Steht nicht herum und haltet Maulaffen feil«, sagte Fugger, der den Kaufmannssprössling nicht aus den Augen gelassen hatte. Nicht laut, aber bestimmt. Doch es lag keine Drohung in der Stimme, keine Überheblichkeit, kein Zorn, es war nur ein Befehl des Hausherrn, der zu befolgen war. An der Miene Jakob Fuggers war nicht die kleinste Gemütsregung abzulesen.

Die Männer nickten und trollten sich einer nach dem anderen. Auch Georg Sultzer wollte sich abwenden und gehen.

»Ihr nicht!«, bestimmte Fugger.

Ein paar Köpfe ruckten herum und bedachten den jungen Mann mit einem bedauernden Blick.

Jakob Fugger wartete, bis sich seine Männer wieder ihren Arbeiten zugewandt hatten, doch Agnes war sicher, dass sie gespannt ihre Ohren spitzten. Alle schwiegen, damit sie kein Wort verpassten.

»Herr … was …?«, stammelte Georg Sultzer. Er wirkte, als sei er in sich zusammengesackt und alle Luft aus seinem Körper entwichen.

»Solltet Ihr noch einmal eine meiner Anweisungen zurücknehmen wollen, dann werdet Ihr das erste und auch das letzte Mal einen Tross begleiten und in meinem Namen einkaufen.« Jakob Fugger hob den Arm, um Georg das Wort abzuschneiden, der ansetzen wollte, etwas zu sagen. »Ich brauche zuverlässige Leute, die mir treu und bedingungslos ergeben sind. Die findet man nicht auf der Straße. Sie sind handverlesen. Und wenn man sie gefunden hat, muss man sie so behandeln, wie man will, dass sie mit den Waren umgehen, die man ihnen anvertraut.«

Er musterte den jungen Kerl, der den Blick zu Boden gerichtet hatte und angespannt von einem Fuß auf den anderen trat.

»Ihr versteht das noch nicht. Das habe ich in Eurem Alter auch nicht. Aber es ist das Geheimnis meines Erfolgs: Zahle besser als die Konkurrenz, gib den Männern eine Heimat, tadle sie, wo es nötig ist, und lobe sie ehrlich. Dann werden sie für dich durchs Feuer gehen.«

Georg Sultzer ließ mit keiner Reaktion erkennen, ob er seinen Herrn verstanden hatte.

Fugger wandte sich zu Agnes. »Du bist die Regner-Tochter, nicht wahr?«

Agnes nickte. Unter seinem Blick hatte sie das Gefühl zu schrumpfen. Die beinahe durchsichtigen grauen Augen klebten regelrecht an ihr und schienen sie nicht nur zu mustern, sondern geradezu abzutasten.

»Ich irre mich nur in seltenen Fällen in den Menschen«, fuhr er leise fort. Dann gab er sich einen Ruck und wandte sich wieder dem Patriziersprössling zu. »Mich gehen Eure Händel mit den Frauenzimmern nichts an. Also schafft sie hinaus und lasst mir meine Fuhrwerker in Ruhe. Solltet Ihr schwerer verletzt sein, dann bleibt lieber zu Hause.«

Agnes sah, wie sich das wölfische Lächeln, das sich mittlerweile still und heimlich auf Georg Sultzers Gesicht geschlichen hatte, weiter verzerrte.

»Mir geht es gut. In einer Woche sind wir auf dem Weg nach Prag, Herr.« Er klang nicht, als wäre er gemaßregelt worden, sondern selbstsicher und forsch. Rasch trat er auf Agnes zu und packte sie mit seiner gesunden Hand am Arm.

Doch sie riss sich los. »Ich kann selber gehen.«

»Mag sein«, warf Jakob Fugger ein und bedachte sie mit einem Lächeln, in dem das Bedauern für eine Ameise stand, die man zertreten musste, wenn man sie im Haus antraf. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob du die richtige Richtung einschlägst. Aber dafür wird der junge Sultzer schon sorgen.« Mit einer leichten Bewegung seiner Hand befahl er ihren Abgang.

Georg zerrte Agnes in Richtung des Ausgangs. Sie stolperte mehrmals, was ihn jedoch nicht scherte. »Das wirst du mir büßen, Hure!«, zischte er ihr ins Ohr, sobald sie weit genug von Jakob Fugger, der ihnen nachsah, entfernt waren.

Agnes versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch es gelang ihr nicht. Sie musste ihm zu Willen sein und wurde unbarmherzig in Richtung Ausgang gestoßen. Dort wartete Bernward, der sich offenbar rechtzeitig abgesetzt hatte.

Als sie das Tor durchschritten hatten und außer Sichtweite des Hausherrn waren, drehte sich Agnes um, doch sie kam nicht dazu, auch nur ein Wort zu sagen. Ihre Bewegung endete im hellen Klatschen einer Ohrfeige, die sie erneut Sterne sehen ließ.

»Verfluchtes Weibsstück! Was fällt dir ein, mich vor dem Fugger bloßzustellen?«

Wieder traf ein Schlag ihr Gesicht. Die Haut brannte. Die Ohren klingelten, und Agnes fühlte, wie ein Auge zuzuschwellen begann.

Georg Sultzer prügelte sie regelrecht den Brotmarkt entlang und am Brunnen vorbei in Richtung Rathaus. Immer wenn sie stolperte, weil sie die Unebenheiten unter dem Schleier von Tränen und Blut nicht mehr erkennen konnte, wurde sie von Bernward hochgerissen und auf die Beine gestellt. Sie versuchte, die Schläge abzuwehren und sich mit den Armen zu schützen, doch Sultzer fand immer wieder einen Weg durch ihre Abwehr. Er schlug so lange auf sie ein, bis sie nicht mehr wusste, wo oben und unten, links und rechts war. Irgendwo in ihrem Hinterkopf rührte sich die verzweifelte Hoffnung, dass Hannes oder irgendjemand anderes kommen und ihr beistehen würde, doch kein Mensch schien sich für sie zu interessieren.

Irgendwann gab ihr Körper auf, und sie sackte zu Boden. Nichts und niemand brachte sie mehr hoch. Schließlich dämmerte ihr Bewusstsein weg und hinterließ eine große schwarze Leere.

5

AUGSBURG, OKTOBER 1516

Agnes erwachte mit einem Dröhnen im Kopf, als wäre sie neben einem Hammerwerk zu liegen gekommen. Sie spürte etwas Feuchtes und Glitschiges unter sich. Die Luft stank zum Gotterbarmen, und Agnes konnte ihre Gliedmaßen kaum bewegen. Es war, als hätte sie deren Gebrauch verlernt.

Wo bin ich?, dachte sie. Sie wollte der Frage eine Stimme geben, aber es drang nur ein Krächzen aus ihrer Kehle. Erst danach spürte sie den langsam ansteigenden Schmerz, der sie zuerst sanft, dann aber mit zunehmender Gewalt packte und wieder zurückwarf in die Dunkelheit.