Die Magd der Fugger - Peter Dempf - E-Book
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Die Magd der Fugger E-Book

Peter Dempf

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Beschreibung

Wie sie wurden, was sie waren - ein spannender Roman um den Aufstieg des ersten Fuggers

Augsburg im 14. Jahrhundert. Als Webergeselle verschuldet Hans Fugger einen Unfall, den Anna, die Tochter des Schultheißen, nur knapp überlebt. Doch sie verrät ihn nicht, sondern hilft ihm später sogar, ein besonderes Tuch zu weben. Ein Tuch, das ihm trotz anfänglicher Ablehnung den Weg in die Zunft der Weber und in die bessere Gesellschaft ebnet. Annas einzige Bedingung: eine Stelle als seine Magd. Notgedrungen gibt er ihr nach - ein Glück, denn sie erweist sich als wertvolle Hilfe. Doch während er weiter aufsteigt, geschehen um ihn herum immer wieder merkwürdige Dinge ...



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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Die Figuren der Handlung

Prolog

TEIL I: DER BARCHENT UND SEIN GEHEIMNIS

1

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TEIL II: DER TUCHHÄNDLER

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TEIL III: DIE FALSCHE FRAU

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TEIL IV: BRÜDER UND RIVALEN

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TEIL V: AM ZIEL

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Epilog

Nachwort

Zeitleiste des Romans

Glossar

Dank

Über das Buch

Wie sie wurden, was sie waren – ein spannender Roman um den Aufstieg des ersten Fuggers Augsburg im 14. Jahrhundert. Als Webergeselle verschuldet Hans Fugger einen Unfall, den Anna, die Tochter des Schultheißen, nur knapp überlebt. Doch sie verrät ihn nicht, sondern hilft ihm später sogar, ein besonderes Tuch zu weben. Ein Tuch, das ihm trotz anfänglicher Ablehnung den Weg in die Zunft der Weber und in die bessere Gesellschaft ebnet. Annas einzige Bedingung: eine Stelle als seine Magd. Notgedrungen gibt er ihr nach – ein Glück, denn sie erweist sich als wertvolle Hilfe. Doch während er weiter aufsteigt, geschehen um ihn herum immer wieder merkwürdige Dinge …

Über den Autor

Peter Dempf, geboren 1959 in Augsburg, studierte Germanistik und Geschichte und unterrichtet heute an einem Gymnasium. Der mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Autor schreibt neben Romanen und Sachbüchern auch Theaterstücke, Drehbücher, Rundfunkbeiträge und Erzählungen. Bekannt wurde er aber vor allem durch seine historischen Romane. Peter Dempf lebt und arbeitet in Augsburg, wo unter anderem seine Mittelalter-Romane Fürstin der Bettler, Herrin der Schmuggler und Das Gold der Fugger angesiedelt sind.

Peter Dempf

Die Magd der Fugger

Historischer Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren und Verlagsagentur, Münchenwww.ava-international.de

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, BonnEinband-/Umschlagmotive: © istockphoto: ZU_09; © shutterstock: Meder Lorant | brichuas | Lukasz Szwaj; © Trevillion Images: Magdalena RussockaUmschlaggestaltung: Birgit Gitschier, AugsburgeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0993-4

luebbe.delesejury.de

Die Figuren der Handlung

Ein Sternchen verweist auf historische Persönlichkeiten.

DIE FAMILIE MELCHER

Anna, Tochter von Xaver Melcher, Magd bei Hans Fugger

Xaver Melcher, Schultheiß von Jettingen, Weber und Bauer

Brigitta, seine Frau

Michl Hudler, Maier von Horgau

Marget Hudler, seine Frau, jüngere Schwester von Brigitta Melcher

Jörg Stadler, Bleicher in Augsburg

Gernot Hinterhofer, Ochsentreiber und Fuhrwerker

DIE FAMILIE FUGGER

* Johann »Hans« Fugger, Landweber

* Hans Fugger (gest. 1408/09), sein Sohn, Weber und später Tuchhändler

* Klara (gest. 1378), seine erste Frau

* Oswald Widolf, deren Vater, ab 1371 Zunftmeister der Weber

* Elisabeth Gfattermann (gest. 1436), Hans Fuggers zweite Frau

* Hans Gfattermann, ihr Vater, Webermeister und Ratsmitglied

* Ulrich (Ulin) Fugger (gest. 1394), Weber und Kaufmann, Bruder von Hans Fugger

* Kunigunde (Radigunda) Mundsam, seine Frau

Fichtnerin, Spinnerin aus Röfingen

Berthold vom Stain, Ministeriale

Guttenberger, Würzburger Raubritter

* Hans Weiß, Weber

Maria, seine Frau

* Heinrich Weiß, sein Bruder, Kürschner

* Götz Keller, Weber

Irmel, seine Frau

* Frydrych Münkler, Weber

Hedi, seine Frau

* Heinrich Burtenbacher, Bäcker

* Hans Wessisprunner, Salzfertiger

* Conrad Bitschlin, Augsburger Bürgermeister

* Heinrich Herwort, Augsburger Bürgermeister

* Johann Mangmeister, Stadtpfleger

* Jakob Preyschuh, Patrizier aus dem Weberhandwerk, Augsburger Bürger, Weinhändler

* Katharina Schenk, Äbtissin des Klosters St. Stephan, Kanonisse

* Heinrich Grau, Gürtler

* Elspeth, seine Frau

Zyprian, Pfarrer von St. Moritz

* Manhard, Stiftsprobst von St. Moritz

Prolog

JETTINGEN, ENDE APRIL 1363

Die Sonne lockte am Vormittag mit einer stechenden Helligkeit und Wärme, aber sobald man in den Schatten trat, war es noch winterkalt. Anna strich sich mit den Fingern durchs Haar, um die schwarze Mähne etwas zu bändigen. Ihr Vater zog sie ständig damit auf, denn die dunklen Augen und Haare hatte sie weder von ihm noch von der Mutter geerbt. Wäre die Großmutter früher nicht genauso ebenholzschwarz gewesen wie sie, wäre wohl der Verdacht aufgekommen, sie sei ein Kuckuckskind. Wenn sie wieder wie ein Wildfang durchs Dorf gerannt war und an seinem Webstuhl vorbeistrich, zog ihr Vater sie an sich. Dann neckte er sie mit dem ins Ohr geflüsterten Vorwurf, bei ihr wären wohl das Temperament und die Natur eines römischen Soldaten durchgebrochen.

Anna seufzte, sah hoch zum Schopf auf dem Weinberg und verzog das Gesicht. Viel lieber wäre sie in den Auwald der Mindel gegangen, doch am Fluss war das Reisig noch feucht. Oben auf dem Weinberg aber hatte der Frühling es bereits getrocknet.

Sie schritt durch die Äcker, die sich an den Hang schmiegten, und genoss es, wie die Sonne auf ihren Rücken brannte. Das versöhnte sie etwas mit dem Weg, der erheblich länger und anstrengender war als der zum Fluss. Außerdem wusste sie, dass Hans ihr in einem unverdächtigen Abstand folgte.

Er sah fesch aus, der Hans Fugger, mit seinen blauen Augen, den dichten Locken und dem dunklen Bartansatz.

Natürlich tat sie so, als würde sie ihn nicht bemerken, blieb hin und wieder stehen, drehte sich, pflückte erste Blumen, roch an frisch ausgetriebenen Blättern und spähte dabei immer wieder wie zufällig hinter sich, um sicherzugehen, dass er sie nicht aus den Augen verlor. Dass sie dabei etwas heftiger herumwirbelte, die Hüften etwas mehr kreisen ließ und ihre Arme ausgelassener in die Höhe warf, als sie es sonst getan hätte, gehörte zu ihrem Plan. Sie fühlte eine kribbelnde Erregung in Brust und Bauch, weil er sich in sie verschaut hatte, und nicht in Magda, Thea oder Elsbeth, die alle in ihrem Alter waren und auch um den jungen Fugger buhlten.

Als sie sich auf den Waldsaum zubewegte, fröstelte es sie. Der Tann gab einen kühlen Hauch von sich, der ihr in die Waden biss und unter den Rock fuhr. Während ihr Rücken von der noch tief stehenden Sonne aus dem Südosten gestreichelt wurde, kniff ihr der eisige Atem des Waldes in die Schenkel.

Drei Bündel Reisig musste sie sammeln und nach Hause tragen, damit wenigstens gegen Abend der Kamin eine sanfte Wärme verstrahlte. Sie hoffte, dass die letzten Winterstürme ausreichend Astwerk aus den Wipfeln der Kiefern auf dem Weinberg gefegt hatten und die Arbeit rasch von der Hand ginge. Vielleicht würde Hans ihr helfen …

Sie schlüpfte durch eine Lücke zwischen den tief herabhängenden grünen Ästen am Waldrand und versicherte sich, dass Hans sie gesehen hatte. Sofort umfing sie eine bedrückende Düsternis. Sie musste einen Augenblick stehen bleiben, damit sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnen konnten, und schlang ihre Arme um den Oberkörper. Sie hatte nicht geglaubt, dass es unter dem Nadeldach so kalt sein würde.

Das Herumstehen ließ sie noch mehr frösteln. Sie musste sich bewegen, um warm zu bleiben. Sie bückte sich und sammelte trockene Zweige in der Armbeuge, in die sie schon einen Strick gelegt hatte. Zwar hatte sie rasch einen Armvoll zusammen, aber die Menge an Reisig stellte sie nicht zufrieden. Das Bündel musste doppelt so stark werden, bevor sie es verschnüren konnte.

Sie legte das bis jetzt gesammelte Bruchholz unter einer Kiefer ab und ging weiter, um es mit einem zweiten Armvoll Geäst aufzustocken. Ihre Augen waren auf den Boden gerichtet, ihr Ohr aber horchte darauf, Hans aus dem Unterholz treten zu hören. Unruhe erfasste sie, fahrig klaubte sie die Zweige auf. Sollte sie sich umdrehen und so tun, als hätte sie ihn zuvor nicht gesehen? Vermutlich würde er ihr nicht glauben. Zudem würde es ihre erste Begegnung ohne Aufsicht sein … Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken.

»So ein Zufall, Jungfer Anna, Euch hier zu begegnen.«

Anna zuckte zusammen. Sie hatte nicht erwartet, dass Hans bereits so nahe hinter ihr war. Sie fuhr herum, stieß einen kleinen Schrei aus und ließ die wenigen Äste fahren, die sie in der Armbeuge trug.

»Warum so ängstlich, Jungfer Anna?«, fragte Hans. »Kommt nicht mit mir etwas Licht in diesen düsteren Wald?«

Sein breites Lächeln zeigte, dass er die Situation genoss. Hans war ein oder gar zwei Sommer älter als sie und erheblich selbstbewusster. Anna dagegen wurde mit jedem Lidschlag unsicherer. War es wirklich eine gute Idee gewesen, diesen Hans Fugger, der sich aufführte, als gehöre ihm die Welt, hinter sich herzulocken?

Sie blickte zu Boden und betrachtete die Lederschuhe, die der junge Mann vor ihr trug. Sie waren neu.

»Ihr habt Reisig fallenlassen, Jungfer. Darf ich Euch helfen? Ihr braucht nur zu nicken, wenn Ihr nicht mit mir reden wollt.«

Er ihrzte sie, wie er die großen Herren und Damen ihrzen würde. Das schmeichelte ihr, und sie nickte. Hans ging in die Knie und begann, das Reisig aufzusammeln. Plötzlich hielt er inne und blickte grinsend zu ihr hoch.

»Wollt Ihr, dass ich so vor Euch knien bleibe und zu Euch aufschauen muss, damit ich Euer Gesicht sehen kann? Ich tu das gern …, aber es ist … unbequem.«

Anna schüttelte den Kopf.

Hans stand auf, das Reisig wieder im Arm, und sah sich um. »Soll das zu dem Bündel da vorn, Jungfer Anna?«

Langsam musste sie etwas sagen. Ihr Schweigen machte sie lächerlich. Wenn es nicht bald zu einem Gespräch kam, würde er sich womöglich verabschieden und sich den anderen Kandidatinnen zuwenden. Außerdem war es kalt, und sie fror.

Sie räusperte sich kurz, dann presste sie hervor: »Ja, bitte.«

»Ihr könnt ja doch sprechen«, sagte er und trug das Reisig zum bestehenden Haufen. »Ich dachte schon, Ihr wäret stumm.«

»Dann hast du mich nicht singen hören?«, fragte sie leise.

»Ach, Ihr wart das? Mir war, als würden die Lerchen ein Lied vom Himmel zwitschern.«

Sie sah ihn an, blickte in dunkelblaue Augen, die ihr weiche Knie bescherten. Sie achtete nicht auf den Weg und stolperte.

Der junge Fugger, der eben das Reisig auf den Haufen gelegt hatte, sprang zu ihr hin und ergriff ihren Arm. »Fallt mir nicht, Jungfer Anna!«

So nahe war sie ihm noch nie gewesen, und sie wusste nicht recht, was sie jetzt tun sollte. Einerseits war ihr noch immer schwindlig, andererseits hatte sie das Gefühl, ihr Gesicht, ja, ihr ganzer Kopf würde brennen vor Scham, weil die Berührung unschicklich war. »Du hast … danke. Ich … wäre sonst … hingefallen«, flüsterte sie.

Hans, der ihren Oberarm umfasst hielt, ließ sie nicht los. »Wie gut, dass ich in Eurer Nähe war!«

Sie roch seinen Atem, der einen Duft nach frischem Kümmel verströmte. Offenbar hatte er sich an den wilden Sträuchern entlang des Weges bedient, die über den Winter noch Samen behalten hatten. »Du darfst mich jetzt loslassen«, sagte sie leise. Langsam kehrte ihre Selbstsicherheit zurück.

»Ihr habt nicht gefragt, ob ich das möchte«, entgegnete er und trat so nahe an sie heran, dass sie sich fast berührten. Der Aufruhr in ihr, der sich ein bisschen gelegt hatte, flammte wieder auf und ließ ihren Atem schneller gehen. »Aber ich möchte es«, sagte sie bestimmt.

»Seid Ihr sicher?«, fragte Hans, und bevor sie zurückweichen konnte, hatte er seine Lippen auf ihren Hals gedrückt.

»Was …? Aua!«, stotterte sie und zuckte zurück, weil er ihr auf die Zehen getreten war.

»Gefällt es Euch etwa nicht?«

»Das nicht … ich meine, schon …, aber … du stehst auf meinen Zehen!«

»Oh!« Der junge Fugger wich zurück und ging auf die Knie. »Darf ich meine Ungeschicklichkeit wiedergutmachen?«, fragte er und langte an ihre Fessel, hob den Fuß auf und wollte ihn küssen.

Doch das vertrug sich nicht mit ihrer leichten Schwäche. Anna bekam das Übergewicht und fiel rücklinks zu Boden. Hans hielt noch immer ihren Fuß. Anna kicherte, obwohl ihr Hintern leicht schmerzte.

Hans kniete stumm vor ihr, den Blick starr auf sie gerichtet. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass er nicht auf sie, sondern unter ihren Rock blickte, der durch den Fall hochgerutscht war und ihre Beine freilegte. Hastig zog sie ihren Fuß zurück und streifte den Rock über ihr Knie.

»Was starrst du so?«, fragte sie und rutschte von ihm weg.

»Es … es tut mir leid«, stammelte er. Sein Kopf war feuerrot.

»Ich muss weiter Holz sammeln, sonst bleibt es heute Abend kalt in unserer Stube«, sagte sie.

»Ja … Natürlich«, krächzte er.

Einerseits beschämte es sie, wie er auf ihre Schenkel gestarrt hatte, andererseits kribbelte es bei dem Gedanken in ihrem Bauch. Noch nie hatte ein Mann ihre Knie gesehen. Sie rappelte sich auf, strich ihren Rock glatt und machte sich an die Arbeit.

Als sie sich bückte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie er versuchte, die Reaktion seiner Männlichkeit zu verbergen, indem er sich wand und sein Gemächt unter dem Beinkleid zurechtrückte.

»Darf ich Euch helfen, Jungfer?«, fragte er endlich. Seine blauen Augen leuchteten.

Anna hatte schon geglaubt, er würde nie fragen.

Sie richtete sich mit einer bereits vollen Armbeuge Reisig auf und strahlte ihn an. »Gern. Vier Hände sammeln schneller als zwei.«

Hans begann zu sammeln, bückte sich und blieb dabei nahe bei ihr. Schließlich wurde es Anna zu viel. Sie stand da, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen Armbeuge das Reisig.

»Ich finde es schön, wenn du bei mir bist«, sagte sie freundlich. »Aber wenn du da hinten sammelst und ich hier vorn, nehmen wir uns nicht gegenseitig die Äste weg.«

Hans stutzte, nickte dann aber und lief zu der Stelle, die sie ihm gewiesen hatte. Er sah kurz zu ihr herüber. Seine Augen wirkten aus der Entfernung von ein paar Schritten dunkel und rätselhaft, was ihn noch anziehender machte. Sie musste sich bewusst von seinem Anblick losreißen und weiterarbeiten.

Während sie beide stumm sammelten, überlegte Anna, was passieren würde, wenn sie fertig waren. Drei große Bündel konnte sie tragen. Wenn Hans ihr half, vielleicht vier. Mehr durften nicht sein, weil es sonst aufgefallen wäre, dass sie im Wald nicht allein gewesen war.

Wenn sie also die vier Bündel beisammenhatten, was würde dann geschehen?

»Warum bist du nicht zum Auwald gegangen? Das ist doch näher«, rief ihr Hans nach einer Weile zu.

Offenbar war ihm das Schweigen zwischen ihnen unangenehm. Auch Anna war es lieber, dass sie miteinander redeten. Es fiel ihr allerdings auf, dass Hans vom respektvollen Ihr zum Du übergegangen war.

»Das Holz da ist zu feucht.«

»Wolltest du, dass ich hinter dir hergehe?«

»Wie kommst du darauf?«

»Niemand tanzt so herum, wenn er nur zur Arbeit geht.«

Sie konnte ihm ja schlecht sagen, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze traf, also schwieg sie.

Als sie beim dritten Bündel angelangt und es verschnürt hatten, hob Hans fragend die Augenbrauen. »Noch eins?«

»Wenn du’s mir ins Dorf trägst!«

»Also komm. Dann müssen wir da hinten suchen.« Er deutete tiefer in den Wald hinein.

Anna zog den letzten Strick, den sie zum Zusammenbinden mitgenommen hatte, aus der Rocktasche und legte ihn ein gutes Stück weiter auf dem Waldboden aus. Sie musste sich bücken und bemerkte, wie Hans auf ihren Hintern starrte.

»Was gibt es da zu sehen?«, herrschte sie ihn forscher an als gewollt.

Doch Hans war keineswegs verlegen, sondern lächelte breit. »Du hast einen Fleck auf dem Kleid, wo du hingefallen bist.«

Anna strich über ihre Rückseite und fühlte tatsächlich eine feuchte Stelle. »Das wird trocknen!«, gab sie zurück.

Hans drehte sich um seine eigene Achse. »Hier drinnen? Im Waldschatten? Niemals. Da müsstest du schon aus dem Forst heraus und das Kleid in die Sonne legen.«

Das hättest du wohl gern, dachte Anna und schüttelte den Kopf. Außer ihrem Hemd trug sie nichts darunter.

»Soll ich es mir holen und draußen auslegen?«, fragte er neckend und rannte auf sie zu.

»Niemals!« Anna kicherte und lief davon. Sollte er sie doch zu fangen versuchen. Sie war schneller als er. Sie jagte zwischen den Bäumen hindurch, blickte nach hinten, um zu sehen, wie nahe er schon war. Aber Hans wollte sie offenbar nicht fangen, sondern sie scheuchen wie ein Reh. Anna schlug einen Haken, sprang hinter einen Baum, um seinen Händen zu entkommen – und trat plötzlich ins Leere. Ein kurzer Schrei entfuhr ihr, dann stürzte sie zur Seite.

Rasch war Hans bei ihr. Er war außer Atem, aber sein Blick verriet ihr, dass er sich Sorgen gemacht hatte.

»Was ist …?« Die Frage war überflüssig. Anna hob den Kopf. »Halt mich. Schnell. Ich rutsche«, keuchte sie.

Sie lag am Rand einer Grube und krallte sich mit beiden Händen in den lockeren Waldboden, während ihre Beine ins Leere baumelten. Sie hatte das von frisch gefallenem, noch grünem Reisig bedeckte Loch nicht gesehen und wäre beinahe hineingestürzt.

Hans packte ihre Handgelenke und zog sie auf den Boden des Waldes zurück.

»Glück gehabt«, sagte er. »Eine Grube, aus der man Eisenknollen holt … oder holen wollte.« Er blickte sich um. »Ob es hier überhaupt Knollen gibt? Man sucht derzeit überall danach.«

Anna lag vor Hans’ Füßen.

»Kannst du aufstehen?«, fragte er besorgt.

Anna nickte. Hans zog sie hoch und hielt sie fest. Sie zitterte und war froh über den Halt, den er ihr bot. Vorsichtig spähten sie über den Rand der Grube. Es war wie der Blick in die Hölle, so dunkel war es dort unten. Der Schacht führte sicherlich fünfundzwanzig oder dreißig Fuß in die Tiefe, verfüllt mit Ästen und herabgerutschtem Sand.

»Du hättest dir den Hals brechen können«, sagte Hans. »Lass uns ein paar Schritte beiseite gehen.«

Anna nickte nur. Sie liefen ein Stück weiter in den Wald hinein, weg von der Grube.

»Die Leute glauben, mit diesen Schächten würden die Waldgeister freigelassen«, sagte Hans. »Und die würden das Böse von unten nach oben tragen. Deshalb werden die Schächte immer wieder mit Zweigen zugedeckt. So manchem Schaf, Reh oder Fuchs sind sie schon zum Verhängnis geworden.«

Anna hatte davon gehört, und sie hatte es soeben am eigenen Leib erfahren. Sie zitterte noch immer, ohne dass sie es verhindern konnte.

Hans drückte sie an sich, streichelte sie. Dankbar legte sie ihren Kopf an seine Brust. Seine Nähe hatte mit einem Mal nichts Beunruhigendes mehr.

Er zog sie fest an sich und strich mit der Hand über ihre dunklen Locken und zupfte kleine Ästchen und Nadeln aus dem Haar. Sie horchte auf seinen Herzschlag, der sich zusehends beschleunigte.

Der junge Fugger nahm ihr Kinn und hob sacht ihren Kopf an, bis sie sich in die Augen sehen konnten. Sie wusste nicht, was er dachte, aber sie blickte in Augen, so blau wie der Himmel vor dem Wald, klar und übersät mit kleinen schwarzen Punkten.

Anna spürte, wie sich auch ihr Atem beschleunigte – dann küsste er sie und zog sie mit sich zu Boden.

Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu sich kam, denn rauschartig durchströmten sie Gefühle, als schwelle die Mindel nach einem Herbststurm an. Die Empfindungen nahmen alles mit sich und überspülten Dämme. Sie fühlte, wie sich Hans’ Hände über ihren Körper bewegten, wie er mit ihrer Brust zu spielen begann, wie er ihr an den Hintern griff und sie dabei an sich presste. Sie ließ es geschehen. Alles schien so natürlich und gottgegeben, so richtig und angemessen, dass sie sich an der aufkeimenden Lust rieb, bis ihre Sinne Funken sprühten wie ein Johannisfeuer.

Hatte sie nicht genau das gewollt? Hans hinter sich herziehen, als hinge er an einer Angel?

Doch plötzlich durchfuhr sie ein Schreck. Hans’ Hände waren überall, streichelten und drückten ihren Körper. Aber sie spürte auch, wie er ihren Rock hochschob, wie er mit der Hand zwischen ihre Beine fuhr. Sie zuckte zurück. So sehr sie es sich wünschte – alles wollte und durfte sie ihm nicht geben. Noch nicht.

»Nein …«, brachte sie zaghaft hervor. Schließlich, als er fortfuhr, sie dort zu berühren, wo seine Hände noch nicht hingehörten, wurde sie deutlicher. »Nicht jetzt!«

Aber Hans hörte nicht auf. Sein Keuchen drang an ihr Ohr. »Warum nicht?«, flüsterte er heiser.

Mit einem Ruck drehte er sie um. Jetzt lag sie mit bloßem Gesäß da. Hans kniete sich über sie und nestelte an seiner Hose. Dann lag er auf ihr, und sie spürte sein hartes Glied an ihrem nackten Hintern, fühlte, wie es heiß und starr an sie drängte.

»Lass mich«, rief Anna, nahm alle Kraft zusammen und bäumte sich auf. Gleichzeitig trat sie mit einem Fuß nach Hans’ Beinen.

Hans schrie auf und wälzte sich von ihr herunter. Offenbar hatte sie ihn am Schienbein getroffen. Anna wandte den Kopf. Hans lag neben ihr am Boden, die Beine gespreizt, sein Glied ragte steil empor. Seine Augen glänzten fiebrig. Er starrte sie an wie ein Wild, das erlegt werden muss.

Anna sprang auf und rannte davon. Sie musste weg von hier, musste den Waldsaum erreichen, auf die offenen Felder hinaus. Die Legenden und Sagen, die sich um die Trichter woben, schossen ihr durch den Kopf, das Auftauchen und Verschwinden bemützter Kobolde, die Menschen mit in ihre Welt hinabzogen und nie wieder hergaben.

Sie lief einfach geradeaus, die Augen voller Tränen, und hörte das Keuchen von Hans, der ihr folgte. Fluchend, bettelnd – und immer mit dieser rauen Stimme, die seine Lust untermalt hatte.

Anna glaubte zu fliegen, so schnell rannte sie. Diesmal nicht aus Spaß und Tollerei, sondern aus Angst. Sie hätte ihn nicht reizen dürfen, hätte ihn nicht locken, ihn nicht gewähren lassen dürfen!

Das Nichts unter ihren Füßen kam so unvermittelt, dass ihre Gedanken abrupt unterbrochen wurden. Kurz ruderte sie mit den Armen, bis sie einen heftigen Schlag gegen die linke Gesichtshälfte spürte. Sie hörte, wie es knackte, wurde mit der Brust gegen eine Wurzel geschleudert, und dann ging es abwärts. Sie blieb an etwas hängen, ihr Fuß wurde verdreht, und sie hörte es knacken, als ihr rechtes Bein brach. Sie wurde herumgeworfen, streifte mit dem Gesicht über die enge Schachtwand und fiel kopfüber weiter durch trockenes Astwerk, Wurzeln und Sandwehen. Sie hörte jemanden schreien. Irgendwann schlug sie mit dem Kopf auf, und dann war plötzlich nichts mehr um sie als Dunkelheit.

*

Hans rief nach Anna, brüllte, doch alles blieb stumm. Außer dem Nachhall seiner eigenen Stimme und seinem jagenden Atem vernahm er nichts.

Eben war sie noch vor ihm gewesen, hatte einen Haken geschlagen, war hinter dem Junganflug verschwunden – und dann war da nur noch ihr Schrei gewesen und die darauffolgende Stille.

Abrupt hatte er gestoppt. »Anna!«, hatte er gerufen.

Keine Antwort. Er war um den Schopf aus jungen Bäumen herumgegangen und hatte das Trichterloch entdeckt. Er legte sich auf den Boden, robbte bis zum Rand und schaute hinunter.

Es dauerte, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Außer Schwärze sah er nichts.

»Anna?«, rief er nach unten. »Anna! Bist du da? Wie geht es dir?«

Keine Antwort. Er versuchte, leise zu atmen, um auch das geringste Geräusch wahrzunehmen, aber er hörte nichts außer dem Knacken der Bäume über sich, die aus dem Winterschlaf erwachten. Endlich richtete er sich wieder auf und spähte umher.

War sie weitergelaufen? Hatte sie ihn nur genarrt?

Er hätte sich beherrschen müssen. Sein Drängen war nicht richtig gewesen, hatte sie in Angst und Panik versetzt. Dabei war er doch vorsichtig gewesen. Er hatte das so nicht gewollt.

Hans ging ein paar Schritt von der Grube weg, umrundete den kleinen Wald und kehrte wieder zurück. Er hatte Anna nicht fallen sehen, hatte nur ihren Schrei gehört.

War womöglich etwas dran an den Sagen, die von den Venedigern erzählten, den unheimlichen Erzsuchern, die ihre Opfer mit in die Tiefe und in ihre eigene Welt hineinzogen?

Unsinn! Anna war nicht von einem Waldkobold entführt worden.

Hans umkreiste die Trichtergrube. Sie war breiter und tiefer als die vorhergehende, und er konnte ihr unteres Ende nicht erkennen. Es lag womöglich dreißig Fuß tief oder tiefer. Er hatte gehört, dass sich die Gruben an der Basis verbreiterten, weil man dort nach den Erzknollen grub. Gesehen hatte er es noch nicht.

Plötzlich stutzte er. Die Grube war an der westlichen Seite von einer Wurzel begrenzt, und auf dieser Wurzel fand sich eine feuchte Stelle.

Sein Pulsschlag beschleunigte sich. Er kniete sich hin, legte einen Finger in den Fleck, rieb ihn zwischen den Fingern und roch daran. Blut. Eindeutig. Mit Blut kannte er sich aus. Schließlich half er beim Schlachten und hatte schon dem einen oder anderen Huhn den Kopf abgeschlagen. Wieder legte er sich auf den Bauch und spähte in die Öffnung hinunter. »Anna!«, brüllte er aus Leibeskräften, horchte, brüllte wieder.

Seine Unruhe wuchs. Das konnte doch nicht sein! Hatte er sich verschaut? Stellte er sich etwas vor, was so nicht geschehen war?

Warum hatte sie auch wegrennen müssen? Er hätte ihr nichts getan. Er konnte doch nichts dafür, dass sie so übertrieben reagierte, versuchte er sich zu beruhigen.

Er umkreiste die Grube mehrmals, schließlich entschied er sich dafür nachzusehen.

Er hatte schon zugeschaut, wie die Erwachsenen in solche Löcher hinuntergestiegen waren. Links und rechts der Röhrenwand waren Vertiefungen eingegraben, in die man die Füße setzen konnte. Man verspannte den Körper zwischen den schmalen Wänden der Röhre und kletterte hinab. Es kostete nur etwas Kraft und Überwindung. Langsam fror ihn.

Hans legte sich ein weiteres Mal auf den Waldboden. Die Kälte, die von ihm aufstieg, griff nach seiner Lunge. Er suchte in den Wänden die ersten Trittlöcher und fand sie tatsächlich.

Wenn er jetzt wartete, dann würde er sich nicht mehr überwinden. Er setzte sich auf den Rand des Trichters, rutschte nach vorn, stellte seinen Fuß in die Aussparung und ließ sich tiefer gleiten. Er presste sich gegen die Wand der Grube und suchte nach der nächsten Aussparung. Auf diese Weise gelangte er tiefer und tiefer. Seine Beine zitterten vor Anstrengung. Zuerst hatte er gedacht, das Licht würde nicht ausreichen, um etwas zu erkennen, doch je weiter er nach unten kam, desto mehr gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Er atmete schwer, weil er sich mit all seiner Kraft gegen die Tunnelwand pressen musste. Plötzlich brach eine der Stufen aus, und er kam ins Rutschen. Mit Händen, Armen und Beinen, die er abspreizte, krallte er sich in die Wand und konnte so seinen Fall gerade noch abfangen. Der Schweiß lief ihm in Strömen über den Rücken, obwohl es hier unten merklich kühler wurde.

Dann entdeckte er sie unter sich. Sie lag mit verrenktem Kopf und schräg abgewinkeltem Bein da, als hätte man es ihr ausgerissen. Er sah in ihr Gesicht. Die linke Hälfe war zerschmettert. Sie war kopfüber ins Loch gestürzt. Kleid und Hemd waren zerrissen und entblößten alles.

»Anna!«, rief er, doch das Mädchen rührte sich nicht. »Anna, so sag doch was!«

Kein Röcheln, kein Atmen, kein Zucken.

Anna war tot! Wer so verkrümmt dalag, konnte den Sturz nicht überlebt haben. Hans brauchte nicht weiter hinabzusteigen. Vor Furcht, selbst abzustürzen, bebte er am ganzen Körper. Mit letzter Kraft kletterte er aus dem Trichter.

Am Rand der Grube blieb er kurz liegen und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Er musste ins Dorf laufen und Hilfe holen. Vielleicht war Anna doch nur bewusstlos. Aber dann sah er sie vor seinem inneren Auge entblößt dort unten liegen. Jeder Dorftrottel würde sich zusammenreimen können, dass sie vor ihm davongelaufen war. Schon säße er im Loch und würde auf seine Hinrichtung warten. Er durfte keinesfalls jemanden herbeirufen, sondern musste vorgeben, er wäre Anna nicht begegnet, sie hätten sich nicht getroffen.

Eigentlich hatte er ihr sagen wollen, dass er beschlossen hatte, für zwei oder gar drei Jahre das Dorf zu verlassen, das Weberhandwerk an anderen Orten auszuüben und Erfahrungen zu sammeln. Er hatte Anna fragen wollen, ob sie auf ihn warten wolle.

Jetzt wusste er, dass sie auf ihn warten würde. Bis zum Jüngsten Tag, bis die Erzengel die Posaune bliesen und die Toten weckten. Dann würde auch sie aus ihrer Trichtergruft auferstehen – und keine Stunde früher. Erst an diesem Tag würden sie sich wiedersehen und schließlich getrennte Wege gehen. Anna zur Himmelspforte und er direkt in die Hölle. Wenn irgend möglich, wollte er sich bei ihr entschuldigen.

Heute aber, heute musste er ins Dorf, seine Sachen packen, seinem Vater Lebewohl sagen und die alte Römerstraße unter die Füße nehmen. Nach Westen oder nach Osten, auf jeden Fall nach Augsburg, das einen guten Tagesmarsch nach Osten entfernt lag, und von dort in Richtung Süden oder Westen weiter über die Alpen ins Welschland.

Nichts anderes gab es zu tun.

Dennoch legte er sich noch einmal auf den Bauch, schob den Kopf über den Rand und rief Annas Namen, einmal, fünfmal, zehnmal. Aber dort unten, in dieser dunklen Gruft, regte sich nichts. Der Tod war stumm.

Hans’ Kopf brummte und summte, als er sich aufrichtete und zum Waldrand lief. Mit steifen Beinen rannte er vorwärts. Er versuchte, langsamer zu atmen, sich zu beruhigen. Die fertigen Reisigbündel ließ er liegen. Am Waldrand zwängte er sich durch das Gebüsch und folgte dem Feldweg nach unten.

Es war, als liefe er unter Wasser. Wenn er in der Mindel schwamm und tauchte, war es dasselbe Gefühl. Die Welt war weit weg, alles drang nur gedämpft und verzerrt an sein Ohr und in seine Augen.

Erst spät bemerkte er, wie schnell er rannte. Das durfte er nicht. Er musste sich beruhigen, musste langsam gehen, um sich nicht verdächtig zu machen.

Als er den ersten Hof erreichte, hob sich der Kopf der alten Gemmerin, die in ihrem Gemüse- und Kräuterbeet Unkraut jätete. Sie nickte ihm zu und arbeitete dann wieder gebückt weiter.

Auch der Melcher, der eben ein Gespann einrichtete, ließ nur kurz seinen Blick über ihn hinweg schweifen, wie man einen Menschen betrachtete, der einem vertraut war. Erst als Hans zum Haus seines Vaters einbog, wurde er ruhiger. Er starrte auf den Weg, blickte auf seine Füße, auf die Spuren der Fuhrwerke und die Fladen der Kühe, die hier entlang getrieben wurden.

»Hans!«, rief jemand, und er brauchte einen Moment, bis er verstand, dass er gemeint war. »Hans? Bist du in dieser Welt?«

Als er hochsah, stockte ihm der Atem. Es war die Melcherin, die auf dem Hauser-Hof wohnte. Annas Mutter. Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Alles gut mir dir?«, fragte sie besorgt.

Was sollte er ihr antworten? Nein. Nichts war gut. Er hatte ihre Tochter in einem Loch im Wald zurückgelassen. Tot.

»Ja … ja, gewiss …«, stammelte er.

»Hast du ein Schlammbad genommen? Du siehst ja aus, als hättest du dich in der Erde gewälzt.«

Entsetzt sah Hans an sich herunter. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sich beim Abwärtsklettern völlig verdreckt hatte. Hemd und Hosen waren mit gelblichen Schlieren übersät. Seine Hände starrten vor Schmutz. Auf den Handrücken begann der trocknende Sandboden abzuplatzen.

»Ich bin …« begann er, stockte, setzte von Neuem an. »Ich … bin gestürzt … ein Wildschwein … es hat mich …«

»Ich hab die Anna gewarnt«, sagte die Melcherin. »Um diese Zeit sind die Viecher angriffslustig. Die Sauen schützen ihren Wurf. Hast du die Anna gesehen? Sie wollte Reisig sammeln.«

In Hans’ Ohren rauschte das Blut.

»Bist du der Anna begegnet?«

Hans schüttelte den Kopf, aus seinen Haaren rieselte der Sand.

»Reisig? Holt man das nicht aus dem …« Er stockte. Was tat er denn? Er redete sich um Kopf und Kragen. Wenn er erzählte, er sei im Auwald gewesen, würde sich die Bäuerin wundern, woher er dann voller Sand war. Wenn er aber sagte, er sei im Wald gewesen, würde er den Verdacht auf sich lenken, wenn sie Anna finden würden.

Annas Mutter blickte den Weinberg hoch. »Ich glaube, ich hab gesehen, wie sie den Feldweg hochgegangen ist. Wo ist dir die Wildsau begegnet?«

Hans surrte der Kopf. Darüber hatte er nicht nachgedacht. Wo?

»Im … Auwald … am … am Rieder Bach …«

Die Melcherin musterte ihn mit schräg gelegtem Kopf. Der Rieder Bach lag in der entgegengesetzten Richtung, aus der er gekommen war. »Vielleicht schick ich den Vater rauf in den Wald …«

Hans erschrak bis ins Mark. Wenn der Bauer dort hinaufging, würde er die Reisigbündel finden. Er würde nach seiner Tochter suchen und Anna in dem Loch entdecken. Der Schluss, dass Hans in der Nähe gewesen war, lag dann nahe.

»Was ist nur los mit dir? Hast du den Gottseibeiuns gesehen?« Annas Mutter schlug schmerzhaft auf seinen Oberarm.

»Was?« Hans fuhr zusammen. »Nein. Oder … Natürlich …«

»Bist du schon in aller Herrgottsfrühe betrunken, Junge?«, fragte die Bäuerin. »Müsstest du nicht am Webstuhl sitzen, dem Vater zur Hand gehen? Was streunst du so herum?« Sie musterte ihn misstrauisch. »Und du bist der Anna wirklich nicht begegnet?«

»Nein«, stieß Hans heftiger hervor, als er wollte. »Das habe ich doch schon gesagt! Ich muss mich vorbereiten. Meine Lehrlingszeit ist um, und als Geselle sollte man sich in der Welt umschauen.«

Die Melcherin schüttelte verständnislos den Kopf. »Müsst ihr Burschen jetzt alles nachmachen, was die Städter euch vorbeten? Du hast doch beim Vater ein gutes Handwerk gelernt. Da brauchst du nicht mehr die Nase in den Wind halten.«

Hans atmete auf. Diese Diskussion führte er mit dem Vater oft genug. »Ich bilde mich weiter, lerne andere Techniken. Wenn ich dann zurück bin …«

»Ist der Vater vielleicht tot und die Mutter unter der Erde vor Gram um dich und deine Weltsucht.«

»Das versteht Ihr nicht, Melcherin. Wir Jungen sind eben anders. Nicht alles kann bleiben, wie es immer war.«

»Unsinn, Hans. Am Morgen geht die Sonne auf, und am Abend geht sie unter. Im Sommer sind die Tage lang, und im Winter sind sie kurz. Das ist so, und das wird auf ewig so bleiben. Nur euch Junggemüse reicht das nicht mehr aus.« Die Melcherin schüttelte den Kopf und ging davon.

Hans schaute ein Stück weit den Feldweg entlang, der sich hinter ihm zum Wald hinaufwand. Überall waren seine Spuren zu sehen, der gelbliche Sandboden der Trichtergrube. Hastig wandte er sich um und eilte nach Hause.

Den letzten Gedanken an Anna verbannte er in die hinterste Kammer seines Gedächtnisses.

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1

JETTINGEN, ANFANG SEPTEMBER 1366

Hans schlenderte den Weg hinab, der von Augsburg über die alte Salzstraße von Norden her abbiegend auf Jettingen zuführte. Die Hitze des Hochsommers brannte ihm Male auf die Haut. Auf den Feldern brachten die Bauern ihre Trockenernte ein. Die Getreidefelder waren längst abgeräumt, aber das zu Mandeln gebundene Stroh stand noch auf den Äckern zum Trocknen. Auf den Flachsfeldern standen die letzten dürren Raufen.

Die Knechte und Mägde wendeten Heu. Die Bauern luden die Mandeln auf ihre Karren. Allenthalben herrschte die Geschäftigkeit, die der Sommer mit sich brachte. Die Menschen hatten mehr zu tun, als einem Wanderer nachzusehen, der sich auf das Dorf zubewegte.

Einerseits war Hans hochgestimmt, weil er endlich wieder heimischen Boden unter den Füßen hatte, andererseits keimte eine längst vergangene Angst in ihm auf, er würde beschuldigt werden, die Melcher Anna getötet zu haben. Der Schmerz, der durch den Bündelstock und die durch das raue Leinenhemd aufgescheuerten Schultern verursacht wurde, sagte ihm, dass nicht alles so schön sein würde, wie er es sich vorstellte.

Angenehm war es, überhaupt wieder Menschen zu begegnen. Südlich der Alpengipfel, die er noch vor einem Monat links und rechts von sich hatte aufragen sehen, hatte der Schwarze Tod in den Dörfern Ernte gehalten und oft mehr als die Hälfte der Bewohner gefällt. Die Überlebenden waren so scheu, dass er tagelang keine Seele zu Gesicht bekommen und ihn das Gefühl beschlichen hatte, womöglich allein auf Gottes Erde zu sein. Erst nördlich des Gebirges war das Leben in die Dörfer zurückgekehrt.

Er hatte überlegt, über Rieder zu gehen, sich aber dann dagegen entschieden. Das wären noch einmal zwei Tage mehr und ein Umweg durch kaum wegsames Gelände gewesen.

Seit mehr als drei Jahren hatte er keine Nachricht mehr erhalten von Vater und Mutter, von den Brüdern, den Verwandten. Er wollte endlich wissen, wie es ihnen ergangen war. Wenn es dazugehörte, sich gegen einen Vorwurf zu verteidigen, der nicht haltbar war, dann war es eben so. Die Erinnerung an das Unglück, das ihn schneller als geplant fortgetrieben hatte, war verblasst und tauchte nur noch in seltenen Albträumen auf.

Er näherte sich Jettingen von Norden und kürzte den Weg über ein abgeerntetes Flachsfeld ab. Wenn er sich recht erinnerte, gehörte es dem Melcherbauern. Eine seiner Mägde kratzte mit einem Rechen die Reste der bereits eingefahrenen Flachsgarben zusammen und formte daraus einen letzten Haufen. Sie machte ungelenke Schritte, so als würde sie erst seit Kurzem solche Arbeiten verrichten. Es fehlte ihr am Fluss der Bewegung.

»Gott zum Gruß, Jungfer!«, rief er ihr freundlich zu. »Seid ihr aus Jettingen? Sagt mir, leben der alte Fugger Hans und seine Frau noch?«

Die Magd sah hoch und richtete den Blick auf ihn.

Hans keuchte auf, und seine Augen weiteten sich, als er die Verunstaltung in ihrem Gesicht sah. Eine breite Narbe lief vom Kinn über die Wange bis hinauf zur Schläfe.

Die junge Frau senkte den Blick, drehte aber die Narbenseite nicht weg. »Erschreckt nicht. Das war ein Unfall«, sagte sie mit einer Stimme, die Hans sofort ans Herz griff. »Ich beiße nicht, und ich verhexe Euch auch nicht damit.«

Was nicht ganz stimmt, dachte Hans, denn die Stimme, die er hörte, passte so gar nicht zu dem verunstalteten Gesicht.

»Ich … ich glaube Euch sofort.« Er versuchte, seine Verlegenheit durch ein Hüsteln zu verbergen. »Ich komme aus dem Flecken und war über drei Jahre fort. Wisst Ihr, ob die alten Fugger noch leben?«

»Wenn Ihr den alten Hans Fugger meint und seine Frau, die Klara, dann leben sie noch, auch wenn die Hände des Alten langsam knotig werden und steif. Ihr findet sie …«

»Ich weiß, wo ich sie finde«, unterbrach er sie. »Habt Dank!« Hans, der den Blick nicht von ihrer zerstörten Gesichtshälfte wenden konnte, nickte ihr grüßend zu. Zu gern hätte er die andere Seite des Gesichts gesehen, aber das Mädchen drehte ihm nur ihre entstellte Seite zu. »Sagt, habt Ihr auch einen Namen, Jungfer?«

Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. »Glaubt Ihr, nur weil ich vor ein paar Jahren das Pech hatte, mir das Gesicht zu zerfetzen, wäre ich nicht getauft?«

»Nein. Das glaube ich nicht …«

»Schert Euch fort, wenn Ihr es auch nur gedacht habt«, sagte sie, drehte ihm den Rücken zu und arbeitete weiter.

Hans blieb dennoch stehen und betrachtete sie. Was ihm auf den ersten Blick als Unbeholfenheit vorgekommen war, schien nur auf einer schiefen Beinstellung der linken Seite zu beruhen.

»So … so habe ich das nicht sagen wollen. Ich … mir …«, stotterte er. Hans atmete tief ein, denn das, was er sagen wollte, schwemmte etwas in ihm hoch, was er drei Jahre lang hatte unterdrücken können. Dann gab er sich innerlich einen Ruck. Die Magd würde ihn ohnehin nicht verstehen. »Eure Stimme …«, sagte er leise.

Die Magd hörte auf, mit dem Holzrechen die dürren Halme der zurückgebliebenen Flachsstreu zusammenzukratzen. »Was ist mit meiner Stimme? Gefällt sie Euch so wenig wie mein Gesicht?«

»Im Gegenteil. Eure Stimme erinnert mich an einen … einen lieben Menschen, den ich zurückgelassen habe, als ich aufgebrochen bin.«

Die Magd wandte ihm wieder ihre entstellte Seite zu. »Und wer soll das gewesen sein?«, hakte sie nach.

»Ist das so wichtig?«, fragte er. »Das Mädchen hat sicherlich geheiratet und jetzt schon das zweite oder dritte Kind.«

Die Magd sagte nichts, sondern stützte sich auf ihren Gabelrechen. »Sagt, von wem sprecht Ihr?«

Hans winkte ab und sah hinüber ins Dorf. »Ich will die Alten nicht warten lassen«, antwortete er.

»Sie haben über drei Jahre gewartet, die Alten, da kommt es jetzt auf die paar Augenblicke nicht mehr an, Hans Fugger«, sagte die Magd.

Verblüfft sah Hans sie an. »Woher wisst Ihr …«

»Glaubt Ihr, ich erkenne Hans Fugger nicht, wenn er mich auf dem Flachsfeld anspricht? Auch wenn er drei Jahre weg gewesen ist?«

»So ist das«, sagte er nur. Es war ihm peinlich, dass die junge Frau ihn sofort erkannt hatte. Er schulterte sein Bündel, das an einem Stecken hing, und verzog das Gesicht.

»Schmerzen?«, fragte sie und trat auf ihn zu. Wieder vermied sie es, ihm ihre nicht entstellte Seite zu zeigen.

»Der Stock und das Hemd. Leinen ist eben rau.«

Mit einer geschickten Bewegung streifte sie das Hemd von seiner freien Schulter. »Das muss wehtun!«, sagte sie. »Ihr habt Euch offenbar beide Schultern aufgescheuert.«

»Ich werd’s überleben. Selbst als Meister kann ich das Leinen nicht so weben, dass es nicht scheuert«, entgegnete er.

»Ihr nicht«, sagte sie ruhig und rieb den Leinenstoff zwischen den Fingern. »Aber ich!«

Hans ging auf diese Bemerkung erst gar nicht ein. »Für die Walz brauche ich Kleidung, die nicht so schnell verschleißt wie Baumwolle.«

»Ich spreche nicht von Baumwolle«, sagte die Magd. »Hier, fasst meinen Rock an. Fühlt Ihr den Unterschied?«

Hans trat einen Schritt zurück.

»Was ist?«, fragte die Magd. »Graust es Euch vor mir?« Das braune Auge in ihrem zerstörten Gesicht musterte ihn spöttisch. »Getraut Euch ruhig.« Sie nahm seine Hand und führte sie an den Kragen ihres Kleides. Widerwillig ließ er es geschehen.

»Was soll es anderes sein als Leinen?«, murmelte er, doch dann rieb er den Stoff zwischen den Fingern. Er ließ sein Bündel zu Boden fallen und befühlte mit beiden Händen ihren Kragen. »Was ist das für ein Stoff?«

Die Magd lachte. »Da seid Ihr drei Jahre durch die Welt gezogen und habt nicht bemerkt, dass sich die Dinge ändern?«, fragte sie. »Ihr dürft jetzt wieder loslassen«, setzte sie hinzu, »wenn Ihr mir nicht das Kleid vom Leib reißen wollt.«

Hans zog die Hände so rasch zurück, als hätte sie ihm auf die Finger geschlagen. »Entschuldigt«, flüsterte er und räusperte sich. »Woher kommt dieser Stoff? Woraus ist er gemacht? Wer hat ihn gewebt?«

»Welche Frage soll ich zuerst beantworten, Hans Fugger?«, fragte sie lachend.

Ihre selbstbewusste Art brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen. »Ihr habt recht. Ihr wohnt beim Melcherbauern?«

»Dem Dorfschulzen? Ja.«

»Ah, Dorfschulze ist er mittlerweile. Anscheinend hat sich wirklich so einiges geändert. Wie geht es der Anna, seiner Tochter?«

Hans biss sich auf die Lippen. Er hätte das nicht fragen wollen und nicht fragen sollen. Er war ihm herausgerutscht, weil ihn die Gegenwart dieser Magd, ihre Stimme und selbst ihr Duft, der sich immer wieder durch den eher bitteren Geruch der trockenen Flachsstängel stahl, völlig vereinnahmte.

»Die Melcher Anna? Habt Ihr denn nichts von ihrem … ihrem Schicksal gehört?«

Hans schluckte und schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang heiser, als er antwortete. »Nein. Was ist denn mit ihr geschehen?«

Die Magd sah ihn an, als wolle sie ihm etwas mitteilen, doch dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf. »Ich muss weiterarbeiten. Da unten kommt der Karren.« Sie deutete auf einen Handkarren, den eine Frau mit Schulterriemen zu ihnen heraufzog. »Bis er hier oben ist, muss ich fertig sein. Fragt Euren Vater. Er wird es wissen und Euch erzählen. Gehabt Euch wohl. Und wegen des Stoffs – ich komme Euch besuchen!«

Sie wandte ihm den Rücken zu und begann wieder mit ihren fegenden Bewegungen.

Hans wusste nicht recht, was er mit dieser Begegnung anfangen sollte. Er blieb noch eine Weile stehen und betrachtete den Rücken der Magd, unschlüssig darüber, ob er sie noch einmal ansprechen sollte. Gleichzeitig versuchte er, ihr Alter zu erraten. Dann endlich ging er weiter hinunter ins Dorf.

Auf halbem Weg traf er auf den Karren. Schon aus einiger Entfernung glaubte er, die Frau, die sich eingespannt hatte, zu erkennen. Als er beiseitetrat, um sie an sich vorbeiziehen zu lassen, erkannte er die Melcherin, Annas Mutter. Sie hob den Kopf, um den Fremden zu betrachten. Zuerst runzelte sie nur die Stirn, doch dann weiteten sich ihre Augen, und sie starrte ihn an, als würde sie ihm Pest und Hölle auf den Leib wünschen. Sie presste die Lippen zusammen, sagte aber kein Wort.

Hans stand da wie gelähmt. Wäre es nicht die Melcherin gewesen, hätte er der Frau geholfen, den Karren nach oben zu schieben. So aber war er unfähig, sich auch nur zu rühren.

»Gott zum Gruße«, murmelte er mit gesenktem Kopf.

»Dass du auch nur den Namen Gottes in den Mund nimmst, Teufel, ist eine Sünde«, hörte er sie zischen. Es konnte aber ebenso gut eine Einbildung gewesen sein, denn die Alte blieb nicht stehen, wandte sich nicht um. Hans gab sich einen Ruck und lief weiter.

Je näher er Jettingen kam, desto deutlicher wurde der gärende Geruch der in Wasser eingelegten Flachsbündel. Er durchquerte das Dorf und ließ den Blick über die Höfe links und rechts der Straße schweifen. Er bog nach Osten ab und stand schließlich vor der Kate seines Vaters.

Er zögerte. Das Bündel schmerzte auf der aufgescheuerten Schulter, als müsste es ihn daran erinnern, wie weh ihm der Abschied damals getan hatte. Aus dem Inneren des Hauses drang das Schlagen zweier Webstühle. Er fasste Mut und machte einen Schritt auf das geduckte Haus zu.

Kurz bevor Hans die Hand heben konnte, um an die Tür zu klopfen, öffnete sie sich, und ein junger Mann stand auf der Schwelle.

»Was wollt Ihr? Maulaffen feilzuhalten ist keine Tätigkeit für einen Weber. Wenn Ihr Arbeit sucht, hier gibt es keine, und wenn Ihr uns auf der Tasche liegen wollt, kann ich nur sagen, die Taschen sind leer.«

Hans ließ den Wortschwall über sich ergehen. Dann lachte er laut auf. »Ulin? Bist du das, Ulin Fugger? Mensch, Ulin, wie groß du geworden bist, Herrgott, wie viel Zeit vergangen ist! Und Klaus, lebt der auch noch?«

Hans trat auf den verblüfften jungen Mann zu und schloss ihn in die Arme.

*

Er hatte sie nicht erkannt, so viel war sicher. Anna wagte nicht, sich umzudrehen und ihm hinterherzusehen. Sie horchte auf die Schritte, die sich entfernten und auf den abgemähten Stoppeln knirschende Geräusche verursachten, als wäre das Getriebe der Welt noch nicht ganz wieder eingerastet. Und das war es auch nicht.

Sie hatte nicht erwartet, Hans jemals wiederzusehen.

Das Quietschen von Karrenrädern riss sie aus ihren Gedanken. Ihre Mutter kam, um die restlichen Flachshalme abzuholen.

»Hast du ihn gesehen?«, begrüßte sie ihre Tochter aufgeregt. »Dass sich der Kerl überhaupt wieder hierher traut!«

Die Melcherin trat vor ihre Tochter und stemmte die Hände in die Hüften. »Du musst den Vater benachrichtigen«, fauchte sie. »Der Fugger soll für das zahlen, was er getan hat. Schau dich an …«

»Mutter!«, rief Anna. »Hör auf. Wir haben das schon hundertmal durchgesprochen …«

»Warum nimmst du ihn in Schutz?«

Anna seufzte. Seit über drei Jahren führten sie dieses Gespräch. Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war.

Ihre Rettung hatte sie sich erzählen lassen müssen. Ihre Mutter hatte den Vater dazu gedrängt, nach ihr zu suchen. Das Verhalten des jungen Fuggers war ihr aufgefallen. Er hatte angespannt gewirkt, nervös, hatte ihr bei der Begegnung kurz nach Annas Unfall nicht in die Augen sehen können. Sein verdrecktes Aussehen hatte sie stutzig gemacht. Für ihre Mutter war es ein Alarmzeichen gewesen – und sie hatte so lange nicht damit aufgehört, ihren Mann zu beknien, bis der Webstuhl und Landwirtschaft links liegen gelassen und sich mit einem Knecht auf den Weg gemacht hatte.

Zuerst hatten sie im Auwald nach ihr gesucht, dann aber, als sie nicht fündig geworden waren, oben am Weinberg nachgesehen. Es war schon dämmrig gewesen, als ein Knecht die unfertigen Reisigbündel entdeckt hatte. Von dort war es zur Trichtergrube nicht mehr weit gewesen. Beinahe hätten sie den verrenkt in der Grube liegenden Körper nicht bemerkt, sagte ihre Mutter immer wieder. Wenn Annas Blick zufällig den ihres Vaters traf, dann sah sie darin bis heute noch immer den maßlosen Schrecken, sie beinahe nicht entdeckt zu haben. Er hatte schon in die Grube geschaut, sie dort übersehen und war auf dem Weg zur nächsten gewesen. Nur ihr Stöhnen hatte ihn zum Loch zurückgeholt. Sie hatten eine Lampe zu ihr hinabgelassen, und dann war ihr Vater hinuntergestiegen und hatte sie mühsam hochgeholt.

Weder an ihr Schreien noch an ihre offenen Augen, als sie das Tageslicht wieder erblickte, konnte sie sich erinnern. Ihr Vater erzählte, sie sei den gesamten Weg hinab ins Dorf bei Bewusstsein gewesen und habe vor sich hingeredet, davon geplappert, dass sie gestolpert sei, dass sie den Boden unter den Füßen verloren habe, dass sie schuld sei an dem Unglück. Das alles gehörte zu der Geschichte, die sie immer wieder von der Mutter zu hören bekam. Und den Vorwurf, sie hätte ruhig den Namen des Kerls nennen können, der ihr das angetan hatte, nämlich Hans Fugger. Doch den habe sie kein einziges Mal ausgesprochen.

Das Kleid war zerrissen, der linke Arm gebrochen gewesen, das linke Bein ebenfalls. Es war nicht wieder richtig zusammengewachsen, weshalb sie hinkte. Die eine Hälfte ihres Gesichts war für immer durch eine hässliche Narbe entstellt. Sie war so unansehnlich, dass die Dorfjungen nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten.

Lange waren die Erinnerungen nur ein Nebel gewesen, der alles verschleierte und sie im Unklaren über die wahre Begebenheit ließ. Erst langsam kamen sie zurück – und je mehr sie sich erinnerte, desto stärker wehrte sie sich gegen das, was ihre Mutter aus der Geschichte machte. Sie hatte den jungen Fugger gelockt, sie hatte ihn gewähren lassen, sie war vor ihm davongelaufen …

Anna holte tief Luft. »Ich muss ihn nicht in Schutz nehmen. Er hat nichts getan, was …«

Ihre Mutter unterbrach sie barsch. »Glaubst du, ich weiß nicht, was zwischen Männern und Frauen geschieht? Glaubst du, ich kann mir nicht zusammenreimen, warum er dich in die Grube gestoßen hat?«

»Er hat mich nicht gestoßen«, entgegnete Anna matt.

»Er wollte nur vertuschen, dass er dir das Kleid zerrissen …«

»Hör auf!«, fuhr Anna ihrer Mutter ins Wort. »Er hat nichts gemacht, also musste er auch nichts vertuschen. Ich bin beim Reisigsammeln in dieses Loch gerutscht. Hans war nicht dabei! Vielleicht hat er mich schreien hören. Vielleicht hat er nach mir gesucht. Womöglich hat er mich ebenso übersehen, wie Vater mich beinahe übersehen hätte.« Sie holte kurz Atem und sagte dann den Satz, der seit Jahren dieses Streitgespräch beendete: »Du bist nicht mal mitgelaufen, um mich zu suchen!«

Ihre Mutter blickte mit zornrotem Gesicht zu Boden. Ihre Kiefer mahlten. Diesmal ließ sie sich nicht in die Schranken einer unausgesprochenen Schuld weisen. »Warum hat er dann das Dorf fluchtartig verlassen?«

Wieder seufzte Anna. »Er wollte weiterlernen. Er hatte es mir schon gesagt.« Sie zögerte einen Moment, weil das eine Lüge war. Vielleicht hatte er es ihr erzählen wollen, dazu gekommen war er nicht mehr. »Er war womöglich auf dem Weg zum Weinberg, um mir Lebewohl zu sagen, hat mich aber nicht mehr angetroffen.«

Ihre Mutter schnaubte.

Anna wusste, sie würde ihr niemals glauben und Hans Fugger immer beschuldigen, für ihr Unglück verantwortlich zu sein. Dabei traf nur sie selbst eine Schuld daran.

Sie warf die letzten Gabeln mit Stängeln auf den Karren und den Rechen gleich hinterher. Dann stellte sie sich hinter den Karren. Es war noch eine ganze Menge Halme, die sie aufgelesen hatte. Aber ob die Menge sie durch den Winter bringen würde, bezweifelte sie. Irgendwann im Januar, Februar würde der Faden ausgehen und die Webstühle würden stillstehen wie jedes Jahr.

Anna wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, mehr anzubauen, die Felder zu vergrößern. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte sie und drückte den Gabelrechen tiefer in den Karren. Die Mutter streifte wieder die Schulterriemen über und zog an.

2

MARKT JETTINGEN, ANFANG SEPTEMBER 1366

Anna wühlte in den Ballen, die ihr Vater für den Verkauf gestapelt hatte. Dass es der unterste sein musste, war klar. Nur sie hatte immer das Pech, die schlechtesten Bedingungen vorzufinden. Sie musste bei Regen aus dem Haus, sie verlor ihre Nadel, ihre Webfäden rissen.

Mit aller Kraft zog sie an dem Ballen und schaffte es tatsächlich, ihn aus dem Stapel hervorzuzerren. Acht Ellen Gewebe, eine Mischung aus Baumwolle und Leinen. Sie ließ ihre Hand darüber gleiten. Es fühlte sich weich und angenehm an und war dennoch fest wie normales Leinen.

Sie schulterte den Ballen und trug ihn unbemerkt in ihre Kammer. Mit einem Kreidestein zeichnete sie die Stoffteile an, die sie für ein Hemd brauchte. Sie maß die Größe an einem zerschlissenen Hemd des Vaters.

Mit der Schere die Muster auszuschneiden war nicht so einfach, da sie den Stoff mit der linken Hand nicht richtig festhalten konnte. Der gebrochene Arm war zwar verheilt, aber sie hatte nur noch halb so viel Kraft darin. Es war eine schweißtreibende Angelegenheit. Außerdem musste sie heimlich Mutters Nadel und Faden nehmen. Sie schwor sich, wenn der nächste Judenkramer durchs Dorf käme, sich eine eigene Nadel zu kaufen.

Mit jedem Stich, den sie setzte, mit jedem Faden, den sie einfädelte, überlegte sie sich, wie sie Hans gegenübertreten sollte. Hatte er mittlerweile davon erfahren, dass sie noch lebte? Hatte man es ihm gesteckt? Natürlich wusste sie, wie er als Mann auf sie reagieren würde: ablehnend. Eine derart verunstaltete Person, wie sie es war, würde er nicht einmal mehr ansehen, obwohl ihr sein Zögern gutgetan hatte, als er sich an ihre Stimme erinnerte. Jedenfalls hoffte sie, es sei ihre Stimme gewesen. Die ganze Zeit über überlegte sie, warum sie ihm dann dieses Hemd nähte. War es verletzter Stolz, der sie trieb, oder etwas anderes? Natürlich hatte ihr Herz an dem Tag, als sie ihn auf dem Flachsfeld erkannt hatte, einen Sprung getan. Doch in den letzten drei Jahren war viel geschehen. Konnte sie einfach die Zeit zu dem Tag zurückdrehen, an dem sie in die Trichtergrube gestürzt war? Ja. Sie hatte ihn begehrt. Ja. Sie hatte ihn geliebt. Aber war das noch immer so? Drei Jahre waren für Gefühle eine lange Zeit. Sie musste sich erst einmal klar werden, was sie jetzt für ihn empfand.

Nach drei Tagen, in denen sie nur in den Abendstunden und bis spät nachts bei Mondschein hatte nähen können, war sie fertig. Das Hemd war zwar keine Schneiderarbeit, aber das musste es auch nicht sein. Sie hatte es bei einem Vollmond genäht, dessen helles Licht die Welt so verzaubert hatte, dass es ihr immer, wenn sie aufblickte, erschien, als wäre Schnee gefallen. Es war ein magisches Licht gewesen, und vielleicht war ein wenig dieser Magie in die Stiche und das Gewebe geflossen.

Als sie das fertige Hemd zusammenrollte und unter ihr Bett schob, stand der Mond wie eine gewaltige silberkühle Scheibe am Himmel und war von einem Ring von so kaltem Licht umgeben, dass es sie gruselte.

Anna stellte sich ans Fenster, hielt ihm die zerstörte Seite ihres Gesichts hin und flüsterte, er solle sie wieder heilen. Mehr wolle sie nicht. Mit ihrem Arm und dem Bein, mit dem Hinken käme sie zurecht. Aber diese Narbe solle er fortnehmen, weil sie zwei Menschen aus ihr mache, je nachdem, von welcher Seite man sie betrachte. Sie schloss die Augen und drehte den Kopf so, dass die entstellte Wange und Schläfe dem Mondlicht ausgesetzt waren. Sie schöpfte etwas Hoffnung, als sie ein Prickeln und Jucken fühlte, als striche eine kalte Hand darüber und ebne die Narbenränder. Doch als sie die Augen öffnete und mit der Hand über die Gesichtshälfte fuhr, wurde ihr wieder bewusst, dass keine Magie ihr zu helfen vermochte. Einzig sie allein konnte sich helfen. Niemand sonst. Und der erste Schritt war, dass sie sich so annehmen musste, wie sie war.

Sie schloss die Läden, legte sich ins Bett und starrte an die Decke. Sie lebte, und sie hatte beide Augen und einen Verstand. Wenn sie nicht zu den Schönheiten zählte, musste sie eben mit anderen Gaben wuchern.

Mit diesem Gedanken schlief sie ein und wurde einige Stunden später vom Muhen der Kuh geweckt. Diese hatten sie »die Wilde« getauft, weil das Tier über ein ordentliches Temperament verfügte. Sie sprang aus dem Bett, wusch sich kurz, schlüpfte in die Kleidung und legte sich das Hemd als Bündel zurecht. Zuerst musste sie Feuer machen und die Kuh melken, dann würde sie Hans aufsuchen.

Vier Tage war es mittlerweile her, und sie musste froh sein, wenn er überhaupt noch im Dorf war. Sie war erstaunt darüber, dass sie nichts von ihm gehört hatte. Als wäre er gar nicht zurückgekehrt. Sonst war der Dorftratsch schneller, als man laufen konnte. Aber keiner sprach über Hans. Anna ahnte, warum das so war. Das Dorf hielt gerade den Atem an, lauerte, wann sie auf ihn oder er auf sie treffen würde. Die Leute erwarteten Mord und Totschlag.

Anna fuhr sich durchs Haar und versuchte, ihre gute Seite im Spiegel des Wassers zu erkennen, was jedoch misslang. Sie würde dem Tratsch einen Strich durch die Rechnung machen.

Sie trat vor die Tür, nachdem sie das Feuer angeschürt hatte. Das Bündel hatte sie in den Melkeimer gesteckt, den sie im Arm hielt.

»Hast du die Kuh schon gemolken?«, begrüßte ihre Mutter sie, die, ihren schwarzen Händen nach zu schließen, gerade vom Backofen kam. »Du kannst mir nachher beim Brotbacken helfen.«

Anna nickte, obwohl sie wusste, dass sie dafür zu spät kommen würde. Sie hielt den Eimer so, dass ihre Mutter nicht sehen konnte, was er enthielt.

Die einzige Kuh im Stall des Dorfschulzen muhte bereits jämmerlich. »Eil dich«, drängte Annas Mutter. »Die Wilde wird unruhig.«

*

»Ich will nicht mein Leben lang hinter dem Webstuhl sitzen, mir den Rücken krummarbeiten und mir schließlich einen Bluthusten einfangen, an dem ich elend zugrunde gehe.«

Das regelmäßige Klappern des Tritts füllte den Raum, und auch die Gleichmäßigkeit, mit der sein Vater das Schiffchen schnellen ließ und von der einen Seite zur anderen schoss, beeindruckte Hans. Überhaupt war er erstaunt, wie gleichmäßig gewebt die Tücher des Alten waren – und das hatte in ihm wieder einen Wunsch wachgerufen, den er seit Straßburg und Frankfurt hegte.

»Du bist dir wohl zu schade für ein ordentliches Handwerk«, schimpfte sein Vater, ohne dass seine Konzentration auch nur einen Wimpernschlag lang nachließ. In einem weichen, kraftsparenden Rhythmus klapperten die Tritte, schlug das Brett und sauste das Schiffchen. Es war eine beruhigende Melodie, die jedoch einen zusätzlichen, noch kaum wahrnehmbaren, aber dennoch ernsten Hintergrund hatte: das beständige Hüsteln des Vaters und sein schwerer Atem.

»Gicht in den Fingern von der Feuchtigkeit und Blut im Spucktuch sind nicht meine Zukunft, Vater.«

Dieser hielt mit seiner Arbeit inne, öffnete das Schloss, drehte den Stoffbaum, rollte das Tuch auf den Warenbaum, verriegelte das Schloss wieder und spannte die Fäden. Auch diese Bewegungen waren fließend, und der Alte musste dafür nicht einmal aufstehen. Schließlich setzte die Melodie des Webens wieder ein, das Klack, Klack, Tschuck, Teng der unterschiedlichen Abläufe – und Hans wusste, spätestens jetzt hätte der Vater zu singen begonnen, wenn er nicht danebengestanden hätte. Gesang glättet das Tuch, hieß es, weil die Lieder den Weber gleichmäßiger arbeiten ließen.

»Ich will nicht den ganzen Tag in dieser feuchten Höhle hocken und das Schiffchen spritzen lassen«, beharrte Hans.

Sein Vater sagte nichts. Hans merkte dem regelmäßigen Klacken und Klicken keine Unregelmäßigkeiten an, und dennoch begann der alte Fugger zu fluchen. Auf dem Tuch zeichneten sich dichtere und lockerere Stellen ab. Der alte Weber arbeitete nicht mehr gleichmäßig genug.

Er unterbrach seine Arbeit und wandte sich in der typischen Weberhaltung, dem gebeugten Rücken und dem nach vorn gestreckten Kopf, seinem Sohn zu. »Und womit willst du deinen Unterhalt verdienen? Glaub nicht, dass du mir hier auf der Tasche liegen kannst. Es reicht kaum für uns. Wenn wir die Landwirtschaft nicht hätten und …«

»Ich werde mit Tuch handeln!«, unterbrach ihn Hans.

Sein Vater sah ihn kopfschüttelnd an. »Du willst tatsächlich mit der Kraxe und ein paar Tüchern durch die Weltgeschichte laufen und so dein Tuch verkaufen wie die Krämer, die immer wieder durchs Dorf kommen? Hast du dir die schon mal genau angesehen? Hungerleider wie wir. Oft nur von ihrer Kleidung zusammengehalten, sonst würden die Knochensäcke, die sie sind, auseinanderfallen.«

»Weben allein ernährt auch nicht«, entgegnete Hans.

»Aber man verhungert nicht damit«, war alles, was der alte Fugger dazu zu sagen hatte.

»Kann ich in die Kate der Großeltern ziehen?«, fragte Hans. »Sie steht doch leer, oder?«

Sein Vater nickte. »Sie hätten dich gern noch einmal gesehen …« Er schluckte. »Räum das Häuschen auf. Der alte Webstuhl ist nur auseinandergenommen, die Teile liegen im Schuppen hinterm Haus. Man muss ihn nur etwas erneuern, dann funktioniert er wieder. Ein guter Stuhl.« Er hob den Kopf und sah seinen Sohn an. »Und eine gute Entscheidung. Wer den ganzen Tag müßiggeht, verliert sich irgendwann.«