Die Herrin der Wörter - Peter Dempf - E-Book
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Die Herrin der Wörter E-Book

Peter Dempf

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Beschreibung

Das Nichts droht Phantásien zu verschlingen, so berichtet die »Unendliche Geschichte« von Michael Ende. Und mit dem Nichts kehren zwei finstere Wesen ins Reich der Kindlichen Kaiserin zurück: der Sammler und der Alp. Zur selben Zeit zerfällt die Welt der Nebelzwerge. Einst reisten sie durch Phantásien, sammelten Geschichten und ergründeten die Geheimnisse hinter den Wörtern. Wer ihren Erzählern zuhörte, wandelte buchstäblich in den Reichen der Phantasie. Seit der Sammler ihnen die Worte und Erinnerungen stiehlt, ziehen sie nicht mehr durch Phantásien. Kiray soll die Nebelzwerge vor dem Sammler retten. Ausgerechnet sie, das Mädchen, dessen Zunge wohl nie die Kraft der gesprochenen Worte zu wecken vermag. Denn Kiray stottert. Die Einzige, die ihr helfen könnte, wäre wohl die machtvolle Herrin der Wörter. Aber gibt es sie wirklich? Und falls ja, wo verbirgt sie sich? Auf die Suche nach der legendären Herrin erkundet Kiray die wundersamsten Orte Phantásiens: das Grollgebirge, die Stadt der Denker, das Kloster, das aus geschriebenen Geschichten besteht … Dabei lebt das Mädchen in ständiger Furcht vor dem Alp. Doch allmählich kommen Zweifel auf. Ist er wirklich ihr Feind? Wen oder was muss sie tatsächlich fürchten? Von der Antwort hängt nicht allein Kirays Schicksal ab. Denn verstummen die Nebelzwerge, stirbt auch Phantásien. »... aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.« Sechs deutsche Autoren haben sich diesem bekannten Satz aus Michael Endes »Die unendliche Geschichte« angenommen. In der Tradition von Michael Ende unternehmen sie in der Reihe »Die Legenden von Phantásien« spannende Entdeckungsreisen in die Welt der Phantasie: Ralf Isau, Tanj Kinkel, Ulrike Schweikert, Wolfram Fleischhauer, Peter Freund und Peter Dempf erzählen die aufregenden Geschichten eines grenzenlosen Reiches.

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Peter Dempf

Die Herrin der Wörter

Die Legenden von Phantásien

Roman

»Ich glaube an die Wunder der Worte, die in der Welt wirken und die Welten erschaffen.« Rose Ausländer

1. Kapitel: Das Kapuzenwesen

Es gibt Ereignisse, die man nicht glauben kann, auch wenn man sie selbst erlebt.

Kiray horchte auf das Echo, das vom Waldrand zurückgeworfen wurde. Als es ihre Ohren wieder erreichte, unmelodisch und abgehackt, liefen ihr Tränen über die Wangen und ihre Lippen bebten. Eine Schande war es für eine Nebelzwergin und eine Schmach für das Dorf, das sie für ihr Stottern verachtete. Sie setzte sich auf den Boden und legte das Gesicht in beide Hände. Was war so schwierig an ganz normalen Wörtern, dass sie diese nicht über die Lippen brachte? Ein Schmerz stach ihr vom Herzen in den Bauch hinein und ließ sie aufschluchzen. Alle in ihrem Dorf redeten wie die Wasserfälle von Rond, nur sie selbst stolperte über jede Silbe. Heiß überlief es sie wieder, heiß perlten Tränen über ihr Gesicht und befeuchteten ihre Hände. Ihr Sprechen war ein einziges Kicksen und Würgen und Stammeln. Und dabei war sie eine Nachfahrin des berühmten Molte Gurn!

Sie spuckte den Stein aus, den sie sich extra auf die Zunge gelegt hatte. Ihr Mundraum und die Zunge sollten sich an die Schwierigkeit gewöhnen, Wörter zu artikulieren. Den Trick hatte ihr der Uralte Jorg verraten. Denn nichts wollte sie lieber, als frei und unbeschwert den Mund auftun und Wörter aussprechen, Sätze bilden, mit ihren Freundinnen und Freunden zusammensitzen und erzählen – und nicht über jede Silbe stolpern.

Ein schriller Ruf ließ sie aufhorchen. Sie sah nach oben, wo der schwarze Nebelfalke saß: Andar warnte sie. Kiray wischte sich das Wasser aus den Augen. Vorsichtig spähte sie umher. Sie hatte sich gefährlich weit von ihrem Dorf entfernt. Der Wald wimmelte von Geschöpfen, denen man lieber nicht begegnete. Wieder rief Andar. Er hatte sich auf einer Zinnentanne niedergelassen, die sich einzeln und gewaltig inmitten der Wiesenfläche erhob. Der Nebelfalke hielt seinen Kopf schief. Offenbar beobachtete er etwas. Aber so angestrengt Kiray danach spähte, sie erkannte nicht, was er sah.

Unruhe packte sie. Plötzlich musste sie an die Worte des Uralten Jorg denken. Als sie heute aufgebrochen war, hatte er sie gebeten, sich nicht allzu weit in den Wald zu wagen. Dort geschehe in letzter Zeit Merkwürdiges. Etwas schleiche umher. Sie hatte seinen Rat unwirsch in den Wind geschlagen. Jetzt fühlte sie ein Unbehagen, das ihr Gesicht erhitzte.

Andar trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und schlug mit den Flügeln. Irgendwo unter ihm in der trägen Dunkelheit des Waldes lauerte eine Gefahr. Kiray wagte nicht, die Augen zu schließen und zu lauschen. Nervös ließ sie ihren Blick schweifen und vertraute darauf, dass man eine Nebelzwergin, die am Boden saß, kaum vom Untergrund unterscheiden konnte. Von gegenüber schlug noch immer schwach ihr eigenes Echo zu ihr zurück, zum dritten oder vierten Mal, abgehackt und entstellt.

Kiray spürte es zuerst. Sie war nicht mehr allein. Um sie her vibrierte die Luft, als wäre sie vom Flügelschlag eines Vogels bewegt worden. Kiray strich sich ihr dunkles Haar aus dem Gesicht. Etwas war anders geworden. Ihre Hand begann zu zittern. Die feinen Härchen auf den Armen und im Nacken stellten sich auf.

Am Waldsaum gegenüber erschien ein Flecken Nichts. Aus diesem Flecken kroch in Spiralen eine Art Rauch, als müsse er erst in diese Welt geblasen werden. Schwer und dunkel legte er sich auf den Wiesenboden und bedeckte bald eine kleine Fläche des Waldrains.

Noch nie hatte sie Derartiges gesehen. Langsam drückte sie sich in das Gebüsch in ihrem Rücken, bis sie ganz von den Blättern verborgen wurde. Ihre Knie zitterten und die Hand ließ sich nicht beruhigen. Was geschah dort vor ihr? Hatte sie nicht gelernt, dass das Nichts die Dinge nur verschluckte, dass sich Wesen Phantásiens sogar selbst dort hineinstürzten? Nie war die Rede davon gewesen, dass aus diesen blinden Flecken etwas zu ihnen gelangte. Ihr Kopf sagte ihr, sie solle weglaufen – und doch hielt die Neugier sie fest.

Inzwischen verdichtete sich der schwarze Nebel, der aus dem Nichts strömte, zu einem Wirbel. Schneller und schneller drehte er sich, bis sich unvermittelt die Umrisse einer Gestalt zeigten. Kiray biss sich auf die Lippen und schluckte. Jetzt wäre noch Zeit gewesen, zurück nach Nifeln zu laufen, aber sie war wie gelähmt und starrte nur immerzu auf den Wirbel um die sich formende Gestalt.

Mit jedem Augenblick gewann das Wesen an Kontur. Es ähnelte keinem der Geschöpfe, die sie kannte. Sie sah nur lange, feingliedrige Hände mit Krallenfingern, die aus den Ärmeln eines Kapuzenmantels herausstachen. Der Rest des Körpers verschwand unter einem eng anliegenden schwarzen Gewand. Das Wesen hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, die übergangslos aus dem Mantel hervorging. Wo das Gesicht sein sollte, klaffte ein Loch. Das Kapuzenwesen war regelrecht von diesem Nichts ausgespuckt worden. Aber das war unmöglich. Kein Phantásier, der sich einmal in das Nichts hineingestürzt hatte, kam von dort zurück, hatte der Uralte Jorg erzählt.

Sie wischte sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht. Schweiß lief über ihre Stirn und sammelte sich in den dichten Brauen. Kalt war er und klebrig.

Die Gestalt stand reglos da und schien ihre Umgebung zu mustern. Abermals warnte Andar mit einem schrillen Pfiff. Das Wesen drehte den Kopf und sah zu ihrem Nebelfalken hinauf. Der ließ sich, als spüre er die Unruhe, die jetzt auch Kiray packte, mit einem eleganten Satz in die Tiefe fallen. Mit wenigen Flügelschlägen fing er sich, stieg auf, kreiste über dem Wiesengrund und ließ sich erneut auf der Zinnentanne nieder.

Das Kapuzenwesen trat einen Schritt auf die Lichtung hinaus. Wieder wehte Kiray dieser Luftzug an. Eiskalt diesmal. Starr saß sie da und überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Aber sie konnte sich nicht rühren. Ihre Gliedmaßen versagten den Dienst.

Dort, wo das Wesen den Waldschatten verlassen hatte, klaffte der graue Fleck, durch den es gekommen war. Sie fühlte die Bedrohung, die davon ausging. Ein unnennbarer Schrecken. Ihr Herz begann zu flattern. So nah war sie dem Nichts noch nie gewesen.

Während sie auf den Fleck starrte, fühlte sie, wie die Angst nach ihr griff, als packe eine eiskalte Hand sie im Nacken. Eine Ahnung beschlich sie, was dieses Wesen suchte, und sie wurde starr vor Schreck. Das Wesen war ihretwegen gekommen. Plötzlich drehte es den Kopf und blickte zu ihr herüber. Mit einer fließenden, kaum wahrnehmbaren Bewegung löste es sich ganz aus dem Schatten des Waldrains und glitt auf sie zu. Allein dieses lautlose, geisterhafte Gleiten jagte ihr schmerzende Nadelstiche über den Rücken. Ein gellender Schrei löste sich aus ihrem Mund, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Für einen kurzen Augenblick sah sie in die beiden Augen, die aus dem Dunkel der Kapuze schimmerten, wasserhell und klar.

Gleichzeitig stürzte sich Andar auf die Kreatur. Mit Krallen und Schnabel attackierte er sie, und das Kapuzenwesen schlug mit schnellen Hieben seiner Krallenhände nach dem Nebelfalken. Geschickt entzog sich Andar den Angriffen der schlanken Finger. Der Blick ließ Kiray los. Jetzt musste sie handeln. Mit einem Ruck drückte sie sich rückwärts in den Wald. Dann drehte sie sich um und jagte einen schmalen Pfad entlang, der sich in Windungen durch die dicht stehenden Bäume und das Unterholz schlängelte. Immer wieder schaute sie über die Schulter zurück, ob ihr das Kapuzenwesen folgte. Den Erfolg einer Flucht zu Fuß schätzte sie gering ein. Das Wesen war viel größer als sie und würde sie einholen. Kurze Beine, kurze Arme, alles an ihr war klein und zierlich und ungeeignet für eine schnelle Flucht. Riesenschritte hätte sie machen müssen, Sprünge wie die Unken aus den Dottersümpfen ums Nebelland herum, die jedem Angreifer mit einem Satz aus dem Gesichtsfeld sprangen. Aber sie war keine Unke, sondern eine Nebelzwergin.

Zweige, die in den Weg hingen, kratzten ihr übers Gesicht, Spinnweben mit Fäden so dick wie Nähgarn legten sich über sie und zerrissen mit einem feinen Singen. Die Stämme flogen nur so an ihr vorüber. Je länger sie unterwegs war, ohne dass sie das Wesen hinter sich entdecken konnte, desto ruhiger wurde sie. Mit den Handrücken fuhr sie sich über die Stirn und strich sich das erdfarbene Haar voller Spinnenfäden aus dem Gesicht.

Plötzlich griff eine Hand nach ihr. Wieder stieß sie einen schrillen Schrei aus. Aber kräftige Arme zogen sie mit einem Ruck vom Pfad und warfen sie in eine Laubschüttung. Dann deckte sie ein Körper zu, drückte sie ins Welklaub, und eine Hand verschloss ihr den Mund. Sie wollte sich wehren, doch eine helle Stimme zischte sie an: »Sei ruhig! Es kommt!«

Sobald sie sich nicht mehr wehrte, lockerte der Fremde seine Umklammerung ein wenig. Eigenartig roch er, nach Gräsern und Erde, nach Wiesen und Weite. Er lag direkt über ihr und bedeckte sie beinahe mit seinem Körper. Trotz aller Angst, die an ihr zerrte, überflutete sie dennoch ein Gefühl der Sicherheit. Instinktiv ahnte sie, dass sie dem Fremden vertrauen konnte. Plötzlich duckte er sich tiefer in die Laubschüttung und flüsterte: »Achtung!«

Kiray konnte es spüren. Das Wesen, dem sie entflohen war, wehte heran wie der Vorbote eines Sturms. Von ihrem Versteck aus sah sie noch ein Stück vom Pfad. Dort tauchte das Schattenwesen auf, blieb stehen, drehte sich einige Male um sich selbst und schnaubte. Es witterte. Sie versuchte flach zu atmen, aber ihr Herz schlug wie eine Trommel und war bestimmt bis auf den Weg hinaus zu hören.

Der Fremde über ihr, dessen Gewicht sie langsam, aber sicher erdrückte, schob eine Hand zwischen sie beide. Er griff nach einem Amulett, das er auf der Brust trug. Dann flüsterte er: »Hau endlich ab. Hier gibt’s nichts zu holen!«

Das Wesen schnaubte einige Male und starrte lange in ihre Richtung. Es wusste offenbar genau, wo sie sich befand, wurde aber von irgendetwas abgehalten. Von dem Fremden? Jedenfalls gab es ein Heulen von sich, als wäre es enttäuscht, warf einen letzten Blick aus wasserhellen Eisaugen auf sie beide und verschwand.

Die Spannung ließ spürbar nach. Der Fremde lag noch immer schwer auf ihr. Kiray bekam zu wenig Luft, weil seine Hand ihr weiterhin den Mund verschloss. Sie wollte gerade dagegen protestieren, als er ihren Mund freigab.

»Das war knapp«, sagte der Fremde.

2. Kapitel: Der Fremde

Der Fremde stand auf und klopfte sich das Laub von der Kleidung. Mit verschränkten Armen wartete er dann, bis sie sich ebenfalls erhoben hatte. Kiray spürte seinen Blick auf sich ruhen. Sie wusste, wie sie aussah, denn manchmal betrachtete sie sich im Wasserspiegel. Und sie gefiel sich durchaus. Dunkelbraune Haare, die glatt über die Schultern fielen, ein fein geschnittenes Gesicht mit vielleicht etwas zu dichten Augenbrauen, aber einem vollen, blutroten Mund und hohen Wangenknochen. Auch ihre Hände gefielen ihr, sie waren schmal und bedeckt mit hellen, feinen Härchen. Nur ihre Größe störte Kiray. In ihren Augen war sie ein wenig klein geraten, etwas gedrungen. Da war der Fremde ganz anders. Weißes Mondlicht beschien blauschwarze Haare, die zu einem Zopf gebunden waren, eine olivgrüne, ein wenig ins Braune reichende Haut und stechende Augen. Gekleidet war er in das rötliche Leder der Purpurbüffel. Außerdem war er mindestens zwei Köpfe größer als sie. Zuletzt fiel ihr Blick auf das Medaillon, nach dem er eben gegriffen hatte: die beiden ineinandergeschlungenen Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen, das AURYN.

»I-ich k-kenne d-das Zei-zei-chen!«, sagte sie und kam sich dumm dabei vor.

Der Fremde lächelte sie an. »Jeder in Phantásien kennt das Zeichen.«

Kiray wollte sich nicht blamieren. Deshalb deutete sie mit dem Finger auf ihn. »Du …«, sagte sie nur, aber der Fremde schien sie zu verstehen.

»Ja. Ich bin der Große Suchende, wenn du das meinst. Ich heiße Atréju. Und du?«

Langsam schloss Kiray die Augen und holte Luft. »Ki-ray«, sagte sie, was tatsächlich wie »Kirei« klang und ihr gut gelungen war. Wenn man seinen Namen nicht mehr aussprechen könne, hieß es bei den Nebelzwergen, gehöre man zu den Tieren. Selbstbewusst strahlte sie Atréju an. »Danke!«

Auch Atréju lächelte, dann strich er ihr mit seiner Hand über den Kopf. »Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.«

Kiray zuckte zurück und schüttelte den Kopf. Sie war kein kleines Kind mehr. »W-woher …?« Sie fiel zurück in ihr altes Leiden und schämte sich dafür.

»Woher ich wusste, dass du kommen würdest? Woher ich wusste, dass du verfolgt wurdest? Ich beobachte dich schon eine ganze Zeit, Kiray.«

In diesem Augenblick stieß Andar, der Nebelfalke, zwischen den Bäumen hindurch und landete auf Kirays Schulter. Kurz zuckte sie zusammen, als die Krallen des Tiers durch ihr Lederwams stachen. Sie streichelte ihm mit den Fingern über die Flügeldecken, während Andar misstrauisch Atréju betrachtete.

»A-andar, mein N-nebelfalke, h-hat dich verraten«, versuchte sie flüssig auszusprechen, stolperte aber beinahe bei jedem Wort.

Diesmal schüttelte Atréju den Kopf. »Nein. Mich hat er nicht entdeckt. Und wenn doch, hätte das AURYN ihm verboten, mich zu melden. Bereits vor dem Auftauchen des Wesens stand ich in deiner Nähe und habe dich beobachtet.«

Kiray blickte ihn verlegen an. Dann hatte er ihre vergeblichen Versuche mitbekommen, ihr Schreien, ihre Tränen, ihre Verzweiflung.

»Was wollte er von dir?«

»W-wer?«, stotterte sie. Ihr Atem ging stoßweise.

»Der Alp. Es war ein Alp, der dich verfolgt hat. Was wollte er?«

Kiray zuckte mit den Schultern.

»Du bist nicht sehr gesprächig.« Atréju lächelte sie an und Kiray lächelte verschämt und etwas schief zurück, während das Blut ihr das Gesicht entflammte. Langsam schüttelte sie den Kopf.

»Komm. Wir müssen weg von hier. Ich glaube zwar nicht, dass der Alp zurückkehrt, aber diese Wesen sind unberechenbar.«

Atréju reichte ihr die Hand und zog sie weiter ins Dickicht hinein. Er bewegte sich so geschickt durch den Dschungel, als hätte er sein ganzes Leben in dichten Wäldern verbracht. Geschmeidig und trittsicher. Auf dem gesamten Weg sprach er über sich und seine Mission. Dass er einen Retter nach Phantásien führen müsse, dass er nicht wisse, wie ihm das gelingen solle, dass er auf seinen Glücksdrachen warte. Immer wieder half er Kiray über umgestürzte Baumstämme, die im Dämmer des Waldes bläulich schimmerten. Eine ganze Zeit liefen sie stumm nebeneinander her, und Kiray wunderte sich, dass sich Atréju zielsicher in Richtung Nifeln bewegte.

Plötzlich blieb er stehen und setzte sich auf die hoch aufragende Wurzel einer Zinnentanne. Er betrachtete sie lange, musterte sie von oben bis unten, und Kiray wäre beinahe vor Verlegenheit in den Boden versunken. Ihr Blick wanderte zum AURYN, das um seinen Hals baumelte.

»Du bist eine Zwergin, nicht?«

O ja, das war sie. Eine Zwergin. Eine Nebelzwergin. Was sie ihm jetzt nicht alles sagen wollte. Dass sie aus dem Geschlecht der Gurn stammte, dem berühmtesten Geschlecht der Nebelzwerge, dass aus ihrem Geschlecht in früherer Zeit sogar Könige hervorgegangen waren, dass es in ihrem Dorf noch immer die führenden Erzähler und großen Wanderer stellte, dass es große Abenteurer unter ihren Vorfahren gegeben hatte, dass dem Geschlecht der Gurn Mut und Tapferkeit nachgesagt wurde und dass sie Wörter kannten, die längst aus den Köpfen der anderen Zwerge verschwunden waren und deren Bedeutung außer ihnen niemand mehr entschlüsseln konnte. Dass es in ihrer Familie die Gabe der Illusion gab, etwas Einzigartiges. Auch der Uralte Jorg gehörte zu ihrem Geschlecht. Er war der älteste Nebelzwerg des Dorfes und zugleich mit dieser wunderbaren Gabe gesegnet. Außerdem hatte er schon zwei Auslöschungen erlebt. All das wollte sie Atréju sagen, während sie ihm in die Augen sah. Das Einzige, was sie wirklich hervorbrachte, war ein zerhacktes »J-ja«. Dafür musste sie all ihren Mut zusammennehmen und diese einzige Silbe aus ihrer Kehle pressen, als wäre die selbst hierfür zu eng. Zumindest blieb ihr so erspart zu erzählen, dass sie die Jüngste aus dem Geschlecht der Gurn und mit ihr all die herrliche Vergangenheit in den tiefsten aller dunklen Keller hinabgestiegen war, den sie kannte.

»Ich habe dich beobachtet, Kiray. Du hast Sprachübungen gemacht, nicht wahr? Du versuchst dein Stottern zu beherrschen. Deshalb der Stein auf der Zunge. Deshalb der Schrei und das Echo.«

Kiray nickte und blickte verlegen zu Boden. Er hatte tatsächlich alles gesehen.

»Der Alp wusste, wo du warst.«

Kiray sah ihn verwundert an.

»Er hat sich nur kurz orientiert und sich dann sofort auf dich gestürzt. Ich frage mich, woher er wusste, dass du da warst. Mich hat er nicht entdeckt, obwohl ich nur wenige Schritte von dir entfernt stand.«

»I-ich weiß es n-nicht.«

Atréju sah sie mit einem merkwürdigen Blick an. »Alpe sind Zwischenwesen. Sie künden von Unheil. Was immer er wollte, er wollte es von dir.« Atréju machte eine Pause. »Ich glaube, er hat dir aufgelauert.«

Kiray zuckte mit den Schultern. Sie glaubte nicht, dass Atréju recht hatte. Was konnte ein Alp von einer Nebelzwergin wollen? Nur ein Gruseln war in ihrem Hinterkopf verblieben, eine unterschwellige Furcht nach dieser Begegnung. Statt Atréju zu antworten, nahm Kiray ihn an der Hand, deutete in die Richtung, in der ihr Dorf lag, und sagte nur: »N-nifeln!«

3. Kapitel: Der Uralte Jorg

Der Wald endete an einem Hang oberhalb ihres Dorfes. Durch niederes Gestrüpp und Buschwerk senkte sich der Weg in einer sanften Schleife zum Talgrund hin. Nifeln bestand aus etwa vierzig Häusern, die sich um ein großes Gebäude in der Mitte gruppierten. Allesamt waren sie aus Holz gebaut und von Grassoden bewachsen. Die Häuser schmiegten sich in den Talhang, mit Ausnahme des Gebäudes in der Mitte. Kiray deutete darauf und sagte: »Versamm-lungs-h-haus!«

Die Dächer neigten sich nach außen, sodass die Fassaden zur Dorfmitte hin einladend und freundlich wirkten. Am Ortseingang, dort wo der Hangweg an den ersten Häusern vorüber zur Dorfmitte führte, stand ein Nebelzwerg mit langem weißem Bart und ebenso schlohweißem Haar, gestützt auf einen Stock, und blickte ihnen entgegen. Gekleidet war er in ein einfarbiges wallendes Gewand, das die Gebrechlichkeit des Alters etwas verbarg. Sein glattes, gebräuntes Gesicht hellte sich auf, als er Kiray erblickte.

»Jorg! Jorg!« Kiray ließ Atréjus Hand los und rannte in den Arm, der sich nach ihr ausstreckte. Sie drückte sich an die Brust des Greises.

Der Uralte Jorg schloss den einen Arm um sie und hielt sie fest, als wüsste er um ihren Schmerz. Gleichzeitig ließ er Atréju nicht aus den Augen. »Ein Willkommen dem Großen Suchenden!«, begrüßte er ihn und sah zu Atréju hinauf. »Ganz Phantásien weiß um Euren Auftrag. Was führt Euch nach Nifeln?«

Bevor Atréju antworten konnte, zupfte Kiray ihn am Ärmel. »D-du musst i-ihn ansehen. E-er ist nämlich t-taub und kann d-dich nur verstehen, w-wenn er von d-deinen Lippen lesen kann«, klärte sie ihn auf.

Atréju wandte sich dem Greis zu. »Ich bin erfreut, Euch und das Dorf Nifeln kennenzulernen, muss jedoch schnell weiter. Ich bin auf dem Weg zur Kindlichen Kaiserin. Trotzdem würde ich gern hier für diese Nacht Rast machen und Euch einige Fragen stellen.« Er musterte Kiray aufmerksam und beobachtete zugleich die Reaktion des Uralten Jorg.

»Ihr solltet Euch nachts nicht in den Wald wagen. Also bleibt so lange im Dorf, wie es Euch gefällt. Seid unser Gast.« Damit wandte Jorg sich an Kiray. »Zeig dem Großen Suchenden, wo er nächtigen kann, Kind.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und ging auf das Versammlungshaus zu. Im selben Moment tauchte Andar auf. Wie der Wind strich er zwischen Kiray und Atréju hindurch, breitete die Flügel aus und landete auf der Schulter des Uralten Jorg. Der schien nicht erstaunt zu sein, denn gleichmütig humpelte er seines Weges, langte in eine Falte seines weiten Gewandes und zog etwas daraus hervor, das er Andar anbot. Gierig schnappte der Nebelfalke danach. Dann schwang er sich wieder auf, kreiste über ihnen, von Kiray und Atréju mit den Augen verfolgt, und ließ sich in Kirays Nähe nieder. Mit schief gelegtem Kopf beobachtete er die beiden.

»Er ist dein Großvater?«

»U-ur…«

»Dein Urgroßvater also. Ein stattlicher Mann.«

Kiray zog den Mund kraus. Es war ihr Ururgroßvater. Aber sie war es gewöhnt, dass man sie nicht ausreden ließ. Wieder nahm sie Atréju an der Hand und zog ihn mit sich bis vor eine der Hütten. Dann aber wandte sie sich nach rechts zu einem Stall mit Strohlager. Darauf zeigte sie. Vor dem Lager standen zwei Hackstöcke, deren einen Atréju gleich als Hocker verwendete.

»W-wir haben keine so g-großen Betten!«

»Ich verstehe. Setz dich her zu mir, Kiray. Alles ist so fremd. Ich möchte dich gern etwas fragen.« Mit der flachen Hand klopfte Atréju auf den zweiten Hackstock.

Umständlich kletterte Kiray darauf, ohne sich von ihm helfen zu lassen. Schließlich war sie weder blind noch hatte sie ein körperliches Gebrechen. »W-was willst d-du wissen?«

»Woher kommen die Nebelzwerge? Was seid ihr für Geschöpfe?«

Kiray sah ihn lange an. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Hatte er vergessen, wie sie redete? Sobald sie den Mund aufmachte, würde er es bereuen. »H-hast du Zei-zeit?«, fragte sie schließlich.

Er nickte ruhig. Dann überlegte er kurz, stand auf und berührte mit dem AURYN sanft ihre Lippen. Kirays Furcht vor ihrem Stottern, vor den Wörtern, die ihr widerstanden, verschwand. Mut strömte in sie und ließ sie lächeln.

»Wir Nebelzwerge sind Abenteurer«, begann sie ihre Erzählung, wunderte sich zuerst, wie frei und flüssig sie sprechen konnte, und genoss es schließlich. »Unsere Vorfahren durchstreiften das Land. Während die Kindliche Kaiserin als Quell aller Handlungen darüber wacht, dass Phantásien gedeiht, dass neue Landschaften erobert werden, dass sich neue Geschöpfe ansiedeln können und sich das Unwahrscheinliche an allen Orten niederlässt, wollen wir ihre Geschichten erfahren. Wir machen uns auf den Weg zu den Völkern Phantásiens, um von ihnen berichten zu können. Wir tragen zusammen: Sprache, Erzählungen, Mythen. Vor allem interessieren wir uns für die Völker, die aussterben oder die einstmals waren und nur noch im Hörensagen leben. Denn jedes Wort, das jemals gesprochen wurde, jeder Satz, den ein phantásisches Wesen gesagt hat, jeder Gedanke, der gedacht worden ist, jede Geschichte, die sich ereignet hat, ist für uns wichtig.«

»Und wofür das alles?«, fragte Atréju erstaunt.

»Um die Welt zu verstehen, brauchen wir Wörter. Ohne Wörter gibt es nichts. Wörter haben aber eine besondere Eigenschaft, Atréju. Sie müssen verwendet werden, sonst rosten sie ein. Sie rosten natürlich nicht wirklich. Nur für unsere Ohren werden sie seltsam und altertümlich, und schließlich, wenn ein Wort von niemandem mehr gebraucht wird, stirbt es aus. Und mit ihm stirbt die Geschichte, die hinter diesem Wort steht. Sicher, man kann seine Gestalt bewahren, die Abfolge der Buchstaben, aber man kann seine Bedeutung nicht retten. Wenn es vergessen ist, ist es aus unseren Köpfen und Mündern verschwunden. Nimm das Wort Schaube. Kennst du es noch? Natürlich nicht, aber es ist noch keine hundert Jahre her, dass es in aller Munde war. Jeder brauchte einen festen Überrock gegen das schlechte Wetter. Der Begriff ist verschwunden – und mit ihm eine Welt.« Kiray sah ihn mit glänzenden Augen an. »Wir Nebelzwerge sind Bewahrer.«

Atréju nickte. »Das leuchtet mir ein.«

»Und immer wenn die Bedeutung eines Wortes verschwindet, tut sich ein Flecken Nichts auf«, ergänzte sie. Ihr Lächeln verschwand, weil sie an den Flecken Nichts denken musste und an den Alp, der daraus hervorgekrochen war. »Es geschieht häufiger, als man gemeinhin glaubt. Unsere Aufgabe ist es, Wörter zu sammeln und zu bewahren. Wir sind wie ein Gedächtnis, eines der ältesten Gedächtnisse Phantásiens. Dazu hat die Herrin der Wörter die Nebelzwerge ausgewählt.«

»Die Herrin der Wörter?«

»Ja.« Kiray runzelte die Stirn, als sie dem ernsten Blick des Großen Suchenden begegnete. »Das Wort allein ist leblos. Man muss daraus Geschichten bauen, die Wörter verwenden. Es gibt große Erzähler unter den Nebelzwergen, und« – Kiray zögerte etwas – »es gibt die Familie der Gurn. Sie sind Illusionisten. Sie können Welten erzählen. In ihren Geschichten lebt man. Der Größte unter ihnen war Molte Gurn.«

Atréju schien ihre Niedergeschlagenheit zu fühlen, denn er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du bist doch auch eine Gurn!«

Sie senkte den Kopf und spielte mit der Spitze ihres Schuhs im Sand. »J-ja. Schon. Aber …« Beinahe wäre sie in Schluchzen ausgebrochen. Sie konnte es verhindern, indem sie sich umdrehte und dem Großen Suchenden winkte, ihr zu folgen. »Jetzt komm, ich möchte dich durchs Dorf führen und Freunden vorstellen. Am liebsten aber meiner Mutter. Sie ist eine berühmte Gurn und wäre mächtig stolz darauf, dem Großen Suchenden zu begegnen.«

4. Kapitel: Die Versammlung

Alles war still. Keine Ölmühle kreischte, kein Mahlstein schabte, kein Hammer klopfte. Die Ruhe wirkte beinahe unheimlich. Das Haus von Kirays Eltern war leer. Auch in der Hütte des Uralten Jorg fand sie niemanden. Selbst die alte Rettel, seine Tochter, mit der er zusammenlebte und die den Uralten Jorg versorgte, war verschwunden. Nur selten verließ sie das Haus. Etwas stimmte nicht.

»Was ist mit den Bewohnern?«, fragte Atréju, der direkt hinter sie getreten war und offenbar ihre Ratlosigkeit fühlte.

»I-ich w-weiß es nicht!« Ihre Unruhe hatte den Zauber des AURYN gebrochen. Sie stotterte wieder. »Der D-dorfrat hat sich ver-versammelt«, riet sie.

Sie führte Atréju zur Dorfmitte, und tatsächlich drangen aus dem Versammlungshaus gedämpfte Stimmen. Sofort gab es Kiray einen Stich. Alle hatten von der Versammlung erfahren, weil offenbar etwas Wichtiges zu besprechen war. Nur sie wurde ausgeschlossen. Als Stotterin hatte sie weder Sitz noch Stimme im Dorfrat. Müde winkte sie Atréju, ihr zu folgen, aber die Hand Atréjus auf ihrer Schulter hielt sie zurück.

»Sie wollen dich nicht mit dabeihaben, oder?«

Beide lauschten sie den Stimmen, die durch das hölzerne Flechtwerk des Hauses einmal direkt neben ihnen, dann wieder etwas weiter entfernt zu hören waren. Kiray wagte nicht aufzusehen, als sie verschämt nickte.

»Der Uralte Jorg fühlt«, hörte sie den Schmied krächzen, »dass es Zeit ist. Eine Auslöschung steht unmittelbar bevor. Der Alp ist wieder aufgetaucht. Ein wichtiges Vorzeichen!«

»Niemand hat ihn bislang gesehen. Ich weigere mich einfach, mir durch euch Angst machen zu lassen. Zeigt mir den Alp, und ich glaube es.« Das war die Stimme ihres Vaters. Immer schon war er ein Zweifler gewesen, der allem und jedem widersprach.

Die meisten redeten jetzt wirr durcheinander, und nur ab und zu schälte sich eine kräftigere Stimme heraus.

»Niemand kann sagen, wann die nächste Auslöschung geschieht. Selbst der Uralte Jorg nicht.«

Niemand durfte von der Versammlung ausgeschlossen werden! Kiray schüttelte Atréjus Hand ab und nahm all ihren Mut zusammen. Sie lief am Haus entlang und betrat über die vordere Treppe die Versammlungshalle. Atréju folgte dicht hinter ihr. Über dem Eingang prangte eine Schrift, deren Alter niemand so recht kannte, deren Wortlaut aber jedes Kind in Nifeln mit der Muttermilch einsog: »Zwei Wesen, die in zwei Welten wohnen, wachen über das Welttor der Weisen«, lautete der Spruch. Zwar wurde er von den Alten seit unendlichen Zeiten immer wieder ausgedeutet, seinen wahren Sinn aber kannte niemand. Es hieß sogar, dass derjenige, der ihn entschlüsselte, nie wieder nach Nifeln zurückkehren würde.

Kiray wollte dem Großen Suchenden später davon erzählen, jetzt zog sie ihn hinter sich her in die Versammlung.

Das Gebäude überwölbte einen einzigen Raum von ungeheuren Ausmaßen. Überall an den Wänden brannten Kerzen, und in der Mitte loderte ein Holzfeuer in einem Steinbecken. Rund um diese Feuerschale saßen und standen gut zweihundert Nebelzwerge auf einer Stufengalerie und schrien und gestikulierten durcheinander. Rauch und Stimmengewirr schufen eine dichte, beinahe undurchdringliche Atmosphäre.

Die Alten saßen dem Feuer am nächsten und von ihnen wieder der Uralte Jorg beinahe im Zentrum. Als Kiray und Atréju den Raum betraten, hob der Uralte Jorg den Stab und langsam verebbten Gespräche und Streitereien. Alle Blicke wandten sich ihm zu.

»Lasst uns gemeinsam den Großen Suchenden begrüßen. Friede mit Euch, Atréju von den Grasleuten, Großer Suchender, möge Euch gelingen, was die Kindliche Kaiserin Euch aufgetragen hat.«

Beifall rauschte auf, der sofort abbrach, als der Uralte Jorg wieder seinen Stab hob.

»Bin ich der Älteste unter den Nebelzwergen?« Der Uralte Jorg stieß seinen Stab auf den Boden des Versammlungshauses, dass es hallte.

»Ja«, bestätigte ein Chor an Stimmen.

»Stamme ich aus einem der angesehensten Geschlechter, dem der Gurn?«

»Ja«, bestätigte der Chor wieder.

»Habe ich bereits zwei Auslöschungen erlebt und überstanden?«

»Ja«, rief es wie aus einer Kehle.

»Habe ich meinem Volk zweimal all seine Wörter zurückgegeben und euch bis zum heutigen Tage geleitet?«

»Ja«, dröhnte es noch lauter.

»Zweimal habe ich die Anzeichen der Auslöschung erfahren, zweimal habe ich das Heraufdämmern des Nebels wahrgenommen, zweimal bereits bin ich dem Alp und dem Sammler entkommen. Ihr wollt die Zeichen nicht erkennen? Nun, dann lauscht, was meine Ururenkelin Kiray zu sagen hat.«

Ein Sturm der Entrüstung brach los. »Niemals!« – »Wer hier redet, muss es beherrschen!« – »Kein Stotterer darf hier den Mund auftun.« – »Schande!« – »Verbrechen!«

Die Beschimpfungen prasselten auf Kiray nieder, die unter dem mächtigen Torbogen stand und sich immer kleiner fühlte. Alles in ihr drängte sie wegzulaufen. Schließlich wandte sie sich um und wollte die Versammlung verlassen, als Atréju sie am Arm festhielt. Er trat vor die Versammlung und erhob seine Stimme.

»Hochgeschätzte Dorfversammlung. Zwar bin ich kein Nebelzwerg und besitze deshalb auch kein Rederecht in dieser Versammlung. Dennoch möchte ich mich für Kiray verwenden. Lasst sie erzählen.«

Auch der Uralte Jorg verschaffte sich Ruhe, indem er seinen Stab hob. Kiray blieb stehen und wartete.

»Kiray, bitte!«

Sie drehte sich um, sah flehend zum Uralten Jorg und zu Atréju, die ihr aufmunternd zulächelten. Dann betrat sie wieder den Raum. Alle Augen richteten sich auf sie. Die Luft hier drinnen war feucht. Das Flackern der Kerzen verursachte eine fiebrige, bedrohliche Stimmung. Zögernd trat sie in die Mitte des Kreises, räusperte sich, schloss die Augen und sagte nur einen einzigen Satz:

»I-ich habe d-den Alp gesehen!«

Eisige Stille herrschte im Versammlungsraum. Eine Maus hätte man gehört, wäre sie über den Fußboden gelaufen. Niemand rührte sich mehr. Niemand wagte ein Wort zu sagen.

Der Uralte Jorg unterbrach als Erster die Stille. In seiner Stimme lag Düsternis. »Die Zeit ist gekommen.« Er drehte sich Atréju zu. Seine Miene war finster. Sorgenfalten verwarfen das ohnehin runzlige Gesicht. Tiefe Einschnitte kerbten sich um seine Mundwinkel. »Wir haben diesmal nicht nur für unser Volk zu sorgen. Gleichzeitig müssen wir unseren Gast beschützen. Atréju darf der Auslöschung nicht zum Opfer fallen, sonst scheitert seine Mission.«

Die Zwerge in der Runde nickten eifrig und besprachen den Sachverhalt flüsternd mit ihren Nachbarn. Köpfe drehten sich hin und her, es wurde beifällig genickt, und Häupter wurden geschüttelt, bis Atréju den Arm hob und sich noch einmal zu Wort meldete.

»Hochverehrte Dorfversammlung. Wenn Ihr mir das Wort erteilt, möchte ich gern noch eine Bitte äußern, die direkt mit meiner Mission zusammenhängt.«

Stille breitete sich aus, die beides bedeuten konnte, Zustimmung oder Ablehnung. Aber der Uralte Jorg hob seinen Stab und bedeutete Atréju, er solle seine Frage vortragen.

Während all der Zeit stand Kiray neben ihm und beobachtete das Ritual der Diskussion, die Macht des Uralten Jorg, die gereizte Stimmung der Versammelten. Offensichtlich verhinderte nur das AURYN, dass sich die Menge gegen Atréju stellte.

Dieser räusperte sich, trat vor und schilderte sein Erlebnis mit dem Alp. Vor allem berichtete er von der Entdeckung, dass der Alp aus der Mitte des Nichts in diese Welt geschlüpft war. Auch Kirays Rettung beschrieb er, aber ganz anders, als sie sich zugetragen hatte. Mit seinen Worten klang es, als hätte sie ihn vor dem Alp bewahrt. Kurz blickte er Kiray dabei an und grinste.

»Und jetzt meine Bitte, Uralter Jorg. Kiray hat mir die Geschichte Eures Volkes erzählt. Phantásien wird vom Nichts bedroht. Wenn Euer Volk je davon gehört hat, dass es ein Mittel gegen das Nichts oder gegen diesen Alp gibt, der mit dem Nichts erscheint und es offenbar in allen Ländern verbreitet, dann helft Phantásien zu retten.«

Aufgeregtes Geschnatter und Gewisper begleitete die letzten Sätze des Großen Suchenden. Die Nebelzwerge steckten die Köpfe zusammen und beratschlagten, bis der Uralte Jorg erneut seinen Stab hob.

»Niemand kann das Nichts aufhalten, wenn es sich ausbreitet. Niemand …« Hier zögerte der Uralte Jorg und senkte für einen Augenblick den Kopf, als müsse er nachdenken »… außer vielleicht …«

Kiray ahnte, was der Uralte Jorg sagen wollte. Eine Sage, alt wie die Nebelzwerge selbst, geisterte ihr im selben Moment durch den Kopf.

»Wer? So sagt es doch!«, forderte Atréju. »Ich habe mehr von diesem Nichts gesehen als ihr alle zusammen. Und es ist schrecklich, es ist grauenvoll. Nein. Es ist – das Ende.«

Der Uralte Jorg hatte sich wieder im Griff, obwohl er innerlich noch schwankte. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er selbst nicht an die Möglichkeit glaubte. »Die Herrin der Wörter wäre vielleicht dazu in der Lage. Sie ist die Bewahrerin unserer gesamten Geschichte. Seit Zwergengedenken.«

»Dann schickt jemanden zu ihr, Uralter Jorg, und bittet sie um Hilfe.«

Der Führer der Nebelzwerge, der die Bitte von den Lippen des Großen Suchenden abgelesen hatte, schüttelte den Kopf. »Es ist schwierig, wenn nicht sogar unmöglich.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab.

»Was ist schwierig daran, jemanden aus Eurer Mitte loszuschicken?«, fragte Atréju überrascht.

»Niemand kennt mehr den Weg zu ihr. Seit Molte Gurn ist das Wissen darum verschollen. Außerdem …« Wieder senkte der Alte den Kopf, ließ aber Atréjus Lippen nicht aus den Augen.

»Was hindert Euch noch, Uralter Jorg?«

Atréjus Frage schien ihn zu treffen, doch dann straffte sich sein Körper. Seine Stimme kräftigte sich, als er fortfuhr:

»Großer Suchender, nur ein Mitglied der Familie Gurn war bislang in der Lage, die Herrin der Wörter ausfindig zu machen. Ich bin aber zu alt. Ich würde eine solche Reise nicht überleben.«

»Dann schickt Kiray, auch sie ist eine Gurn!«

Die letzten Wörter gingen im Tumult und Geschrei der Nebelzwerge beinahe unter. Nur mit Mühe gelang es dem Uralten Jorg wieder Ruhe herzustellen. Unwirsch deutete er mit dem Stab auf Atréju.

»Wir brechen die Gebote der phantásischen Gastfreundschaft nicht gern, Großer Suchender. Aber wir müssen Euch bitten, sofort weiterzureisen. Eure Mission ist in Gefahr. Kiray wird Euch unverzüglich an die Grenzen unseres Landes bringen. Seht Euch nicht um, kehrt nicht zurück. Unser Schicksal darf nicht das Eure sein. Und vergesst Euren Vorschlag.«

Kiray las die Bestürzung in Atréjus Gesicht. An seinem Lederwams zog sie ihn aus der Versammlung. Hinter ihnen überschlugen sich die Stimmen.

»S-sei froh, da-dass sie dir zuge-gehört haben!«, zischte sie ihn an. Sie deutete auf das AURYN. »Nur d-deswegen haben sie d-dich reden lassen. Au-außerdem hätten sie d-dich beinahe … D-das hättest du nicht s-sagen d-dürfen.« Sie zog ihn zum Schlafstall, bedeutete ihm zu warten, lief ins Haus, holte sich Proviant, Wasser und einen Reisestock, schnürte alles zu einem Bündel, das sie Atréju aushändigte, und war mit ihm schon auf dem Weg den Berg hinauf, bevor sich die Versammlung der Nebelzwerge auflöste.

Sie erreichten eben den Anstieg aus dem Tal, als ihnen eine Nebelzwergin den Weg vertrat. Kiray blieb stehen. In den Augen der Zwergin, die ihre Arme nach ihr ausstreckte, schimmerten Tränen.

»Wer ist das?«, fragte Atréju.

»Meine Mutter«, sagte Kiray und fiel der Zwergin in die Arme. Sie drückten einander. Kein Wort wurde gewechselt. Langsam löste sich Kiray aus der Umarmung und sah verlegen zu Boden. »I-ich komme wieder. G-ganz sicher, Mutter.«

Die Nebelzwergin trat auf Atréju zu, nahm seine Hand und drückte sie mit beiden Händen, wortlos. Dann wandte sie sich ab und ging zurück ins Dorf.

Kiray und Atréju blickten ihr hinterher. Die Zwerge zogen gerade stumm vom Versammlungshaus in ihre Wohnhäuser, und kurze Zeit später lag das Dorf ebenso leblos und verlassen da wie bei ihrer Ankunft.

»K-komm endlich«, herrschte sie den Großen Suchenden an, um ihre eigene Unsicherheit zu verbergen.

»Warum hat sie nichts gesagt, Kiray?«

Sie holte tief Luft. Vor Atréju war es schwer, ein Geheimnis zu bewahren. Er beobachtete zu genau. »Sie ist st-stumm!«

»Stumm? Ist sie nicht auch – wie hast du es genannt? – eine große Gurn?«

»D-das war sie, b-bis sie dem Alp be-begegnet ist!«

5. Kapitel: Die Auslöschung

»Schau, Atréju. D-der Nebel kommt.« Kiray hielt einen Augenblick inne und blickte zurück.

»Was geschieht dort?«, fragte Atréju mit besorgter Stimme.

Von ihrem Standpunkt aus konnten sie die gesamte Tallänge überblicken. Bäume, Berge, Bäche im Talgrund verschwanden unter dichten Nebelschwaden. In Atréjus Gesicht stand ein einziges Wort geschrieben, das für alle Phantásier der Schrecken an sich war: das Nichts.

»D-die Auslöschung ist ein F-fluch, der d-die Nebelzwerge unregelmäßig heimsucht.« Kiray war zu jung, um sich an die letzte Auslöschung zu erinnern. Sie wusste dennoch sofort, was dieser Nebel zu bedeuten hatte.

»Ein Fluch?« Atréjus Neugier schien angestachelt.

»W-warte, bis wir g-ganz oben am Hang in die Wälder eintauchen. Wenn uns die ersten F-forstschatten um-umgeben, werde ich d-dir davon erzählen.«

Mehr wollte Kiray im Moment nicht sagen. Sie fand bald zu einem gleichmäßigen Schritt. Atréju folgte ihr aus dem Bannkreis des Dorfes. Eilig stiegen sie den Talhang empor. Kiray ahnte, dass ihn jetzt zwei Fragen beschäftigten. Vor ihnen öffnete sich das dunkle Forstgrün der ersten Bäume zu einem Waldweg.

»Wovor läufst du davon?«, fragte er nach einiger Zeit. »Vor dem Nichts?«

»E-es ist nicht das N-nichts. So musst d-du dir Phantá-sien in seinen Anfängen vor-vorstellen. Verborgen u-unter einem Nebel. Ju-jungfräulich. Noch n-nicht durch die Wörter belebt. Erst das W-wort zerrt die Dinge her-hervor und bringt sie ans Licht. Das W-wort lässt den Nebel der Unkenntnis v-verschwinden und bringt Klarheit.«

»Das meine ich nicht. Was passiert mit den Dorfbewohnern? Und woher kommt der Nebel?«

Kiray stieß ihren Stock in die Erde und drehte sich um. Sie lief in den Wald hinein und trieb sich mit heftigen Stößen ihres Wanderstabes vorwärts, ohne noch einmal zurückzusehen. »Zu v-viele Fragen auf einmal, Großer Suchender. E-es ist unser Schicksal und unser F-fluch. A-alle Phantásier können miteinander re-reden, wie du w-weißt, die Grasleute mit den I-irrlichtern, die E-elfen mit den Zw-zwergen, die D-dra-chen mit den Kartoffelköpfen.« Sie sprächen dieselbe Sprache, gebrauchten dieselben Wörter, fuhr Kiray fort, ohne das Tempo zu drosseln. Aber alle hätten eine kleine Besonderheit. Die einen könnten Feuerwörter bilden wie die Drachen, die anderen sprächen Zauberwörter aus und wieder andere seien Orakel. Auch die Nebelzwerge sprächen eine besondere Sprache. Aus ihren Wörtern könne man Geschichten bauen, besondere Geschichten. Nebelzwerge vergäßen nie ein Wort, niemals. Manche hätten Visionen. Zwerge wie der Uralte Jorg hätten das Zweite Gesicht. Er schaue in Welten, die unseren Augen verborgen seien – und er hole sich von dort neue Wörter, die er die anderen Nebelzwerge wiederum lehre. So entstehe im Laufe der Jahre ein Schatz an Geschichten und Wörtern, der größer und gewaltiger sei als alles andere in Phantásien. Allerdings kenne der einzelne Nebelzwerg nur einen Bruchteil davon. Greise wie der Uralte Jorg bewahrten den größten Teil dieses Wissens in sich. Doch nur die Herrin der Wörter kenne alle Geschichten, sie sei der umfassende Hort des Wissens.

Kaum hatte sie fertig gesprochen, da gellte ein Ruf durch die Luft und Andar stieß zu ihnen herunter und setzte sich auf Kirays Schulter. Umständlich faltete er seine Flügel und suchte das Gleichgewicht.

»E-er ist vor dem N-nebel geflohen.«

»Was geschieht in Nifeln, Kiray? Du weichst mir aus.«

»L-lass mich erzählen und h-hör zu.« Im Rhythmus ihres Stockes fuhr Kiray fort, die Geschichte der Auslöschung zu erzählen. Stockend und holprig, aber das störte sie im Augenblick nicht, denn in Gedanken war sie bei ihren Eltern, bei ihrer stummen Mutter vor allem, und beim Uralten Jorg. Hatte er sie bewusst weggeschickt, damit ihr das Schicksal der Nebelzwerge erspart blieb?

»In u-unregelmäßigen Abständen be-besucht uns der Sammler und erntet W-wörter, wie man Getreide erntet o-oder Bohnen.«

»Er erntet Wörter?«

»I-ich selbst habe es n-nie erlebt. Aber d-der Uralte Jorg erzählt, d-dass mit dem N-nebel ein eigenartiger T-ton die Luft erfüllt. Zu-zugleich mit dem Nebel t-taucht er auf, nein, er geht i-ihm um ein Geringes voraus. Man k-kann nicht mehr denken, d-der Ton erfüllt die Luft, er blockiert d-die Gedanken, er m-macht sich in den K-köpfen der Zwerge breit und setzt die W-wörter frei. W-wenn die Zwerge keine W-wörter mehr haben für d-das, was um sie her ge-geschieht, weil diese aus i-ihren Köpfen verbannt s-sind, dann fällt der Nebel über sie her. Sie werden zu-zurückgestoßen auf d-die Stufe der Tiere, d-die ohne Sprache sind. Sie b-bellen und heu-heulen, aber sie reden n-nicht mehr. Ein g-ganzes Volk …« – Kiray stockte, weil ihr die Tränen in die Augen schossen und ihre Stimme zu zittern begann – »… wird zu w-wilden Tieren, die nur n-noch ihrem Instinkt folgen.«

»Was macht der Sammler mit den Wörtern?«

»N-niemand weiß, wie e-er es anstellt, d-die Wörter einzufangen. Wir kennen n-nur eine alte Geschichte, in d-der es heißt, dass er sie d-dorthin bringt, wo sie ge-gebraucht werden. Und die einzige, d-die Wörter gebrauchen kann, ist d-die Herrin der Wörter.«

Düster und bedrückend umgab die Finsternis des Waldes ihren Weg. Langsam begann die Sonne zu sinken und es wurde kühl. Kiray war froh um ihren Mantel.

»Was ich noch nicht recht begreife, Kiray: Hat der Uralte Jorg nicht gesagt, er hätte zwei Auslöschungen bereits überstanden?« Der Pfad war breiter geworden, sodass Atréju nun neben Kiray lief und sie von der Seite her betrachtete, misstrauisch beäugt von Andar.

»N-nicht alle Nebelzwerge ver-verlieren ihre Wörter. V-vor allem d-die Alten behalten sie, zwei oder d-drei von ihnen. Sie be-beginnen mühsam die Welt w-wieder zu benamen. Sie lehren d-die anderen Zwerge die Wörter, b-bringen ihnen bei zu sprechen und z-zu denken und geben ihr W-wissen weiter. Das d-dauert Monate. Mit jedem W-wort, das sie lernen, strahlt d-die Welt wieder n-neu, schält sie sich aus d-dem Nebel heraus.«

Plötzlich fasste Atréju Kiray an der Schulter und hielt sie zurück. Beide lauschten. Nichts regte sich um sie her. Alles war still. Aber eben das war es, was auch Kiray beunruhigte. Der Wald kannte so viele Geräusche, wie Bäume und Tiere darin vorkamen. Jetzt wirkte er wie ausgestorben.

»Warum?«, flüsterte Atréju.

»W-warum w-was?«, entgegnete Kiray.

»Warum wird das Wörtergedächtnis der Alten nicht ausgelöscht?«

Kiray zuckte mit den Schultern. »D-das weiß niemand.«

Sie liefen einige Zeit stumm nebeneinander her, immer mit einem Ohr bei der Stille im Wald, als erwarteten sie von dort her ein Ereignis. Atréju schien nachzudenken, und Kiray kämpfte mit einer unendlichen Traurigkeit. Sie dachte daran, was sie bei ihrer Rückkehr erwartete.

»Der Uralte Jorg. Hast du mir nicht erzählt, er sei taub?«

»Ja. I-ist er auch. S-seit seiner Ju-jugend.«

»Und doch schien es mir, als höre er besser als alle anderen«, sagte Atréju neben ihr.

»Er liest v-von den Lippen ab und i-ist ungeheuer ge-ge-schickt dabei.«

Atréju nickte heftig, immer wieder, schließlich schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. »Kann es nicht sein, dass ihn seine Taubheit daran hindert, den Ton zu hören, der sich in den Köpfen der Nebelzwerge einnistet? Wenn er den Ton nicht hört, kann er auch seine Wörter nicht verlieren, weil sich nichts in seinen Kopf drängt, keine Wörter von dort verdrängt werden?«

»J-ja, na-natürlich!« Freudig stieß Kiray ihren Stock in den Waldboden.

»Das heißt, man könnte der Auslöschung entkommen, wenn man sich einfach die Ohren verstopfte. Ich weiß nicht, ob das wirklich funktioniert, Kiray, aber du musst mir etwas versprechen.«

Wieder blieben sie stehen und diesmal sahen sie einander an. Kiray musste den Kopf etwas in den Nacken legen, um Atréjus Züge erkennen zu können. Die zwei Köpfe Größenunterschied machten vieles schwierig. Außerdem dunkelte es bereits so stark, dass alles um sie her verschwamm.

»Wenn du ins Dorf zurückkehrst, dann steck dir Pfropfen aus Moos oder aus Bienenwachs in die Ohren. Bitte, Kiray.«

Im selben Augenblick, als Kiray zustimmend nicken wollte, hob Atréju sie auf und stürzte mit ihr vom Weg herunter und ins Dickicht neben dem Pfad. Kiray war so verblüfft, dass sie nicht einmal aufschrie. Andar, der von ihrer Schulter gerissen wurde, flatterte verstört auf. Federn staubten um sie her, und der Nebelfalke verschwand mit einem bitteren Ruf im Blätterdach der Bäume.

»Was s-soll das?«, ereiferte sich Kiray, nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte.

»Scht!«, flüsterte ihr Atréju ins Ohr und gleichzeitig berührte Kiray ein eisiger Hauch, den sie nur allzu gut kannte.

Als würde sich die zunehmende Dunkelheit noch verdichten, wuchs dort, wo sie eben noch gestanden und miteinander geredet hatten, ein Wesen aus dem Schwarz des Waldes.

»D-der Alp!« Ihre Hand begann wieder zu zittern. Sanft strich Atréju darüber hin, und tatsächlich beruhigte sie sich.

Diesmal ließ sich der Alp nicht täuschen. Mit seinen eisig glühenden Augenlichtern blickte er in die Richtung, in der sie lagen. Kälte griff nach Kiray, und in ihrem Kopf erhob sich eine Stimme: »Du gehörst mir!« Es klang, als spräche er aus dem Innern der Erde. »Er darf dich nicht schützen. Du gehörst mir!«

»Du rührst das Mädchen nicht an!« Atréju nahm Kiray an der Hand und kroch mit ihr tiefer ins Dickicht.

6. Kapitel: Die Versuchung

Langsam glitt der Alp auf Kiray und Atréju zu, und aus seinem Umhang, durch den der Wind blies, als wäre darunter kein Körper vorhanden, streckte sich eine Krallenhand nach ihnen aus.

»Er darf dich nicht schützen. Er darf es nicht!«, fauchte der Alp in Kirays Verstand, der ihr zu vereisen drohte. Jedes Wort schmerzte sie. Der Alp wurde einen Ton dunkler. Ohnehin glühte nur noch das kalte Licht seiner Augen.

»Was willst du von ihr, Alp?« Während er fragte, blickte sich Atréju um. Er versuchte offenbar Zeit zu gewinnen, aber Kiray hoffte nicht mehr darauf, dass ihnen eine Flucht gelingen würde. Die Nacht, die eben den Wald zu sich nahm, war die unbestrittene Zeit des Alps.

»W-was h-hast d-du vor?«, flüsterte sie Atréju ins Ohr.

»Ich weiß es nicht. Aber er kann uns nichts tun. Ich trage das AURYN.« Mit diesen Worten umklammerte der Große Suchende das Medaillon und flüsterte wie schon bei Tagesanbruch in Richtung des Alps: »Verschwinde. Hier gibt es für dich nichts zu holen!«

Der Alp prallte zurück und heulte auf. »Ich werde dich holen, auch gegen seinen Willen«, hallte es im tiefsten Kellerton in Kirays Kopf. »Du gehörst mir. Mir!«

Sie sah Atréju fragend an. Hörte er auch diese Stimme in seinem Kopf?

»Er wird uns in Ruhe lassen, Kiray«, sagte Atréju. Tatsächlich zog sich der Alp zurück. Er löste sich in der Schwärze des Waldes auf. »Allerdings wird er nicht aufgeben.«

»W-was kann er tun?«, fragte sie und begann sich, wie Atréju, dort zur Nachtruhe herzurichten, wo sie lagen. Sie breiteten ihre Decken über trockenes Laub, legten die Bündel als Kopfkissen hin und streckten sich auf ihrem Lager aus. Weiterzugehen hatte ohnehin keinen Sinn mehr. Die Nacht hatte den Waldweg fest im Griff.

»Er wird das tun, was Alpe normalerweise tun. Nämlich im Schlaf in deine Träume schleichen und dir Ängste bereiten. Wenn du dich vor ihm fürchtest wie vor nichts sonst auf der Welt, dann wirst du aufschrecken und möglicherweise davonspringen – ihm direkt in die Arme. Hüte dich also zu träumen, Kiray. Im Traum können das AURYN und ich dich nicht schützen.«

Sie lagen mit armbreitem Abstand nebeneinander. Aber je stiller der Wald wurde, desto näher rückte Kiray an Atréju heran, bis er sie in den Arm nahm und sie sich an seiner Schulter barg. Beide lagen sie mit offenen Augen da und starrten in die Dunkelheit.

»Warum hat der Alp gesagt, dass du ihm gehörst?«, flüsterte Atréju.

Er hatte die Stimme also vernommen. Es beruhigte Kiray, dass sie kein Geheimnis vor ihm hatte. »I-ich weiß es n-nicht.« Sie ahnte es, wusste aber nicht, ob sie es dem Großen Suchenden sagen sollte.

»Hat es mit deiner Mutter zu tun?«

Es dauerte eine Weile, bis Kiray den Mut fand zu antworten. »I-ich weiß es w-wirklich nicht.«

»Tut mir leid«, sagte Atréju hörbar betroffen. »Ich wollte dich nicht verletzen.«

»Es braucht dir n-nicht leidzutun.«

Kurz darauf war Atréju eingeschlafen, während Kiray in die Nacht hinauslauschte und glaubte, das Schnaufen des Alps zu hören, der sich ganz in der Nähe aufhielt. Sie starrte in die Finsternis und dachte an ihre Familie. Sie hatte Atréju nur die halbe Wahrheit gesagt. Ihre Mutter war verstummt, nachdem sie dem Alp begegnet war, kurz vor ihrer, Kirays Geburt. Deshalb, so glaubten alle, habe sie auch nur die Hälfte der Sprache erhalten und stottere. Für die Familie Gurn war es ein fürchterlicher Makel. Die Mutter konnte keine Kinder mehr bekommen und war selbst stumm geworden, die einzige Tochter stotterte und konnte so die Tradition der Gurn nicht fortführen und eine Illusionistin werden. Es war das Ende einer großen Familie.

Sie dachte auch an den Uralten Jorg und daran, was sich gerade in Nifeln abspielte. Hatte Atréju womöglich recht mit dem Verstopfen der Ohren? Vielleicht konnte die Auslöschung wirklich dadurch verhindert werden, dass sich die Bewohner Nifelns Wachspfropfen in die Ohren drückten? Die Welt war voller Fragen. Manchmal kam es ihr so vor, als werfe sie mehr Fragen auf, als sie bereit war Antworten zu geben. Doch eine Antwort kannte sie zumindest. Für Nifeln war er zu spät. Sie hatte Angst davor, ins Dorf zurückzukehren.

Atréju neben ihr schlief ruhig und tief. Er atmete langsam und gleichmäßig. Auf seiner Brust glomm schwach das AURYN. Um ihren Lagerplatz glaubte sie unheimliche Wesen schleichen zu hören. Alles klang gedämpft …

Plötzlich fuhr sie auf. Um sie her Dunkelheit und Kälte, die sie frösteln ließ. Sie tastete neben sich. Atréju war verschwunden. Ein leises Lachen ließ sie zusammenfahren. Wie sehr wünschte sie sich jetzt in ihr Dorf zurück, nach Nifeln, zum Uralten Jorg und zu ihrer Familie. Besser das Gedächtnis verlieren, dachte sie, als hier in völliger Finsternis im Wald zu sitzen. Wohin war der Große Suchende gegangen?

»Na, mein Kind? Hat er dich verlassen?«

Wieder folgte das Lachen von eben, kellertief und kalt. Wer war das? Krampfhaft überlegte sie, wann sie diese Stimme schon einmal gehört hatte. Sie wollte nicht antworten. Woher wusste der Träger der Stimme, wo sie sich befand? Oder sprach er nur ins Blinde hinein und hoffte auf eine Antwort von ihr?

»Du musst den Großen Suchenden schon entschuldigen, Kiray«, bohrte die Stimme weiter, »aber er hat einen Auftrag, und dieser Auftrag ist wichtiger als eine Nebelzwergin. Vergiss ihn. Aber ich bin dafür da! Kennst du mich?«

Kiray schloss die Augen. Jetzt schlug ihr Herz wie wild und ihr Mund wurde trocken. Woher kannte die Stimme ihren Namen? Nein, sie würde nicht antworten, sondern einfach still sitzen bleiben und der Dinge harren, die da kommen würden. Sie redete sich Mut zu. Wenn die Stimme wüsste, wo sie sich befand, hätte sie längst etwas unternommen. Also war sie in Sicherheit, solange sie den Mund hielt.

Als sie die Augen wieder aufschlug, entfuhr ihr ein heiserer Schrei. Direkt vor ihrem Gesicht glommen zwei graue Augen, die sie anstarrten. Eisige Kälte entströmte diesem Blick und ließ sie erschauern. Angst quoll in ihr auf und strömte über wie ein übervoller Brunnen. Sie wollte nur weglaufen, weg von diesen Augen, die sie anblickten, aber gleichzeitig durch sie hindurchsahen. Etwas hielt sie fest. Krallenhände, fuhr es ihr durch den Kopf, Krallenhände, die zu dem Wesen mit eisgrauen Augen gehörten. Sie wehrte sich, riss, zerrte und wäre beinahe aus dem Klammergriff der Krallenhände entkommen, wenn nicht ein Glanz in ihr vereistes Inneres gedrungen wäre und sie erwärmt hätte. Alle Angst verschwand und wich einem Gefühl von Sicherheit und Ruhe. Mit einem Ruck rutschte sie zurück, aber irgendetwas hielt sie fest. Wild begann sie um sich zu schlagen, schrie jetzt wie eine Furie und versuchte aufzustehen. Sie wollte weglaufen, weg von diesen Augen, die sie innerlich erstarren ließen …

»Kiray!«, rief plötzlich eine Stimme, vertraut und ruhig. »Wach auf!«

Nur langsam konnte sie sich lösen.

»Kiray, du hast geträumt«, rief die Stimme – und Kiray wusste übergangslos, was geschehen war. Sie musste eingeschlafen sein und der Alp hatte sich in ihre Träume geschlichen und sie geängstigt. Atréju hatte sie gehalten, hatte verhindert, dass sie weglief und damit den Schutz des AURYN verlor.

Sie schlug die Augen auf.

7. Kapitel: Der Auftrag

Der Tag war schon angebrochen und spitzelte durch das Blätterdach des Waldes. Der Große Suchende beugte sich über sie, hielt sie mit beiden Händen fest und drückte sie zu Boden.

»I-ich muss u-unruhig ge-geschlafen haben, weil d-du so besorgt bist. Aber jetzt k-kannst du lo-loslassen.«

»Froh bin ich, dass du aufgewacht bist!«

»I-ich bin froh, d-dass du mich f-festgehalten hast.« Den Satz flüsterte Kiray, richtete sich auf und gab Atréju, der neben ihr kniete, einen Kuss auf die Wange. »D-danke.«

Verlegen ließ Atréju sie los und setzte sich. »Er wird es wieder und wieder versuchen. Bis es ihm gelingt.«

Kiray kramte in ihrem Beutel und holte ein Stück Brot heraus. Ihr Magen knurrte. Mit vollen Backen fiel ihr das Antworten leichter. Noch immer zitterten ihr die Knie. »I-ich weiß!«

»Kiray.« Der Ernst in Atréjus Stimme ließ Kiray aufhorchen. Sie wandte ihm den Kopf zu. Verlegen sah er zu Boden. »Ich kann dich nicht länger beschützen. Mein Auftrag ist von größter Wichtigkeit. Mein Weg zurück zur Kindlichen Kaiserin ist noch weit. Unsere Wege trennen sich heute. Du musst zu deinem Volk zurück, und ich muss weiter zum Elfenbeinturm.«

Kiray folgte einer Eingebung, als sie Atréju einfach die Hand reichte. Atréju ergriff sie, stand auf und zog Kiray mit sich hoch. Sie musste wieder den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu schauen.

»Danke für die Gastfreundschaft, Kiray.« Er stockte. »Ich möchte dich um etwas bitten. Du darfst meine Bitte ablehnen, wenn ich zu viel von dir verlange.«

Was wollte er? Dass es zum Abschied kommen würde, hatte sie gewusst. Dass er sie nicht mitnehmen würde, war verständlich. Sie zwang sich, keine Gefühle zu zeigen. Spätestens in einer Woche würde sich Atréju, der Große Suchende, nicht einmal mehr an sie erinnern. Auch das verstand sie. Was also wollte er?

»Der Alp ist aus dem Nichts in unsere Welt gekommen. Wir beide haben es gesehen, und doch ist es nicht möglich. Bitte, Kiray, du musst herausfinden, was der Alp mit dem Nichts zu tun hat. Vielleicht weiß die Herrin der Wörter darüber Bescheid. Suche sie.«

Hatte sie recht gehört? Atréju hatte ihr den Auftrag gegeben, die Herrin der Wörter aufzuspüren und das Geheimnis des Alps zu ergründen!

»A-aber …« Sie sei doch nur eine Stotterin, wollte sie einwenden, doch der Große Suchende winkte mit einer energischen Geste ab.